Die Geschichte mit Jenny
von FlyAway22
Kurzbeschreibung
Martina Bönisch ist tot - und Faber muss alleine klarkommen. Irgendwie undenkbar. Dennoch gibt es für ihn vielleicht noch Gründe, um weiterzumachen. Hin- und Hergerissen zwischen dem Erfüllen eines Wunsches und der eigenen Kapitulation, löst er auf seltsam persönliche Weise einen Fall rund um ein junges Mädchen, welches ihm neuen Mut zum Leben gibt. Achtung! Diverse Spoiler aus "Du bleibst hier".
GeschichteFreundschaft, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Kriminalhauptkommissar Jan Pawlak
Kriminalhauptkommissar Peter Faber
Kriminalhauptkommissarin Martina Bönisch
Kriminalhauptkommissarin Rosa Herzog
13.10.2022
28.02.2023
17
59.266
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13.10.2022
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Es war gegen Mittag an diesem Spätsommertag. In der Luft lag der Geruch von Regen, aber noch war es trocken. Der Himmel über Dortmund war in ein sanftes Dunkelblau getaucht und Sonnenstrahlen belichteten die Dächer der Stadt.
Peter Faber und seine Kollegin Rosa Herzog waren mit dem Auto auf dem Weg zu einem Tatort. Ein neuer Fall kam vor ca. 30 Minuten auf ihren Schreibtisch. Es handelt sich um den Fund einer Männerleiche. Keine genauen Details. Erstmal nur Fundort, Adresse und das war es. Die beiden waren sofort losgefahren, als der Anruf kam.
Seit einigen Monaten war Faber nun wieder im Dienst. Seit er Martina Bönisch, seine wichtigste Stütze und Bezugsperson verloren hat, war das Leben für ihn recht leer geworden. Er dachte früher immer, dass er nur arbeiten müsse, dann wäre er mit dem Einzigen ausgefüllt, was er wirklich versteht und was er wirklich kann. Doch er hatte selbst gemerkt, dass diese Theorie nicht ganz stimmt. Ohne Martina war die Arbeit für ihn nicht mehr das Gleiche. Es war Tag ein, Tag aus eine regelmäßige Überwindung das Präsidium zu betreten. An seinem Schreibtisch zu sitzen und in das leere Büro gegenüber zu sehen. Manchmal spielte ihm sein Gehirn sogar Streiche. Oft sah er sie in Gedanken an ihrem Schreibtisch sitzen, oder wie sie vor ihm stand, ihn manchmal schroff anging, oder wie sie mit ihm lachte. Stellenweise glaubte er sogar, sie säße neben ihm im Auto und würde mit ihm sprechen. Täglich besuchte er ihre Grabstätte und verweilte dort. Aber am Ende folgte immer nur die bittere Gewissheit, dass sie nicht da war und dass sie nie wieder kommen würde. All das was 10 Jahre zur Gewohnheit geworden war, wurde in wenigen Sekunden beendet und es hätte so viel gegeben, was er ihr noch hätte sagen wollen. Alleine jetzt, wo er darüber nachdachte, spürte er diese Leere wie einen stechenden Pfeil in seinem Herzen.
Rosa schien die Gedanken ihres Chefs zu bemerken und sah ihn von der Seite an. Sie wusste wie bitter das tägliche Dasein für ihn ist. In der kurzen Zeit, die sie jetzt im Team Dortmund arbeitete, hatte sie von Anfang an gespürt, dass die Beziehung zwischen Faber und Martina intensiver war, als sie je ausgelebt wurde. Aber sie hätte nie darüber gesprochen. Martina war bei solch persönlichen Vertraulichkeiten eher distanziert und Faber war als Chef in der Vorgesetzten-Rolle. Rosa wäre nie auf die Idee gekommen, ihren Chef auf irgendwas anzusprechen. Sie fand, dass ihr das nicht zustünde. Und außerdem war sie schon froh, dass Faber überhaupt wieder in die Arbeit gefunden hatte. Mehr könnte man jetzt weder verlangen, noch erwarten.
Das Verhältnis der drei übrigen Dortmunder Ermittler hatte sich im vergangenen Jahr intensiviert. Man ging offener miteinander um, als früher. Vielleicht weil alle drei gemerkt hatten, dass sie sich brauchen und sich aufeinander verlassen müssen. Jan war heute nur ganz kurz im Dienst gewesen und deshalb auch bei der Erstbefragung jetzt nicht mit dabei. Er musste erkennen, dass er das Gewicht zwischen Arbeit und Privatleben besser verteilen müsse, wenn er sein Kind nicht verlieren will. Das Verhältnis zu seiner Tochter war in letzter Zeit nicht das Beste. Vor Allem Faber und Rosa drängten Jan zu einer Veränderung. Faber eher auf Vorgesetzten-Ebene, Rosa auf der Freundschaftlichen.
Als Faber und Rosa etwa eine halbe Stunde unterwegs waren, fuhren sie durch eine Siedlung mit vielen Eigenheimen, am Rande der Stand. Hier irgendwo war das Ziel. Nachdem die Autofahrt still verlief, versuchte sich Rosa nun doch noch an einem kurzen Gespräch mit ihrem Chef.
„Heute irgendwie noch nicht ganz da?“, fragte sie und lächelte Faber an.
Dieser drehte sich zu ihr rüber und zuckte mit den Achseln.
„Klingt unverschämt, wenn ich sage, dass ich über die Leiche froh bin.“
Rosa schmunzelte. Sie verstand ihn.
In den letzten Wochen war es sehr ruhig. Fast schon zu ruhig. So hart es ist, aber ihr Job besteht nun einmal aus Morden und das Vertrauen darauf, dass es immer Welche geben wird. Dies war ebenso bedrückend, als leider auch erfüllend.
Und gerade Faber hatte mehr als einmal in seinem Leben mit seinem Beruf gehadert. Seit dem Tod seiner Familie zieht sich das wie ein roter Faden durch seine Gedanken. Wäre er nicht das, was er ist, dann wären seine Frau und sein Kind noch am Leben. Jedoch, wäre er nicht nach Dortmund zurückgekehrt, hätte er Martina vermutlich nie kennengelernt. Aber auch Martina wäre vielleicht noch am Leben, wenn sie keine Kommissarin gewesen wäre. Wer weiß schon, was das Leben für einen beinhaltet hätte, wenn Dieses, oder Jenes nicht geschehen wäre. Er würde es nie erfahren.
Das Navi des Autos deutete an, dass sie ihr Ziel erreicht hätten. Es war auch nicht zu übersehen. Überall liefen bereits Mitarbeiter der Streife und der Spurensicherung vor einem Haus herum.
Faber und Rosa stiegen aus und liefen zum Eingang des Hauses. Drinnen roch es unangenehm modrig. Die beiden verzogen entsprechend ihre Mundwinkel. Von einem Mitarbeiter der Spusi wurden sie ins Wohnzimmer geleitet. Dort hockte Greta Leitner neben der Leiche eines ca. 50 jährigen Mannes.
„Hallo.“, grüßte Rosa ihre Kollegin aus der Rechtsmedizin nur knapp und fokussierte ihren Blick auf die Leiche.
Faber schwieg gänzlich. Auch er musterte den Mann. Es war ganz offensichtlich, dass er schon einige Tage tot war. Kein schöner Anblick.
„Die Leiche ist vermutlich schon etwa eine Woche alt. Zumindest würde ich das nach dieser ersten Begutachtung so sagen. Auf äußere Gewalteinwirkung könnte diese Kopfverletzung hindeuten. Wirkliche Details kann ich mit Sicherheit erst nach der Untersuchung liefern. Die voranschreitende Verwesung und die Hitze der letzten Tage, machen es hier etwas schwer.“, sagte Greta Leitner mit ehrlichem Blick.
Faber begann seinen Blick von der Leiche abzuwenden und sah sich im direkten Umfeld um. Das Haus, bzw. die Einrichtung wirkte eher alt und ungemütlich. Alles sehr hölzern und düster. Auf einem Schreibtisch stand ein geöffneter Werkzeugkasten. Alles war korrekt angeordnet. Doch Faber fiel gleich auf, dass ein Gegenstand fehlte. Die Vorgabe für einen Hammer, war unausgefüllt.
Im Hintergrund sprachen Rosa und Greta über den Leichenfund. Faber nahm das Gespräch zwar wahr, aber er sah aus dem Fenster zum Haus nebenan. Dort sah ein Mann aus dem Fenster. Oder besser gesagt, er lehnte sich interessiert über den Fensterstock nach draußen und rauchte dabei eine Zigarette.
„Der Mann wurde von einer Streife gefunden, nachdem die Feuerwehr die Tür aufgebrochen hatte. Eine Postbotin hatte auf dem Revier angerufen und gemeldet, dass hier seit Tagen die Zeitungen und Briefe nicht mehr aus dem Kasten geleert werden und dass Pakete unberührt vor der Tür stünden. Das kam ihr komisch vor.“, erzählte Rosa ihrem Kollegen Faber, der immer noch irgendwie gebannt zu dem Mann am Fenster sah.
„Faber?“, sprach Rosa ihn nochmal direkt an.
„Wurde in der Nachbarschaft schon irgendjemand befragt?“, entgegnete er mit einer Frage.
„Keine Ahnung. Vielleicht haben die Kollegen von der Streife schon was in Erfahrung gebracht, aber ich denke die Zeit war zu kurz.“, antwortete Rosa.
Faber nickte vor sich hin.
„Das Opfer heißt übrigens Ralf Liebers. 52 Jahre alt. Scheint allein hier gelebt zu haben. Das hat die Postbotin zu Protokoll gegeben. Sie hätte hier zumindest nie jemand anderen gesehen.“, ergänzte Rosa und verfolgte Fabers Blick.
Doch in diesem Moment schloss der Mann auf der anderen Seite das Fenster und verschwand von der Bildfläche.
„Tja, dann warten wir bis wir von den Kollegen mehr Informationen bekommen und hören uns im direkten Umfeld um.“, sagte Faber und verließ gemeinsam mit Rosa das Haus des Opfers.
Irgendwie hatte Rosa geahnt, dass Faber zielsicher auf das Haus nebenan zugehen würde. Da er es schon eben durch das Fenster im Blick hatte, war es keine große Überraschung. Wenig später standen sie vor der Haustür. Während sie warteten, sahen beide nach hinten in den Garten. Es wirkte alles sehr schmuck-und lieblos. Als wäre es nur da, damit es da ist, aber nicht, damit sich dort jemand wohlfühlen würde.
Als auf das Klingeln keine Reaktion folgte, betätigte Faber sie erneut und klopfte an die Tür. Er wusste schließlich, dass jemand zuhause war. Nach einer weiteren Minute des Wartens öffnete sich die Tür und der Mann, den Faber soeben noch am Fenster gesehen hatte, stand vor Ihnen.
Sein Erscheinungsbild war ziemlich ungepflegt. Auch sein Auftreten war nicht sympathischer.
„Na, wer hat es denn da so eilig? Darf man nicht mal mehr in Ruhe auf’m Klo sitzen?“, fragte er grinsend.
Rosa schien angewidert und beäugte ihn genau. Als wollte sie ihn möglichst zügig analysieren.
„Faber - Kripo Dortmund, das ist meine Kollegin Herzog. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“, reagierte Faber mit unbewegter Mine.
„Na sowas, die Kripo. Was verschafft mir die hohe Ehre?“, fragte der Mann und zündete sich im gleichen Augenblick eine Zigarette an. Als er den ersten Zug genommen hatte, pustete er den ausgeatmeten Qualm unverschämt in Richtung der Kommissare.
„Wir haben heute Ihren Nachbarn Herrn Liebers tot in seinem Haus aufgefunden. Uns interessieren Details, die Sie vielleicht beobachtet haben. Lebte er allein? Hatte er in letzter Zeit Besuch, oder kam Ihnen irgendwas auffällig vor?“, begann Faber die Befragung.
„Wüsste nicht, was mir da aufgefallen sein soll. Nur weil er mein Nachbar war, müssen wir ja nichts miteinander zu tun gehabt haben.“
Rosa forderte diese Art irgendwie heraus.
„Aber gekannt haben Sie ihn schon? Also sie haben zumindest gewusst, dass nebenan jemand wohnt. Oder ist das an Ihnen vorbei gegangen?“, fragte sie.
„Nun mal nicht so unverschämt. Ich könne mir für Sie jetzt auch was ausdenken, aber ich weiß nichts und mir ist auch nichts aufgefallen. Liebers war mein Nachbar, ich habe ihn jetzt schon eine Weile nicht gesehen. Das ist alles.“, antwortete der Mann und zog weiter genüsslich an seiner Zigarette.
Rosa versuchte sich auf das Wesentliche zu besinnen.
„Können Sie uns dann zumindest bestätigen, dass er allein gelebt hat? Wissen sie ob er Familie hatte?“
Der Mann beteuerte weiterhin ahnungslos zu sein und kaum über seinen Nachbar Bescheid gewusst zu haben. Während Rosa noch versuchte ihm ein paar spärliche Antworten zu entlocken, nahm Faber ein Mädchen wahr, das sich dem Haus näherte. Er schätzte sie auf etwa 15 oder 16 Jahre. Sie hatte langes dunkelblondes Haar, war von blasser, schmaler Gestalt und hatte einen unsicheren Blick. Faber konnte nicht genau erklären, was es war, aber aus irgendeinem Grund, musterte er das Mädchen sehr genau. Sie betätigte das Gartentor und kam näher. Dabei drehte sie sich immer wieder um und sah rüber in das Grundstück des Opfers. Das Aufgebot an Polizei erregte offenbar ihre Aufmerksamkeit.
Als sie dann unmittelbar an der Haustür angekommen war, richteten auch Rosa und der Mann ihren Blick auf das Mädchen.
„Ach, na sowas. Findest du tatsächlich auch mal wieder hier her.“, sagte der Mann mit einem zornigen Ton in der Stimme.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern ließ einfach nur ihren Blick wandern. Sie musterte Faber und Rosa kurz. Dann drehte sie sich wieder um und sah ins Nachbargrundstück.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie.
Noch ehe Faber, oder Rosa antworten konnten, ergriff der ohnehin schon unsympathische Mann das Wort. Er ging auf das Mädchen zu und fasste es bei der Schulter.
„Nichts, was dich angehen würde. Sieh zu, dass du rein kommst. Wird Zeit, dass wir uns dann unterhalten.“
„Hey, hey, nun mal langsam, ja!“, unterbrach Faber die Schroffheit. Irgendwo in ihm regte sich eine Art Beschützerinstinkt. Der Mann wich etwas zurück und sah Faber genervt an. Faber jedoch wandte sich dem Mädchen zu und sah ihr ins Gesicht.
„Mein Name ist Faber. Das ist meine Kollegin Herzog. Wir sind von der Polizei und ermitteln in der Nachbarschaft. Du wohnst also auch hier?“, fragte er. Dabei hatte er nicht den üblichen Ermittler-Ton drauf, sondern eher einen vertrauten Klang in seiner Stimme.
Das Mädchen nickte und antwortete mit einem knappen: „Ja.“.
„Euren Nachbarn, den Herrn Liebers, kanntest du den?“, fuhr Faber fort.
Der Mann, den Faber für den Vater des Mädchens hielt, drängte sich erneut dazwischen.
„Gar nichts weiß sie und niemanden hat sie gekannt. Ich hab jetzt mit ihr erst einmal zu klären, wo sie die ganze Woche gewesen ist.“
Er berührte das Mädchen leicht unsanft am Handgelenk, woraufhin sie das Gesicht etwas verzerrte und einen Laut unterdrückte.
„Also jetzt gehen se mir langsam auf die Nerven.“, reagierte Faber gereizt und drückte den Mann von dem Mädchen weg. Jetzt war es Rosa, die das Gefühl hatte eingreifen zu müssen.
Der Mann war ihr zwar ebenso unsympathisch wie Faber, aber es handelte sich hier um eine ganz normale Befragung in der Nachbarschaft. Keine Verdächtigungen, keine Beweise, keine Durchsuchungen. Wenn ein Zeuge nicht besonders gesprächsbereit ist, so war das bedauerlich, aber auch als Polizei mussten sie sich an die Spielregeln halten.
Rosa fasste Faber bei seinem Arm und hielt ihn zurück. Gleichzeitig hielt sie aber auch den Mann davon ab, das Mädchen weiter so grob anzufassen. Es war wie ein kurzweiliges Besinnen aller Beteiligten.
„Wir würden uns bei Ihnen melden, wenn wir noch Fragen haben. Dürften wir uns Ihren Namen notieren?“, fragte Rosa und sammelte all ihre Höflichkeit zusammen. Der Mann nickte. Offenbar wollte er die Kommissare nun schnell loswerden.
Rosa zückte ein Kärtchen aus ihrer Tasche. Darauf notierte der Mann seine Daten.
Währenddessen gab es einen intensiven Blickwechsel zwischen Faber und dem Mädchen. Sie stand inzwischen mit leerer Mine im Türrahmen zum Haus. Rosa beobachtete dies mit Interesse. Sie hatte bislang wenig Gelegenheit Faber so intensiv beim Ermitteln wahrzunehmen. Häufig waren die Verhältnisse im Team klar geklärt. Rosa ermittelte mit Jan, Faber hingegen mit Martina. Seit sie nur noch zu dritt waren, lernten sie einander besser kennen.
„Bitte.“, sagte der Mann und gab Rosa seine Kontaktdaten.
„Vielen Dank Herr Brauer.“, antwortete Rosa und sah auf das Kärtchen.
Dann blickte sie in Fabers Richtung. „Faber?“, fragte sie nach und riss ihn aus seinem Blickkontakt mit dem Mädchen heraus.
Sie wollte sich abwenden und gehen, nickte dem Mädchen freundlich zu und hoffte darauf, dass ihr Kollege ihr nun folgen würde.
Stattdessen ging Faber nochmal einen Schritt auf das Mädchen zu. Sie schien überrascht.
„Wie heißt’n du?“, fragte er sie leise.
Sie zögerte kurz. Aber mehr aus Verwunderung. Was wollte der Kommissar von ihr? Und warum war er so interessiert an ihr? Schließlich gab sie ihm aber eine Antwort.
„Jenny.“, sagte sie.
Faber lächelte sie an. Er wusste selbst nicht, warum er lächelte. Aber danach versuchte er sich zu fassen. Er ging von der Haustür weg und nickte dem unfreundlichen Mann wortlos zu. Am Gartentor blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. An der Haustür stand niemand mehr.
„Wie wäre es, wenn wir noch die Nachbarn zur anderen Seite befragen?“, fragte Rosa auffordernd. Sie hatte das Gefühl, dass Faber jetzt nicht mehr richtig bei der Sache war. Aber irgendwie musste es zunächst weitergehen. Er folgte ihr zustimmend.
Peter Faber und seine Kollegin Rosa Herzog waren mit dem Auto auf dem Weg zu einem Tatort. Ein neuer Fall kam vor ca. 30 Minuten auf ihren Schreibtisch. Es handelt sich um den Fund einer Männerleiche. Keine genauen Details. Erstmal nur Fundort, Adresse und das war es. Die beiden waren sofort losgefahren, als der Anruf kam.
Seit einigen Monaten war Faber nun wieder im Dienst. Seit er Martina Bönisch, seine wichtigste Stütze und Bezugsperson verloren hat, war das Leben für ihn recht leer geworden. Er dachte früher immer, dass er nur arbeiten müsse, dann wäre er mit dem Einzigen ausgefüllt, was er wirklich versteht und was er wirklich kann. Doch er hatte selbst gemerkt, dass diese Theorie nicht ganz stimmt. Ohne Martina war die Arbeit für ihn nicht mehr das Gleiche. Es war Tag ein, Tag aus eine regelmäßige Überwindung das Präsidium zu betreten. An seinem Schreibtisch zu sitzen und in das leere Büro gegenüber zu sehen. Manchmal spielte ihm sein Gehirn sogar Streiche. Oft sah er sie in Gedanken an ihrem Schreibtisch sitzen, oder wie sie vor ihm stand, ihn manchmal schroff anging, oder wie sie mit ihm lachte. Stellenweise glaubte er sogar, sie säße neben ihm im Auto und würde mit ihm sprechen. Täglich besuchte er ihre Grabstätte und verweilte dort. Aber am Ende folgte immer nur die bittere Gewissheit, dass sie nicht da war und dass sie nie wieder kommen würde. All das was 10 Jahre zur Gewohnheit geworden war, wurde in wenigen Sekunden beendet und es hätte so viel gegeben, was er ihr noch hätte sagen wollen. Alleine jetzt, wo er darüber nachdachte, spürte er diese Leere wie einen stechenden Pfeil in seinem Herzen.
Rosa schien die Gedanken ihres Chefs zu bemerken und sah ihn von der Seite an. Sie wusste wie bitter das tägliche Dasein für ihn ist. In der kurzen Zeit, die sie jetzt im Team Dortmund arbeitete, hatte sie von Anfang an gespürt, dass die Beziehung zwischen Faber und Martina intensiver war, als sie je ausgelebt wurde. Aber sie hätte nie darüber gesprochen. Martina war bei solch persönlichen Vertraulichkeiten eher distanziert und Faber war als Chef in der Vorgesetzten-Rolle. Rosa wäre nie auf die Idee gekommen, ihren Chef auf irgendwas anzusprechen. Sie fand, dass ihr das nicht zustünde. Und außerdem war sie schon froh, dass Faber überhaupt wieder in die Arbeit gefunden hatte. Mehr könnte man jetzt weder verlangen, noch erwarten.
Das Verhältnis der drei übrigen Dortmunder Ermittler hatte sich im vergangenen Jahr intensiviert. Man ging offener miteinander um, als früher. Vielleicht weil alle drei gemerkt hatten, dass sie sich brauchen und sich aufeinander verlassen müssen. Jan war heute nur ganz kurz im Dienst gewesen und deshalb auch bei der Erstbefragung jetzt nicht mit dabei. Er musste erkennen, dass er das Gewicht zwischen Arbeit und Privatleben besser verteilen müsse, wenn er sein Kind nicht verlieren will. Das Verhältnis zu seiner Tochter war in letzter Zeit nicht das Beste. Vor Allem Faber und Rosa drängten Jan zu einer Veränderung. Faber eher auf Vorgesetzten-Ebene, Rosa auf der Freundschaftlichen.
Als Faber und Rosa etwa eine halbe Stunde unterwegs waren, fuhren sie durch eine Siedlung mit vielen Eigenheimen, am Rande der Stand. Hier irgendwo war das Ziel. Nachdem die Autofahrt still verlief, versuchte sich Rosa nun doch noch an einem kurzen Gespräch mit ihrem Chef.
„Heute irgendwie noch nicht ganz da?“, fragte sie und lächelte Faber an.
Dieser drehte sich zu ihr rüber und zuckte mit den Achseln.
„Klingt unverschämt, wenn ich sage, dass ich über die Leiche froh bin.“
Rosa schmunzelte. Sie verstand ihn.
In den letzten Wochen war es sehr ruhig. Fast schon zu ruhig. So hart es ist, aber ihr Job besteht nun einmal aus Morden und das Vertrauen darauf, dass es immer Welche geben wird. Dies war ebenso bedrückend, als leider auch erfüllend.
Und gerade Faber hatte mehr als einmal in seinem Leben mit seinem Beruf gehadert. Seit dem Tod seiner Familie zieht sich das wie ein roter Faden durch seine Gedanken. Wäre er nicht das, was er ist, dann wären seine Frau und sein Kind noch am Leben. Jedoch, wäre er nicht nach Dortmund zurückgekehrt, hätte er Martina vermutlich nie kennengelernt. Aber auch Martina wäre vielleicht noch am Leben, wenn sie keine Kommissarin gewesen wäre. Wer weiß schon, was das Leben für einen beinhaltet hätte, wenn Dieses, oder Jenes nicht geschehen wäre. Er würde es nie erfahren.
Das Navi des Autos deutete an, dass sie ihr Ziel erreicht hätten. Es war auch nicht zu übersehen. Überall liefen bereits Mitarbeiter der Streife und der Spurensicherung vor einem Haus herum.
Faber und Rosa stiegen aus und liefen zum Eingang des Hauses. Drinnen roch es unangenehm modrig. Die beiden verzogen entsprechend ihre Mundwinkel. Von einem Mitarbeiter der Spusi wurden sie ins Wohnzimmer geleitet. Dort hockte Greta Leitner neben der Leiche eines ca. 50 jährigen Mannes.
„Hallo.“, grüßte Rosa ihre Kollegin aus der Rechtsmedizin nur knapp und fokussierte ihren Blick auf die Leiche.
Faber schwieg gänzlich. Auch er musterte den Mann. Es war ganz offensichtlich, dass er schon einige Tage tot war. Kein schöner Anblick.
„Die Leiche ist vermutlich schon etwa eine Woche alt. Zumindest würde ich das nach dieser ersten Begutachtung so sagen. Auf äußere Gewalteinwirkung könnte diese Kopfverletzung hindeuten. Wirkliche Details kann ich mit Sicherheit erst nach der Untersuchung liefern. Die voranschreitende Verwesung und die Hitze der letzten Tage, machen es hier etwas schwer.“, sagte Greta Leitner mit ehrlichem Blick.
Faber begann seinen Blick von der Leiche abzuwenden und sah sich im direkten Umfeld um. Das Haus, bzw. die Einrichtung wirkte eher alt und ungemütlich. Alles sehr hölzern und düster. Auf einem Schreibtisch stand ein geöffneter Werkzeugkasten. Alles war korrekt angeordnet. Doch Faber fiel gleich auf, dass ein Gegenstand fehlte. Die Vorgabe für einen Hammer, war unausgefüllt.
Im Hintergrund sprachen Rosa und Greta über den Leichenfund. Faber nahm das Gespräch zwar wahr, aber er sah aus dem Fenster zum Haus nebenan. Dort sah ein Mann aus dem Fenster. Oder besser gesagt, er lehnte sich interessiert über den Fensterstock nach draußen und rauchte dabei eine Zigarette.
„Der Mann wurde von einer Streife gefunden, nachdem die Feuerwehr die Tür aufgebrochen hatte. Eine Postbotin hatte auf dem Revier angerufen und gemeldet, dass hier seit Tagen die Zeitungen und Briefe nicht mehr aus dem Kasten geleert werden und dass Pakete unberührt vor der Tür stünden. Das kam ihr komisch vor.“, erzählte Rosa ihrem Kollegen Faber, der immer noch irgendwie gebannt zu dem Mann am Fenster sah.
„Faber?“, sprach Rosa ihn nochmal direkt an.
„Wurde in der Nachbarschaft schon irgendjemand befragt?“, entgegnete er mit einer Frage.
„Keine Ahnung. Vielleicht haben die Kollegen von der Streife schon was in Erfahrung gebracht, aber ich denke die Zeit war zu kurz.“, antwortete Rosa.
Faber nickte vor sich hin.
„Das Opfer heißt übrigens Ralf Liebers. 52 Jahre alt. Scheint allein hier gelebt zu haben. Das hat die Postbotin zu Protokoll gegeben. Sie hätte hier zumindest nie jemand anderen gesehen.“, ergänzte Rosa und verfolgte Fabers Blick.
Doch in diesem Moment schloss der Mann auf der anderen Seite das Fenster und verschwand von der Bildfläche.
„Tja, dann warten wir bis wir von den Kollegen mehr Informationen bekommen und hören uns im direkten Umfeld um.“, sagte Faber und verließ gemeinsam mit Rosa das Haus des Opfers.
Irgendwie hatte Rosa geahnt, dass Faber zielsicher auf das Haus nebenan zugehen würde. Da er es schon eben durch das Fenster im Blick hatte, war es keine große Überraschung. Wenig später standen sie vor der Haustür. Während sie warteten, sahen beide nach hinten in den Garten. Es wirkte alles sehr schmuck-und lieblos. Als wäre es nur da, damit es da ist, aber nicht, damit sich dort jemand wohlfühlen würde.
Als auf das Klingeln keine Reaktion folgte, betätigte Faber sie erneut und klopfte an die Tür. Er wusste schließlich, dass jemand zuhause war. Nach einer weiteren Minute des Wartens öffnete sich die Tür und der Mann, den Faber soeben noch am Fenster gesehen hatte, stand vor Ihnen.
Sein Erscheinungsbild war ziemlich ungepflegt. Auch sein Auftreten war nicht sympathischer.
„Na, wer hat es denn da so eilig? Darf man nicht mal mehr in Ruhe auf’m Klo sitzen?“, fragte er grinsend.
Rosa schien angewidert und beäugte ihn genau. Als wollte sie ihn möglichst zügig analysieren.
„Faber - Kripo Dortmund, das ist meine Kollegin Herzog. Wir haben ein paar Fragen an Sie.“, reagierte Faber mit unbewegter Mine.
„Na sowas, die Kripo. Was verschafft mir die hohe Ehre?“, fragte der Mann und zündete sich im gleichen Augenblick eine Zigarette an. Als er den ersten Zug genommen hatte, pustete er den ausgeatmeten Qualm unverschämt in Richtung der Kommissare.
„Wir haben heute Ihren Nachbarn Herrn Liebers tot in seinem Haus aufgefunden. Uns interessieren Details, die Sie vielleicht beobachtet haben. Lebte er allein? Hatte er in letzter Zeit Besuch, oder kam Ihnen irgendwas auffällig vor?“, begann Faber die Befragung.
„Wüsste nicht, was mir da aufgefallen sein soll. Nur weil er mein Nachbar war, müssen wir ja nichts miteinander zu tun gehabt haben.“
Rosa forderte diese Art irgendwie heraus.
„Aber gekannt haben Sie ihn schon? Also sie haben zumindest gewusst, dass nebenan jemand wohnt. Oder ist das an Ihnen vorbei gegangen?“, fragte sie.
„Nun mal nicht so unverschämt. Ich könne mir für Sie jetzt auch was ausdenken, aber ich weiß nichts und mir ist auch nichts aufgefallen. Liebers war mein Nachbar, ich habe ihn jetzt schon eine Weile nicht gesehen. Das ist alles.“, antwortete der Mann und zog weiter genüsslich an seiner Zigarette.
Rosa versuchte sich auf das Wesentliche zu besinnen.
„Können Sie uns dann zumindest bestätigen, dass er allein gelebt hat? Wissen sie ob er Familie hatte?“
Der Mann beteuerte weiterhin ahnungslos zu sein und kaum über seinen Nachbar Bescheid gewusst zu haben. Während Rosa noch versuchte ihm ein paar spärliche Antworten zu entlocken, nahm Faber ein Mädchen wahr, das sich dem Haus näherte. Er schätzte sie auf etwa 15 oder 16 Jahre. Sie hatte langes dunkelblondes Haar, war von blasser, schmaler Gestalt und hatte einen unsicheren Blick. Faber konnte nicht genau erklären, was es war, aber aus irgendeinem Grund, musterte er das Mädchen sehr genau. Sie betätigte das Gartentor und kam näher. Dabei drehte sie sich immer wieder um und sah rüber in das Grundstück des Opfers. Das Aufgebot an Polizei erregte offenbar ihre Aufmerksamkeit.
Als sie dann unmittelbar an der Haustür angekommen war, richteten auch Rosa und der Mann ihren Blick auf das Mädchen.
„Ach, na sowas. Findest du tatsächlich auch mal wieder hier her.“, sagte der Mann mit einem zornigen Ton in der Stimme.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern ließ einfach nur ihren Blick wandern. Sie musterte Faber und Rosa kurz. Dann drehte sie sich wieder um und sah ins Nachbargrundstück.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie.
Noch ehe Faber, oder Rosa antworten konnten, ergriff der ohnehin schon unsympathische Mann das Wort. Er ging auf das Mädchen zu und fasste es bei der Schulter.
„Nichts, was dich angehen würde. Sieh zu, dass du rein kommst. Wird Zeit, dass wir uns dann unterhalten.“
„Hey, hey, nun mal langsam, ja!“, unterbrach Faber die Schroffheit. Irgendwo in ihm regte sich eine Art Beschützerinstinkt. Der Mann wich etwas zurück und sah Faber genervt an. Faber jedoch wandte sich dem Mädchen zu und sah ihr ins Gesicht.
„Mein Name ist Faber. Das ist meine Kollegin Herzog. Wir sind von der Polizei und ermitteln in der Nachbarschaft. Du wohnst also auch hier?“, fragte er. Dabei hatte er nicht den üblichen Ermittler-Ton drauf, sondern eher einen vertrauten Klang in seiner Stimme.
Das Mädchen nickte und antwortete mit einem knappen: „Ja.“.
„Euren Nachbarn, den Herrn Liebers, kanntest du den?“, fuhr Faber fort.
Der Mann, den Faber für den Vater des Mädchens hielt, drängte sich erneut dazwischen.
„Gar nichts weiß sie und niemanden hat sie gekannt. Ich hab jetzt mit ihr erst einmal zu klären, wo sie die ganze Woche gewesen ist.“
Er berührte das Mädchen leicht unsanft am Handgelenk, woraufhin sie das Gesicht etwas verzerrte und einen Laut unterdrückte.
„Also jetzt gehen se mir langsam auf die Nerven.“, reagierte Faber gereizt und drückte den Mann von dem Mädchen weg. Jetzt war es Rosa, die das Gefühl hatte eingreifen zu müssen.
Der Mann war ihr zwar ebenso unsympathisch wie Faber, aber es handelte sich hier um eine ganz normale Befragung in der Nachbarschaft. Keine Verdächtigungen, keine Beweise, keine Durchsuchungen. Wenn ein Zeuge nicht besonders gesprächsbereit ist, so war das bedauerlich, aber auch als Polizei mussten sie sich an die Spielregeln halten.
Rosa fasste Faber bei seinem Arm und hielt ihn zurück. Gleichzeitig hielt sie aber auch den Mann davon ab, das Mädchen weiter so grob anzufassen. Es war wie ein kurzweiliges Besinnen aller Beteiligten.
„Wir würden uns bei Ihnen melden, wenn wir noch Fragen haben. Dürften wir uns Ihren Namen notieren?“, fragte Rosa und sammelte all ihre Höflichkeit zusammen. Der Mann nickte. Offenbar wollte er die Kommissare nun schnell loswerden.
Rosa zückte ein Kärtchen aus ihrer Tasche. Darauf notierte der Mann seine Daten.
Währenddessen gab es einen intensiven Blickwechsel zwischen Faber und dem Mädchen. Sie stand inzwischen mit leerer Mine im Türrahmen zum Haus. Rosa beobachtete dies mit Interesse. Sie hatte bislang wenig Gelegenheit Faber so intensiv beim Ermitteln wahrzunehmen. Häufig waren die Verhältnisse im Team klar geklärt. Rosa ermittelte mit Jan, Faber hingegen mit Martina. Seit sie nur noch zu dritt waren, lernten sie einander besser kennen.
„Bitte.“, sagte der Mann und gab Rosa seine Kontaktdaten.
„Vielen Dank Herr Brauer.“, antwortete Rosa und sah auf das Kärtchen.
Dann blickte sie in Fabers Richtung. „Faber?“, fragte sie nach und riss ihn aus seinem Blickkontakt mit dem Mädchen heraus.
Sie wollte sich abwenden und gehen, nickte dem Mädchen freundlich zu und hoffte darauf, dass ihr Kollege ihr nun folgen würde.
Stattdessen ging Faber nochmal einen Schritt auf das Mädchen zu. Sie schien überrascht.
„Wie heißt’n du?“, fragte er sie leise.
Sie zögerte kurz. Aber mehr aus Verwunderung. Was wollte der Kommissar von ihr? Und warum war er so interessiert an ihr? Schließlich gab sie ihm aber eine Antwort.
„Jenny.“, sagte sie.
Faber lächelte sie an. Er wusste selbst nicht, warum er lächelte. Aber danach versuchte er sich zu fassen. Er ging von der Haustür weg und nickte dem unfreundlichen Mann wortlos zu. Am Gartentor blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. An der Haustür stand niemand mehr.
„Wie wäre es, wenn wir noch die Nachbarn zur anderen Seite befragen?“, fragte Rosa auffordernd. Sie hatte das Gefühl, dass Faber jetzt nicht mehr richtig bei der Sache war. Aber irgendwie musste es zunächst weitergehen. Er folgte ihr zustimmend.