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Die Entscheidung

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
Guy of Gisburne Herne der Jäger Robin of Loxley / Robert of Huntingdon
14.10.2022
14.10.2022
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Der junge Mann blickte der Familie nachdenklich hinterher, die soeben auf ihrem Wagen die Brücke passiert hatte. Da der Übergang über den Fluss sehr schmal war, hatte das dazu geführt, dass er selbst warten musste, bis sie vorbei waren. Es gab zwar unterhalb der Brücke eine Furt, aber die Regenfälle der letzten Tage hatten das Gewässer stark anschwellen lassen und daher war es ihm nicht opportun erschienen, den Versuch zu wagen, die Furt mit seinem Pferd zu benutzen.
Einen Augenblick lang hatte es ihn ziemlich geärgert, nicht sofort auf die andere Seite des Flusses gelangen zu können, denn er war hundemüde und wünschte sich eigentlich nichts anderes, als schnellstmöglich in das Lager mit seinen Kameraden zurückzukehren. Wenn er es schaffte, dort bald einzutreffen, hatte er die Chance, noch einige Stunden Schlaf zu finden und diese benötigte er auch dringend. Aber nun, nachdem der Weg frei war, befand er sich immer noch an Ort und Stelle, weil eines der Mädchen auf dem Wagen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Nun zauderte er für einen Moment, offenbar nicht sicher, was er tun sollte.
Er hatte bereits schlechte Erfahrungen mit den Menschen gesammelt, die in dieser Gegend lebten, denn sie hatten sich nicht erfreut darüber gezeigt, dass die Soldaten ihren Töchtern nachstellten. Dies war etwas, was er allerdings nachvollziehen konnte, denn er wusste genau, wie einige seiner Kameraden über Frauen dachten. Für sie waren diese alle Freiwild und aus diesem Grund hatte es bereits einige unschöne Zwischenfälle gegeben. Dabei waren die Soldaten doch eigentlich hier, um diese Menschen zu beschützen.
Offenbar befanden sich aber einige der Männer schon zu lange in diesem Krieg, sie waren zu lange von Zuhause und ihren Familien getrennt und hatten wohl vergessen, wie man sich zivilisiert benahm. Zum Teil waren sie aber auch durch die Gräuel der Kämpfe abgestumpft gegenüber dem Leid anderer. Guy hatte dies bei sich selbst ebenfalls schon festgestellt. Allerdings war er noch nicht so tief gesunken, dass er wehrlose Frauen vergewaltigen würde.
Er wurde aus diesen Gedanken gerissen, als jemand lauthals fluchte und dann hörte er auch noch, wie eine Frauenstimme um Hilfe rief. Anstatt die Brücke zu überqueren, was er eigentlich vorgehabt hatte, richtete er sich im Sattel auf, um die Ursache für diese Rufe auszumachen. Er musste auch gar nicht lange suchen, bis er den Wagen entdeckte, den er gerade hatte passieren lassen, der, an einer Ecke bis auf den Boden hängend, auf der Straße angehalten hatte. Ein weiterer Blick offenbarte ihm, dass sich eines der Räder von der Nabe gelöst hatte und das Gefährt dadurch so abrupt gestoppt worden war, dass die Passagiere das Gleichgewicht verloren hatten und auf die Ladefläche gestürzt waren.
Ohne weiter darüber nachzudenken, brachte der junge Mann sein Pferd zum Ort des Unglücks, um seine Hilfe anzubieten. Der ältere Mann, der den Wagen gelenkt hatte, war der einzige, der es geschafft hatte, sich auf seinem Platz zu halten, allerdings war ihm dies nur deshalb gelungen, weil er sich an den Zügeln hatte festhalten können. Jetzt starrte er den Reiter misstrauisch an.
„Was wollt Ihr?“, verlangte er mit harscher Stimme zu wissen.
Verblüfft über die unwirsche Frage, schaute Guy ihn sich genauer an und entdeckte zu seiner Verwunderung, dass der andere, obwohl er die einfache Kleidung eines Bauern trug, sich wie ein Adeliger hielt und er entschied sich spontan, dass Höflichkeit in dieser Situation nicht schaden konnte.
„My Lord“, begann er, „lasst mich Euch helfen.“
Erneut wurde er von der Reaktion des Mannes überrascht, denn dieser sog erschrocken die Luft ein, anstatt ihm zu antworten und mit einem Mal verstand Guy, dass der Mann – und seine Familie - offenbar versuchten, das Gebiet zu durchqueren, welches von ihm und seinen Kameraden kontrolliert wurde, ohne erkannt zu werden. Und nun hatte er offensichtlich Angst, er wäre enttarnt worden, dabei hatte der junge Mann keine Ahnung, wen er vor sich haben könnte.
„My Lord“, setzte Guy noch einmal an, „ich kenne Euch nicht und ich habe auch nicht die Absicht, Euch und Eure Familie aufzuhalten. Ich wollte Euch nur Hilfe mit dem Wagen anbieten.“ Er war sich nicht sicher, ob er die richtigen Worte gefunden hatte, den Argwohn des anderen zu zerstreuen, denn in solchen Dingen war er nicht wirklich gut.
„Papa“, mischte sich auf einmal eines der Mädchen ein, das sich in der Zwischenzeit wieder aufgerappelt hatte. Obwohl sie sich den linken Arm hielt, vermittelte sie ihm einen Eindruck von Gelassenheit. Guy stellte fest, dass sie es war, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte, als der Wagen ihn passierte und er nutzte die Gelegenheit einen besseren Blick auf ihr liebliches Gesicht zu werfen, welches von dunkelblonden, dicken Tressen umrahmt wurde.
„Wir brauchen seine Hilfe, wenn wir den Wagen weiterhin benutzen wollen“, fuhr sie fort, als hätte sie nicht mitbekommen, dass er sie gemustert hatte. Ihre Ausdrucksweise hatte überhaupt nichts Bäuerliches an sich – obwohl auch sie und die anderen beiden Mädchen wie Bauern gekleidet waren - und dies bestärkte Guy in seiner Vermutung, der Mann und seine Kinder würden versuchen, nicht erkannt zu werden.
Plötzlich erinnerte er sich an das Gerücht, dass die Söldner, die für eine Zeitlang an der Seite der königlichen Soldaten gekämpft hatten, in einen Streit mit einem der örtlichen Barone geraten waren, der aber offenbar nichts anderes getan hatte, als seine Töchter zu schützen. Dies alles hatte sich vor nicht allzu langer Zeit abgespielt und so viel Staub aufgewirbelt, dass die Söldnertruppe woandershin abkommandiert worden war. War es vielleicht möglich, dass dieser Mann besagter Baron war, der nun versuchte, sich auf seine Burg zurückzubegeben und der dabei nicht von den Söldnern erkannt werden wollte?
Guy entschied, er müsse ein Risiko eingehen, wenn er den Älteren davon überzeugen wollte, er stelle keine Gefahr für die Familie dar. Natürlich hätte er auch einfach sein Pferd wenden und sich entfernen können, aber auf diese Idee kam er erst gar nicht. Daher fiel ihm auch nicht auf, dass seine Entscheidung etwas mit einem der Mädchen zu tun haben könnte. Ihm war nicht bewusst, dass sie es war, der er vor allem helfen wollte und er sie darüber hinaus gerne kennenlernen würde.
„Ich bin einer der königlichen Soldaten, My Lord, und gehöre nicht zu den Söldnern. Diese befinden sich auch nicht mehr in der Gegend. Sie wurden abkommandiert.“
„Papa, bitte“, mischte sich das Mädchen erneut ein, woraufhin der Mann einen Seufzer ausstieß. Offenbar hatte er eingesehen, dass er den Wagen allein nicht wieder flott machen konnte.
„Wer seid Ihr?“, wollte er schließlich wissen.
„Ich bin Guy of Gisburne“, entgegnete der Reiter.
„Sir Guy?“, erkundigte sich das Mädchen neugierig.
Der junge Mann spürte, wie er errötete, aber er schüttelte sofort den Kopf. „Nein, My Lady, ich bin nur ein Knappe,“ gab er dann zu, obwohl er sich nicht sicher war, ob er mit dieser Aussage nicht alle seine Chancen zunichte gemacht hatte. Nur um dann festzustellen, er habe sich offenbar in ihr getäuscht, denn sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihn für einen Augenblick vergessen ließ, dass er mit ihr nicht allein war.
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Sir Guy zügelte sein Pferd, um noch einen letzten Blick auf das Lager zu werfen, in dem sich die Männer aufhielten, an deren Seite er in den letzten Jahren gekämpft hatte. Nachdem er es noch einmal länger betrachtet hatte, war er in der Lage, sich selbst gegenüber zuzugeben, dass sich dort niemand befand, den er vermissen würde. Dies lag auch daran, dass die einzige Person, mit der ihn tatsächlich etwas verband, sich nicht mehr dort befand. Sir Geoffrey, dem er für sieben Jahre als Knappe gefolgt war, hatte sich auf die Reise zurück nach England gemacht, etwas enttäuscht darüber, dass Guy ihn nicht begleiten wollte, denn davon war er ausgegangen. Aber der junge Mann hatte andere Pläne.
Schließlich wandte der Ritter sich ab und lenkte sein Pferd in die Richtung, in der er sich aufmachen wollte. Er wusste, er hatte einen längeren Weg vor sich, aber er wusste auch, er wurde an seinem Ziel erwartet. Er hätte sich nur gewünscht, der Krieg hätte ihn in den letzten Monaten nicht so weit von dem Ort weggebracht, an dem er einen neuen Abschnitt seines Lebens beginnen wollte. Aber es hätte auch schlimmer sein können. Er hätte während der Kämpfe auch so schwer verletzt werden können, dass er seine Reise nicht antreten konnte oder er hätte sogar den Tod finden können. Obwohl er bei Letzterem nichts mehr mitbekommen hätte, wäre das für ihn nicht wirklich ein Trost, besonders nicht, wenn er an Aurelie dachte.
Bei dem Gedanken an die junge Frau, fluchte er noch einmal wegen der weiten Strecke, die er zurücklegen musste, denn er wäre gerne schneller bei ihr. Er hatte sie bereits seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen. Je weiter sich seine Einheit von der Burg ihres Vaters entfernte, desto schwieriger war es für ihn geworden, sie zu besuchen. Er hatte sich nur damit trösten können, dass sie auf ihn warten würde und mit der Tatsache, dass er tatsächlich in der Lage war, sich auf eine Reise zu begeben, etwas, was vielen seiner Kameraden nicht mehr möglich war.
Er war auch froh darüber, nicht gezwungen zu sein, nach England zurückzukehren, denn dort wartete nichts und niemand auf ihn. Auch wenn Sir Geoffrey offenbar davon ausgegangen war, er werde ihn zurück nach Gloucester begleiten. Trotzdem hatte er ihm keine Schwierigkeiten gemacht und nicht darauf bestanden, dass er in seinem Dienst bleiben musste, nachdem er ihn zum Ritter geschlagen hatte. Guy hatte ihm zwar nichts von Aurelie erzählt, aber von dem Angebot des Baron de Lieur und daher hatte er ihn ziehen lassen.
Aber nun war es endlich so weit und er konnte sich auf den Weg zur Burg des Barons machen. Nun stand zwischen ihm und seinem zukünftigen Leben nur noch diese Reise, von der er aber durchaus wusste, dass sie nicht ohne Gefahren für ihn war. Schließlich war er allein unterwegs und auch wenn er bewaffnet und gerüstet war – und das Auftreten eines erfahrenen Kämpfers hatte – so würde es trotzdem Personen geben, die sich davon nicht abschrecken ließen. Er konnte nur hoffen, auf niemanden zu stoßen, dem alles egal war, weil der Krieg ihm nichts gelassen hatte oder auf jemanden, der nicht mehr in der Lage war, in das Leben zurückzukehren, das er vor dem Krieg geführt hatte. Für einige schien es einfacher zu sein sich als Gesetzloser durchzuschlagen, als sich eine ehrliche Arbeit zu suchen. Die Kämpfe hatten vieles zerstört, nicht nur Dörfer und Städte, sondern auch Menschen.
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Es war bereits spät am Abend, als Guy in die Große Halle der Burg geführt wurde, aber er hatte seine Reise so kurz vor dem Ziel nicht mehr unterbrechen wollen, auch nachdem ihm bewusst geworden war, dass er es nicht mehr vor Einbruch der Nacht erreichen konnte. Er wollte nicht noch einen Tag später an dem Ort ankommen, von dem er hoffte, er würde ihn bald als sein Zuhause ansehen.
Trotz der späten Stunde fand er nicht nur Baron Ortaire de Lieur vor, sondern auch dessen drei Töchter Aurelie, Aaliz und Amiere. Wobei für Guy das Wichtigste war, erstere zu Gesicht zu bekommen. Alles andere war ihm in diesem Moment eigentlich egal, trotzdem war ihm bewusst, er müsse sich so weit zusammenreißen, dass er nicht vergaß, dem Baron die erforderliche Höflichkeit entgegenzubringen. Schließlich wollte er nicht nur in dessen Dienst treten, sondern auch um die Hand seiner ältesten Tochter anhalten. Deshalb war es nicht unwichtig, einen guten Eindruck auf ihn zu machen, auch wenn seine Reise ihn völlig erschöpft hatte.
Bevor er aber noch Gelegenheit hatte, seinen Mund zu öffnen, hatte der Baron sich erhoben – und dabei war er nur unwesentlich langsamer als Aurelie – und er schaffte es dann, seinerseits ihn zuerst anzusprechen.
„Guy, wir haben Euch noch nicht erwartet“, teilte er ihm mit. „Aus Eurem Schreiben habe ich entnommen, dass Ihr erst in einigen Tagen hier eintreffen werdet.“
„My Lord“, antwortete der junge Ritter, nachdem er wieder etwas zu Atem gekommen war. „Ich bin viel besser vorwärtsgekommen, als ich hatte voraussehen können.“
„Ich hoffe, Ihr habt Euer Pferd nicht zu Schanden geritten“, äußerte sich de Lieur und runzelte dabei die Stirn. Aber seine Aussage rief sofort den Widerspruch seiner ältesten Tochter hervor.
„Papa!“, brachte sie empört hervor. „Du solltest Guy besser kennen. Er würde niemals ein Pferd zu Schanden reiten.“
Guy, dem selbst einige Worte auf der Zunge gelegen hatten, war froh, dass er selbst nichts dazu sagen musste. Es war aber wahr, dass er es niemals übers Herz gebracht hätte, sein Pferd zu schinden, selbst wenn er sich danach gesehnt hatte, das Ziel seiner Reise so schnell wie möglich zu erreichen. Dazu lag ihm einfach zu viel an diesen Tieren.
„Natürlich nicht, Liebes“, gab der Baron seiner Tochter nach und machte tatsächlich einen zerknirschten Eindruck. „Das würde Sir Guy niemals tun.“
Er blickte erneut zu dem Jüngeren hinüber. „Kommt, setzt Euch zu uns an den Tisch. Ihr seid sicherlich hungrig. Die Diener werden Euch etwas zu essen und zu trinken bringen. Ich bin tatsächlich sehr froh, dass Ihr bereits hier seid, denn morgen erwarte ich einige wichtige Gäste und es ist sehr gut, wenn Ihr Gelegenheit habt, sie kennenzulernen. Aber setzt Euch erst mal.“
Guy kam dieser Aufforderung gerne nach, aber vergaß darüber nicht, seinem Gastgeber - und künftigem Herrn – zu danken, sowohl für seine Aufnahme als auch für die Möglichkeit, so spät am Abend noch etwas zu essen. Er war tatsächlich nicht nur müde, sondern auch hungrig, denn er hatte auf seiner Reise wenige Pausen eingelegt. Er hatte nur immer darauf geachtet, dass sein Reittier genügend Zeit hatte, um sich zu erholen. Auf sich selbst hatte er wenig Rücksicht genommen, denn so war er es aus den letzten Jahren gewohnt. Er sah voraus, dass er wohl geraume Zeit benötigen würde, um sich das wieder abzugewöhnen, auch wenn er wusste, er würde das im Dienst des Barons mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr brauchen.
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Sieur Guy de Gisburne machte sich ernsthafte Sorgen um seinen Schwiegervater, den Baron de Lieur. Dem Älteren ging es bereits seit mehreren Monaten nicht mehr gut genug, um die Burg verlassen zu können und immer mehr seiner Pflichten wurden seitdem vom Ehemann seiner ältesten Tochter übernommen. Trotzdem hatte er es bisher immer noch geschafft, zumindest Gäste auf seiner Burg zu empfangen. Aber dies schien nun auch nicht mehr möglich zu sein.
Dies hatte Guy zumindest dem Brief entnommen, den Aurelie ihm hatte zukommen lassen und der ihn dazu gebracht hatte, seinen Aufenthalt in Rouen früher zu beenden, als er eigentlich vorgehabt hatte. Seine Gattin schien sich große Sorgen zu machen und der Ritter hatte schon befürchtet, er werde den Baron nicht mehr lebend antreffen. Zu seiner großen Erleichterung war bei seiner Ankunft auf der Burg aber nichts davon zu sehen, dass jemand gestorben wäre, also war es vielleicht doch nicht so schlimm, wie er angenommen hatte.
Als er vom Pferd stieg, stellte er fest, dass er von Guide, seinem ältesten Sohn, erwartet wurde. Der Zehnjährige machte ein ernstes Gesicht, was bei ihm allerdings nichts zu sagen hatte. Er war einfach seinem Vater zu ähnlich, der in diesem Alter ebenfalls mehr zu Ernsthaftigkeit geneigt hatte. In dieser Hinsicht schien es auch keinen Unterschied zu machen, dass der Junge eine sehr viel sorgenfreiere Kindheit hatte als Guy selbst.
„Maman ist in ihrem Solar, Papa“, informierte er ihn, nachdem sie eine Umarmung ausgetauscht hatten.
„Dann geh bitte vor“, bat der Ritter den Jungen, obwohl er den Weg natürlich auch allein gefunden hätte. Aber er wollte seinem Sohn zeigen, dass er seine Bemühungen anerkannte, ihn zu vertreten, wenn er sich nicht auf der Burg befand und sein Großvater offenbar zu krank war, um seinen Verpflichtungen nachzukommen.
Als die beiden durch die Tür traten, legte Aurelie ihre Stickerei sofort zur Seite, erhob sich und trat rasch näher. Guy sah, wie blass sie war und dass ihre Augen rot umrandet waren und er begriff, wie groß die Sorgen waren, die sie sich um ihren Vater machte.
„Ich bin froh, dass du so schnell zurückkehren konntest, Liebster“, begrüßte sie ihn mit leiser Stimme.
Guy nahm seine Gattin in den Arm und küsste sie auf die Wange. Als sie beide frisch verheiratet waren, war es ihm schwergefallen, ihr seine Zuneigung so öffentlich zu zeigen, aber durch ihre Unterstützung hatte sie es geschafft, ihm Selbstvertrauen zu geben. Auch das Vertrauen des Barons in ihn, wenn es darum ging, den Älteren zu vertreten, hatte dazu beigetragen, dass er schon lange nicht mehr der schüchterne junge Mann war, der nach Lieur gekommen war.
„Guide“, wandte er sich an seinen Sohn, „würdest du bitte deine Geschwister holen. Ich möchte auch sie gerne begrüßen.“ Er selbst war in einem lieblosen Elternhaus aufgewachsen und hatte sich bei der Geburt seines ersten Kindes geschworen, seinen eigenen Nachwuchs niemals als gegeben anzusehen. Er hatte es sich selbst auferlegt, seine ganze Familie immer als erstes zu begrüßen, wenn er von einer Reise zurückkehrte, weil sie das Wichtigste in seinem Leben war.
Der Junge nickte ihm mit ernsthaften Gesicht zu und entfernte sich dann schnellen Schrittes. Seine Abwesenheit gab Guy die Gelegenheit, seine Gemahlin richtig zu küssen – denn sie waren für einen Augenblick allein– und sie dann nach dem Zustand ihres Vaters zu fragen.
„Vor zehn Tagen war er auf einmal nicht mehr in der Lage, das Bett zu verlassen. Er isst auch nicht mehr sehr viel. Natürlich habe ich ihn sofort untersuchen lassen, aber es hat den Anschein, als ginge sein Leben zu Ende“, brachte sie hervor, während ihr auf einmal Tränen über die Wangen rannen.
Erneut nahm Guy seine Gemahlin in den Arm. „Dann bin ich froh, jetzt zurückgekehrt zu sein, weil ich ihn so noch lebend antreffe.“ Er hatte nicht vor, Aurelie vorzumachen, es würde alles wieder gut werden, denn damit würde er ihre Intelligenz beleidigen. Darüber hinaus glaubte er das auch nicht. Gott hatte offenbar beschlossen, dass es an der Zeit war, den Baron zu sich zu rufen und Gott interessierte es nicht, ob Guy der Meinung war, dies sei zu früh. Es war unerheblich, dass er seiner Gemahlin – und ihren Schwestern – noch mehr Zeit mit ihrem Vater wünschte und er auch nicht der Meinung war, er wäre schon bereit, seinen Platz einzunehmen.
„Was ist mit Aaliz und Amiere?“, wollte er wissen.
„Sie sind vor ein paar Tagen mitsamt ihrer Familien eingetroffen. Sie hatten bereits Zeit, sich von Vater zu verabschieden. Du bist der einzige, der noch keine Gelegenheit dazu hatte.“
Bevor Guy etwas darauf antworten konnte, war Guide mit seinen Geschwistern zurückgekehrt und der Ritter beschäftigte sich nun erst einmal damit, seine restlichen Kinder zu begrüßen. Seine achtjährigen Zwillingstöchter Mêrrienne und Madallaine erweckten zwar den Eindruck, sie wären bis eben noch durch das kleine Wäldchen gestreift, das sich an die Burg anschloss, aber er beschloss, dies zu ignorieren, genau wie die schmutzige Kleidung des siebenjährigen Ortaire und seines ein Jahr jüngeren Bruders Arnalt, die ihm bewies, dass sie sich wieder im Pferdestall aufgehalten hatten. Er wusste zwar nicht, woher die Liebe der Mädchen zum Wald herrührte, aber den Drang, sich bei den Pferden aufzuhalten, konnte er sehr gut nachvollziehen.
Schließlich wandte er sich auch dem jüngsten seiner Kinder zu, dem einjährigen David, der sich auf dem Arm seiner Kinderfrau befand, aber, sobald er seines Vaters ansichtig wurde, die Arme nach ihm ausstreckte und Guy war sofort bereit, ihn zu nehmen. Er liebte es einfach, wenn er Zeit für seine Kinder hatte und nahm dafür auch in Kauf, einiger seiner Pflichten nicht so sorgfältig nachzugehen, wie andere Personen das von ihm erwarteten. Seiner Meinung nach musste immer Zeit sein, David und den anderen zu zeigen, dass er sie liebte.
Leider war er aber gezwungen, den Jungen nach kurzer Zeit schon wieder abzugeben, was diesem überhaupt nicht gefiel und was er lautstark kundtat. Aber ohne, dass Guy etwas sagen musste, führte Guide die anderen wieder weg und der Ritter war erneut mit Aurelie allein.
„Ich möchte gerne deinen Vater sehen, bevor ich deine Schwestern begrüße“, bat er seine Gemahlin und diese war sofort bereit, ihn in das Krankenzimmer zu führen. Schließlich hatte sie ihn aus diesem Grund nach Lieur zurückgeholt. Sie wusste schließlich, welchen Platz der alte Baron im Herzen ihres Ehemannes einnahm.
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Der Baron de Lieur blickte voller Stolz auf seinen zwanzigjährigen Sohn, der an diesem Tag zum Ritter geschlagen worden war, was seine Familie mit einem üppigen Fest feiern wollte. Damit tatsächlich alle Gelegenheit hatten, daran teilzunehmen, war die Zeremonie auf die Weihnachtstage gelegt worden, denn zu diesem Zeitpunkt hielten sich sowieso alle auf der Burg auf, nicht nur Guides Eltern und Geschwister, sondern auch seine Tanten und Onkel, seine Cousins und Cousinen und auch die beiden jungen Männer, die mit seinen Schwestern Mêrrienne und Madallaine verlobt waren. Der frischgebackene Ritter konnte seine Freude darüber, mit allen feiern zu können, nicht verhehlen, so wenig wie seine Eltern verbergen konnten, wie stolz sie auf ihn waren.
„Wer hätte gedacht, was sich alles daraus entwickeln würde, dass sich ein Wagenrad selbstständig machte“, flüsterte ihm seine Gemahlin zu, als sie gerade mal nicht auf das achten musste, was ihre Gäste von sich gaben.
Guy schmunzelte, denn er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, was vor sechsundzwanzig Jahren geschehen war. Vor allem, weil er selbst heute noch darüber staunte, was sich daraus entwickelt hatte und was für ein Glück ihm beschieden war, dass er sein Leben an der Seite von Aurelie verbringen durfte. Dies war nichts, was er sich hatte vorstellen können, als er als Knappe mit Sir Geoffrey in die Normandie gekommen war. Damals hatte seine Zukunft nicht besonders berauschend ausgesehen, auch wenn er gehofft hatte, als Ritter aus diesem Krieg hervorzugehen. Aber jetzt war er viel mehr als nur das. Er war Ehemann, Vater und – als Nachfolger seines Schwiegervaters – Baron de Lieur.
„Ich habe das nicht vorausgesehen“, gab er zu. „Aber ich danke Gott jeden Tag für das, was er mir hat zukommen lassen.“
„Das hast du dir aber auch verdient, Liebster“, erwiderte Aurelie. „Du hättest dich damals auch von uns abwenden können, weil du so erschöpft warst. Ich kann mich noch genau daran erinnern, weil ich tatsächlich gedacht habe, du brichst gleich zusammen. Aber entgegen meiner Befürchtungen hast du durchgehalten. Du kamst mir so jung vor, dass ich dir das nicht wirklich zugetraut habe.“
„Oh, vielen Dank für dieses enorme Vertrauen“, scherzte er, obwohl ihm bewusst war, dass er sich tatsächlich beinahe anders entschieden hätte. Er konnte nur von Glück sagen, dass es dazu nicht gekommen war. Er wollte nicht leugnen, dass er sich tatsächlich von Gott belohnt fühlte.
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Sir Guy hatte es den Gesetzlosen nicht einfach gemacht, aber am Ende hatte er keine Chance gehabt, sich ihrer zu erwehren. Wieder einmal hatten sie es geschafft, ihn zu überwältigen und diesmal hatte er noch nicht einmal Soldaten bei sich, die ihn im Kampf hätten unterstützen können, obwohl sie sich oftmals als nutzlos erwiesen hatten. Der Ritter war so wütend wie lange schon nicht mehr, aber wenn er ehrlich mit sich selbst sein würde, dann müsste er zugeben, dass sich der Großteil seines Ärgers gegen sich selbst richtete, weil er sich hatte überraschen lassen.
Aber er hatte nicht damit gerechnet, erneut in eine solche Situation zu geraten, wie damals zur Zeit der Segnung, als er von Bertrand de Nivelle begleitet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bewusst nach Wickham begeben, um das Fest zu stören und den Leibeigenen zu zeigen, wer hier tatsächlich das Sagen hatte. Die ganze Angelegenheit war dann fürchterlich schiefgelaufen, de Nivelle dabei zu Tode gekommen – kein großer Verlust in seinen Augen – und er selbst hatte lernen müssen, dass Herne mehr war als ein örtlicher Aberglauben. Dies hatte er zuvor nicht glauben wollen.
Und nun war er wieder in eines der Feste der Bauern geplatzt, diesmal allerdings nicht mit Absicht. Er hatte einfach nicht darauf geachtet, welcher Tag war und nun fand er sich erneut in der Gegenwart von Herne wieder. Und erneut musste er feststellen, dass diese sogenannte Waldgottheit über sehr viel mehr Macht verfügte, als ihm selbst lieb sein konnte.
Von den Gesetzlosen gefangengenommen zu werden, machte ihn zwar wütend, aber bisher war er immer lebend aus diesen Situationen herausgekommen. Aber es mit Herne zu tun zu bekommen, war immer etwas anderes. Beim ersten Mal hatte er schon mit seinem Leben abgeschlossen, weil er nicht geglaubt hatte, noch einmal aus dem Wald herauszufinden. Und das, was ihm dort wiederfahren war, hatte ihn noch monatelang im Schlaf verfolgt. Noch heute schauderte er, wenn er sich daran erinnerte, obwohl es bereits viele Jahre her war.
Nun hatte er es offensichtlich wieder geschafft, Hernes Zorn auf sich zu ziehen und der Ritter fragte sich, was dies wohl für ihn bedeuten würde. Im Kampf gegen die Gesetzlosen sein Leben zu verlieren war zwar nichts, was er anstrebte, aber dieses Risiko einzugehen, war auf jeden Fall besser, als sich im Fokus von Herne zu befinden, wie er an diesem Tag erneut feststellen musste.
Daher war er sehr erstaunt, als der andere ihn nur dazu zwang, einen Blick in eine Schüssel mit Wasser zu werfen. Er hatte keine Vorstellung davon, was dies bedeutete.
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Robin Hood hatte seinen Augen nicht glauben wollen, als Gisburne bei dem Fest in Wickham auftauchte und sofort damit begann, Ärger zu machen. Er war aber auch erstaunt darüber, dass der Ritter ganz allein unterwegs war. Aus diesem Grund hatten er und seine Freunde kein Problem dabei, den Mann zu überwältigen. Er war davon ausgegangen, sie würden ihn – wie sonst auch – als Gefangenen mit in ihr Lager nehmen, um in Ruhe darüber zu entscheiden, was mit ihm geschehen sollte, aber Herne hatte andere Pläne mit Gisburne.
Die Gesetzlosen hatten keine Ahnung, was er den Ritter hatte sehen lassen, aber es hatte dazu geführt, dass das Gesicht des Mannes jegliche Farbe verlor und er anfing zu zittern. Robin, der nicht wusste, was er davon halten sollte, rückte näher heran und war daher in der Lage, zu hören, was der Ritter von sich gab.
„Dies ist eine Lüge“, brachte der andere mit leiser, brüchiger Stimme hervor, aber es klang nicht so, als ob er selbst davon überzeugt wäre.
„Ich habe es nicht nötig, dich zu belügen“, antwortete Herne.
„Aber das kann nicht sein“, erwiderte der Ritter.
„Als eine andere Entscheidung getroffen wurde, hat sich dies daraus entwickelt“, gab Herne in einem unbarmherzigen Tonfall von sich.
Gisburne erweckte den Eindruck, als würde er gleich zusammenbrechen. „Kann ich das vergessen?“, fragte er auf einmal und Robin war erstaunt, als er Tränen in seiner Stimme hören konnte. Er hatte den Ritter noch nie in einem solchen Zustand erlebt.
Herne schüttelte den Kopf, aber auf seinem Gesicht war auf einmal so etwas wie Mitleid zu erkennen. Dann richtete er den Blick auf seinen Sohn.
„Lasst ihn gehen“, befahl er ihm.
Robin hörte, wie Will hinter seinem Rücken Luft holte, als wolle er Herne widersprechen, aber dann blieb er doch stumm. Der Anführer der Gesetzlosen nickte nur und richtete dann seinerseits das Wort an seine Leute.
„Gibt ihm Waffen und Pferd zurück und lasst ihn gehen“, gab er den Befehl weiter und keiner äußerte sich dazu.
Gisburne hatte ihn ebenfalls gehört, aber es dauerte einen Augenblick, bevor er sich von Herne abwandte und noch länger, bis er in der Lage war, seine Waffen an sich zu nehmen, die Zügel seines Pferdes zu ergreifen und zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Und erst als bereits für einige Zeit nichts mehr von ihm zu hören war, ließ Will sich vernehmen. „Was war das für ein Scheiß? Er wird uns morgen wieder bedrängen.“
Robin erinnerte sich an den verzweifelten Gesichtsausdruck des Ritters und schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht, dass sein Bruder sie so schnell wieder verfolgen würde.
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„Irgendeine Spur von ihm?“, blaffte der Sheriff den Hauptmann der Wache an, als dieser in die Burg zurückkehrte.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Spur mehr von ihm, nachdem er vor einigen Wochen auf der Straße nach Norden gesehen worden ist.“
„Dann haben ihn die Gesetzlosen erwischt“, stellte de Rainault lapidar fest. Offenbar hatte er seine Wut über das Verschwinden seines Stewards bereits abgelegt.
Der Hauptmann der Wache äußerte sich nicht zu diesen Worten, aber er war von dieser Feststellung nicht überzeugt. Und er war sich ziemlich sicher, dass auch der Sheriff das nicht tatsächlich glaubte. Aber natürlich würde er Hood und seine Bande dafür verantwortlich machen, denn das passte ihm gut in den Kram. Darüber hinaus vermittelte er nicht den Eindruck, Gisburne zu vermissen. Er war nur wütend darüber, dass der Mann sich auf diese Weise aus seinem Dienst entfernt hatte. Aber eigentlich schien er froh darüber zu sein, dass er ihn endlich losgeworden war.
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