Das alte Lied
von Tschuh
Kurzbeschreibung
Das Prinzip ist ganz einfach: Karrieretribute nehmen das Füllhorn ein, Karrieretribute töten Außendistriktler, und Karrieretribute gehen sich gegenseitig an die Gurgel, bis am Ende nur noch einer übrig ist. Die bewährte Methode funktioniert jedes Jahr aufs Neue. Und was nicht kaputt ist, muss man auch nicht reparieren. — Karrierozentrische Mini-MMFF. [Anmeldung geschlossen]
MitmachgeschichteDrama, Action / P18 / Mix
OC (Own Character)
07.10.2022
10.09.2023
10
53.789
13
Alle Kapitel
23 Reviews
23 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
07.10.2022
1.451
⚔ P R O L O G ⚔
OUVERTÜRE
OUVERTÜRE
Es war nicht das gleißende Sonnenlicht, welches Kris die Orientierung raubte, sondern eine unerwartet beißende Kälte, die ihren Körper wie eine zweite Haut umfing und eisige Schauer über ihre Wirbel jagte. Im Pferch war es ihr so stickig vorgekommen, dass sie die letzte halbe Stunde über wie ein Ochse geschwitzt hatte – auch wenn sie das vermutlich eher dem Stress, als einer defekten Lüftungsanlage zu verdanken gehabt hatte. Jetzt allerdings fühlte es sich an, als würden ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Züge im Gesicht festfrieren.
Sechzig Sekunden.
Oh Gott, ja, richtig! Kris hatte überhaupt keine Zeit, um sich mit dem abrupten Klimawechsel auseinanderzusetzen, sie musste sich konzentrieren, ihre Umgebung analysieren, und vor allen Dingen abwägen, wie sie das verdammte Füllhorn überleben wollte! Genau so, wie ihre Mentorin es ihr eingeschärft hatte. Ruhig bleiben, nicht die Nerven verlieren, nicht darüber nachdenken, was passieren könnte, sondern einfach machen! Ein- und wieder ausatmen, Puls unter Kontrolle bringen. Also …
Sie hatten in diesem Jahr eine dicke, gefütterte Jacke mit Pelzkapuze, sowie wasserfeste Stiefel bekommen. Es dürfte also feucht-kalt werden, auch wenn man sich in den Sachen nicht sonderlich gut bewegen konnte. Kris blinzelte ein paarmal angestrengt in die Witterung hinein und erkannte einen schneeweißen, wolkenverhangenen Himmel über sich. Schnee … es war gut möglich, dass sie bald auch damit rechnen musste.
Fünfzig Sekunden.
Kris gab sich einen Ruck, um sich endlich aus ihrer Panikstarre befreien zu können, und blickte sich um.
Wie immer hatten sie sie in einem großen Kreis um das Füllhorn herum stationiert, sodass zwischen den einzelnen Tributen mehr als zwei Armlängen Platz war. Links von ihr stand der kleine, flinke Rotschopf aus Sieben, rechts der langhaarige Zwölfer, dessen seltsam monotone Stimme ihr bereits während des Interviews die Nackenhaare hatte zu Berge stehen lassen. Keiner von beiden schien sie zu beachten; seine Miene wirkte hochkonzentriert, der Blick starr auf das Füllhorn fixiert, während der des Mädchens hektisch umhersprang. Womöglich suchte sie nach ihren Verbündeten. Hatte sie überhaupt welche? Kris konnte sich nicht erinnern. Momentan war sie einfach bloß froh darüber, keinen der Karrieros in ihrer unmittelbaren Umgebung ausmachen zu können.
Vierzig Sekunden.
Die Arena bestand, so weit sie das erkennen konnte, aus einer kargen, verhältnismäßig flachen Graslandschaft, aus der hier und da ein paar Felsbrocken, dornige Sträucher, oder sogar ein Wildblumenbeet hervorstachen. Kris konnte nicht anders, als eine Spur Erleichterung zu empfinden, als sie realisierte, dass die Gegend sich gar nicht so sehr von den Prärien in Distrikt Neun unterschied, die im Winter unter ähnlich strengen Temperaturen litten. Mit etwas Glück würde sie einige der Tiere und Pflanzen wiedererkennen, und dieser Vorteil war hier nahezu unbezahlbar.
Dreißig Sekunden.
Auffällig – und zugegeben auch ein wenig besorgniserregend – war allerdings, dass weit und breit kein einziger Baum zu sehen war. Als Verstecke dienten hier höchstens die Felsformationen, die möglicherweise Höhlen oder zumindest ein wenig Schutz vor Wind und Wetter zu bieten hatten. In weiter Ferne konnte Kris eine bedrohlich wirkende Bergkette erkennen, doch sie bezweifelte, dass diese tatsächlich dazu gedacht war, sie zu erklimmen.
Zwanzig Sekunden.
So langsam begann erneut Panik in Kris aufzusteigen. Es schien kaum Möglichkeiten zu geben, sich vor dem Gemetzel in Sicherheit zu bringen, das hier in wenigen Sekunden ausbrechen würde, doch dann fiel ihr der Fluss auf, der sich rechts von ihr über die Ebene hinwegschlängelte. Er war breit, zu breit, um einfach so herüberzuspringen, und so tosend, dass er ein schmächtiges Mädchen wie sie mühelos mit sich reißen und ertränken würde, sollte sie doch versuchen, ihn zu überqueren.
Wenn man es allerdings schaffte, die andere Seite zu erreichen, wäre man erst einmal vor den Karrieros in Sicherheit – das hieß, so lange es am Füllhorn keine Fernkampfwaffen gab. Und bei diesen Temperaturen in nasser Kleidung herumzulaufen, würde ohnehin bald zum Tod führen. Die Idee würde sie sich also gleich wieder aus dem Kopf schlagen müssen.
Zehn Sekunden.
Auf der linken Seite wurde das Gelände wieder etwas felsiger und schien an einigen Stellen so steil, dass die andere Seite des Hügels nicht einmal mehr zu erkennen war. Dahinter konnte alles Mögliche liegen; eine Schlucht zum Beispiel, in der man sich sämtliche Knochen brechen und elendig verdursten würde, oder durch die ein geheimer Pfad an einen halbwegs sicheren Ort führte. Und was blieb ihr momentan schon anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen?
Fünf Sekunden.
Es war reiner Zufall, dass Kris auf der Suche nach einem möglichst ungefährlich aussehenden Weg über die Felsebene der Rucksack ins Auge sprang. Nicht besonders groß, dafür aber in unauffälligen Tarnfarben gehalten, und keine zwanzig Meter von ihrer Plattform entfernt. Da könnten Streichhölzer drin sein, Verbandszeug, oder vielleicht sogar ein kleiner Schlafsack! Aber war es das wirklich wert, ihr eigenes Leben jetzt schon aufs Spiel zu setzen? Ja! Manchmal musste man gewisse Risiken eingehen, wenn man überleben wollte! Aber nicht immer. Manchmal war es auch klüger, sich zuerst in Sicherheit zu bringen.
Scheiße. Kris lief die Zeit davon! Hör auf nachzudenken und mach einfach!
Eine Sekunde.
Das Signal ertönte und der Zwölfer neben ihr zischte los wie eine Kanonenkugel, doch Kris bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle. Ihr war schon wieder der Schweiß ausgebrochen und auch die Kälte war mit einem Mal wie weggeblasen. Was sollte sie denn tun?! Verdammt, wenn sie noch länger auf dieser Plattform herumlungerte, würde sie sterben! Und ihren Rucksack holte sich dann auch jemand anderes …
Diese Vorstellung sorgte dafür, dass ihre Füße sich endlich in Bewegung setzten und sie nicht zu den Hügeln, sondern geradewegs in Richtung Füllhorn trugen.
Als sie zum ersten Mal umknickte und beinahe stürzte, wusste Kris, dass sie es verbockt hatte. Sie war zu spät losgelaufen, hatte den anderen einen Vorsprung verschafft, und ihre Glieder fühlten sich an wie Blei, obwohl sie das Gefühl hatte, jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper spüren zu können.
Es hatte bereits begonnen. Schreie schnitten durch die kalte Luft wie Messer, und Kris hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Dumpfes Fußgetrampel ertönte um sie herum, ein verzweifelter Warnruf, der vielleicht jemandem das Leben rettete, vielleicht aber auch zu spät kam. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, wie die ersten Körper zu Boden gingen, doch sie zwang sich dazu, ihnen keine Beachtung zu schenken. Sie hatte nur Augen für den Rucksack, alles andere war egal! Kris konnte das hier schaffen. Die anderen schienen alle mit sich selbst beschäftigt zu sein, und wenn sie das Tempo hielt, dann war sie in null Komma nichts wieder von hier verschwunden, noch bevor irgendjemand eine Waffe finden und sich an ihre Fersen heften konnte!
Der Rucksack lag jetzt nur noch einen knappen Meter von ihr entfernt und Kris ging im Laufen leicht in die Knie, um ihn mit ausgestrecktem Arm auflesen zu können, als ein plötzlicher Stoß sie aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden warf. Sie konnte spüren, wie der steinige Untergrund ihr die Haut vom Kinn schrammte und der Geschmack von Blut sich in ihrem Mund auszubreiten begann. Keinen Sekundenbruchteil später explodierten die Schmerzen in ihrem Rücken und raubten ihr für einen Moment regelrecht die Sinne. Der Rucksack verschwamm vor ihren Augen, die Welt um sie herum überschlug sich, und dann realisierte Kris mit einem Mal, dass sie nicht mehr atmen konnte, schnappte panisch nach Luft, doch ihr Rachen füllte sich bloß weiter mit heißem Eisen und bis auf ein ersticktes Gurgeln drang kein Laut aus ihrer Kehle. Es schienen tausend Stunden zu vergehen, bis ihr Körper endlich beschloss, ihre Adern mit Adrenalin zu fluten, und obwohl Kris sich bereits wie ein Larve im Dreck zusammengekrümmt hatte, schaffte sie es, ein paar weitere Zentimeter vorwärtszurobben, selbst wenn sie nicht mehr wusste wozu. Ihre Finger streiften etwas Raues, ein Stück Stoff, oh Gott, der Rucksack, nur damit er ihr wieder entrissen werden konnte, im selben Moment, wie auch die Klinge mit einem kräftigen Ruck aus ihrem Fleisch gerissen wurde. Zu mehr als einem feuchten, heiseren Wimmern war sie in diesem Augenblick nicht fähig.
Kris hätte sich einfach umdrehen und weglaufen sollen. Aber diese Erkenntnis nützte ihr jetzt auch nichts mehr.
Direkt vor ihr erklang ein markerschütternder Schrei, der den Schleier, hinter dem ihre Wahrnehmung allmählich versank, nur mit Mühe zu durchstoßen vermochte. Kris war nicht die Einzige, die für diesen Rucksack einen schrecklichen Preis bezahlt hatte, doch sie hatte nicht mehr die Kraft, irgendetwas für den anderen Tribut zu empfinden. Kein Mitleid, keine Verachtung, keine Schadenfreude.
Erleichterung war das Letzte, was Kris fühlte, als die Klinge sich erneut in ihren Körper grub, dieses Mal knapp an ihrem Schulterblatt vorbei, zwischen den Rippen hindurch, und mitten in ihr Herz hinein. Die allumfassende Taubheit übermannte sie schließlich, bevor die Schmerzen es konnten. Manchmal klappte es eben erst beim zweiten Versuch.