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Zwischen Gold und Silber

Kurzbeschreibung
GeschichteLiebesgeschichte, Historisch / P16 / Het
Charles H. Lightoller Harold G. Lowe Margaret Brown OC (Own Character) Thomas Andrews William M. Murdoch
09.10.2022
30.11.2022
37
131.144
4
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16.10.2022 4.068
 
Kapitel 5

Morgen bin ich wieder brav, heute bin ich schwach. Morgen brauch ich Schlaf, heute bin ich wach. Jetzt tue ich was ich will, jetzt will ich was ich fühl und ich fühl den Hunger nach Glück und den Durst auf das Leben. Ich will Musik, ich will tanzen und schweben. Schrankenlos frei, wie ein Engel der durch Wolken fliegt. Schwerelos leicht, wie das Licht das sich im Wasser wiegt…  (Die roten Stiefel aus dem Musical Tanz der Vampire)

Die Welt um sie herum schien ihrem Untergang näher zu kommen. Die angekündigte Apokalypse, welche einige Menschen schon in den vergangenen Jahren prophezeit hatten, trat nun ein. Das zu mindestens dachte Delilah als sie durch das dunkle Waldgebiet rannte. Noch immer hatte die junge Frau mit den dunkelbraunen Haaren nicht gewagt, sich umzudrehen. Ihr Kopf spielte alle möglichen Szenarien ab während ihr Herz voller Sehnsucht pochte. Nebenbei liefen ihr hunderte Tränen an der Wange herab, spiegelten ihre Trauer durchgängig wieder. Nein… War es überhaupt Trauer oder andere Gefühle, sich nur zu lange aufgestaut hatten? Sie konnte es nicht einschätzen. Alle möglichen Emotionen und Gefühle breiteten sich gerade in ihr aus. Es fühlte sich fast so an als würde sie aufgrund dieses Strudels innerhalb ihrer Seele sterben, sobald sie anhalten würde. Aber was genau war da, was ihr soeben diese Stärke ermöglichte? Zum einen Angst, dass sie nun von irgendjemandem gefunden werden sollte. Dann gab es da aber auch Hass gegenüber Jonathan, welcher sie einfach betrogen und hintergangen hatte. Gleichzeitig richtete sich dieses Gefühl aber auch an ihren vollkommen verrückt gewordenen Vater, welcher sie vor all diesen Menschen angeschrien und als Schande für die Familie bezeichnete. Aber dieses Gefühl ging auch von den Zuschauenden aus, welche nur tuscheln mussten, ihr aber nicht halfen. Ein weiteres Gefühl… war Scham. Ja, Delilah schämte sich wirklich für die Tatsache, dass Jonathan sie betrügen konnte. Über ihre Unfähigkeit, eine einigermaßen gespielte Scheinehe zu spielen. Außerdem spukten noch die ganzen Blicke der anderen Männer und Frauen in ihrem Kopf umher, welche das Mädchen tadelnd und verachten ansehen mussten. Aber zu dieser ganzen Negativität… kam auch das Gefühl von Freiheit.

Ja. Ihr Kopf begann erst jetzt, diese Tatsache zu verarbeiten. Delilah war frei. Die Blauäugige hatte es geschafft, sich aus den goldenen Ketten ihres Lebens loszulösen. Die glitzernde Tür ihres jahrelangen Käfigs hatte sie aufstoßen können. Nun gab es nur noch sie als Person, keinen bedeutenden Nachnamen oder andere Vorurteile, welche an ihr haften bleiben sollten. Eine Frage blieb nun jetzt jedoch… wie sollte ihr Leben weitergehen? Wohin sollte das junge Mädchen mit den dunkelblauen Augen nun gehen, wenn die Realität wieder nach ihr verlangte? Plötzlich donnerte es gewaltig, sodass Delilah das erste Mal stehenblieb. Wie aus einem langanhaltenden Traum gerissen sah sie sich um, atmete dabei schwer. Erst jetzt fiel ihr die vollkommene Dunkelheit um sie herum auf. Kein Stern war am Himmel zu erkennen, lediglich die Blitze und eben der Donner erfüllten in unregelmäßigen Abständen ihre Umwelt. Ihr jüngeres Ich hatte sich bei solch einem Wetter immer unter dem Bett versteckt, bis Maria gekommen war, um sie in eine schützende Umarmung zu nehmen. Die Wolken zogen sich immer mehr zusammen, ließen nichts mehr hindurch. Keine Strahlen des Mondes, keine den Weg zeigenden Sterne. Zitternd strich Delilah über ihre Wangen und versuchte ihre Ruhe zurückzufinden. Alles drehte sich, wirkte wie in einem andauernden Fiebertraum. Was nun? Wohin musste sie laufen? Welche Weg war nun der Richtige? Hinter ihr konnte sie nicht mehr das Haus ihrer Eltern erkennen. So weit war die braunhaarige Schönheit augenscheinlich schon gelaufen. Vor sich ergriff die Nacht weiterhin das Waldgebiet, welches noch einige Kilometer andauerte. Im Großen und Ganzen konnte man eines somit sagen: Sie war vollkommen allein in dieser Dunkelheit, ohne mögliche Hilfe und Zuversicht.

„ Verdammt, Delilah…“, murmelte sie sich zu, merkte dann auch gleichzeitig wie der Regen wieder stärker einsetzte. Nun war ihre Kleidung innerhalb von einigen Minuten vollkommen durchnässt. Auf ihren Arme zeichnete sich eine Gänsehaut ab, welche der Rest ihres Körpers ebenso annahm. Ihre nackten Füße wurden kalt, spürten kaum noch den Boden unter ihnen. Wo sollte sie hin, wohin? Tief durchatmen, Delilah. Tief durchatmen und irgendwie versuchen nachzudenken, sprach eine innere Stimme ihr Mut zu. Den Kopf verlieren brachte ihr nun nichts. Aber… Aber was wenn doch? Erneut stieg die Verzweiflung in der Dame hoch, während diese sich vorsichtig durch die Nacht traute. Ihre Bewegungen waren schleichend, als würde ein wildes Team neben ihr hocken, das sie unbedingt umgehen musste. Was war, wenn ihre Entscheidung die Falsche war? Warum hatte sie sich nicht einfach eine Entschuldigung an die Anwesenden gerichtet? Dann würde sie nun nicht in dieser Dunkelheit stehen und das über sich ergehen lassen müssen.

Nein, dann hätte sie doch ihren eigenen Idealen widersprochen! Sie wäre freiwillig wieder in die Hände des Teufels gelaufen, das hätte Delilah niemals mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Jedoch… dann wäre sie noch immer dort im Haus, im Warmen, in Sicherheit… wirklich? Delilah stützte sich tief keuchend an einem der Bäume ab, während nun ein kräftiger Blitz in einen anderen Baum einschlug. Ängstlich hielt sie sich an dem neben ihr fest, schloss panisch die dunkelblauen Augen und unterdrückte ein Wimmern. Der betroffene Baum erzeugte einen gewaltigen Knacks und fiel sogleich zur Seite, als Delilah wie aus dem Nichts eine Stimme hören konnte. Sofort versteckte sich die Brünette hinter dem Baum neben ihr. Für wenige Sekunden herrschte eine angespannte Stille, bis erneut eine Stimme hörbar wurde. Nein… es waren sogar zwei Stimmen. Zwei Frauen, fragte sich Delilah verwundert und blickte hinter dem Stamm ganz leicht hervor. Aus dem Affekt heraus dachte sie, dass diese bestimmt sich auch verlaufen hatten. Konnten sich die drei Damen möglicherweise helfen, überschlugen sich ihre Gedanken. Aber als das Gespräch weiterlief, wurde Delilah eines klar. Diese unbekannten Frauen hatten sich gar nicht verlaufen. Sie… Sie waren freiwillig in diesen dunklen Wald gekommen?

„ Verdammt noch eins, das war aber knapp!“, erklang die empörte Stimme einer jungen Frau.
„ Hast du das gesehen? Ich wäre ja beinahe unserem Schöpfer begegnet. Beim nächsten Mal gehst du voran, Schwesterherz! Ich habe wirklich gar keine Lust darauf, dass mein Leben bereits am heutigen Tag endet.“, beendete diese ihren Satz. Delilah lehnte sich etwas unsicherer an ihren Baum. Die Fremde musste ungefähr im selben Alter wie Delilah gewesen sein. Diese lugte nach einem kurzen Moment der Angst ein wenig mutiger hinter dem Baum hervor und erkannte geradeso den Umriss einer Frau. Diese hielt sich eine Art Seidentuch über den Kopf und schützte somit sich selbst und ihre Begleitung. Diese – sie musste ein wenig älter sein als ihre Begleitung – sammelte am Boden einige Gräser und aufzufindende Beeren zusammen. Delilah konnte ihre pechschwarzen Haare erkennen. Ebenso schien es so, als würden beide bunte Röcke und einfarbige Blusen tragen. Solche Kleidung kannte die Brünette in dieser Region doch eher weniger.
„ Könntest du bitte nicht so mit mir diskutieren, Selma?“ , murmelte die Ältere und steckte sich einige Pflanzen in einen Beutel. Dieser baumelte um ihrer Taille, war inzwischen aber doch ziemlich durchnässt worden.
„ Ich und diskutieren?“, empörte sich die Ältere mit einem schmollenden Gesichtsausdruck.
„ Das hat doch mit einer Diskussion überhaupt nichts zu tun. Wir wurden gerade fast von einem Blitz getroffen, Marchella! Ich kann mir durchaus besseres vorstellen.“
Die Angesprochene schüttelte merklich den Kopf und wrang sich kurz ihre längeren Haare aus. Sie waren wohl auch schon länger hier unterwegs, dachte Delilah dabei.

„ Ja, die Betonung liegt auf fast. Wir wären fast von einem Blitz und oder Baum getroffen worden. Wir haben eben einen sehr schlechten Zeitpunkt abgepasst, nach möglichen Pflanzen zu suchen. Das hätte uns auch irgendwo anders passieren können. Aber nun ist ja alles okay. Hilf mir lieber anstatt dort zu stehen, wie der Herr dich schuf.“
Die Angesprochene stieß einen etwas genervten Ton aus, beugte sich dann aber auch herunter und sammelte ebenfalls einige für Delilah nicht erkennbare Objekte auf. Ihre Konzentration musste hierbei vollkommen auf dem Punkt sein, wenn sie keine giftigen oder unbrauchbaren Kräuter oder andere Pflanzen einsammeln wollte.
„ So, nun komm. Wir sind bereits länger unterwegs, als wir es eigentlich abgesprochen haben. Die Anderen warten bestimmt schon längst auf unsere Rückkehr.“, sprach nun die ältere der beiden Damen. Augenblicklich standen sie auf und verschwanden wieder in der Nacht. Im Schein eines erneuten Blitzes zuckte Delilah erneut zusammen, konnte aber im selben Moment mehr von den weiblichen Fremden erkennen. Ihre Kleidung wirkte sehr luftig, kombiniert mit den unterschiedlichsten Farben und Symbolen. Beide trugen goldene Ohrringe, so waren diese aber deutlich eine Fälschung. Um ihre Haare zurückzuhalten hatten sie sich Tücher um den Kopf gebunden. Jedoch unterschieden sich ihre Farben hier.

Woher sie wohl kamen, dachte Delilah. Aufgrund ihrer wenigen Mitbringsel sollten sie mit Sicherheit nicht weit von ihrem Zuhause entfernt sein. Kein Essen, kein Trinken oder andere Kleidungsstücke. Bestimmt wohnten diese Damen in einer Hütte irgendwo am Horizont. Konnte sie… ihnen möglicherweise folgen? Sollten sie an einen Ort gehen, wo die Braunhaarige eventuell für diese Nacht bleiben konnte? Oder zu mindestens solange, bis das Wetter ein wenig besser geworden war? Hatte… Hatte die Blauäugige denn etwas zu verlieren? Nun ja, eigentlich nicht. Entweder sie blieb hier und erhoffte sich, dass der Regen verging oder sie folgte den Fremden, die ihr vielleicht ein Dach über dem Kopf anbieten könnten.
„ Hab Mut…“, murmelte Delilah sich ganz leise zu und legte sich ihre triefend nassen Haare etwas über ihre Schultern. Tief Luft holend trat die Tochter der Winston Familie erst einen, dann mehrere Schritte nach vorne. Immer wenn die beiden Damen sich umdrehten, versteckte sie sich hinter einem Baum oder Strauch. Manchmal stolperte die Blauäugige über die Wurzeln der Bäume, fing sich dabei nur ganz knapp immer wieder auf.

Die genaueren Gesprächsthemen der Unbekannten nahm Delilah nicht unbedingt wahr. Lediglich die Jüngere gestikulierte des Öfteren und erzählte möglicherweise eine spannende Geschichte. Vielleicht sollte es auch um ihre kommenden Pläne für den weiteren Abend gehen? Auf jeden Fall schienen sie nicht zu bemerken, dass Delilah ihnen hinterher lief. Erst als die Frauen einen kleinen Berg herunter gingen, hielt Delilah an und versteckte sich erneut hinter einem höheren Gebüsch. Ganz vorsichtig drückten ihre Hände das Gestrüpp beiseite, sodass die Dornen nicht unbedingt direkt in ihre Haut schlugen. Aber ihre massive Gänsehaut verhinderte selbst diese Tatsache ein wenig. Ihre dunkelblauen Augen versuchen etwas durch die dunklen Blätter zu erkennen. Zuerst erkannte Delilah nur einen dunklen Weg, hohe Felsen im dunklen Tal der Nacht. Aber dann…Tatsächlich. Dort, ganz unten, leuchtete ein großes Feuer. Es brachte ein wenig Licht an diesen Ort, konnten die Schatten der Dunkelheit aber nicht vollkommen verdrängen. Die leuchtenden Flammen befanden sich unter einem leicht in das untere Tal herein ragenden Felsen, sodass die Kinder des Feuers durch den Regeln nicht erloschen. Insgesamt drei Frauen sowie ein Mann saßen um dieses herum, unterhielten sich und bereiteten anscheinend ein Essen vor. Dazu gehörten auch jene Damen, hinter denen die Brünette hergelaufen war. Delilah berührte vorsichtig ihren Bauch, hatte sie zuletzt heute früh einen kleinen Apfel herunter bekommen. Aber das war nun nicht relevant, riss sie sich zusammen. Was gab es sonst noch zu sehen? Um die Sitzenden herum standen einige Zelte, welche fein säuberlich aufgestellt worden waren. Aus diesen kam jedoch niemand heraus, sodass Delilah sicher war, dass die Gruppe nur aus diesen vier Leuten bestehen musste.

„ Da seid ihr ja endlich wieder. Wir haben schon auf euch gewartet!“, hob nun eine weitere Frau ihre Stimme an. Eine schwarzhaarige Schönheit mit dunkelgrünen Augen stand am Feuer und spielte ein wenig auf ihrem Tamburin. Die Melodie erinnerte Delilah an ihre Kindheit. Die Töne flogen wie Vögel umher, schienen aber nie die Rückkehr zu ihrer Erschafferin anzustreben. Sie verflüchtigten sich lieber in die pechschwarze Nacht und gingen den Weg, welchen sie für richtig erachteten. Die einzige Tochter von Dorothy Winston schluckte ruhig, drückte erneut einzelne Blätter aus ihrem Gesicht. Somit konnte sie die weitere Unbekannte ansehen. Die Haare trug sie mithilfe eines dunkelvioletten Tuches nach hinten, sodass ihr feines Gesicht dauerhaft zu sehen war. Wie aus einem Roman entflohen wirkte die Dunkelhaarige. Delilah wurde ein wenig rot und schluckte. Besonders, als die Grünäugige lächelte. Wow, dachte Delilah. So eine schöne Frau hatte sie noch nie gesehen, gestand sie sich selbst ein.
„ Ja, entschuldigt bitte. Selma hatte einen kurzen Augenblick der Faulheit und wollte nicht mitkommen.“
„ Also, Marchella! Was erzählst du denn da schon wieder? Das stimmt doch überhaupt nicht!“, entzürnte sich die Dunkelhaarige erneut und legte ihren Beutel mit den gesammelten Kräutern und Pflanzen auf einem der Holzstämme ab. Auf denen sollten sie in den kommenden Stunden Platz nehmen.
„ Marchella und ich wären fast von einem Blitz getroffen worden, Esmeralda. Es hat wirklich nicht mehr viel gefehlt und wir beide wären gar nicht mehr zurückgekommen. Darauf hatte ich heute Mal keine große Lust, wenn du verstehst was ich meine.“, erklärte die jüngere der Damen und verzog leicht schmollend ihren Mund.

„ Naja. Zu mindestens hab ihr es wieder rechtzeitig zum Essen geschafft. Und Kräuter habt ihr auch gefunden, das ist doch perfekt. Dann hat es sich ja gelohnt, dass ihr noch einmal losgehen wolltet.“, lächelte die Schwarzhaarige. Diese erhob mit diesem zärtlichen Ausdruck im Gesicht ihre Augen und wollte eigentlich nur die Schönheit der Nacht mustern. Genau in diesem Moment… traf ihr Blick jenen von Delilah, welche sich noch immer oben auf dem kleinen Berg versteckte. Die Brünette selbst bekam jetzt nur noch mit, dass die alle Reisenden dort unten unerwartet ruhig wurden. Panik stieg in ihr auf, wobei auch Delilah´s Herz schneller innerhalb der Brust pochte. Hatte diese Frau sie gesehen? Sollte man ihr nun an den Kragen wollen? Konnten diese Damen… sie möglicherweise sogar umbringen? Erneut stieg Furcht in Delilah auf, wobei sie einen leisen Schritt nach hinten wagen wollte. Nun gab es für sie noch die Möglichkeit, zu verschwinden und diese Begegnung aus ihrem eigenen Gedächtnis zu löschen. Wie aus dem Nichts griff jedoch plötzlich jemand nach ihrem Arm. Ruckartig sah das Mädchen zurück, bemerkte einen großen Mann mittleren Alters direkt vor sich. Seine Augen waren zusammengezogen. Er sah wütend aus. Extrem wütend.

„ Ach… Sieh mal einer an. Ein kleiner Vogel, der mitten in der Nacht hier spionieren möchte…“, gab er dunkel von sich. Diese Aussage rief er auch seinen Leuten zu, welche sich unten sammelten und am Feuer zusammenkamen. Delilah versuchte mit allen ihr noch zu Verfügung stehenden Kräften loszureißen, hatte dabei aber kein Glück. Er war ihr körperlich vollkommen überlegen. Allein der Gedanke, sie könnte ihm irgendwie entkommen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Als würde sie nicht einmal einen Gramm wiegen, warf der Mann sie über die Schulter. Delilah keuchte erschrocken auf, zappelte wie ein Fisch an der Angel. Vollkommen hilflos und sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr fliehen konnte.
„ Lass mich los! Lass mich doch bitte los!“, rief sie dem Unbekannten erneut entgegen. Dieser jedoch regte keinen Muskel in seinem Gesicht, sondern trug das Mädchen einfach weiter den Abhang herunter.

Erst beim Erreichen des Gruppenlagers wurde sie auf den Boden geworfen. Ohne Erbarmen landete Delilah auf dem aufgeweichten Boden, sodass sie nun nicht nur nass sondern auch vollkommen dreckig war. Augenblicklich senkte sie den Kopf, wagte es nicht ihren Blick anzuheben. Sie setzte sich nur auf die Knie und krümmte ihren Körper leicht nach vorne. Die blauäugige Frau bemerkte nur das Näherkommen der Frauen und Männer. Einige tuschelten schon, andere sahen die Fremde schweigend an. Delilah spürte so eine gewaltige Angst in sich, dass dieses Wort eigentlich zu kraftlos war, um ihre Situation zu beschreiben.
„ Wer soll das denn sein, Eduard?“
„ Was denkt ihr denn, wer das sein soll? Wir hatten einen kleinen Spion oben sitzen. Das kleine Vögelchen wollte wohl schauen, was wir so machen und uns dann verpfeifen.“, sprach der Mann erneut und verschränkte seine Arme vor der Brust.
„ Dann hat uns wirklich jemand verfolgt, ich wusste es doch!“, sprach Selma nun überrascht aus und zog aufgeregt an der beigen Bluse von Marchella. Diese sah ihre kleine Schwester an, etwas überrascht und durcheinander zugleich. Das hatte sie eben nicht wirklich gesagt, oder? Ihr war bewusst, dass Selma manchmal doch eigenartige Angewohnheiten hatte. Aber nicht zu sagen, dass sie in einer dunklen Nacht verfolgt wurden?
„ Du hattest das Gefühl, dass wir beobachtet werden und du hast aber nichts gesagt? Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“
„ Naja…“, grummelte Selma und legte den Kopf etwas schief wobei ihre Nachbarin nur den Kopf schüttelte und anscheinend den Glauben in die Welt verloren hatte. Der einzige Mann der Runde verdrehte ebenfalls die Augen. Dieses junge Ding sollte ihnen allen noch einmal den Tod bringen, dachte er und sah wieder zu der Fremden.

„ Mal davon abgesehen, dass Selma uns alle in den Tod hätte schicken können-“
„ Was ist nicht getan hätte!“, verteidigte sich die Jüngere und bekam nur einen leicht zurechtweisenden Blick von Eduard.
„ Das ist nicht wichtig, verdammt! Die bessere Frage ist doch: Was machen wir nun mit ihr?“, fragte der Blondhaarige und deutete mit verschränkten Armen wieder auf das junge Ding direkt vor seinen Füßen.
„ Wir wissen nicht, ob sie geschickt wurde, um unsere Gruppe auszuspionieren. Die Leute hier können uns sowieso nicht leiden. Es könnte doch sein, dass die Leute hier in der Umgebung sie geschickt haben. Dann wäre unser Vögelchen hier zurückgeflogen, hätte ihnen unseren Platz gezeigt und dann wären wir verhaftet worden.“
„ Ich glaube eher weniger, dass sie geschickt wurde, um uns ausfindig zu machen, Eduard.“, sprach nun die Dame mit dem Tamburin und kam ebenso wie ihre Mitreisenden näher. Ihre grünen Augen musterten Delilah noch immer. Ob sie gut oder schlecht von dieser Person dachte, konnte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal sie selbst einschätzen.
„ Dennoch! Sie hat uns ausspioniert. Dafür müsste sie die gleiche Strafe bekommen wie die anderen, die es vor ihr versucht haben.“
„ Sollten wir nicht vielleicht erst einmal-“
„ Marchella hat vollkommen recht, Esmeralda.“, erklang wieder die Stimme des Mannes. Dabei richtete er seine längeren, blonden Haare innerhalb seines Zopfes und strich sich den Dreck aus dem Gesicht.
„ Diese Frau soll genauso behandelt werden wie alle vor ihr, die versucht haben, uns an die Polizei und Wachmänner ihrer Städte zu verraten. Gehen lassen können wir sie nicht. Dann sind wir morgen alle tot.“

Eduard griff an seine Taille und holte aus dem dort befindlichen Stoffbeutel einen Gegenstand hervor. Delilah musste nicht hinaufsehen, um diesen zu erkennen. Das Klingen eines Messer konnte sie auch so hören. Wollte er sie mit einem Messerstich töten? Unbewusst zuckte ihr Körper zusammen, obgleich sie doch eigentlich stark sein wollte. Sollte dies dann wahrlich ihr Ende sein? Gerade war sie der einen Hölle entkommen und nun saß Delilah in der Nächsten? Ohne es mitzubekommen, betete die junge Frau murmelnd vor sich hin. Darauffolgend bekam sie von den Anwesenden einen überraschten Blick, den sie selbst natürlich nicht mit ihren Augen einfing.
„ Nein, wie niedlich. Die Kleine fängt ja an zu beten.“, lachte der Mann der Runde während zwei der drei Damen ebenfalls leise lachten. Erneut zuckte Delilah zusammen und umfasste ihren zitternden Körper mit den Armen. Die blauen Flecke dort von vor einigen Wochen taten mit einem Mal wieder so stark weh. Esmeralda – die Dame mit dem Tamburin – schien dies zu bemerken. Vorsichtig reichte sie Marchella das Musikinstrument, während sie die Schwarzhaarige nur fragend ansah. Die Grünäugige jedoch trat einen Schritt näher an den männlichen Begleiter der Runde heran. Das alles hier lief gerade sehr aus dem Ruder, dachte sie mitleidend.
„ Du verängstigt sie, Eduard.“, offenbarte sie dem Blondhaarigen und sah dabei weniger begeistert aus. Dieser reagierte nicht auf die Aussage ihrer Mitreisenden, sodass diese erneut ihre Stimme erhob.
„ Das muss nun wirklich nicht sein, egal was ihre Beweggründe sind, uns zu beobachten.“
Der Angesprochene atmete nur tief durch und sah sie an. Auf solche Diskussionen hatte er wirklich keine Lust. Er kannte Esmeralda nun schon einige Jahre. Sie wollte immer nur die Gerechtigkeit für alle Beteiligten erreichen. Manchmal… verrannte sich die Schwarzhaarige dadurch aber auch.

„ Ach Esmeralda. Jetzt tu bitte nicht so als würde dich das Schicksal dieser Fremden interessieren. Ich weiß, dass du versucht, jeden Menschen mit gleichmütigem Blick zu sehen. Das rechne ich dir auch an, keine Frage. Aber in diesem Fall gibt es nichts Gutes zu sehen. Sie ist eine Spionin, Punkt und Aus.“, murmelte der Angesprochene nur und wenige Sekunden später bewegte er bereits sein Messer. Sogleich schnitt er den Stoff von Delilah´s Kleid hindurch. Seines Erachtens konnte man diese vielleicht noch für andere Zwecke verwenden, als Putzlappen oder wenn ihre Kleidungen kaputt gingen und man Stoffreste brauchte. Doch sofort wurden auch weitere blaue Flecken ersichtlich, welche sich vor allem an den Armen und ihrem Rücken abzeichneten. Ja. Jonathan war nicht sanft mit ihr ins Gericht gegangen, sobald er wütend geworden war. Besonders auf ihrem Rücken zeichneten sich Striemen ab, die eindeutig Schmerzen hervorrufen mussten. Esmeralda weitete ihre Augen und hielt sich die Hand vor den Mund. Selbst das Grinsen von Selma und Marchella war von ihren Lippen gewichen. Ihnen wurde jetzt bewusst, was ihre Aktionen soeben ausgelöst haben könnten. Solche Verunstaltungen… hatten sie seit ihren eigenen nicht mehr gesehen.
„ Bitte… Bitte lasst mich gehen…“, murmelte Delilah nun endlich, hob aber ihren Kopf nicht nach oben. Im Gegenteil, sie drückte diesen an ihre Brust und zitterte erneut. Es sollte einfach schnell vorbeigehen, erhoffte sich die Brünette und vergoss nun wieder neue Tränen. Dabei drückte sie ihre goldene Kette von Mister Andrews an ihre nackte Brust.
„ Ich werde garantier keinen-“
„ Eduard, das reicht jetzt!“
Auf einmal trat Esmeralda neben das zitternde, junge Mädchen. Vorsichtig knüpfte sie das Tuch auf, welches sie normalerweise um ihre Hüfte trug. Es glitzerte im Schein des Feuers als wäre es aus einer anderen Welt. Nun jedoch legte die Schwarzhaarige es der Brünetten um den Körper, sodass dieser nicht vollkommen durch den Regen erkalten sollte. Aber vor allem auch, um ihr die Schmach zu nehmen, hier fast vollkommen nackt zu sitzen. Delilah sah kaum merklich zu Esmeralda, glaubte nicht an eine schützende Rettung von dieser. Doch Esmeralda wickelte ihr Tuch enger um Delilah und legte ihre Arme um sie. Strafend sahen ihre dunkelgrünen Augen dann wieder nach oben und fokussierten dabei Eduard. Dieser wusste durchaus, was nun kommen sollte.
„ Nun ist wirklich genug. Schau sie dir doch an. Sie wurde bereits vollkommen zugerichtet und du willst noch Öl ins Feuer gießen…“
„ Sie ist eine Fremde, warum nimmst du sie vor den Augen unseres Herren so in Schutz, Esmeralda?“
„ Sind wir nicht alle Kinder von Gott, Eduard?“, fragte die Grünäugige nun direkt und sah den Mann direkt an.

Na toll, dachte dieser und senkte seine Klinge. Diesen Spruch hatte er in den vergangenen Jahren schon mehrmals hören dürfen. Auch die anderen Zuschauenden musterten ihre Mitreisende und Vertraute.
„ Dennoch… Wir müssen uns überlegen was wir mit ihr vorhaben. Laufen lassen können wir sie nicht mehr.“, seufzte der Mann und steckte sein Messer zurück in die Scheide aus Stoff.
„ Was wäre daran denn bitte so schlimm?“
„ Ich sage es dir, Esmeralda. Sie kennt nun unsere Gruppe und weiß, dass wir nicht… naja du weißt schon. Wenn wir sie gehen lassen, dann könnte man nach uns suchen, das ist euch klar.“
Die Damen der Runde nickten sich zu, alle außer eben die Schwarzhaarige. Delilah hingegen keuchte leise auf und schloss ihre Augen. Ihr war mit einem Mal furchtbar schlecht, kalt und alles schien sie zu überkommen. Der unheimliche Stress dieser gesamten Nacht fiel auf sie zusammen wie ein eingestürztes Kartenhaus. Ihr Kopf dröhnte und gab ihr damit den Rest. Das Letzte, was sie noch einigermaßen mitbekam war, dass ihr Körper nach links umkippte. Wenige Sekunden später lag sie vollkommen zitternd am Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Während Selma und Marchella die Augen weiteten, machte Eduard ebenso einen verwunderten Ausdruck. Esmeralda war die Einzige, welche sich sofort neben das Mädchen hockte und ihr beruhigend eine Hand auf die Stirn und den Bauch legte.
„ Verdammt, was ist denn nun los!?“
„ Hey, Kleines. Rede doch mit mir. Es wird alles gut, hörst du?“

Doch Delilah keuchte nur immer wieder auf, krümmte sich zusammen und verlor innerhalb der kommenden Minuten ihr Bewusstsein. Die Dunkelheit umfasste sie, zog fas junge Mädchen tiefer in seine Arme. Ruhe und Stille, das versprach dieses Nichts vor ihrem inneren Auge ihr. Einen Moment des vollkommenen Stillstandes. Ein Augenblick, in dem niemand etwas von ihr erwartete. Delilah gab sich diesem einnehmenden Gefühl hin, holte tief Luft und spürte wie ihr Geist sich zurückzog. Wenn dies ihr Ende sein sollte – fort im Nirgendwo – so sollte dies Gottes Wille sein. Diesem… wollte Delilah keine Gegenwehr zeigen. Nicht dieses Mal…

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Mit freundlichen Grüßen

Eure Elli :)
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