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Tierisches und allzu Menschliches

Kurzbeschreibung
SammlungAllgemein / P12 / Gen
18.09.2022
14.04.2023
9
11.450
1
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18.09.2022 1.949
 
Eine unromantische Liebesgeschichte

Luise ist eine gut aussehende, intelligente und mit beiden Beinen im Leben stehende Frau, der im Grunde nur noch eines zum vollkommenen Glück fehlt: der richtige Partner. All ihre Freunde, Bekannten und Kollegen fragen sich schon seit geraumer Zeit, warum der Liebesgott in diesem Fall noch keinerlei Bereitschaft gezeigt hat, seine Pfeile in die richtige Richtung zu schießen. Braucht Amor eine Auszeit oder liegt er einfach grundlos auf der faulen Haut? Oh nein, der Gott der Liebe hat nur seine Kollegin Fortuna verärgert, sodass diese sich weigert, die nötige Vorarbeit zu leisten, ohne die Amor nicht schießen kann. Sie möchten gerne wissen, wie es zu dieser Arbeitsverweigerung kam? Nun, wenn ich über den Hergang dieser Geschichte berichte, wird so mancher Leser zu dem Schluss kommen, dass Götter eben auch nur Menschen sind. Menschen, die manchmal aus Stolz oder verletztem Ehrgefühl ganz anders handeln, als man es von Personen ihres hohen Amtes und großen Ansehens erwarten möchte.

Der gute Amor, ohne dessen treue Dienste die Menschheit längst ausgestorben wäre, war immer mächtig stolz darauf, wenn er wieder eines von unzähligen Paaren zusammengebracht hatte. Und dieser Stolz ließ ihn des Öfteren vergessen, dass auch bei den Himmlischen das Zauberwort Teamwork hieß, welches bisweilen die unmöglichsten Dinge ermöglicht hatte. Wohin sollte denn Amor seine Pfeile schießen, wenn nicht die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort erschienen? Frau Fortuna wies ihren Kollegen oft genug darauf hin, dass er nur durch ihre akribische Vorarbeit fähig war, seine Pfeile in die vorgesehene Richtung zu lenken. (Muss man extra darauf hinweisen, dass auch in der himmlischen Hierarchie die Frauen die Drecksarbeit leisten, die es den Männern dann ermöglicht, die Lorbeeren zu ernten? Wie schon erwähnt: allzu menschlich sind sie, die Himmlischen.) Und da himmlische ebenso wie irdische Männer zuweilen ziemlich uneinsichtig sein können, blieb Fortuna nichts anderes übrig, als zu einer List zu greifen: Amor sollte wenigstens einmal spüren, wie erfolglos sein Bemühen ist, wenn seine Götterkollegin nicht zuverlässig die dazu nötigen Vorbereitungen eingeleitet  hat.

Um Fortunas Arbeitsweise vollkommen zu begreifen, müssen wir das Himmelsbüro einmal genauer unter die Lupe nehmen. Die Glücksgöttin ist neben zahlreichen anderen Aufgaben auch in der himmlischen Partneragentur angestellt und sucht dort ständig nach Menschen, die zusammengehören. Dann sorgt sie dafür, dass diese sich auch ganz bestimmt begegnen, und gleichzeitig erteilt sie Amor den Auftrag, mit seinen Pfeilen an diesem Treffpunkt zu erscheinen. Fällt dem Leser das Ungleichgewicht dieser Arbeitsteilung auf? Fortuna leistet detektivische Arbeit, sucht Tag und Nacht - selbstverständlich ohne Urlaub oder Krankheitsausfall - nach passenden Paaren und gibt Amor die Informationen weiter, die er benötigt, um kurz mal zwei Pfeile abzuschießen. Er schießt - und ist der Held! Dabei wurde noch nicht einmal berücksichtigt, wie gering manchmal seine Trefferquote ist. Leider kommt es immer wieder vor, dass er nur einen der für die Kuppelei Vorgesehenen trifft und der zweite Schuss ganz woanders hingeht. Dann passiert genau das, was der Dichter Heinrich Heine so trefflich besungen hat:

"Ein Jüngling liebt ein Mädchen,
Die hat einen andern erwählt.
Der andre liebt eine andre
Und hat sich mit dieser vermählt.
Das Mädchen nimmt aus Ärger
Den ersten besten Mann,
Der ihr in den Weg gelaufen,
Der Jüngling ist übel dran.
Das ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie immer neu,
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.“

Nun wollen wir uns aber endlich Luise und ihrem Schicksal zuwenden. Diese Frau ist nun schon seit vielen Jahren allein. Dabei wäre in der himmlischen Partneragentur längst ein Mann für sie gefunden worden, wenn nicht Fortuna... Aber lassen wir diese Klagen, weil sie uns auch nicht weiterhelfen. Luise ist bereits vierzig Jahre alt und arbeitet in einem sehr angesehenen Kaufhaus in einer gemütlichen Kleinstadt. Sie ist bei der Kundschaft recht beliebt, weil sie diese gut berät und niemals irgendetwas aufschwatzt, das übermäßig teuer ist oder einfach weg muss, weil es sich als Ladenhüter erwiesen hat. Im Laufe der Jahre hat Luise schon alle möglichen Abteilungen des Kaufhauses kennengelernt, angefangen von Haushalts- über Spielwaren bis zur Damenkonfektion. Insgeheim hat sie sich schon immer gewünscht, einmal in der Herrenausstattungsabteilung arbeiten zu dürfen, denn nur dort würde sie die Möglichkeit haben, vielen Männern zu begegnen. Bei den Spielwaren halten sich zwar auch immer wieder etliche Herren der Schöpfung auf, aber entweder sind sie mit ihren Kindern dort - und in diesem Fall dürfte doch meist auch eine Ehefrau existieren - oder sie sind selber noch nicht so richtig erwachsen und lassen sich beim Kauf einer Modelleisenbahn beraten. Da Luise durchaus einen gewissen Anspruch an einen künftigen Partner hat, kommt für sie weder ein Eisenbahnfreak noch ein Muttersöhnchen in Frage. Als einmal zwei Kollegen gleichzeitig in der Buchabteilung krank sind, darf Luise auch dort einspringen, und das ist ihre schönste Zeit im Kaufhaus. Zwar zieht es nicht allzu viele Männer in diese Etage, doch wenn welche kommen, dann sind es die richtigen. Luise weiß ganz genau, welchen Mann sie nicht will, denn da hat sie schon im Geheimen eine Liste geschrieben. Nr. 1 der verschmähten Männer ist der, der Shakespeare für eine Biersorte hält. Und solche verirren sich zum Glück eher selten in den Buchhandel.

Wie bereits erwähnt, weiß Fortuna genau, welcher Mann der einzig Richtige für Luise wäre. Er heißt Robert, ist 44 Jahre alt und von Beruf Lehrer für Deutsch und Geschichte am hiesigen Gymnasium. Robert wünscht sich seit Langem eine Frau, doch er nimmt nicht jede, denn auch er hat gewisse Ansprüche. Vor allem soll sie sich nicht einzig und allein für Modejournale interessieren, wie das leider so viele Frauen tun. Robert hat es sogar schon einmal bei einer Partnervermittlung im Internet versucht, und als er dort schrecklich viele ungebildete Frauen kennengelernt hatte, änderte er sein Partnerwunschprofil und gab an, dass er nur Akademikerinnen zugeteilt bekommen möchte. Nach einem halben Jahr stellte er ernüchtert fest, dass Frauen, die ein Hochschulstudium absolviert haben, auch nicht anders lügen. Frustriert löschte er sein Profil.

Was hat nun Fortuna mit dieser Sache zu tun? Nun, unsere Göttin des Glücks beobachtete gelassen, wie Robert just an diesem Tag seinen Wunsch nach Zuteilung von Akademikerinnen angab, an welchem sich Luise nach langem Hin und Her zur Anmeldung bei genau dieser Partneragentur entschlossen hatte. Pflichteifrig und für solche Institutionen viel zu ehrlich gab sie ihren höchsten Bildungsabschluss an, der nun einmal die Mittlere Reife war. Es ist nicht so, dass es bei ihr nicht fürs Abitur gereicht hätte. Nein, Luise könnte man durchaus als eine gebildete Frau bezeichnen. Aber sie stammt eben aus einem Umfeld, in dem man Mädchen nicht aufs Gymnasium schickte, weil sie ja sowieso irgendwann mal heirateten. Da wäre doch ein Studium rausgeworfenes Geld. Das war jedenfalls die Ansicht ihrer Eltern. Luise hatte durchaus Ambitionen, sich weiterzubilden. Wie würde sie sich sonst in der Buchabteilung ihres Kaufhauses so wohlfühlen? Sie passt wirklich nicht in das Klischee der dummen Verkäuferin, ist aber in ihrem Beruf trotzdem glücklich, weil sie gern mit Menschen zu tun hat. Und ihre geistigen Ansprüche kann sie immerhin nach Feierabend genügend befriedigen, indem sie das Theater, Konzerte und Vorträge besucht.

Robert kauft seine Bücher meist in einer kleinen Buchhandlung, weil er der Meinung ist, dass man kleine Geschäfte unterstützen sollte. Ein einziges Mal war es für ihn praktischer, ins Kaufhaus zu gehen. Genau einen Tag, nachdem Luise wieder von der Buch- in die Damenkonfektionsabteilung zurückversetzt wurde. Wir wissen ja nun, wer verantwortlich für dieses denkbar schlechte Timing ist.

Luise besitzt zwar ein Auto, aber sie fährt nicht oft damit, weil sie in ihrer Stadt wunderbar mit Fahrrad und Bus zurechtkommt. Nur am Wochenende, wenn sie manchmal ihre Eltern oder Freunde außerhalb besucht, ist ein eigener Wagen doch praktischer. Technisch begabte Menschen wissen, was mit einem Auto passiert, das selten gefahren wird: die Batterie wird schwach. So stand Luise eines Tages vor der vollendeten Tatsache, dass sie nicht wegfahren konnte, weil das Auto nicht anspringen wollte. Sie fragte ihre Nachbarin, ob diese ein Starthilfekabel besäße und Luise damit aus der Misere helfen könnte. Gerade als die Nachbarin kam, um Luises Auto am Straßenrand mobilisieren zu können, fuhr Robert vorbei. Er sah, dass die Motorhaube eines Autos geöffnet war und eine Frau hilflos danebenstand. Doch als er anhalten und helfen wollte, sah er eine zweite Frau mit dem dazu benötigten Kabel aus dem Haus kommen. Da er sowieso in Eile war, fuhr er weiter.

Fortuna grinst schadenfroh und sagt: "Amor, du wirst bald arbeitslos!" Dieser Krieg zwischen Amor und Fortuna zog sich über einige Jahre hin. So ging Luise meist einen Tag später ins Theater als Robert. Sie brachte ihr Auto zum Kundendienst, und Robert - der Leser ahnt es schon - brachte seines einen Tag danach zur selben Werkstatt. Eines schönen Tages wurde Luise tatsächlich in die Herrenkonfektionsabteilung ihres Kaufhauses versetzt. So leid es mir tut, ich muss die Leserschaft davon in Kenntnis setzen, dass Robert erst einen Tag zuvor dort etliche Hemden erstanden hat und nun erst einmal genügend Kleidung besitzt. Im Kino der Stadt wird endlich einmal ein niveauvoller Film gegeben, und diese Tatsache nutzen sowohl Luise als auch Robert aus. Jeder geht allein an einem anderen Tag ins Kino und ist danach traurig, niemanden zu haben, mit dem er sich über den schönen Film austauschen kann.

Was macht nun Amor indessen? Zuerst genießt er mal seine Freiheit und die viele gewonnene Zeit. Doch allmählich macht ihn diese Untätigkeit doch recht unzufrieden und er schießt einfach wahllos seine Pfeile ab. Nicht nur Luise und Robert werden davon mehrere Male getroffen - aber immer mit dem falschen Partner - nein, unzählige Menschen verlieben sich ineinander, die überhaupt nicht zusammenpassen. Welch ein Chaos der Liebesgott dadurch in der Menschheit anrichtet, kann man sich wohl denken. Die Zahl der Ehescheidungen erreicht eine nie da gewesene Höhe.

Der Streit unter den Himmlischen ist wahrlich nicht mehr auszuhalten. Endlich, nach langer Zeit und kurz vor der menschlichen Katastrophe, schreitet Justitia ein und erkundigt sich über die Vorgänge in der himmlischen Partneragentur. "Frau Fortuna, was hat Sie dazu bewogen, ihre Arbeit derart schleifen zu lassen?" "Überlastung, Frau Justitia. Amor braucht nur die Pfeile zu schießen, aber ich bin monatelang mit einem einzigen Fall beschäftigt." "Nun, das sehe ich ein. Ich glaube, Sie bräuchten dringend Urlaub, aber auch eine Gehaltserhöhung würde Sie sicher motivieren, um wieder so erfolgreich zu arbeiten, wie Sie dies früher getan haben. Was Herrn Amor betrifft, so werde ich mit ihm auch ein ernstes Wort reden müssen." Frau Justitia hielt Wort und drohte Amor mit einer Gehaltskürzung, sollte er sich noch einmal erlauben, seine Pfeile ohne Sinn und Ziel unter die Menschheit zu schießen. Ebenso wäre es ihm nicht mehr gestattet, sich ob seiner erfolgreichen Tätigkeit zu brüsten, ohne die Lorbeeren mit seiner Assistentin zu teilen. Der himmlische Streit schien beigelegt zu sein.

Und plötzlich war alles ganz einfach: Robert ging mit seiner 12. Klasse ins Theater. Die Schüler hatten die Aufgabe, in der Pause und nach der Vorstellung einige Menschen aus dem Publikum zu befragen. Der Fragebogen wurde ausgewertet, und auf freiwilliger Basis konnten die Teilnehmer auch ihre Personalien angeben für den Fall, dass sie das Ergebnis der Befragung wissen wollten. Die Auswertung des Bogens hatten zwar die Schüler zu übernehmen, aber Robert als Leiter des Projektes musste sich natürlich ebenso genau informieren, und so las er alle Fragebogen daheim durch. Eine Theaterbesucherin, eine gewisse Frau Luise M. hatte sehr detailliert berichtet, was sie alles an der Inszenierung auszusetzen hatte. Für eine weitere Befragung hatte sie auch ihre Telefonnummer angegeben.

Fortuna hatte nun endlich alles in die Wege geleitet und Amor bekam folgenden Auftrag: "Luise und Robert sind schon längst überfällig, Amor. Robert wird heute nach einem langen Telefonat endlich zu der Frau gehen, die ihm bestimmt ist. Sei bitte dabei und schieße. UND TRIFF!"
 
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