Zwischen Gold und Silber
von Silverblossom22
Kurzbeschreibung
Delilah Winston war gefangen. Gefangen in dem typischen Tagesablauf ihres hochrangigen Lebens am Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Aufgaben: Heiraten, Kinder bekommen und all das, was sie niemals wollte. Dazu kommt der unendliche Wunsch, aus ihrem jetzigen Leben zu entkommen. Als das Schicksal ihr die Hand reicht, nimmt sie diese an. Getrieben von dem sehnlichen Wunsch, frei zu sein, entkommt Delilah aus ihrem goldenen Käfig. Doch auf ihrer Reise trifft sie neben einer Gruppe Reisende auch die Persönlichkeiten der RMS Titanic. Im Laufe dieser Geschehnisse wird Delilah vor eine schwierige Frage gestellt: Ist das, was sie immer haben wollte auch das, was sie wirklich glücklich machen kann? (Pairing: Delilah Winston x William McMaster Murdoch)
GeschichteLiebesgeschichte, Historisch / P16 / Het
Charles H. Lightoller
Harold G. Lowe
Margaret Brown
OC (Own Character)
Thomas Andrews
William M. Murdoch
09.10.2022
30.11.2022
37
131.144
4
15.10.2022
4.576
Kapitel 4
Ich lösche mich selbst aus dieser Erzählung. Lasst künftige Historiker sich fragen, was sie getan hat, als du ihr das Herz gebrochen hast. Du hast alles zerrissen, nun schau gut zu wie es brennt. (Übersetzung des Songs Burn aus dem Musical Hamilton)
Etwas war seltsam. Das kleine Mädchen sagte ihrem älteren Ich, dass ihr Leben momentan noch mehr aus den Fugen geriet als es dies sowieso schon tat. Dieses komische Gefühl breitete sich seit Tagen – nein mittlerweile schon Wochen – in Delilah aus. Seitdem ihr Mann Jonathan von seiner monatelangen Reise aus Dublin zurückgekommen war, verhielt er sich mehr als komisch. Seine Zurückhaltung ihr gegenüber war gestiegen, beide sprachen kaum mehr miteinander. Sie hatten es vorher auch nicht getan, das war Delilah bewusst. Er war ihr gegenüber nie ein Mann der tausenden Worte gewesen. Aber nun sagte er ihr nicht einmal mehr, was an bestimmten Tage passierte. Er ging dann meist einfach, ließ seine Ehefrau in vollkommener Ungewissheit zurück. Besonders an diesem Tag fiel diese Tatsache vor allem der Braunhaarigen deutlich auf. Denn die Eheleute waren gemeinsam mit einigen anderen Gästen zu der Familie Winston eingeladen worden. Ob es einen besonderen Grund gab? Naja, in den Augen Delilah´s nicht wirklich, das musste sie sich irgendwie doch eingestehen. Dorothy und Arthur Winston feierten lediglich ihren Hochzeitstag und wollten diesen mit ihrer gesamten Familie und einigen engen Freunden teilen. Nun, Freunden wäre etwas zu romantisierend dargestellt. Es waren doch eher Männer und Frauen, welche sich im Glanz einer der reichsten Familien in England sonnen wollten. Seit dem frühen Mittag saßen sie nun schon auf dem Anwesen und genossen das hervorragende Essen, welches ihnen präsentierte wurde. Champagner, Rotwein und andere alkoholische Lustmacher durften vor allem bei den männlichen Beteiligten keineswegs fehlen. Auch Mister Andrews mitsamt seiner Frau und einige andere Kollegen vom Arthur Winston waren gekommen, saßen mit am Tisch und unterhielten sich.
Delilah hatte den Großteil des Tages geschwiegen, sich nicht in irgendwelche Unterhaltung eingebunden oder ihren Blick in die Runde gerichtet. Sie wich den Blicken der Anderen aus, wirkte scheuer als je zuvor. Lediglich wenn Thomas Andrews oder seine Begleitung sie ansprachen, kam etwas aus ihrem Mund. Dann aber nur in kurzen Sätzen, ohne größere emotionale Regungen oder Bewertungen. Niemandem schien die Veränderung von Delilah Winston aufgefallen zu sein, niemand interessierte wohlmöglich auch. Nur Thomas Andrews und seine Helen vermuteten etwas. Delilah jedoch darauf anzusprechen, hatte sich das Paar bis in die spätesten Stunden des Tages jedoch nicht getraut. Zu auffällig wäre es gewesen, dieses Gesprächsthema hier am Tisch anzubringen. Besonders, wenn ihr Ehemann und der Hausherr beide aufzufinden waren.
Da es mittlerweile schon spät am Abend war, hatten sich die einzelnen Mitglieder der Runde in Untergruppen aufgeteilt. So war es zu jener Zeit eigentlich doch üblich, dass die beiden Geschlechtergruppen nach dem formellen Dinner ihren eigenen Weg gingen. Die Männer saßen im großen Rauchersalon und diskutierte die für sie wichtigsten Themen. Vor allem Mister Andrews hatte eine Menge zu erzählen, da die White Star Line vor einigen Wochen ihm ein Angebot gemacht hatte. Die nicht gerade uninteressierten Männer der Runde erfuhren dies erst gegen Ende des Abendessens und wollten nun unbedingt darüber ausführlich sprechen. Dem Jüngsten der Runde war somit eines klar: So schnell sollte er diesen Raum voller Rauch und Alkohol nicht mehr entkommen können. Die Damen der Runde hatten in einem anderen Salon Platz genommen, ein wenig entfernt von jenem ihrer Männer. Es war der Augenblick, indem sie niemand belauschte. Sie tranken gemeinsam Wein und erfreuten sich an den neusten Geschichten und Skandalen innerhalb der obersten Schicht. Ihre Lachen – eher hässlich als erfreut – drangen durch den Raum und prallten des Öfteren an den gestrichenen Wänden des Zimmers ab.
„ Ich kann nicht glauben, dass Sie ihn wirklich für einen Bauernknaben verlassen hat.“
„ Oh doch, das kannst du mir ruhig glauben. Ich habe sie vorgestern sehen können.“
„ Wer gibt denn freiwillig eine solche Hoheit innerhalb dieses Landes auf, um mit einem armen Bauernknaben durchzubrechen?“
Nur eine von ihnen verließ unter den unauffälligen Blicken von Mister Andrews Frau Helen den Raum und somit auch die Gesprächsrunde. Das Schließen der Tür bekam anscheinend niemand mit. Zu sehr waren die Damen damit beschäftigt, einer ihrer alten Freundinnen mit ihren Worten und Beleidigungen auseinanderzunehmen. Delilah hingegen wollte gerade nach Jonathan suchen. Während des gesamten Essens hatte er sie nicht einmal angesehen. Bei Fragen der anderen Gäste in Bezug auf ihre Ehe musste sie immer antworten, Jonathan nickte meist nur oder schüttelte seinen Kopf. Dass die Liebe der beiden nicht unbedingt echt war, stellte keine Besonderheit für Delilah mehr da. Aber… sonst war er niemals so abweisend gewesen. Besonders, wenn es um Gespräche zu seiner geführten Ehe ging. Immerhin wollte er bis heute den Schein einer perfekten Beziehung aufrechterhalten. Davon war Delilah mehr als überzeugt. Der blondhaarige Sohn der Familie Williams hatte zu mindestens steht´s versucht, eine heile Welt vorzuspielen. War auf der Reise etwas geschehen, weshalb er sich nun so vor ihr zurückzog? Natürlich wollte Delilah diesen Mann niemals heiraten, das stand auch gar nicht zur Debatte. Aber seine Ablehnung ihr gegenüber schmerzte das junge Mädchen noch mehr als es diese gesamte Scheinwelt eh schon tat. Ein Konflikt in ihrem Inneren, den sie bis jetzt einfach nicht erklären und nachempfinden konnte.
Gezielt steuerte die Brünette den Raucher Salon an, klopfte behutsam an die Tür und wartete. Von drinnen kam solch ein Lärm und Gegröle, dass man diesen Raum auch mit einem Affenkäfig verwechseln sollte. Erneut klopfte Delilah, dieses Mal jedoch ein wenig lauter und kräftiger. Wenige Sekunden später öffnete jemand ihr die Tür. Sogleich vernahm sie die Stimmen der betrunkenen Männer noch intensiver. Dieses Verhalten des angeblich so stärkeren Geschlechtes gehörte nun wirklich nicht zur guten Sitte, dachte Delilah angewidert. Aber egal, aus diesem Grund war sie ja nicht hier. Ihre dunkelblauen Augen richteten sich lieber zu dem Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte. Mister Andrews stand an dieser, lächelte das junge Mädchen an und schloss die Forte zum Raum ein wenig hinter sich. Delilah musste nicht unbedingt mitbekommen wie… naja… angeheitert die anderen Männer bereits waren. Wenn er wüsste, dass sie dies schon getan hatte.
„ Delilah. Kann ich dir helfen, mein Kind?“
„ Verzeihen Sie die Störung, Mister Andrews. Aber… Nun… Ich wollte eigentlich mit… meinem Ehemann sprechen.“, erklärte die Brünette und brachte diese Bezeichnung für Jonathan nur schwer über ihre Lippen. Allerdings hatte dieser ihr mehrere Male unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihn in der Öffentlichkeit so nennen sollte. Selbst, wenn er nicht andauernd neben ihr lief. Mister Andrews bekam dies natürlich mit, schüttelte dann aber nur unwissend seinen Kopf und atmete tief durch. Allein die Tatsache, dass Delilah freiwillig nach dem Blondhaarigen suchte, verwunderte ihn zutiefst.
„ Du musst dich bei mir keineswegs entschuldigen. Aber verzeih, Delilah. Da muss ich dich leider vertrösten. Jonathan ist tatsächlich nicht mit uns gekommen, als wir vor einer guten Stunde hierher kamen. Um ganz ehrlich mit dir zu sein… Er hat sich vorhin von uns verabschiedet und meinte, dass er sich etwas die Beine vertreten möchte. Ihm ginge es wohl bereits seit heute Morgen nicht sehr gut, sodass er diese… Stimmung hier im Raum nicht ganz vertragen könnte.“, gab der Dunkelhaarige kund und erkannte die Verwunderung im Gesicht des jungen Mädchens. Allerdings… war da noch etwas anderes. Somit richtete er seine Konzentration auf diese Tatsache und richtete sich ein wenig auf. Spielten seine Sinne ihm einen Streich?
„ Delilah… Was ist das…?“
Die Angesprochene merkte sofort was seine Augen an ihrem Körper fokussierten. Die Brünette schluckte voller Unbehagen, versuchte aber noch die Situation ein wenig zu retten. Wie sollte sie ihm sonst erklären, wie das Bild vor seinen Augen zu Stande gekommen war?
„ Was… Was soll was sein, Mister Andrews? Ich verstehe Ihre Frage nicht genau…“, fragte sie eher weniger überzeugend und hielt seinem durchleuchtenden Blick stand. Sie versuchte es zu mindestens. Aber der Schiffsingenieur war – zu ihrem Unglück – niemand, der sich so schnell beirren ließ. Gerade wenn es um sie ging. Ein junges Mädchen, dass er bereits seit so vielen Jahren kannte.
Behutsam drehte er ihren Kopf beiseite und verengte seine Augen als ihm etwas auffiel. An ihrer linken Wange konnte er unter einer Schicht Puder etwas dunkelviolettes erkennen. Diese Verfärbung zog sich von ihrem Ohr bis knapp oberhalb des Kinns. Als er diese Stelle leicht mit dem Daumen berührte, zuckte Delilah ein wenig zusammen und atmete nur tief aus. Jetzt blieb bei dem Dunkelhaarigen keine Zweifel mehr, was sein Herz noch mehr erschweren ließ. Wie hatte Jonathan dies nur wagen können, fragte er sich.
„ Hat er… dich geschlagen…?“
Keine Antwort. Delilah verzog nur etwas ihr eigenes Gesicht, schluckte kräftig und kämpfte mal wieder gegen die Tränen an. Was war denn nur mit ihr los? Jonathan hatte sie immer nur dann geschlagen wenn sie ungehorsam war. Hatte er… Hatte er dazu nicht das Recht? Dieser so dumme, irrationale Gedanke war inzwischen so in ihrem Kopf eingebrannt, dass sie nichts anderes denken konnte. Eigentlich eine Schande, dass dieser Mann sie soweit schon gebracht hatte.
„ Mister… Mister Andrews… Ich… Ich…“
„ Bitte, Delilah lüg mich nicht an.“, sprach er mit gesenkter Stimme und legte seine Hand auf ihren rechten Oberarm. Doch sogleich zog Delilah diesen ein wenig mehr zurück und sah nun auf die andere Seite. Thomas sah entschuldigend zu der Brünetten. Anscheinend… war ihrem verehrten Mann nicht nur einmal die Hand ausgerutscht, dachte er während Wut in ihm hochkam. Normalerweise brachte niemand Thomas Andrews Junior so zur Weißglut. Diese Situation schob ihn aber sehr dicht an die Grenze seiner eigenen Vernunft.
„ Es… Es war meine Schuld, wirklich.“; entkam es wie eine zu lange zurückgehaltene Entschuldigung aus dem Mund von Delilah. Sie umfasste dabei ihre Arme und versuchte, ihre Kontenance zurückzugewinnen.
„ Ich habe Jonathan… Ich… Ich war einfach nicht so wie sich eine Frau verhalten sollte. Er… er meinte es nicht böse, da bin ich mir sehr sicher… bestimmt…“, murmelte sie und fokussierte wieder das Gesicht des Mannes vor ihr. Dieser schüttelte erneut seinen Kopf und musterte nun ein weiteres Mal ihre beiden Arme. Ihm war aufgefallen, dass sie sonst eher Kleider mit einem durchsichtigen Stoff an diesen trug. Seit Wochen… war es schon wohl nicht mehr so, das hatte er zu mindestens aus Erzählungen und Gerüchten mitbekommen. Aber das der wahre Grund solch ein erschreckender war, konnte der Schiffsingenieur ja nicht ahnen.
„ Delilah… Was ist passiert…?“
„ Nichts, wirklich. Ich… Ich werde Sie auch nicht mehr länger stören, Mister Andrews. Ich… Ich danke Ihnen aber für die Auskunft in Bezug auf Jonathan.“
Ohne die Möglichkeit zu haben, noch einmal mit der jungen Dame zu reden, ging diese den dunklen Gang entlang. Mister Andrews sah ihr nach und spürte wieder die Schuldgefühle, welche sich in ihm regten. Seine Frau wusste von diesen, hatten beide doch ein sehr langes Gespräch zu diesem Thema geführt. Auch diese – ihr Name war wie bereits erwähnt Helen – konnte sich in die Situation ihres Gatten hineinversetzen. Gleichzeitig war ihr aber auch bewusst, dass sie sich nicht in eine bestehende Ehe einmischen durfte. Das sollte nicht nur in ihrer Gesellschaftsschicht für Aufregung sorgen, sondern auch einige negative Folgen für Delilah haben. Diese konnte die Blauäugige in ihrem derzeitigen Zustand nun wirklich nicht gebrauchen.
„ Thomas, wo bleiben Sie denn?“, erklangen vereinzelte Stimmen bereits aus dem Raum. Ein einnehmender Geruch von Zigarren und verschiedenen alkoholischen Getränken wie Wein oder Snaps trat aus diesem heraus, sodass der gelernte Schiffsbauer erst einmal tief Luft holen musste. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie stickig die Luft innerhalb des Salons bereits geworden war.
„ Kommen Sie, Sir. Wir müssen doch gemeinsam ein wenig feiern.“, sprach einer der anwesenden Gäste. Es handelte sich um einen Herren, die in London die Banken verwalteten.
Während Thomas sich aber dazu entschied, der abendlichen Runde wieder Gesellschaft zu leisten, stand Delilah mittlerweile vor dem Gästezimmer, welches sie und Jonathan während ihres Aufenthaltes hier bezogen. Die Umgebung war dunkel, senkte sich der Mond doch mit jeder verstreichenden Minute etwas mehr. Einzelne Sterne entkamen ihrem Tagesschlaf und suchten ihren typischen Platz am Himmelszelt. Die Blauäugige blieb ganz still, lauschte den Geräuschen innerhalb des Raumes. Nur durch Zufall war ihr aufgefallen, dass aus ihrem Zimmer Stimmen kamen. Ja… mehrere Stimmen, genau das war das Problem. Eindeutig ein Mann sowie eine Frau. Ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zusammen, sodass sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Jonathan… war nicht allein…
„ Wir müssen leiser… sein…. Ah… Sonst kommt noch jemand auf die Idee, uns hier zu suchen…“, keuchte der Mann tief hinter der Tür.
„ Die Damen- und Herrenrunde dürfe… ah gleich… vorbei sein…“
„ Keine Sorge… ah… Herr Winston. Es… Es wird doch niemals jemand erfahren, das verspreche ich Ihnen…“, säuselte eine sanfte Frauenstimme, welche Delilah nicht unbedingt zuordnen konnte. Eine neue Angestellte ihrer Eltern vielleicht? Möglicherweise auch eine Frau von einem der Gesprächspartner ihres Vaters? Im Grunde war es doch egal, dachte sie und berührte sanft mit ihrer Hand die dunkelbraune Tür. Im selben Augenblick spürte sie wie sich jemand gegen diese lehnte. Ein tiefes Keuchen folgte, eindeutig jenes von Jonathan. Ob sie es mochte oder nicht. In ihrer erzwungenen Hochzeitsnacht hatte sie dieses kennenlernen dürfen.
„ Ah… Ich begehre Sie so sehr, Sir Winston…“
„ Komm zu mir, meine Liebste. Zeige deinem Herren, was dein Herz begehrt.“
Übelkeit kam in Delilah hoch. Als dann auch noch die Geräusche von Küssen und von langsam fallenden Kleidungsstücke erklangen, reichte es dem jungen Mädchen wirklich. Ihre innere Wut bekam eine Gestalt, regte sich somit in ihr und wollte endlich auch einmal zum Zug kommen. Vollkommen unkontrolliert und übermannt von den eigenen Gefühlen öffnete sie die Tür. Mitsamt dieser traten auch Jonathan und diese unbekannte Dame in ihren Blickwinkel, welche nun wie entblößt direkt vor Delilah standen. Der Blondhaarige war soeben dabei gewesen, ihren Büstenhalter zu öffnen. Die Hände der fremden Frau lagen auf der Gürtelschnalle von Jonathan, wobei ihr linkes Knie an seiner unteren Mitte zu reiben schien. Während die zweite Frau der Runde sich keiner Schuld bewusst zu sein schien, weitete Jonathan seine Augen. Nicht, weil er diesen Seitensprung bereute oder gar Schuldgefühle entwickelte. Nein… sondern weil er sich denken konnte, dass die Brünette ihren Eltern Bescheid sagen sollte. Das konnte für seinen eigenen Ruf eine unglaubliche Schande werden. Sogleich entriss er sich deshalb der Bediensteten und kam auf Delilah zu.
„ Delilah. Mach jetzt keine Dummheiten, ich-“
Doch diese verpasste ihm mit der rechten Hand eine saftige Ohrfeige. Der dadurch entstandene Ton hallte im Flur wieder, wobei im Hintergrund ein Blitz am Himmel erleuchtete. Die Bedienstete schien nun auch die Ernsthaftigkeit der Situation zu verstehen und versuchte noch, sich zu rechtfertigen. Aber es gelang ihr nicht. Delilah’s Augen funkelten wütend, enttäuscht und irgendwie schien es, dass ihr Herz noch mehr zerbrach als bereits in den verstrichenen Wochen und Monaten. So… hatte Jonathan seine Frau noch niemals zuvor gesehen.
„ Du verdammter Bastard!“, entkam es ihr zürnend.
„ Delilah, warte ich kann dir-“
Doch die Brünette hörte nicht länger auf ihn. Sofort – ohne weitere Worte an ihn – lief die Tochter von Dorothy Winston los und durchquerte erneut den langen Flur Richtung Eingangshalle. Dabei rannte sie mit Tränen in den Augen an dem Rauchersalon vorbei, aus welchem die Männer soeben kamen. Diese bemerkten das aufgewühlte Mädchen ebenso wie ihren Ehemann, der rufend hinter Delilah herlief.
„ Was hat das junge Mädchen denn?“, fragte einer der Beteiligten und konnte von dieser Entfernung nur die flehende Stimme von Jonathan Williams erkennen. Die Gruppe der älteren Herren sahen sich gegenseitig an als mit einem Mal ein lauter Schrei ertönte. Eindeutig von Delilah, gefolgt von einem wilden Klirren und dem Zerspringen von Glas. Sogleich machten sich alle auf den Weg, den beiden Streitenden hinterher. Besonders Mister Andrews und Sir Winston wollten wissen, was auf einmal mit den beiden Eheleuten los war. Vor allem die Art und Weise wie Delilah nun mit Jonathan interagierte, konnten beide Männer nicht deuten. Auf ihrem Weg traf die Gruppe auch auf die restlichen Frauen, welche anscheinend den gleichen Weg auf sich nehmen wollten wie ihre Ehemänner. Erneut knallte es als alle Schaulustigen den Ort des Geschehens erreichten.
„ Wie konntest du nur!? Wie konntest du mir so etwas antun, sag es mir!?“, erklang erneut der Ruf von Delilah, während etwas knallte. Sogleich wandten alle Damen und Herren ihre Augen zu der einladenden Mitte des Eingangsbereiches, wo sie Delilah und ihren Mann auffanden. Die junge Dame stand mit verzerrtem Gesicht und hunderten Tränen in den Augen dort während Jonathan nur schweigend den Boden musterte. Direkt vor ihm lag eine zersprungene Vase sowie andere Scherben, welche wohl von einem Blumentopf kamen.
„ Delilah, bei allen Göttern, was tust du denn da?!“, erhob nun der Hausherr die Stimme und kam mit stolzer Brust auf seine Tochter zu. Diese sah ihren Vater an, erhoffte wenigsten etwas Verständnis für ihre Situation. Nur dieses eine Mal sollte er hinter ihr stehen, flehte das jüngere Ich in ihr.
„ Ich kann dir ganz genau sagen, was vorgefallen ist, Vater!“, schimpfte Delilah vollkommen am Ende. Mister Andrews und Helen drängten sich ein wenig an den anderen Schaulustigen vorbei, sodass sie das Geschehen besser verfolgen konnten.
„ Ich habe Jonathan mit einer eurer neuen Hausdamen in Flagranti erwischt. Sie… Sie wollten sich einander hingeben, waren schon dabei, den Akt zu beginnen. Er hat mich betrogen, wie konnte er dies nur tun!? Wie konnte er seine eigene Frau hintergehen!“, erklärte die Brünette aufgewühlt, wobei sie erneut ihren Blick auf den Sohn der Williams richtete. Stille. Selbst Mister Andrews wusste in diesem Augenblick nicht was er sagen sollte. Wie kam Jonathan denn dazu, Delilah zu betrügen? Ein junges Mädchen, welches von allen hier – abgesehen von seiner Frau natürlich – die reinste Seele besaß? Aber das war nicht das Verwerfliche.
Denn nur wenige Sekunden später erklang erneut eine sehr angespannte Melodie. Ein schallerndes Geräusch, welches durch den Donner außerhalb des Hauses fast unterging. Mister Andrews, seine Frau und Dorothy Winston waren jedoch die Einzigen, die nun ihre Augen weiteten. Warum? Nun… eines war zu erkennen. Arthur Winston hatte seine Hand gehoben während Delilah nun zur Seite sah. Ein knallroter Abdruck zierte ihre Wange. Delilah selbst hatte die Augen geweitet und sah nun langsam wieder zu ihrem Vater zurück. Was… was war eben passiert?
„ Schluss jetzt, Delilah!“, schrie dieser wie Gott selbst durch den unteren Teil seines Anwesens und schob Jonathan schützend hinter sich. Dieser grinste nun ein wenig, wusste dass er diese Situation als Gewinner verlassen sollte. Delilah hingegen konnte gar nicht genug in ihre Mimik legen, damit das Unverständnis in ihr deutlich wurde. Was… Was war soeben passiert?
„ Du blamierst mich vor all meinen Gästen und Jonathan als Vertreter der Williams Familie!“
Hatte sie das eben richtig verstanden? Ihr Vater erhob nun das Wort gegen sie und nicht gegen jenen Mann, der seine eigene Tochter hintergangen hatte?
„ Aber… Aber Vater, ich-“
„ Kein Aber!“, schrie dieser nun lauter auf und brachte seine Tochter dazu, willkürlich zusammenzuzucken. Thomas Andrews wollte bereits eingreifen, wurde von seine Frau aber zurückgehalten. Diese sah ihren Mann unsicher an, wusste dass dadurch die Situation noch weiter ins Negative gezogen werden sollte. Zusätzlich hatte sie auch Bedenken, dass Mister Winston ihn auch noch irgendwie verletzen sollte.
„ Du bist meine Tochter, Delilah! Du bist die Frau von Jonathan Williams! Wie oft, verdammt noch eins, sollen wir dir dies erklären, sag es mir?!“, schrie er erneut auf und brannte innerlich voller Wut und Zorn. Er war vollkommen blind für das, was nun aus seinem Mund folgen sollte.
„ Unser Leben lang haben wir dich verhätschelt und dann schreist du deinen eigenen Ehemann so an! Wenn er dich hintergeht und eine andere Frau bevorzugt, warst du ihm keine gute Ehefrau! So einfach ist das! Nicht er sollte sich schuldig fühlen, mit einer anderen Frau Intimitäten ausgetauscht zu haben. Du solltest dich schämen! Unser Ansehen und jenes seiner Familie mit solch einer niedrigen Darstellung deinerseits zu beflecken! Wenn Jonathan der Meinung ist, eine andere Frau zu seiner persönlichen Befriedigung heranzuziehen, so kann und darf er dies tun! Die Einzige, welche sich schämen sollte, bist du! Und nun genug von diesem Unsinn! Du bist eine Schande für diese Familie.“
Ruhe. Niemand sagte etwas, während sich der Herr des Hauses herumdrehte und zur abendlichen Routine zurückkehren wollte. Er lächelte bereits wieder, wollte soeben seine Gäste zu einem weiteren Glas Wein und möglichen Speisen einladen. Doch da… hatte er nicht mit seiner Tochter gerechnet. Denn Delilah spürte mit einem Mal eine ungeheure Wut in sich aufsteigen. Wut auf ihren Vater, ihren Ehemann und auf all diese Menschen hier, welche ihr nicht geholfen hatten. Nein, Wut erfasste ihren Gemütszustand kaum. Kurz senkte sie ihren Kopf bevor sie einen tiefen Atemzug nahm. Angestrengt sah die Brünette mit ihren dunkelblauen Augen direkt zu ihrem Vater, ihr Gesicht wurde eiskalt. So hatte sie wirklich noch nie jemand gesehen.
„ Nein.“
Ein einfaches, dennoch so starkes Wort. Erneut donnerte es außerhalb des Hauses während Arthur Winston sich bei dieser Widersetzung zu seiner Tochter drehte. Diese jedoch erhob stolz ihren Kopf, trat einen Schritt zurück und wich mit ihrem Blick nicht zurück. In diesem Augenblick… keimte etwas in der jungen Frau auf, was sie noch niemals zuvor gespürt hatte. So kraftvoll durfte sie sich in den letzten Jahren noch nie fühlen. War dies… die innere Stärke einer Dame, die ihre eigenen Entscheidung treffen konnte?
„ Wie bitte, Delilah?“
„ Ich sagte nein!“, sprach sie es erneut aus und begann den elendigen Schmuck aus ihren Haaren zu schmeißen. Somit fielen die dunkelbraunen Haare in ihrer vollkommen Pracht über ihre Schultern. Im nächsten Atemzug flog auch die silberne Halskette zu Boden. Nur das Schmuckstück von Mister Andrews behielt sie unbewusst um. Dieser Prozess verging unglaublich schnell, bevor die Blauäugige damit begann, ihren Ehering abzunehmen. Ein überraschendes Aufkeuchen ging durch die Runde. Die Männer der Gruppe tuschelten leise miteinander und warfen dem Hausherren einen prüfenden Blick zu. Was sollte er nun wohl tun? Würde er seines Amtes als Familienoberhaupt ausnutzen, um seine Tochter zu stoppen, bevor sie richtig beginnen konnte? Doch dieser blieb wie angewurzelt stehen und sah seine Tochter an.
„ Delilah, ich warne dich. Wenn du-“
„ Ich habe genug davon!“, sprach das Kind der Aufmerksamkeit nun vollkommen frei aus. Ihr Herz schlug bereits jetzt schon ungewöhnlich schnell. Adrenalin pumpte durch ihren Körper.
„ Ich hab von allem hier genug! Von diesem Spiel mit Jonathan, diesem ganzen Leben unter Menschen, die an nichts anderes denken als an ihr ergaunertes und schmutziges Geld! Ich bin es leid, diesen Damen zuhören zu müssen, während sie die Schwächeren und Ärmeren als Unterwürfig bezeichnen!“
Mit einem gewaltigen Druck trat sie mit ihrem linken Bein auf den Schmuck, welcher noch immer am Boden lag. Er zersprang ein wenig, sollte niemals mehr an ihrem Körper ein Zuhause finden.
„ Ich wollte diesen Mann niemals heiraten! Ich habe es nur getan, weil ihr es von mir verlangt habt! Ich werde nicht länger diesen Ring tragen! Ich werde niemals wieder diesen Ring tragen!“, erhob Delilah ihre Stimme und schmiss wenige Sekunden später den Rest des silbernen Schmucks zu Boden. Dabei trat sie erneut einen Schritt zurück und trat immer wieder auf die Kostbarkeiten unter ihr ein. Ihr Fuß und ihre Bewegungen kannten dabei keine Gnade, zerstörten alles was in ihren Blickwinkel kam. Erneut eine Last weniger, dachte das junge Mädchen und zerriss vor den Augen aller Anwesenden ihr prächtiges Kleid. Somit blieb am Ende nur noch das weiße Oberteil und der dunkelgrüne Stoffrock übrig, den sie darunter immer trug. Auch die ansehnlichen Schuhe schmiss sie ihrem Vater entgegen. Dies prallten an seiner Brust ab, fielen unbeeindruckt zu Boden. Mister Winston verdunkelte seinen Blick erneut. Er überschritt die Schwelle es Zornes und spürte nun Emotionen, welche nur aus den Tiefen der Hölle kommen konnten.
„ Du bist immer noch meine Tochter, ob du das willst oder nicht!“
„ Nein! Wenn ich deine Tochter wäre, dann hättest du mich vor diesem Bastard beschützt! Du hättest erkannt, dass ich lieber dem Tod in die Arme gelaufen wäre als die Frau dieses ungehobelten Idioten zu werden. Ich würde lieber unseren Gärtner heiraten als einen Ahnungslosen, welcher nicht einmal annährend den Verstand eines wahren Mannes besitzt!“, diskutierte Delilah und riss sich nun noch die weiten Ärmel bis zur Hälfte ab. Dadurch erkannte der Vater einige blaue Flecke. Doch seine Wut machte ihn blind.
„ Ich bin der Hausherr! Ich bestimme, welchen Weg du zu gehen hast!“
„ Du… bestimmst rein gar nichts mehr über mein Leben!“, schrie Delilah nun auf. Gleichzeitig ging sie auf die Tür des Hauses zu, öffnete diese und spürte sogleich den peitschenden Wind. Dieser kam auch den anderen Anwesenden entgegen, welche sich ihre Kleidung enger um den Körper schlangen.
„ Delilah Winston! Wage es dich einen Schritt weiterzugehen! Ansonsten wirst du keine Erbin von dem Geld dieser Familie mehr sein! Ich werde allen erzählen, welche Schande du über uns gebracht hast!“
Die Angesprochene sah erneut zurück. Der Ausdruck in ihren Augen hatte sich nicht verändert. In ihr hatte sich etwas geregt. Sie… Sie sollte nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Sie wandte ihren Körper vollkommen in seine Richtung. Gott selbst schickte als Antwort einen gewaltigen Blitz, welcher hinter ihr sichtbar wurde.
„ Gut… Erzähle es ruhig allen! Erzähle ihnen, durch welche Scham und durch welchen Schmerz ich als deine Tochter gehen musste! Dein ganzes Geld spielt doch überhaupt keine Rolle!“, erklärte die Brünette.
„ Wann wirst du endlich einmal erkennen, dass ich als deine Tochter diejenige bin, welche deinen Namen und dein Vermächtnis weitertragen wird und nicht dein Geld! Wann siehst du das endlich ein?!“
Nur am Rande bemerkte Delilah nun den Blick von Mister Andrews. Er hatte eine schlimme Vorahnung, was nun passieren sollte. Helen neben ihm trat ganz vorsichtig einen Schritt vor und deutete Delilah an, nicht das zu tun, was sie möglicherweise hatte.
„ Delilah Winston, ich sage es dir ein allerletztes Mal! Und lausche meinen Worten ganz genau! Wenn du dich nicht sofort bei Jonathan und sowie unseren anwesenden Gästen entschuldigst und zurück an meine Seite kommst, warst du unsere Tochter! Ich werde dich aus diesem Haus schmeißen wie einen armen Bettler! Ich werde dafür sorgen, dass niemand dich aufnehmen wird, egal wohin du in dieser Stadt oder in diesem Land auch noch hingegen willst!“
Auf einmal… lächelte Delilah und schmiss nun auch das letzte Schmuckstück von sich. Es handelte sich um eine goldene Brosche mit einem dunkelgrünen Schmetterling. Diese war noch in ihren Haaren versteckt gewesen, somit eine letzte Kette, welche Delilah noch sprengen musste. Dieses Schmuckstück landete direkt vor den Füßen ihres Vaters Vater. Dieser sah seine Tochter an obgleich hinter ihr ein gewaltiger Blitz erstrahlte. In diesem Augenblick… hatte sich Delilah Winston dazu entschieden, nicht mehr jene zu sein, welche sie in den vergangenen Jahren ihres Leben gewesen war. Dies – so sollten es Menschen auch Jahre später weitererzählen – sollte ein Abschied für immer sein.
„ Dann… hattet ihr wohl mal eine Tochter… Auf Wiedersehen…“
Plötzlich rannte sie los. Vollkommen in die Dunkelheit und zwischen den Blitzen und dem Donner hindurch, erst die lange Treppe hinunter und dann durch den Garten hinfort in das angrenzende Waldgebiet. Lediglich Mister Andrews und seine Frau liefen auf die Tür zu, wollten dem Mädchen hinterher. Sie konnten doch nicht mitansehen, wie dieses junge Geschöpf bei diesem schrecklichen Wetter im schlimmsten Fall noch umkam. Dort draußen konnte alles Mögliche passieren, vor allem bei diesem Wetter sowie um eben diese Tageszeit. Doch… Herr Winston schloss einfach vor ihnen die Tür, seufzte tief und zertrat die Brosche, welche Delilah ihm eben zugeworfen hatte. Sein Ausdruck war hart und kalt, zeigte keine einzige Emotion mehr. Dorothy Winston hingegen stand noch immer wie erstarrt auf ihrem Platz und wusste nicht, was gerade passiert war. Aber Arthur wusste es.
„ Von diesem Tag an… habe ich keine Tochter mehr…!“
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Mit freundlichen Grüßen
Eure Elli
Ich lösche mich selbst aus dieser Erzählung. Lasst künftige Historiker sich fragen, was sie getan hat, als du ihr das Herz gebrochen hast. Du hast alles zerrissen, nun schau gut zu wie es brennt. (Übersetzung des Songs Burn aus dem Musical Hamilton)
Etwas war seltsam. Das kleine Mädchen sagte ihrem älteren Ich, dass ihr Leben momentan noch mehr aus den Fugen geriet als es dies sowieso schon tat. Dieses komische Gefühl breitete sich seit Tagen – nein mittlerweile schon Wochen – in Delilah aus. Seitdem ihr Mann Jonathan von seiner monatelangen Reise aus Dublin zurückgekommen war, verhielt er sich mehr als komisch. Seine Zurückhaltung ihr gegenüber war gestiegen, beide sprachen kaum mehr miteinander. Sie hatten es vorher auch nicht getan, das war Delilah bewusst. Er war ihr gegenüber nie ein Mann der tausenden Worte gewesen. Aber nun sagte er ihr nicht einmal mehr, was an bestimmten Tage passierte. Er ging dann meist einfach, ließ seine Ehefrau in vollkommener Ungewissheit zurück. Besonders an diesem Tag fiel diese Tatsache vor allem der Braunhaarigen deutlich auf. Denn die Eheleute waren gemeinsam mit einigen anderen Gästen zu der Familie Winston eingeladen worden. Ob es einen besonderen Grund gab? Naja, in den Augen Delilah´s nicht wirklich, das musste sie sich irgendwie doch eingestehen. Dorothy und Arthur Winston feierten lediglich ihren Hochzeitstag und wollten diesen mit ihrer gesamten Familie und einigen engen Freunden teilen. Nun, Freunden wäre etwas zu romantisierend dargestellt. Es waren doch eher Männer und Frauen, welche sich im Glanz einer der reichsten Familien in England sonnen wollten. Seit dem frühen Mittag saßen sie nun schon auf dem Anwesen und genossen das hervorragende Essen, welches ihnen präsentierte wurde. Champagner, Rotwein und andere alkoholische Lustmacher durften vor allem bei den männlichen Beteiligten keineswegs fehlen. Auch Mister Andrews mitsamt seiner Frau und einige andere Kollegen vom Arthur Winston waren gekommen, saßen mit am Tisch und unterhielten sich.
Delilah hatte den Großteil des Tages geschwiegen, sich nicht in irgendwelche Unterhaltung eingebunden oder ihren Blick in die Runde gerichtet. Sie wich den Blicken der Anderen aus, wirkte scheuer als je zuvor. Lediglich wenn Thomas Andrews oder seine Begleitung sie ansprachen, kam etwas aus ihrem Mund. Dann aber nur in kurzen Sätzen, ohne größere emotionale Regungen oder Bewertungen. Niemandem schien die Veränderung von Delilah Winston aufgefallen zu sein, niemand interessierte wohlmöglich auch. Nur Thomas Andrews und seine Helen vermuteten etwas. Delilah jedoch darauf anzusprechen, hatte sich das Paar bis in die spätesten Stunden des Tages jedoch nicht getraut. Zu auffällig wäre es gewesen, dieses Gesprächsthema hier am Tisch anzubringen. Besonders, wenn ihr Ehemann und der Hausherr beide aufzufinden waren.
Da es mittlerweile schon spät am Abend war, hatten sich die einzelnen Mitglieder der Runde in Untergruppen aufgeteilt. So war es zu jener Zeit eigentlich doch üblich, dass die beiden Geschlechtergruppen nach dem formellen Dinner ihren eigenen Weg gingen. Die Männer saßen im großen Rauchersalon und diskutierte die für sie wichtigsten Themen. Vor allem Mister Andrews hatte eine Menge zu erzählen, da die White Star Line vor einigen Wochen ihm ein Angebot gemacht hatte. Die nicht gerade uninteressierten Männer der Runde erfuhren dies erst gegen Ende des Abendessens und wollten nun unbedingt darüber ausführlich sprechen. Dem Jüngsten der Runde war somit eines klar: So schnell sollte er diesen Raum voller Rauch und Alkohol nicht mehr entkommen können. Die Damen der Runde hatten in einem anderen Salon Platz genommen, ein wenig entfernt von jenem ihrer Männer. Es war der Augenblick, indem sie niemand belauschte. Sie tranken gemeinsam Wein und erfreuten sich an den neusten Geschichten und Skandalen innerhalb der obersten Schicht. Ihre Lachen – eher hässlich als erfreut – drangen durch den Raum und prallten des Öfteren an den gestrichenen Wänden des Zimmers ab.
„ Ich kann nicht glauben, dass Sie ihn wirklich für einen Bauernknaben verlassen hat.“
„ Oh doch, das kannst du mir ruhig glauben. Ich habe sie vorgestern sehen können.“
„ Wer gibt denn freiwillig eine solche Hoheit innerhalb dieses Landes auf, um mit einem armen Bauernknaben durchzubrechen?“
Nur eine von ihnen verließ unter den unauffälligen Blicken von Mister Andrews Frau Helen den Raum und somit auch die Gesprächsrunde. Das Schließen der Tür bekam anscheinend niemand mit. Zu sehr waren die Damen damit beschäftigt, einer ihrer alten Freundinnen mit ihren Worten und Beleidigungen auseinanderzunehmen. Delilah hingegen wollte gerade nach Jonathan suchen. Während des gesamten Essens hatte er sie nicht einmal angesehen. Bei Fragen der anderen Gäste in Bezug auf ihre Ehe musste sie immer antworten, Jonathan nickte meist nur oder schüttelte seinen Kopf. Dass die Liebe der beiden nicht unbedingt echt war, stellte keine Besonderheit für Delilah mehr da. Aber… sonst war er niemals so abweisend gewesen. Besonders, wenn es um Gespräche zu seiner geführten Ehe ging. Immerhin wollte er bis heute den Schein einer perfekten Beziehung aufrechterhalten. Davon war Delilah mehr als überzeugt. Der blondhaarige Sohn der Familie Williams hatte zu mindestens steht´s versucht, eine heile Welt vorzuspielen. War auf der Reise etwas geschehen, weshalb er sich nun so vor ihr zurückzog? Natürlich wollte Delilah diesen Mann niemals heiraten, das stand auch gar nicht zur Debatte. Aber seine Ablehnung ihr gegenüber schmerzte das junge Mädchen noch mehr als es diese gesamte Scheinwelt eh schon tat. Ein Konflikt in ihrem Inneren, den sie bis jetzt einfach nicht erklären und nachempfinden konnte.
Gezielt steuerte die Brünette den Raucher Salon an, klopfte behutsam an die Tür und wartete. Von drinnen kam solch ein Lärm und Gegröle, dass man diesen Raum auch mit einem Affenkäfig verwechseln sollte. Erneut klopfte Delilah, dieses Mal jedoch ein wenig lauter und kräftiger. Wenige Sekunden später öffnete jemand ihr die Tür. Sogleich vernahm sie die Stimmen der betrunkenen Männer noch intensiver. Dieses Verhalten des angeblich so stärkeren Geschlechtes gehörte nun wirklich nicht zur guten Sitte, dachte Delilah angewidert. Aber egal, aus diesem Grund war sie ja nicht hier. Ihre dunkelblauen Augen richteten sich lieber zu dem Mann, der ihr die Tür geöffnet hatte. Mister Andrews stand an dieser, lächelte das junge Mädchen an und schloss die Forte zum Raum ein wenig hinter sich. Delilah musste nicht unbedingt mitbekommen wie… naja… angeheitert die anderen Männer bereits waren. Wenn er wüsste, dass sie dies schon getan hatte.
„ Delilah. Kann ich dir helfen, mein Kind?“
„ Verzeihen Sie die Störung, Mister Andrews. Aber… Nun… Ich wollte eigentlich mit… meinem Ehemann sprechen.“, erklärte die Brünette und brachte diese Bezeichnung für Jonathan nur schwer über ihre Lippen. Allerdings hatte dieser ihr mehrere Male unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihn in der Öffentlichkeit so nennen sollte. Selbst, wenn er nicht andauernd neben ihr lief. Mister Andrews bekam dies natürlich mit, schüttelte dann aber nur unwissend seinen Kopf und atmete tief durch. Allein die Tatsache, dass Delilah freiwillig nach dem Blondhaarigen suchte, verwunderte ihn zutiefst.
„ Du musst dich bei mir keineswegs entschuldigen. Aber verzeih, Delilah. Da muss ich dich leider vertrösten. Jonathan ist tatsächlich nicht mit uns gekommen, als wir vor einer guten Stunde hierher kamen. Um ganz ehrlich mit dir zu sein… Er hat sich vorhin von uns verabschiedet und meinte, dass er sich etwas die Beine vertreten möchte. Ihm ginge es wohl bereits seit heute Morgen nicht sehr gut, sodass er diese… Stimmung hier im Raum nicht ganz vertragen könnte.“, gab der Dunkelhaarige kund und erkannte die Verwunderung im Gesicht des jungen Mädchens. Allerdings… war da noch etwas anderes. Somit richtete er seine Konzentration auf diese Tatsache und richtete sich ein wenig auf. Spielten seine Sinne ihm einen Streich?
„ Delilah… Was ist das…?“
Die Angesprochene merkte sofort was seine Augen an ihrem Körper fokussierten. Die Brünette schluckte voller Unbehagen, versuchte aber noch die Situation ein wenig zu retten. Wie sollte sie ihm sonst erklären, wie das Bild vor seinen Augen zu Stande gekommen war?
„ Was… Was soll was sein, Mister Andrews? Ich verstehe Ihre Frage nicht genau…“, fragte sie eher weniger überzeugend und hielt seinem durchleuchtenden Blick stand. Sie versuchte es zu mindestens. Aber der Schiffsingenieur war – zu ihrem Unglück – niemand, der sich so schnell beirren ließ. Gerade wenn es um sie ging. Ein junges Mädchen, dass er bereits seit so vielen Jahren kannte.
Behutsam drehte er ihren Kopf beiseite und verengte seine Augen als ihm etwas auffiel. An ihrer linken Wange konnte er unter einer Schicht Puder etwas dunkelviolettes erkennen. Diese Verfärbung zog sich von ihrem Ohr bis knapp oberhalb des Kinns. Als er diese Stelle leicht mit dem Daumen berührte, zuckte Delilah ein wenig zusammen und atmete nur tief aus. Jetzt blieb bei dem Dunkelhaarigen keine Zweifel mehr, was sein Herz noch mehr erschweren ließ. Wie hatte Jonathan dies nur wagen können, fragte er sich.
„ Hat er… dich geschlagen…?“
Keine Antwort. Delilah verzog nur etwas ihr eigenes Gesicht, schluckte kräftig und kämpfte mal wieder gegen die Tränen an. Was war denn nur mit ihr los? Jonathan hatte sie immer nur dann geschlagen wenn sie ungehorsam war. Hatte er… Hatte er dazu nicht das Recht? Dieser so dumme, irrationale Gedanke war inzwischen so in ihrem Kopf eingebrannt, dass sie nichts anderes denken konnte. Eigentlich eine Schande, dass dieser Mann sie soweit schon gebracht hatte.
„ Mister… Mister Andrews… Ich… Ich…“
„ Bitte, Delilah lüg mich nicht an.“, sprach er mit gesenkter Stimme und legte seine Hand auf ihren rechten Oberarm. Doch sogleich zog Delilah diesen ein wenig mehr zurück und sah nun auf die andere Seite. Thomas sah entschuldigend zu der Brünetten. Anscheinend… war ihrem verehrten Mann nicht nur einmal die Hand ausgerutscht, dachte er während Wut in ihm hochkam. Normalerweise brachte niemand Thomas Andrews Junior so zur Weißglut. Diese Situation schob ihn aber sehr dicht an die Grenze seiner eigenen Vernunft.
„ Es… Es war meine Schuld, wirklich.“; entkam es wie eine zu lange zurückgehaltene Entschuldigung aus dem Mund von Delilah. Sie umfasste dabei ihre Arme und versuchte, ihre Kontenance zurückzugewinnen.
„ Ich habe Jonathan… Ich… Ich war einfach nicht so wie sich eine Frau verhalten sollte. Er… er meinte es nicht böse, da bin ich mir sehr sicher… bestimmt…“, murmelte sie und fokussierte wieder das Gesicht des Mannes vor ihr. Dieser schüttelte erneut seinen Kopf und musterte nun ein weiteres Mal ihre beiden Arme. Ihm war aufgefallen, dass sie sonst eher Kleider mit einem durchsichtigen Stoff an diesen trug. Seit Wochen… war es schon wohl nicht mehr so, das hatte er zu mindestens aus Erzählungen und Gerüchten mitbekommen. Aber das der wahre Grund solch ein erschreckender war, konnte der Schiffsingenieur ja nicht ahnen.
„ Delilah… Was ist passiert…?“
„ Nichts, wirklich. Ich… Ich werde Sie auch nicht mehr länger stören, Mister Andrews. Ich… Ich danke Ihnen aber für die Auskunft in Bezug auf Jonathan.“
Ohne die Möglichkeit zu haben, noch einmal mit der jungen Dame zu reden, ging diese den dunklen Gang entlang. Mister Andrews sah ihr nach und spürte wieder die Schuldgefühle, welche sich in ihm regten. Seine Frau wusste von diesen, hatten beide doch ein sehr langes Gespräch zu diesem Thema geführt. Auch diese – ihr Name war wie bereits erwähnt Helen – konnte sich in die Situation ihres Gatten hineinversetzen. Gleichzeitig war ihr aber auch bewusst, dass sie sich nicht in eine bestehende Ehe einmischen durfte. Das sollte nicht nur in ihrer Gesellschaftsschicht für Aufregung sorgen, sondern auch einige negative Folgen für Delilah haben. Diese konnte die Blauäugige in ihrem derzeitigen Zustand nun wirklich nicht gebrauchen.
„ Thomas, wo bleiben Sie denn?“, erklangen vereinzelte Stimmen bereits aus dem Raum. Ein einnehmender Geruch von Zigarren und verschiedenen alkoholischen Getränken wie Wein oder Snaps trat aus diesem heraus, sodass der gelernte Schiffsbauer erst einmal tief Luft holen musste. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie stickig die Luft innerhalb des Salons bereits geworden war.
„ Kommen Sie, Sir. Wir müssen doch gemeinsam ein wenig feiern.“, sprach einer der anwesenden Gäste. Es handelte sich um einen Herren, die in London die Banken verwalteten.
Während Thomas sich aber dazu entschied, der abendlichen Runde wieder Gesellschaft zu leisten, stand Delilah mittlerweile vor dem Gästezimmer, welches sie und Jonathan während ihres Aufenthaltes hier bezogen. Die Umgebung war dunkel, senkte sich der Mond doch mit jeder verstreichenden Minute etwas mehr. Einzelne Sterne entkamen ihrem Tagesschlaf und suchten ihren typischen Platz am Himmelszelt. Die Blauäugige blieb ganz still, lauschte den Geräuschen innerhalb des Raumes. Nur durch Zufall war ihr aufgefallen, dass aus ihrem Zimmer Stimmen kamen. Ja… mehrere Stimmen, genau das war das Problem. Eindeutig ein Mann sowie eine Frau. Ihr Herz krampfte sich in ihrer Brust zusammen, sodass sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Jonathan… war nicht allein…
„ Wir müssen leiser… sein…. Ah… Sonst kommt noch jemand auf die Idee, uns hier zu suchen…“, keuchte der Mann tief hinter der Tür.
„ Die Damen- und Herrenrunde dürfe… ah gleich… vorbei sein…“
„ Keine Sorge… ah… Herr Winston. Es… Es wird doch niemals jemand erfahren, das verspreche ich Ihnen…“, säuselte eine sanfte Frauenstimme, welche Delilah nicht unbedingt zuordnen konnte. Eine neue Angestellte ihrer Eltern vielleicht? Möglicherweise auch eine Frau von einem der Gesprächspartner ihres Vaters? Im Grunde war es doch egal, dachte sie und berührte sanft mit ihrer Hand die dunkelbraune Tür. Im selben Augenblick spürte sie wie sich jemand gegen diese lehnte. Ein tiefes Keuchen folgte, eindeutig jenes von Jonathan. Ob sie es mochte oder nicht. In ihrer erzwungenen Hochzeitsnacht hatte sie dieses kennenlernen dürfen.
„ Ah… Ich begehre Sie so sehr, Sir Winston…“
„ Komm zu mir, meine Liebste. Zeige deinem Herren, was dein Herz begehrt.“
Übelkeit kam in Delilah hoch. Als dann auch noch die Geräusche von Küssen und von langsam fallenden Kleidungsstücke erklangen, reichte es dem jungen Mädchen wirklich. Ihre innere Wut bekam eine Gestalt, regte sich somit in ihr und wollte endlich auch einmal zum Zug kommen. Vollkommen unkontrolliert und übermannt von den eigenen Gefühlen öffnete sie die Tür. Mitsamt dieser traten auch Jonathan und diese unbekannte Dame in ihren Blickwinkel, welche nun wie entblößt direkt vor Delilah standen. Der Blondhaarige war soeben dabei gewesen, ihren Büstenhalter zu öffnen. Die Hände der fremden Frau lagen auf der Gürtelschnalle von Jonathan, wobei ihr linkes Knie an seiner unteren Mitte zu reiben schien. Während die zweite Frau der Runde sich keiner Schuld bewusst zu sein schien, weitete Jonathan seine Augen. Nicht, weil er diesen Seitensprung bereute oder gar Schuldgefühle entwickelte. Nein… sondern weil er sich denken konnte, dass die Brünette ihren Eltern Bescheid sagen sollte. Das konnte für seinen eigenen Ruf eine unglaubliche Schande werden. Sogleich entriss er sich deshalb der Bediensteten und kam auf Delilah zu.
„ Delilah. Mach jetzt keine Dummheiten, ich-“
Doch diese verpasste ihm mit der rechten Hand eine saftige Ohrfeige. Der dadurch entstandene Ton hallte im Flur wieder, wobei im Hintergrund ein Blitz am Himmel erleuchtete. Die Bedienstete schien nun auch die Ernsthaftigkeit der Situation zu verstehen und versuchte noch, sich zu rechtfertigen. Aber es gelang ihr nicht. Delilah’s Augen funkelten wütend, enttäuscht und irgendwie schien es, dass ihr Herz noch mehr zerbrach als bereits in den verstrichenen Wochen und Monaten. So… hatte Jonathan seine Frau noch niemals zuvor gesehen.
„ Du verdammter Bastard!“, entkam es ihr zürnend.
„ Delilah, warte ich kann dir-“
Doch die Brünette hörte nicht länger auf ihn. Sofort – ohne weitere Worte an ihn – lief die Tochter von Dorothy Winston los und durchquerte erneut den langen Flur Richtung Eingangshalle. Dabei rannte sie mit Tränen in den Augen an dem Rauchersalon vorbei, aus welchem die Männer soeben kamen. Diese bemerkten das aufgewühlte Mädchen ebenso wie ihren Ehemann, der rufend hinter Delilah herlief.
„ Was hat das junge Mädchen denn?“, fragte einer der Beteiligten und konnte von dieser Entfernung nur die flehende Stimme von Jonathan Williams erkennen. Die Gruppe der älteren Herren sahen sich gegenseitig an als mit einem Mal ein lauter Schrei ertönte. Eindeutig von Delilah, gefolgt von einem wilden Klirren und dem Zerspringen von Glas. Sogleich machten sich alle auf den Weg, den beiden Streitenden hinterher. Besonders Mister Andrews und Sir Winston wollten wissen, was auf einmal mit den beiden Eheleuten los war. Vor allem die Art und Weise wie Delilah nun mit Jonathan interagierte, konnten beide Männer nicht deuten. Auf ihrem Weg traf die Gruppe auch auf die restlichen Frauen, welche anscheinend den gleichen Weg auf sich nehmen wollten wie ihre Ehemänner. Erneut knallte es als alle Schaulustigen den Ort des Geschehens erreichten.
„ Wie konntest du nur!? Wie konntest du mir so etwas antun, sag es mir!?“, erklang erneut der Ruf von Delilah, während etwas knallte. Sogleich wandten alle Damen und Herren ihre Augen zu der einladenden Mitte des Eingangsbereiches, wo sie Delilah und ihren Mann auffanden. Die junge Dame stand mit verzerrtem Gesicht und hunderten Tränen in den Augen dort während Jonathan nur schweigend den Boden musterte. Direkt vor ihm lag eine zersprungene Vase sowie andere Scherben, welche wohl von einem Blumentopf kamen.
„ Delilah, bei allen Göttern, was tust du denn da?!“, erhob nun der Hausherr die Stimme und kam mit stolzer Brust auf seine Tochter zu. Diese sah ihren Vater an, erhoffte wenigsten etwas Verständnis für ihre Situation. Nur dieses eine Mal sollte er hinter ihr stehen, flehte das jüngere Ich in ihr.
„ Ich kann dir ganz genau sagen, was vorgefallen ist, Vater!“, schimpfte Delilah vollkommen am Ende. Mister Andrews und Helen drängten sich ein wenig an den anderen Schaulustigen vorbei, sodass sie das Geschehen besser verfolgen konnten.
„ Ich habe Jonathan mit einer eurer neuen Hausdamen in Flagranti erwischt. Sie… Sie wollten sich einander hingeben, waren schon dabei, den Akt zu beginnen. Er hat mich betrogen, wie konnte er dies nur tun!? Wie konnte er seine eigene Frau hintergehen!“, erklärte die Brünette aufgewühlt, wobei sie erneut ihren Blick auf den Sohn der Williams richtete. Stille. Selbst Mister Andrews wusste in diesem Augenblick nicht was er sagen sollte. Wie kam Jonathan denn dazu, Delilah zu betrügen? Ein junges Mädchen, welches von allen hier – abgesehen von seiner Frau natürlich – die reinste Seele besaß? Aber das war nicht das Verwerfliche.
Denn nur wenige Sekunden später erklang erneut eine sehr angespannte Melodie. Ein schallerndes Geräusch, welches durch den Donner außerhalb des Hauses fast unterging. Mister Andrews, seine Frau und Dorothy Winston waren jedoch die Einzigen, die nun ihre Augen weiteten. Warum? Nun… eines war zu erkennen. Arthur Winston hatte seine Hand gehoben während Delilah nun zur Seite sah. Ein knallroter Abdruck zierte ihre Wange. Delilah selbst hatte die Augen geweitet und sah nun langsam wieder zu ihrem Vater zurück. Was… was war eben passiert?
„ Schluss jetzt, Delilah!“, schrie dieser wie Gott selbst durch den unteren Teil seines Anwesens und schob Jonathan schützend hinter sich. Dieser grinste nun ein wenig, wusste dass er diese Situation als Gewinner verlassen sollte. Delilah hingegen konnte gar nicht genug in ihre Mimik legen, damit das Unverständnis in ihr deutlich wurde. Was… Was war soeben passiert?
„ Du blamierst mich vor all meinen Gästen und Jonathan als Vertreter der Williams Familie!“
Hatte sie das eben richtig verstanden? Ihr Vater erhob nun das Wort gegen sie und nicht gegen jenen Mann, der seine eigene Tochter hintergangen hatte?
„ Aber… Aber Vater, ich-“
„ Kein Aber!“, schrie dieser nun lauter auf und brachte seine Tochter dazu, willkürlich zusammenzuzucken. Thomas Andrews wollte bereits eingreifen, wurde von seine Frau aber zurückgehalten. Diese sah ihren Mann unsicher an, wusste dass dadurch die Situation noch weiter ins Negative gezogen werden sollte. Zusätzlich hatte sie auch Bedenken, dass Mister Winston ihn auch noch irgendwie verletzen sollte.
„ Du bist meine Tochter, Delilah! Du bist die Frau von Jonathan Williams! Wie oft, verdammt noch eins, sollen wir dir dies erklären, sag es mir?!“, schrie er erneut auf und brannte innerlich voller Wut und Zorn. Er war vollkommen blind für das, was nun aus seinem Mund folgen sollte.
„ Unser Leben lang haben wir dich verhätschelt und dann schreist du deinen eigenen Ehemann so an! Wenn er dich hintergeht und eine andere Frau bevorzugt, warst du ihm keine gute Ehefrau! So einfach ist das! Nicht er sollte sich schuldig fühlen, mit einer anderen Frau Intimitäten ausgetauscht zu haben. Du solltest dich schämen! Unser Ansehen und jenes seiner Familie mit solch einer niedrigen Darstellung deinerseits zu beflecken! Wenn Jonathan der Meinung ist, eine andere Frau zu seiner persönlichen Befriedigung heranzuziehen, so kann und darf er dies tun! Die Einzige, welche sich schämen sollte, bist du! Und nun genug von diesem Unsinn! Du bist eine Schande für diese Familie.“
Ruhe. Niemand sagte etwas, während sich der Herr des Hauses herumdrehte und zur abendlichen Routine zurückkehren wollte. Er lächelte bereits wieder, wollte soeben seine Gäste zu einem weiteren Glas Wein und möglichen Speisen einladen. Doch da… hatte er nicht mit seiner Tochter gerechnet. Denn Delilah spürte mit einem Mal eine ungeheure Wut in sich aufsteigen. Wut auf ihren Vater, ihren Ehemann und auf all diese Menschen hier, welche ihr nicht geholfen hatten. Nein, Wut erfasste ihren Gemütszustand kaum. Kurz senkte sie ihren Kopf bevor sie einen tiefen Atemzug nahm. Angestrengt sah die Brünette mit ihren dunkelblauen Augen direkt zu ihrem Vater, ihr Gesicht wurde eiskalt. So hatte sie wirklich noch nie jemand gesehen.
„ Nein.“
Ein einfaches, dennoch so starkes Wort. Erneut donnerte es außerhalb des Hauses während Arthur Winston sich bei dieser Widersetzung zu seiner Tochter drehte. Diese jedoch erhob stolz ihren Kopf, trat einen Schritt zurück und wich mit ihrem Blick nicht zurück. In diesem Augenblick… keimte etwas in der jungen Frau auf, was sie noch niemals zuvor gespürt hatte. So kraftvoll durfte sie sich in den letzten Jahren noch nie fühlen. War dies… die innere Stärke einer Dame, die ihre eigenen Entscheidung treffen konnte?
„ Wie bitte, Delilah?“
„ Ich sagte nein!“, sprach sie es erneut aus und begann den elendigen Schmuck aus ihren Haaren zu schmeißen. Somit fielen die dunkelbraunen Haare in ihrer vollkommen Pracht über ihre Schultern. Im nächsten Atemzug flog auch die silberne Halskette zu Boden. Nur das Schmuckstück von Mister Andrews behielt sie unbewusst um. Dieser Prozess verging unglaublich schnell, bevor die Blauäugige damit begann, ihren Ehering abzunehmen. Ein überraschendes Aufkeuchen ging durch die Runde. Die Männer der Gruppe tuschelten leise miteinander und warfen dem Hausherren einen prüfenden Blick zu. Was sollte er nun wohl tun? Würde er seines Amtes als Familienoberhaupt ausnutzen, um seine Tochter zu stoppen, bevor sie richtig beginnen konnte? Doch dieser blieb wie angewurzelt stehen und sah seine Tochter an.
„ Delilah, ich warne dich. Wenn du-“
„ Ich habe genug davon!“, sprach das Kind der Aufmerksamkeit nun vollkommen frei aus. Ihr Herz schlug bereits jetzt schon ungewöhnlich schnell. Adrenalin pumpte durch ihren Körper.
„ Ich hab von allem hier genug! Von diesem Spiel mit Jonathan, diesem ganzen Leben unter Menschen, die an nichts anderes denken als an ihr ergaunertes und schmutziges Geld! Ich bin es leid, diesen Damen zuhören zu müssen, während sie die Schwächeren und Ärmeren als Unterwürfig bezeichnen!“
Mit einem gewaltigen Druck trat sie mit ihrem linken Bein auf den Schmuck, welcher noch immer am Boden lag. Er zersprang ein wenig, sollte niemals mehr an ihrem Körper ein Zuhause finden.
„ Ich wollte diesen Mann niemals heiraten! Ich habe es nur getan, weil ihr es von mir verlangt habt! Ich werde nicht länger diesen Ring tragen! Ich werde niemals wieder diesen Ring tragen!“, erhob Delilah ihre Stimme und schmiss wenige Sekunden später den Rest des silbernen Schmucks zu Boden. Dabei trat sie erneut einen Schritt zurück und trat immer wieder auf die Kostbarkeiten unter ihr ein. Ihr Fuß und ihre Bewegungen kannten dabei keine Gnade, zerstörten alles was in ihren Blickwinkel kam. Erneut eine Last weniger, dachte das junge Mädchen und zerriss vor den Augen aller Anwesenden ihr prächtiges Kleid. Somit blieb am Ende nur noch das weiße Oberteil und der dunkelgrüne Stoffrock übrig, den sie darunter immer trug. Auch die ansehnlichen Schuhe schmiss sie ihrem Vater entgegen. Dies prallten an seiner Brust ab, fielen unbeeindruckt zu Boden. Mister Winston verdunkelte seinen Blick erneut. Er überschritt die Schwelle es Zornes und spürte nun Emotionen, welche nur aus den Tiefen der Hölle kommen konnten.
„ Du bist immer noch meine Tochter, ob du das willst oder nicht!“
„ Nein! Wenn ich deine Tochter wäre, dann hättest du mich vor diesem Bastard beschützt! Du hättest erkannt, dass ich lieber dem Tod in die Arme gelaufen wäre als die Frau dieses ungehobelten Idioten zu werden. Ich würde lieber unseren Gärtner heiraten als einen Ahnungslosen, welcher nicht einmal annährend den Verstand eines wahren Mannes besitzt!“, diskutierte Delilah und riss sich nun noch die weiten Ärmel bis zur Hälfte ab. Dadurch erkannte der Vater einige blaue Flecke. Doch seine Wut machte ihn blind.
„ Ich bin der Hausherr! Ich bestimme, welchen Weg du zu gehen hast!“
„ Du… bestimmst rein gar nichts mehr über mein Leben!“, schrie Delilah nun auf. Gleichzeitig ging sie auf die Tür des Hauses zu, öffnete diese und spürte sogleich den peitschenden Wind. Dieser kam auch den anderen Anwesenden entgegen, welche sich ihre Kleidung enger um den Körper schlangen.
„ Delilah Winston! Wage es dich einen Schritt weiterzugehen! Ansonsten wirst du keine Erbin von dem Geld dieser Familie mehr sein! Ich werde allen erzählen, welche Schande du über uns gebracht hast!“
Die Angesprochene sah erneut zurück. Der Ausdruck in ihren Augen hatte sich nicht verändert. In ihr hatte sich etwas geregt. Sie… Sie sollte nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Sie wandte ihren Körper vollkommen in seine Richtung. Gott selbst schickte als Antwort einen gewaltigen Blitz, welcher hinter ihr sichtbar wurde.
„ Gut… Erzähle es ruhig allen! Erzähle ihnen, durch welche Scham und durch welchen Schmerz ich als deine Tochter gehen musste! Dein ganzes Geld spielt doch überhaupt keine Rolle!“, erklärte die Brünette.
„ Wann wirst du endlich einmal erkennen, dass ich als deine Tochter diejenige bin, welche deinen Namen und dein Vermächtnis weitertragen wird und nicht dein Geld! Wann siehst du das endlich ein?!“
Nur am Rande bemerkte Delilah nun den Blick von Mister Andrews. Er hatte eine schlimme Vorahnung, was nun passieren sollte. Helen neben ihm trat ganz vorsichtig einen Schritt vor und deutete Delilah an, nicht das zu tun, was sie möglicherweise hatte.
„ Delilah Winston, ich sage es dir ein allerletztes Mal! Und lausche meinen Worten ganz genau! Wenn du dich nicht sofort bei Jonathan und sowie unseren anwesenden Gästen entschuldigst und zurück an meine Seite kommst, warst du unsere Tochter! Ich werde dich aus diesem Haus schmeißen wie einen armen Bettler! Ich werde dafür sorgen, dass niemand dich aufnehmen wird, egal wohin du in dieser Stadt oder in diesem Land auch noch hingegen willst!“
Auf einmal… lächelte Delilah und schmiss nun auch das letzte Schmuckstück von sich. Es handelte sich um eine goldene Brosche mit einem dunkelgrünen Schmetterling. Diese war noch in ihren Haaren versteckt gewesen, somit eine letzte Kette, welche Delilah noch sprengen musste. Dieses Schmuckstück landete direkt vor den Füßen ihres Vaters Vater. Dieser sah seine Tochter an obgleich hinter ihr ein gewaltiger Blitz erstrahlte. In diesem Augenblick… hatte sich Delilah Winston dazu entschieden, nicht mehr jene zu sein, welche sie in den vergangenen Jahren ihres Leben gewesen war. Dies – so sollten es Menschen auch Jahre später weitererzählen – sollte ein Abschied für immer sein.
„ Dann… hattet ihr wohl mal eine Tochter… Auf Wiedersehen…“
Plötzlich rannte sie los. Vollkommen in die Dunkelheit und zwischen den Blitzen und dem Donner hindurch, erst die lange Treppe hinunter und dann durch den Garten hinfort in das angrenzende Waldgebiet. Lediglich Mister Andrews und seine Frau liefen auf die Tür zu, wollten dem Mädchen hinterher. Sie konnten doch nicht mitansehen, wie dieses junge Geschöpf bei diesem schrecklichen Wetter im schlimmsten Fall noch umkam. Dort draußen konnte alles Mögliche passieren, vor allem bei diesem Wetter sowie um eben diese Tageszeit. Doch… Herr Winston schloss einfach vor ihnen die Tür, seufzte tief und zertrat die Brosche, welche Delilah ihm eben zugeworfen hatte. Sein Ausdruck war hart und kalt, zeigte keine einzige Emotion mehr. Dorothy Winston hingegen stand noch immer wie erstarrt auf ihrem Platz und wusste nicht, was gerade passiert war. Aber Arthur wusste es.
„ Von diesem Tag an… habe ich keine Tochter mehr…!“
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Mit freundlichen Grüßen
Eure Elli