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Alec, der (nicht so) kleine Meermann

von Lukina
Kurzbeschreibung
OneshotFantasy, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Alexander "Alec" Lightwood Isabelle "Izzy" Lightwood Jace Wayland / Jonathan Christopher Herondale Magnus Bane
17.09.2022
17.09.2022
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AN: Die Geschichte ist als Wichtelgeschenk in dem Projetkt Alternative Universen 3 von Valentia für Laila entstanden. Betagelesen wurde die Geschichte von NikkiHeat, vielen Dank noch Mal an der Stelle für die tolle Arbeit. Da es ein Ersatzbeitrag war, konnte ich mir das AU im Nachhinein wählen und ich habe mich, wie unschwer zu erkennen ist, für "Märchen" entschieden. Ich hoffe sie gefällt meinem Wichtelkind. (Und natürlich auch anderen Leser!)



Alec, der (nicht so) kleine Meermann


Es war einmal ein Meerkönig, der in den Tiefen des Ozeans herrschte. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er liebte sie und war stolz, zu was für herausragenden Meermenschen sie herangewachsen waren, aber es fiel ihm schwer, ihnen das auch zu zeigen. Vor allem sein ältester Sohn, Alec, sehnte sich nach seiner Anerkennung, doch dem Meerkönig kam kein Wort des Lobes über die Lippen. Mit Mut und Weitsicht versuchte sich der kleine Meermann zu behaupten, doch so sehr er sich auch bemühte, die Anerkennung seines Vaters schien für ihn unerreichbar. Er fühlte sich unbedeutend und klein, sein Vater übermächtig und unnahbar. Dabei wollte er doch nur mit den Erwachsenen schwimmen, ernst genommen werden und vielleicht, wenn er Glück hatte, von seinem Vater mit an die Oberfläche genommen werden.

Die Jahre vergingen und der kleine Meermann wuchs zu einem stattlichen Krieger heran. Sein schwarzes Haar umrahmte sein ernstes Gesicht und seinen drahtigen Körper zierten die Narben der Kämpfe, die er bereits in jungen Jahren gefochten hatte. Die Hoffnung auf Anerkennung hatte er aufgegeben. Stattdessen quälte ihn nun eine weitere Angst. Bereits vor einigen Jahren hatte er unsittliche Regungen in sich bemerkt, von denen sein Vater nichts erfahren durfte. Es ziemte sich für einen Prinzen nicht, solche zu haben. Deshalb versteckte er es. Unterdrückte sein Verlangen, in der Hoffnung, es würde sich legen.

Eines Tages, der kleine Meermann war gerade von einer Patrouille zurückgekehrt, ließ der Meerkönig Alec zu sich rufen. Scheinbar unbeeindruckt sah er von seinem Thron auf ihn herab. Stark, mächtig und unerreichbar.

„Mein Sohn, wie du weißt, wird deine Schwester in einem Mond ihr fünfzehntes Lebensjahr vollenden. Der Tradition entsprechend wird sie an diesem Tag das erste Mal an die Oberfläche schwimmen dürfen. Du weißt ja, wie stur und impulsiv sie sein kann, deswegen möchte ich, dass du sie auf ihrem ersten Ausflug zur Oberfläche begleitest. Ich wünschte, ich könnte einen ganzen Trupp zu ihrem Schutz abstellen, aber sie würde sich nur davonschleichen. Dir hingegen wird sie als Begleitung zustimmen. Also gib auf sie Acht und bringe sie mir unversehrt wieder heim.“

„Wie ihr wünscht, Vater“, antwortete Alec mit einer tiefen Verbeugung.

Sein Herz raste ob der Verantwortung, die sein Vater ausgerechnet ihm anvertraute. Er würde seine Schwester beschützen und vielleicht, aber nur vielleicht, würde er doch endlich von seinem Vater gelobt werden.

Die nächste Zeit bereitete sich Alec akribisch auf den Ausflug seiner Schwester Isabelle vor. Nichts durfte schief gehen und so plante er für alle Eventualitäten. Fischer, Haie, Piraten, Sturm. Für jede Eventualität legte er sich einen Plan zurecht, mit dem sichergestellt war, dass Isabelle sicher zu Hause ankommen würde. Doch all seine Planung, all seine Vorbereitung sollte vergebens sein. Denn es gab Dinge zwischen Himmel und Meeresboden, auf die man sich nicht vorbereiten konnte.

***

Isabelles Geburtstag kam und, wie zu erwarten, war das Fest unglaublich. Zwar waren nicht viele Gäste geladen, die anderen Länder des Meeres waren nicht gut auf den Meerkönig zu sprechen, aber trotzdem gab es eine Fülle an Speisen, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Jeder gratulierte der Prinzessin, die in ihrem atemberaubenden Kleid die Blicke aller jungen Meermänner auf sich zog. Mit Stolz sah Alec seiner kleinen Schwester dabei zu, wie sie selbstbewusst durch die Menge schritt und diese sich vor ihr teilte.

Bis weit in die Nacht hinein ging das Fest und als schließlich die letzten Gäste nach Hause gegangen waren, bereiteten die beiden Geschwister alles für den Weg an die Oberfläche vor. Alec legte Waffen und Notrationen bereit, während Isabelle sich noch einmal den Weg, den sie nehmen würden, ansah. Er hatte darauf beharrt, dass sie im Zweifel auch alleine wieder nach Hause kam.

Am nächsten Morgen war es schließlich so weit. Die Geschwister trugen beide die enge Jagdkleidung der Meermenschen. Schwarze, fließende Gewänder, die an der Hüfte von einem Gürtel gehalten wurden. An diesem hatte Alec neben seinem Messer noch vier kurze Wurfspeere befestigt. Zusätzlich hatte er sich noch mit einem Speer bewaffnet. Er wollte schließlich auf das Schlimmste vorbereitet sein.

Vorbei an riesigen Muscheln und durch Schwärme aus bunten Fischen schwammen sie in Richtung Oberfläche. Je weiter nach oben sie kamen, desto aufgeregter wurde Isabelle. Angst war ihr schon immer fremd gewesen und nun, da sie endlich die Weiten des Ozeans erkunden durfte, genoss sie den Nervenkitzel in seiner Gänze. Übermütig jagte sie kleine Haie und jedes Mal, wenn sich deren scharfen Zähne nur knapp hinter ihrem Schwanz schlossen, blieb Alec beinahe das Herz stehen. Der Meerkönig hatte schon gewusst, weshalb er seine Tochter nicht ohne Aufsicht an die Oberfläche lassen wollte. Regeln und Ratschläge hatten sie noch nie sonderlich interessiert. Es war beinahe, als würde sie einige mit Absicht brechen, um ihren Eltern zu trotzen. Doch auf ihren Bruder hörte sie und so ließ sie, wenn auch nicht ohne Widerworte, von ihren Abenteuern ab, wann immer er ihr sagte, dass es zu gefährlich wurde, sodass sie beide sicher und wohlbehalten die Oberfläche erreichten.

Als ihre Köpfe die Wellen durchstießen, kam Isabelle gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Bis ins Unendliche schien sich der Ozean in alle Richtungen auszubreiten. Keine Klippe, kein Seegras und kein Korallenriff waren in Sicht, nur die Sterne und der Mond, deren Spiegelungen wie kleine Fische über die Wellen hüpften. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares gesehen und es nahm ihr den Atem. Auch Alec, obwohl es nicht das erste Mal war, dass er die Oberfläche oder das Licht der Sterne erblickte, ließ der Anblick nicht kalt. Es war wirklich eine besonders schöne Nacht.

„Wahnsinn, selbst im Traum hätte ich es mir nicht so wundervoll vorgestellt“, flüsterte Isabelle nach einer Weile.

Die Ehrfurcht in ihrer Stimme ließ Alec schmunzeln. Die Momente, in denen seine Schwester sich so verletzlich zeigte, waren selten und jeder kostbarer als alle Schätze des Königreiches zusammen. Schweigend trieben sie auf den Wellen, ließen die Stille der Nacht auf sich wirken. Kopf an Kopf sahen sie hinauf zu den Sternen, bis Isabelle sich ruckartig aufrichtete.

„Und jetzt?“, fragte sie.

Das Glitzern in ihren Augen ließ nichts Gutes verheißen. Die ruhige Stimmung von eben war wie weggeblasen und hatte einem unbändigen Tatendrang Platz gemacht. Trotzdem versuchte Alec, sie einzubremsen. Die Worte seines Vaters waren ihm noch gut im Gedächtnis. Er alleine hatte die Verantwortung für sie beide. Da wollte er kein Risiko eingehen.

„Wenn du dich sattgesehen hast, können wir wieder zurück zum Palast“, erwiderte er so beiläufig wie möglich.

Nicht, dass sie das Gefühl bekam, er würde ihr Vorschriften machen. Dann würde sie schließlich erst recht ihren eigenen Kopf durchsetzen wollen. Sie lachte nur.

„Bist du verrückt? Das muss ich doch auskosten!“

Alec rollte mit den Augen. Eigentlich hatte er ja schon damit gerechnet, aber ein bisschen hatte er trotzdem gehofft, dass sie auf ihn hören würde. Lachend sprang Isabelle durch die Wellen, während er ihr in einigem Abstand folgte.

„Jetzt hab’ dich nicht so“, rief sie ihm zu. „Schau mal, da hinten! Was ist das?“

Sie zeigte auf einen kleinen Punkt am Horizont und noch bevor Alec sie aufhalten konnte, schwamm sie darauf zu. Es stellte sich schließlich als ein Schiff heraus. Obwohl sie bereits in Rufweite waren, machte Isabelle keine Anstalten anzuhalten. Schnell hielt er sie an ihrem Arm zurück.

„Pass auf, sonst sieht dich noch jemand“, mahnte Alec.

„Ist ja gut, es wird schon nichts passieren“, tat Isabelle seine Bedenken mit einem Augenrollen ab. „Selbst wenn sie mich sehen: Menschen können doch sowieso nicht wirklich schwimmen. Ich brauche nur unterzutauchen.“

Sie wollte sich schon aus seinem Griff winden, aber dieses Mal ließ sich Alec nicht von seiner Schwester an der Nase herumführen.

„Ich meine es ernst, Izzy. Auch wenn sie nicht so gut schwimmen können wie wir, haben sie durchaus die Macht, dich zu verletzen. Siehst du die Löcher dort? Dahinter stehen Kanonen. Selbst wenn du unter Wasser bist, können die Kugeln, die daraus hervorschießen, dich treffen. Das wäre, als würde ein herabfallender Fels dich treffen. Und über dem Wasser sind sie schneller, als du reagieren kannst.“

Alec ließ Isabelle erst los, als sie sich murrend damit begnügte, das Treiben auf dem Schiff aus sicherer Entfernung zu beobachten. Trotz der frühen Stunde liefen die Seeleute geschäftig über das Deck. Ein Lächeln umspielte Alecs Mund, als er die Faszination in Isabelles Augen sah. Er hatte ähnlich reagiert, als er das erste Mal Menschen mit ihren seltsamen Stümpfen gesehen hatte. Es war doch etwas ganz anderes es selber zu sehen, als nur in den Geschichten der anderen Meerleute davon zu hören.

Auch Alec genoss die Ruhe. Er konnte seine Zeit an der Oberfläche nur selten so ruhig genießen. Normalerweise kam er nur nach oben, wenn Beutefische die Oberfläche als Fluchtweg nutzen wollten. Einen Sonnenaufgang, wie er sich ihnen gerade bot, hatte er nur selten so ausgiebig beobachten können. Entspannt ließ er seinen Blick schweifen, als ihm ein junger Mann, in etwa so alt wie er selbst, ins Auge stach. Blonde Haare, ein drahtiger Körper und eine Haltung, die nur so vor Selbstsicherheit strotzte. Viel mehr war aus der Entfernung nicht zu erkennen, aber trotzdem schaffte Alec es nicht, seine Augen von ihm zu nehmen. Erst als sich ein merkwürdiges Zwielicht einstellte, sah er auf. Dunkle Wolken hatten den blauen Himmel überzogen und die Sonne war nur noch als heller Schimmer zu erahnen.

„Wir sollten langsam wieder zurück“, schlug Alec vor.

Um seine Aussage zu unterstreichen, zeigte er in den Himmel. Isabelle wollte erst widersprechen, doch als ihr Blick seinem Finger folgte, weiteten sich ihre Augen. Sie hatte noch nie ein Unwetter an der Oberfläche gesehen, aber dass diese gefährlicher waren, je weiter oben man schwamm, war allgemein bekannt. Ohne weiter nachzufragen, tauchte sie ab und Alec folgte ihr unverzüglich. Hier unter der Wasseroberfläche waren sie vorerst sicher. Die Strömung hatte zwar bereits zugenommen, aber es hielt sich noch in Grenzen.

„Was ist eigentlich mit dem Schiff und den Menschen darauf?“, fragte Isabelle auf einmal.

Ein Schauer lief Alecs Rücken herunter, als das Bild des blonden Mannes wieder vor seinem inneren Auge auftauchte. Aber er konnte ihm nicht helfen. Alleine schon der Gedanke daran war verboten. Meermenschen mischten sich nicht in Angelegenheiten von Menschen ein und Menschen nicht in Angelegenheiten von Meermenschen. So war es schon immer gewesen. Schnell schob er die Gedanken zur Seite und antwortete Isabelle.

„Wenn sie Glück haben, kentern sie nicht. Dann verlieren sie nur die, die durch die Wellen ins Meer gespült werden. Wenn sie aber Pech haben-“

Ein Krachen, gedämpft durch das Wasser, ertönte über ihnen. Alecs Kopf schnellte herum und auch Isabelle sah sich suchend um. Holzplanken, Fässer und Schiffsteile regneten von der Oberfläche hinab und dazwischen waren Menschen, die verzweifelt um sich schlugen. Alec spürte, wie sich Isabelles Hand in seine krallte. Er sah den Schrecken in ihren Augen, aber wusste nicht, was er sagen sollte, um sie zu beruhigen. Wie hatte das Wetter so schnell umschlagen können? Noch vor einer Stunde hatte die Sonne geschienen und nun hatten die Wellen das Schiff in seine Einzelteile zerlegt. Die ersten Teile, allen voran der Anker, trafen auf den Meeresgrund und wirbelten riesige Staubwolken auf. Die Druckwelle, die ihnen entgegen wallte, riss Alec schließlich aus seiner Starre.

„Schwimm!“, schrie er gegen das Rauschen der fallenden Teile an.

Ohne weiter darüber nachzudenken, schob er sie in das Riff, durch das sie zum Palast gelangen würde. Er selbst hingegen schwamm direkt über ihr, den Rücken der Oberfläche zugewandt, um sie vor fallenden Schiffsteilen und dem Anblick der Ertrinkenden abzuschirmen. Mehrere Holzplanken trafen ihn, aber er ignorierte den Schmerz. Irgendetwas traf seine Hand, sein Speer fiel mit den Trümmern in Richtung Meeresboden und verschwand in einer Staubwolke inmitten der Trümmer, aber auch das ignorierte er. Solange seine Schwester in Sicherheit war, nahm er alles in Kauf. Erst als Isabelle unter einem Stein hindurch in die Tiefen des Ozeans verschwand, entspannte sich Alec ein wenig. Noch immer regneten Schiffsteile herab, aber nun wich er ihnen so gut es ging aus. Einen letzten Blick warf er noch über die Schulter, dann wollte er ihr folgen.

Durchdringende, bernsteinfarbene Augen starrten ihm entgegen. Kurz zeigten sich Überraschung und Unglaube in ihnen, aber schon im nächsten Moment wandte sich der Mensch von Alec ab und kämpfte sich in Richtung Wasseroberfläche. So weit unten, wie er durch den Sog des Schiffes bereits war, hatte er keine Chance, das musste ihm auch bewusst sein. Trotzdem gab er nicht auf. Alec bewunderte seinen Lebenswillen, aber mit jedem Armzug wurden die Bewegungen des Menschen langsamer, bis er schließlich kraftlos im Wasser trieb. Einer Eingebung folgend schoss Alec auf den Menschen zu, kurz bevor der Wasserdruck die Luft aus dessen Lungen presste. Er griff ihn, hielt Nase und Mund zu und brachte ihn so schnell er konnte an die Oberfläche.

Aber auch hier war es nicht sicher. Noch immer türmten sich die Wellen meterhoch auf und der Wind peitschte Alec die Gischt ins Gesicht. Zwar gab es genügend Trümmerteile, mit deren Hilfe sich ein Mensch über Wasser halten könnte, allerdings nicht in dem geschwächten Zustand, in dem sich der junge Mann befand. Immer wieder verlor er das Bewusstsein. Es zerriss Alec förmlich das Herz, ihn so zu sehen, obwohl er nicht verstand weshalb. Nicht nur, dass er diesen Mann nicht kannte, es war zudem ein Mensch. Eines von den Wesen, die laut den Erzählungen der Altesten einst grausam Jagd auf Meermenschen gemacht hatten. Aber es half nichts. Alles in Alec schrie danach, diesem Menschen zu helfen.

Beherzt griff er nach einer Planke, die eine Armlänge entfernt an ihm vorbeischwamm. Er musste sich beeilen und das konnte er nur, wenn er nicht darauf achten musste, ob der Kopf des Menschen über oder unter Wasser war. Mit Resten des Segels band er den jungen Mann auf der Planke fest und knüpfte die andere Seite an seinen Gürtel. So gerüstet kämpfte er sich so schnell er konnte durch das tobende Meer in Richtung des nächsten Strandes.

Je näher sie dem Land kamen, desto ruhiger wurde die See. Entweder hatte sich der Sturm gelegt oder er war nie bis zum Land gekommen. Die Klippen bildeten eine kleine Bucht, an deren östlichem Ende ein kleines Dorf war. Alec schwamm so nah wie möglich an das Dorf heran, in der Hoffnung, die Bewohner würden den Mann dann schneller finden. Trotzdem achtete er darauf, dass er selber durch Felsen vor den Blicken der Menschen verborgen bleiben würde.

Ganz vorsichtig legte er ihn auf dem Sand ab, bettete seinen Kopf auf einen Stein. Noch immer konnte er sich nicht von dem Anblick lösen. Nun, da die Gefahr vorüber und der Mann ihm so nahe war, hatte er endlich Zeit, ihn genau zu betrachten. Die nassen Haare klebten ihm im Gesicht und umrahmten seine markanten Gesichtszüge. Besonders die langen Wimpern, genauso blond wie auch die Haare, zogen Alecs Blick wie magisch an.

Er hätte noch ewig in das Gesicht des Mannes starren können, doch das helle Lachen von Kindern riss ihn aus seiner Trance. Als er aufsah, konnte er sie durch einen Spalt in den Felsen am Strand spielen sehen. Er wusste, dass das für den jungen Mann die beste Chance war. Wenn die Kinder ihn entdeckten, würde ihm sofort geholfen werden. Allerdings bedeutete das auch, dass er sich von dem Anblick dieses wunderschönen Gesichtes trennen musste.

Mit einem leisen Seufzen fasste Alec schließlich seinen Entschluss. Er streckte sich soweit er konnte, um den jungen Mann noch ein wenig mehr hinter den Felsen hervor zu schieben, warf noch einen letzten Blick auf ihn und glitt dann zurück ins Meer. Gedämpft hörte er die überraschten Ausrufe der Kinder. Ein Stein fiel Alec vom Herzen. Sie hatten den Mann gefunden und dem Tumult nach zu urteilen, der kurz darauf losbrach, wurde dieser nun versorgt.

Schweren Herzens machte sich Alec auf den Weg zum Palast. Er war schon viel zu spät. Isabelle war bestimmt längst zu Hause angekommen, vielleicht suchte man sogar schon nach ihm. Außerdem stieg auch in ihm Müdigkeit auf. Seine Glieder wurden immer schwerer. Jeder Flossenschlag kostete ihn Überwindung. Die Wunden, die die Trümmer auf seinem Rücken hinterlassen hatten, brannten und als er schließlich an dem Graben ankam, in den er Isabelle geschickt hatte, als das Schiff durch den Sturm versenkt worden war, musste er sich eingestehen, dass er am Ende seiner Kräfte war. Er schaffte es gerade so, sich in einer Kajüte, die es halbwegs unversehrt bis auf den Meeresboden geschafft hatte, zu verkriechen, um nicht im Schlaf von einem Hai oder einem anderen Meeresräuber überrascht zu werden. Erschöpft rollte er sich auf dem Holzboden zusammen und ergab sich schließlich seiner Müdigkeit.

Laute Rufe rissen Alec aus seinem Schlaf. Als er sich aufrichtete, stöhnte er schmerzerfüllt auf. In seinen Rücken bohrten sich tausend Nadeln und auch seine Muskeln erinnerten ihn an das, was er sich am Tag zuvor aufgebürdet hatte. Außerdem brummte sein Kopf von dem vielen Auf und Ab. Zu viele schnelle Druckunterschiede machten auch Meermenschen zu schaffen.

Die Stimmen formten in seinem Kopf langsam Worte, die sich Stück für Stück zu Sätzen zusammensetzten. Sätze, die sehr deutlich machten, was, oder besser wer, der Grund für den Aufruhr war. Alec.

Er biss die Zähne zusammen und schwamm langsam in Richtung der Tür. Es erstaunte ihn selber, dass er noch daran gedacht hatte, diese zu verbarrikadieren, bevor er sich dem Schlaf hingegeben hatte. Oder hatte die Strömung den Schrank vor die Tür getrieben? Was auch immer der Grund war, es hatte ihm im Zweifel das Leben gerettet. Vor der Luke, die wie durch ein Wunder das Sinken des Schiffes überstanden hatte, sah Alec, angelockt vom Geruch des Blutes, einen Hai seine Kreise ziehen. Es war zum Glück nur ein kleines Exemplar, sodass Alecs Messer ausreichen würde, um sich zu verteidigen. Zumal die Soldaten, die nach ihm suchten, ihm sofort zu Hilfe eilen würden, sollte er doch Probleme haben. Unter Ächzen und Stöhnen räumte er den Weg frei. Er wollte gerade die Tür aufstoßen, als sie ihm aus der Hand gerissen wurde. Durch das Verrücken der Möbel war man auf ihn aufmerksam geworden und bevor er sich versah, griffen mehrere Hände nach ihm, um ihm aus dem Schiffswrack zu helfen.

Der Weg zum Palast verlief schweigend. Alec spürte noch immer jeden Muskel in seinem Körper und jede Wunde auf seinem Rücken, sodass er froh darum war. Zumal er es nicht erklären konnte, ohne sich selber in Schwierigkeiten zu bringen. Selbst sein Vater machte keine Anstalten, ihn auszufragen. Ein bisschen hatte Alec sogar das Gefühl, dass der Meerkönig einfach nur froh war, ihn lebendig wiederzusehen. Auch wenn er Alec gegenüber nichts dergleichen erwähnte. Er empfing ihn kurz, schickte ihn dann aber direkt weiter zu den Heilern, damit diese sich um seinen Rücken kümmerten.

***

Die nächsten Tage waren für Alec eintönig. Die Heiler hatten ihm strikte Bettruhe verordnet und ließen ihn nicht aus den Augen. So war er, abgesehen von Isabelles Besuchen, bei denen sie ihm jedes Mal Vorwürfe machte, dass er sich nicht hätte für sie in Gefahr bringen sollen, alleine mit sich und seinen Gedanken. Immer wieder drifteten sie ab zu dem blonden Menschen, dem er das Leben gerettet hatte. Er konnte ihn einfach nicht vergessen. Selbst als er aus der Krankenstation entlassen wurde und eine Woche später wieder seinen Aufgaben nachging, verfolgten ihn die bernsteinfarbenen Augen. Kein Tag verging, an dem Alec nicht sehnsuchtsvoll nach oben sah und sich nichts sehnlicher wünschte, als den jungen Mann noch einmal zu sehen. Ab und an schlich er sich auch davon, um an den Strand zu schwimmen, an dem er den Mann abgelegt hatte und wenn er Glück hatte, konnte er ihn aus der Ferne beobachten. Doch so schön diese Ausflüge in dem Moment auch waren, am Tag danach suchten ihn die Bilder nur noch mehr heim. Immer häufiger wurden Alecs Ausflüge, bis es ihm schließlich nicht mehr reichte, den blonden Mann aus der Ferne zu beobachten. Er wollte mit ihm sprechen, seine Stimme hören und ihn erneut berühren. Doch das war ihm nicht möglich. Der Mensch würde ihn nur jagen, wenn er Alecs Fischschwanz sah. Eine Möglichkeit gab es aber. Er hatte von einem Meerhexer gehört, der mit seinen Tränken allerlei Wunder vollbringen konnte. Wenn jemand ihm helfen konnte, dann er. Auch wenn Alec wusste, dass es falsch war, nahm er schließlich all seinen Mut zusammen und machte sich auf den Weg.

Seinen Speer fest umschlossen schwamm Alec zielstrebig in Richtung des Riffs. Große Haie trieben hier ihr Unwesen und wenn er sich nicht in Acht nahm, konnte er hier im Zwielicht der Felsen leicht das Gefühl für die Tiefe verlieren. Denn weiter unten, wohin kein Lichtstrahl mehr vordrang, lauerten noch schlimmere Wesen. Riesige Kraken, deren Augen so groß wie Alecs Brustkorb waren, Krabben, deren Beine länger waren als sein ganzer Körper und Wasser, in dem man nicht atmen konnte.

Doch Alec erreichte sicher den Eingang zur Höhle des Hexenmeisters. Schon von weitem luden die leuchtenden Korallen ihn ein. Seeschlangen, Meerneunaugen und unzählige kleine Fische tummelten sich sowohl vor der Höhle, als auch darin. Alec zögerte kurz. Entweder beging er gerade den größten Fehler seines Lebens oder aber es wäre die beste Entscheidung, die er je getroffen hatte. Sollte er es wirklich riskieren? Doch was blieb ihm anderes übrig? Weiter in seiner Sehnsucht nach dem blonden Mann zu versinken, kam nicht in Frage. Entschlossen stürzte sich Alec in den Schwarm aus Fischen.

Das Innere war unerwartet hell. Die Wände waren geschmückt von Würmern und Pflanzen, die pulsierend leuchteten. Biolumineszenz war in den dunklen Teilen des Ozeans nichts Ungewöhnliches, doch so viele leuchtende Lebewesen an einem Ort hatte Alec noch nie gesehen. Aber so erstaunlich er die Höhle auch fand, ließ er doch seine Vorsicht nicht fahren. Immer tiefer wagte er sich in die Höhle vor, bis der Eingang unter all den leuchtenden Punkten nicht mehr auszumachen war.

„Was für ein seltener Anblick!“, rief eine melodische Stimme zu Alecs Rechten. „Auch wenn ich nicht wüsste, wann ich einen Meermann eingeladen habe. Was verschafft mir die Ehre?“

Aus den Schatten der Höhle schälte sich eine schlanke Gestalt, die Alec auf den ersten Blick für einen Meermenschen hielt. Doch anstelle eines Fischschwanzes, der wie bei Delfinen oder Walen auf und ab schlug, kam unter dem langen, glitzernden Umhang ein seitlich schlagender Haifischschwanz zum Vorschein. Am meisten irritierten Alec allerdings die schlitzförmigen Pupillen, die ihn genau musterten. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter, aber er ließ es sich nicht anmerken. Das musste der Hexenmeister sein. Eine Abnormalität, wie sie nicht auftreten dürfte. Aber genau an dieser Abnormalität hing Alecs Chance, den Mann zu treffen, dem er das Leben gerettet hatte.

Auch wenn ihm mulmig zumute war, schob Alec das ungute Gefühl zur Seite. Er war ein Prinz und stand als solcher weit über diesem Ausgestoßenen. Bewusst selbstsicher baute er sich vor dem Hexenmeister auf.

„Ich brauche einen Trank, der es mir ermöglicht, mich unter Menschen zu mischen.“

Es war keine Frage, sondern eine Forderung. Ein Nein würde Alec nicht akzeptieren. Zumindest redete er sich das ein. Als der Hexenmeister mit einem kräftigen Flossenschlag die letzten Meter zwischen ihnen überbrückte, war er sich dessen nicht mehr so sicher. Nur wenige Zentimeter trennten sie nun und neben der Geschwindigkeit, die Alecs Erwartungen deutlich überstieg, war es auch die Lässigkeit und Stärke, die der Hexenmeister ausstrahlte, die ihn in Alarmbereitschaft versetzten. Er hätte keine Chance, wenn er sich zur Wehr setzen müsste. Dessen war er sich nun sicher.

„Ganz schön dreist“, antwortete der Hexenmeister schließlich. „Du kommst in mein Haus, ungefragt wohlgemerkt, stellst dich nicht einmal vor und verlangst von mir Gefälligkeiten. Sei froh, dass du zu hübsch bist, als dass ich dich einfach wieder rausschmeißen würde.“

Ein Flossenschlag und schon war der Hexenmeister hinter einem Felsen verschwunden. Alec schluckte schwer, folgte ihm aber. Ihm blieb ja gar nichts anderes übrig, wenn er nicht mit leeren Händen gehen wollte. Der Teil der Höhle, den er nun betrat, war zwar genauso stark mit leuchtenden Pflanzen und Tieren besiedelt, wirkte aber deutlich wohnlicher. Der schmale Gang hatte sich zu einem kleinen Raum geöffnet und sogar Türen waren an den Abzweigungen angebracht. Selbst an der, aus der Alec geschwommen kam.

Unzählige Regale, vollgestellt mit Gegenständen, die Alec nicht zuordnen konnte, und ein großer Tisch in der Mitte beherrschten den Raum. Der Hexenmeister lehnte lässig an dem Tisch und als Alec einen Flossenschlag hinter der Schwelle war, schnippte er kurz mit den Fingern. Alec zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm zufiel.

„Ich dachte mir, dass du vielleicht ein bisschen Privatsphäre haben möchtest. Die Neunaugen können manchmal ganz schön geschwätzig sein. Also, wollen wir nicht vielleicht noch einmal von vorne anfangen? Magnus Bane mein Name. Größter Hexenmeister des Atlantischen Ozeans. Es gibt vermutlich nichts zwischen Meeresboden und Oberfläche, bei dem ich dir nicht behilflich sein könnte. Aber das hat natürlich alles seinen Preis. Und mit wem habe ich die Ehre?“

Die Selbstsicherheit, mit der sich der Hexenmeister gab, verstärkte Alecs mulmiges Gefühl. Er wusste nicht, ob sein Speer ihm hier helfen würde und sein Gegenüber wusste das. Trotzdem kam es für Alec nicht in Frage, unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Wenn der Hexenmeister unbedingt auf eine Vorstellung beharrte, dann sollte er sie bekommen.

„Alexander Lightwood, erster Prinz und Thronfolger. Wie ich bereits sagte, brauche ich einen Trank, um mich an Land unter Menschen mischen zu können. Nenne deinen Preis und ich werde ihn bezahlen.“

Selbst ohne die Schatzkammer seines Vaters hatte Alec mehr als genug, um so gut wie jeden Preis bezahlen zu können. Darüber machte er sich also keine Sorgen. Eher darum, ob der Hexenmeister ihn wieder gehen lassen würde, selbst wenn er bezahlte.

„Oh ja, das glaube ich dir aufs Wort. Scheint so, als wäre da jemand wieder mal einem Menschen verfallen. Hach, das ist jetzt schon das vierte Mal in den letzten hundert Jahren. Weißt du was? Ich mache dir ein Angebot: Hundert Muschelmünzen! Der kleine Haken wäre nur, dass ich mitkommen muss. Die Tränke haben immer Nebenwirkungen, die nicht so toll sind, also würde ich lieber einen Zauber nehmen. Für den darf ich aber nicht zu weit weg sein, sonst liegst du plötzlich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ach und noch etwas: Kein Gespräch mit deinem Schwarm!“

Bei dem letzten Satz zog Alec die Augenbrauen zusammen. So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Er wollte schon widersprechen, aber der Hexenmeister kam ihm zuvor.

„Wenn dir die Bedingungen nicht passen, kannst du gerne zu jemand anderem gehen. Aber ich warne dich: Das hier ist noch harmlos. Die Hexenmeisterin im Nachbarland steht zum Beispiel auf Zungen. Hat eine ganze Sammlung davon. Mit Namen beschriftet und nach Datum sortiert. Wenn dir deine also lieb ist, solltest du einen Bogen um sie machen. Und selbst unter denen mit normalen Preisen kommst du bei mir gut weg. Normalerweise liegt der Stundenlohn bei siebzig Muscheltalern. Und ich glaube kaum, dass du nur eine Stunde da oben bleiben willst. Dass du nicht mit deinem Schwarm reden darfst, gilt auch nur für das erste Mal, weil ich damit schlechte Erfahrungen gemacht habe. Meinetwegen kannst du schließlich jede Woche drei Mal da hoch. Halt jedes Mal für hundert Muscheltaler und in meiner Begleitung. Sind wir im Geschäft?“

Es gefiel Alec zwar noch immer nicht wirklich, aber die Sache mit den Zungen hatte sich wirklich nicht gut angehört. Außerdem wusste er gar nicht, wo er andere Hexenmeister finden sollte. Nach einigem Überlegen stimmte er also, wenn auch ein bisschen unzufrieden, zu. Sie machten noch einen Vertrag fertig, bevor der Hexenmeister ihn verabschiedete.

Ein wenig ratlos sah Alec zwischen der noch immer geschlossenen Tür und dem Hexenmeister hin und her.

„Was gibt es denn jetzt noch?“, fragte der Hexenmeister genervt. „Durch die Tür, den Gang entlang und dann rechts. So schwer ist der Weg nach draußen wirklich nicht. Rein hast du schließlich auch alleine gefunden.“

Zögerlich schwamm Alec zu der Tür, drückte die Klinge herunter und zog daran. Widerstandslos schwang sie auf. Hitze schoss Alec ins Gesicht und als der Hexenmeister hinter ihm auflachte, beeilte er sich nur noch umso mehr, schnell aus der Höhle zu kommen. Wieso war er überhaupt davon ausgegangen, dass der Hexenmeister ihn eingesperrt hatte? Den ganzen Weg zum Palast über und auch die zwei Tage bis zu dem vereinbarten Treffen suchte er verzweifelt nach einer Begründung für sein Verhalten, die nicht zu fadenscheinig klang oder zumindest nach einer annehmbaren Entschuldigung. Allerdings erfolglos.

***

Endlich war der Tag gekommen, an dem Alec den Mann seiner Träume erneut aus der Nähe sehen würde. Nervös schwamm er am Treffpunkt, einem markanten Stein unweit des Riffs, in dem die Höhle des Hexenmeisters lag, hin und her. Im Palast hatte er nur Bescheid gegeben, dass er die nächsten Tage alleine auf einem Jagdausflug sein würde. Ähnliches hatte er in den letzten Jahren schon das ein oder andere Mal gemacht, sodass er keine Sorge hatte, ob man ihm die Ausrede abnehmen würde. Auf dem Rückweg sollte er vielleicht noch ein oder zwei große Fische erlegen, damit er nicht mit leeren Händen zurückkam. Vorerst blieb ihm aber nichts anderes übrig, als zu warten.

Auf die Sekunde pünktlich erschien der Hexenmeister wie aus dem Nichts hinter Alec. Den Umhang hatte er gegen eine schwarze Jacke mit, wie könnte es anders sein, unzähligen leuchtenden Anemonen, getauscht und über seinem rechten Arm hing ein Beutel, der beinahe aus allen Nähten zu platzen schien.

„Und natürlich kommst du mit leeren Händen!“, begrüßte der Hexenmeister Alec mit einem Seufzen. „Wieso hoffe ich eigentlich jedes Mal, dass wenigstens einer mal mitdenkt? Ihr habt doch ganze Truhen voller Menschensachen durch die Wracks, die ihr durchstöbert und Anschauungsbeispiele gibt es mit den gesunkenen Stauten im Palastgarten doch auch. Wir gehen an die Oberfläche. Mit Beinen. Was denkst du wohl, wie man uns anschaut, wenn wir unten ohne herumlaufen? Selbst dein Oberteil würde schon völlig aus der Reihe fallen.“

Ein wenig beschämt sah Alec an sich herab. Sein Hemd aus Haihaut fand er zwar durchaus angebracht, aber daran, wie er die beiden Stümpfe an Land bedecken würde, hatte er natürlich nicht gedacht. Hektisch sah er sich nach etwas um, mit dem er den unteren Teil seines Hemdes teilen und dann zusammennähen könnte. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn innehalten.

„Lass gut sein, ich habe Sachen für dich mitgenommen. Aber beim nächsten Mal selber daran denken, okay? Jetzt aber ab zum Strand, wenn du nicht nur einige Minuten mit deinem Schwarm haben möchtest. Heute Abend habe ich noch einen Termin mit dem Anführer der Neunaugen. Und Raphael mag es nicht, wenn ich ihn warten lasse.“

Bevor Alec sich versah, war der Hexenmeister auch schon losgeschwommen. Er hatte diesem schon bei ihrem Gespräch vor zwei Tagen gesagt, wo er an Land gehen wollte, die Richtung stimmte also. Er beeilte sich hinterherzukommen, was bei dem Tempo, das der Hexenmeister vorlegte, nicht einfach war. Schon nach einer Stunde erreichten sie den Strand und der Hexenmeister erklärte Alec, was passieren würde.

Zuerst suchten sie eine Stelle aus, an der sie ungestört an Land gehen konnten. Sie wählten eine steinige Bucht direkt neben dem Strand, an der der Wald relativ weit an das Meer heranreichte. Der Hexenmeister nahm ihm noch einmal das Versprechen ab, bei diesem ersten Besuch an Land mit keinem Menschen ein Wort zu wechseln. Eigentlich war Alec nicht damit einverstanden, aber er wusste, dass ihm nichts anderes übrigblieb.

Als nächstes schwammen sie ins flache Wasser. Ihre Sachen hatten sie, nachdem Alec sich erst dagegen gesträubt hatte, unter einige Steine gelegt, um sie auf dem Rückweg wieder abholen zu können. Als sie gerade noch so schwimmen konnten, Alec hatte ziemliche Probleme, hielten sie an und der Hexenmeister begann mit dem Ritual.

Ein Kribbeln breitete sich mittig von den obersten Schuppen von Alecs Fischschwanz bis zu dessen Spitze aus. Er widerstand dem Drang zu kratzen und wartete mit geschlossenen Augen, dass es vorüber ging. Als er sie wieder öffnete, blickte er auf zwei Stümpfe, die aus seinem Oberkörper herausragten. Ein Blick zu dem Hexenmeister bestätigte, dass auch dieser nun zwei Beine hatte, allerdings steckten sie bereits in einer Hose. Alec beeilte sich, es ihm gleich zu tun, auch wenn die Sachen, die er tragen sollte, nicht wirklich seinen Geschmack trafen. Viel zu auffällig, wie er fand. Dem Hexenmeister standen sie allerdings durchaus und er erwischte sich dabei, ihn länger als notwendig dabei zu beobachten, wie er sich das Hemd überzog.

Für den Weg zum Dorf wählte der Hexenmeister extra einen Umweg. Auf Alecs Nachfrage hatte er erklärt, dass es so weniger auffallen würde, wo sie herkamen. Und es ging dabei nicht nur um die Richtung. Alecs erste Schritte an Land waren unkoordiniert und unerwartet schmerzhaft. Zum ersten Mal in seinem Leben stellte er fest, wie schwer er eigentlich war. Jeder Stein, jeder Stock, jede Unebenheit bohrte sich in seine Sohlen und dass er mehr stolperte als lief, machte jedes Auftreten nur noch schlimmer. Nach einer Weile hatte er seine beiden stumpfförmigen Beine zumindest soweit unter Kontrolle, dass er dem Hexenmeister durch den Wald folgen konnte. Kurz vor dem Dorf sah es zumindest halbwegs koordiniert aus. Ohne die Tipps, die der Hexenmeister ihm auf dem Weg gegeben hatte, wäre er aber definitiv aufgefallen. Das war wohl auch einer der Gründe, weshalb Alec mit niemandem reden sollte und die ersten Begegnungen machten Alec deutlich, wie richtig diese Einschätzung war. Er hatte keine Ahnung von den Namen, die die Menschen dem Meer oder bestimmten Küstenabschnitten gegeben hatten. Er wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, dass es andere sein könnten, als die, die Meermenschen verwendeten. Jetzt, wo er darüber nachdachte, ergab es allerdings Sinn. Meermenschen und Menschen unterhielten sich nie. Die vereinzelten Meermenschen, die, laut der Aussage des Hexenmeisters, vor Alec an Land gegangen waren, hatten wohl kaum einen relevanten Einfluss auf die Sprache der Menschen gehabt. Und Menschen im Reich der Meermenschen waren normalerweise nicht lange am Leben. Ob durch Ertrinken oder die Speere der Meermenschen spielte keine Rolle.

Der Hexenmeister hatte eine Geschichte für sie zusammengesponnen, die in Alecs Ohren eher in ein Märchenbuch passte. Sie wären Wanderer, die aufgrund mangelnden Geldes nicht in Herbergen unterkommen konnten und deshalb unter freiem Himmel schliefen. Das Fischerdorf hier wollten sie laut seiner Geschichte zum Aufstocken ihrer Reisevorräte verwenden und um ein bisschen mehr über die Gegend in Erfahrung zu bringen, was auch wiederholte Aufenthalte erklären dürfte. Jedem, der sie nach ihrer Herkunft fragte, tischte der Hexenmeister diesen Unsinn auf, bevor er die ein oder andere Frage stellte, um es glaubhafter zu machen. Nach dem fünften Mal glaubte Alec beinahe auch, dass er die nächste Nacht im Wald verbringen würde, so überzeugend war er dabei.

Langsam schlenderten sie durch das kleine Dorf, während Alec aufmerksam nach dem blonden Mann Ausschau hielt. Zumindest sehen wollte er ihn, auch wenn er kein Wort mit ihm würde wechseln dürfen. Er hatte mittlerweile schon mehrfach die Versuche des Hexenmeisters, herauszufinden, wer aus dem Dorf eigentlich der Grund für Alecs Besuch an der Oberfläche war, abgewendet. Anfangs noch mit stoischem Schweigen, irgendwann mit genervtem Augenrollen und mittlerweile mit der immer gleichen Gegenfrage. Auch dieses Mal.

„Wieso sollte ich wegen einer Frau einen solchen Aufstand machen?“

Normalerweise quittierte der Hexenmeister das nur mit einem skeptischen Blick. Dieses Mal sah er ihn allerdings mit schief gelegtem Kopf an und antwortete doch tatsächlich.

„Weil ich bisher noch niemanden erlebt habe, der sich wegen etwas anderem als der großen Liebe an Land gewagt hat. Aber bitte, dann helfe ich dir eben nicht dabei, nach deinem Schwarm zu suchen und vielleicht sogar ein Gespräch anzufangen. Ganz wie du willst. So langsam sollten wir aber auch mal zurück. Der Zauber hält nämlich nicht ewig und ich habe keine Lust hier wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen, während die Menschen mich anstarren oder gar zu ihrem Abendessen verarbeiten. Entweder du findest den Grund deines Landbesuches also in den nächsten Minuten oder du musst noch einmal mit mir hier hoch.“

Alec hatte zwar sowieso nicht vorgehabt, es nur bei diesem einen Landbesuch zu belassen, aber die Aussicht, wieder nach Hause zu müssen, ohne den blonden Mann gesehen zu haben, überzeugte ihn dann doch. Ihm war allerdings nicht ganz wohl dabei, direkt heraus zu posaunen, dass er sich in einen Menschenmann verguckt hatte, weshalb er es bei einer sehr allgemeinen Beschreibung beließ. Halblange, blonde Haare und bernsteinfarbene Augen. Selbst ohne die Spezifizierung, dass es ein Mann war, wäre es doch ein zweites paar Augen, das nach einer entsprechenden Person Ausschau hielt.

„Meinst du vielleicht den da drüben?“, fragte der Hexenmeister auf einmal.

Tatsächlich. Sie waren noch keine vier Schritte gelaufen, nachdem Alec die halbherzige Beschreibung gegeben hatte und dort, bis gerade eben noch verdeckt durch das Haus links neben ihnen, stand er an eine Wand gelehnt. Alec hätte sich am liebsten in seinen gerade nicht vorhandenen Schwanz gebissen. Hätte er doch nur ein wenig gewartet, dann hätte er nicht schon wieder auf die Hilfe des Hexenmeisters zurückgreifen müssen. Reichte ja schon, dass er ihn überhaupt hatte aufsuchen müssen.

Fieberhaft überlegte Alec, was er antworten sollte. Wenn er sagte, dass dieser Mann tatsächlich die Person war, wegen der er unbedingt an Land hatte gehen wollen, würde er indirekt offenbaren, dass er auf Männer stand. Alleine der Gedanke daran drehte ihm den Magen um. Er konnte doch diesem Fremden, diesem seltsamen Wesen, nicht etwas erzählen, dass er bisher nicht einmal seiner Schwester anvertraut hatte! Was würde der Hexenmeister dann von ihm denken? Würde er ihn überhaupt ein zweites Mal an Land lassen? Verneinte er aber, verspielte er seine einzige Chance, dem jungen Mann noch einmal näherzukommen. Denn selbst wenn er später noch einmal mit dem Hexenmeister an Land kam, konnte er dann schlecht sagen, dass er ausgerechnet mit dem Mann, nach dem dieser ihn heute gefragt hatte, sprechen wollte. Einfach nichts sagen war auch keine Option, aber Alec brachte einfach kein Wort hervor.

„Ich meine: Er sieht schon gut aus“, redete der Hexenmeister weiter, ohne auf Alecs Schweigen einzugehen. „Aber er ist nicht ganz mein Geschmack. Ich mag schwarze Haare mehr. Vor allem in Kombination mit blauen Augen.“

Mit offenem Mund starrte Alec den Hexenmeister an, der ihm bei dem letzten Satz doch tatsächlich zugezwinkert hatte. War das gerade ein Flirtversuch gewesen? Hitze schoss ihm in die Wangen und er drehte sich schnell ein Stück zur Seite. Bevor der Hexenmeister die Situation noch unangenehmer machen konnte, antwortete Alec schließlich doch.

„Ich hatte nicht nach deinen obszönen Gedanken gefragt und auch wenn das nicht in deinen Kopf will: Ich bin keine von den Prinzessinnen, die sich Hals über Kopf in einen Menschen verliebt haben und die bisher anscheinend deine besten Kunden waren. Mir ist bei einem Sturm etwas Wichtiges abhandengekommen und ich gehe stark davon aus, dass dieser Mann es aus dem Wasser gefischt hat. Er macht aber keine Anstalten in See zu stechen, also muss ich wohl oder übel zu ihm.“

Ein wissendes Grinsen umspielte die Mundwinkel des Hexenmeisters und Alec hasste sich selber dafür, dass er nicht einfach über dem Kommentar hatte stehen können. Wie hieß es so schön? Getroffene Wale sangen. Wie zur Bestätigung folgte auch direkt eine sarkastische Bemerkung des Hexenmeisters.

„Natürlich! Etwas ganz Wichtiges, ich verstehe. Wenn wir das nächste Mal hier sind, kannst du ihn ja persönlich danach fragen. Warte kurz, ich mache euch beiden gleich ein Date aus.“

Noch bevor Alec widersprechen konnte, hatte der Hexenmeister ihn auch schon stehen gelassen und war zu dem jungen Mann gegangen. Sie unterhielten sich kurz, aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Aber jedes Mal, wenn er sah, wie der junge Mann den Mund öffnete, versetzte es ihm einen Stich ins Herz. Zu gerne würde er selber dieses Gespräch führen, nicht nur die Stimme des Mannes hören, sondern auch verstehen, was er sagte. Ihn kennenlernen und vielleicht, wenn er ganz viel Glück hatte, ihm sogar näher kommen. Sich mit ihm anfreunden und in einigen Tagen erneut mit ihm reden.

Alecs Gedanken malten sich die seltsamsten Szenarien aus, während er stumm an der Hausecke stand und dem Gespräch zumindest mit den Augen folgte. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs sein Unmut, aber auch sein Ärger über sich selber und diese nagende Eifersucht. Als der Hexenmeister schließlich wieder zu ihm kam, atmete er kurz durch, um wieder ruhiger zu werden. Seine Hände in den Taschen seiner Hosen hatte er allerdings trotzdem noch zu Fäusten geballt. Der lockere Tonfall, den der Hexenmeister anschlug, als er wieder vor ihm stand, war auch nicht förderlich für Alecs Laune.

„So, da bin ich schon wieder. Zum Sonnenaufgang in drei Tagen am Waldrand sind wir mit deinem Schwarm zum Jagen verabredet. Eine kleine Einführung in Pfeil und Bogen inklusive. Ach ja, er heißt im Übrigen Jace.“

Alec biss sich auf die Zunge, um nicht schon wieder darauf anzuspringen, dass der Hexenmeister den jungen Mann, Jace, wie er jetzt wusste, als seinen Schwarm bezeichnet hatte. Zumal er, wenn er ehrlich mit sich selber war, zugeben musste, dass es stimmte. Aber immer wieder unter die Nase gerieben zu bekommen, dass er seltsam war, half nicht gegen seine Selbstzweifel.

Noch während des letzten Satzes hatte der Hexenmeister sich umgedreht und war in Richtung des Waldstückes gegangen, aus dem sie gekommen waren. Alec beeilte sich hinterherzukommen. Er wusste nicht, wie weit der Zauber reichte und auch er war nicht sonderlich erpicht darauf, mitten im Dorf seinen Fischschwanz wiederzubekommen.

***

Die Zeit verging wie im Flug und aus dem einen Jagdausflug wurden zwei, dann drei und irgendwann war es eine solche Routine für Alec, einmal in der Woche mit Magnus an die Oberfläche zu schwimmen, dass ihm etwas fehlte, wenn ihm doch einmal eine seiner Pflichten als Prinz in den Weg kam. Er meldete sich auch nicht mehr für mehrere Tage ab, sondern ging einfach stillschweigend und ohne jemandem Bescheid zu sagen. Isabelle hatte ihm schon einige Male einen fragenden Blick hinterhergeworfen, aber bisher war er ihr eine Antwort schuldig geblieben.

Auch heute machte er sich bereits früh am Morgen auf zu dem Treffpunkt, an dem er sich schon bei seinem ersten Ausflug an die Oberfläche mit Magnus getroffen hatte. Kleidung für die Jagd hatte er dabei und der Bogen, den er sich unter Jace’ Anleitung gebaut hatte, lag gut versteckt am Strand. Am Meeresboden würde das Holz nur quellen.

Alec war früher dran als normalerweise. Er machte es sich auf einem Stein bequem, bis er schließlich Magnus’ Rückenflosse hinter dem Riff entdeckte. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. Hatte er am Anfang noch auf den Hexenmeister herabgesehen, war er mittlerweile ein guter Freund geworden. Sein Wissen war unermesslich, besonders über die Welt der Menschen, aber auch seine gesamte Einstellung tat Alec gut. Vor ihm brauchte er nicht einmal mehr zu verstecken, dass er sich von Jace angezogen fühlte. Ab und an ließ er sogar seinen Frust darüber, dass sein Vater ihm immer wieder neue adlige Meerjungfrauen vorstellte, in der Hoffnung, bald eine Schwiegertochter zu haben, bei Magnus aus. Es war befreiend, jemandem davon zu erzählen, von dem er wusste, dass er ihn nicht verurteilen würde und Alec genoss jede Minute, die sie gemeinsam verbrachten.

„Heute mal wieder ganz zeitig, was?“, begrüßte Magnus ihn, während er die letzten Meter zu ihm schwamm. „Das trifft sich aber ganz gut. Ich kann heute leider nicht an die Oberfläche. Es gibt Streit zwischen den Neunaugen und den Delfinen und irgendwie bin ich mal wieder als Streitschlichter auserkoren worden.“

Alec ließ enttäuscht die Schultern hängen. Er freute sich schon die ganze Woche auf diesen Tag, aber nun wurde wohl doch nichts daraus. Hoffentlich machte Jace sich keine Sorgen, wenn sie nicht auftauchten. Wie sollten sie außerdem einen neuen Termin ausmachen? Er konnte ja nicht einfach zu Jace schwimmen und ihm Bescheid sagen. Dieser wusste ja nicht einmal, dass Alec ein Meermensch war! Er wollte schon zu einer grummeligen Erwiderung ansetzen, als Magnus ihn beschwichtigte.

„Keine Sorge, du kannst trotzdem zu deinem Geliebten. Von den Tränken bin ich immer noch kein Fan, aber ich habe gestern den Zauber in die Muschel hier gewoben. Einfach aufbrechen, sobald du im flachen Wasser bist, die Perle in die Tasche stecken und sobald du wieder nach Hause willst, zerdrückst du sie zwischen zwei Fingern. Den Rest kennst du ja schon, also habe ich da keine Sorge, dass etwas schief geht. Ach, eine Sache noch: Nicht länger als bis zum Sonnenuntergang, sonst gibt es Schwierigkeiten bei der Rückverwandlung. Aber auch das weißt du ja eigentlich. Traust du dir das zu? Sonst kann ich vielleicht noch mit zum Strand kommen, wenn wir uns beeilen. Dann komme ich halt ein bisschen zu spät. Hätten die Streitfische sich nicht in die Haare bekommen sollen.“

Aus großen Augen sah Alec zu Magnus. Er wollte ihn ganz alleine an die Oberfläche schicken? Ohne im Ernstfall eingreifen zu können? Völlig sprachlos nahm er die Muschel entgegen, die Magnus aus einer seiner mit Leuchtalgen verzierten Taschen geholt hatte. Noch immer sah Magnus ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Stimmt, er hatte ja angeboten, doch noch bis zum Strand zu kommen. Auch wenn Alec sich von dem Vertrauen geehrt fühlte, kam es ihm falsch vor. Er wollte nicht ohne Magnus zum Strand. Eigentlich auch nicht ohne ihn zu Jace, aber daran würde er wohl nicht vorbeikommen. Trotzdem war es ihm peinlich, das zuzugeben. Verlegen sah er zum Meeresboden. Zum Glück kannte Magnus ihn gut genug. Mit einem Schmunzeln seufzte der Hexenmeister und schnappte sich seine Hand. Ein wohliges Kribbeln schoss durch Alecs ganzen Körper.

„Na dann los, beeilen wir uns“, sagte Magnus und zog ihn hinter sich durch das Wasser.

So schnell war Alec noch nie geschwommen. Der Meeresboden flog unter ihm hinweg, aber es machte ihm keine Angst. Er spürte auch keinen Widerstand, wie er ihn bei einer solchen Geschwindigkeit eigentlich erwarten müsste. Als er nach vorne sah, erkannte er auch warum. Magnus hatte einen Schild errichtet, der das Wasser teilte. Aber nur für Alec. Magnus selber hingegen traf die volle Kraft des Wassers. Mit zwei kräftigen Schlägen konnte er dank des Schildes aufholen. Jetzt waren sie sich zwar noch näher, aber zumindest umschloss das Schild nun auch Magnus.

„Dir ist schon klar, dass ich das öfter mache, oder?“, fragte Magnus.

Eine Antwort verkniff sich Alec. Es würde nur auf eine nicht ernst gemeinte und sehr lange Diskussion hinauslaufen. Normalerweise genoss Alec auch diese, aber heute wollte er die kurze Zeit, die er nur mit Magnus hatte, ohne Meinungsverschiedenheiten verbringen.

Viel zu schnell erreichten sie den Strand, viel zu schnell benutzte Alec die Muscheln unter Magnus Anleitung und viel zu schnell musste er sich wieder von ihm verabschieden. Lange sah er ihm nach, starrte auf die Stelle, an der die sandfarbene Rückenflosse mit den dunkelbraunen Punkten endgültig im Meer verschwunden war, bis er sich schließlich dazu durchrang, seinen Bogen zu holen und in Richtung Dorf zu gehen. Auch wenn er zeitiger als sonst am Strand gewesen war, wollte er nicht riskieren, doch noch zu spät zum Treffpunkt mit Jace zu kommen.

***

Die Jagd zog sich gefühlt ewig. Alec fand Jace’ Kommentare nur halb so interessant wie sonst. Seine Beine schmerzten schon, bevor sie das erste Wild auch nur gesehen hatten, obwohl er die ganzen letzten Wochen erst ganz zum Schluss ein leichtes Ziehen bemerkt hatte. Selbst seine Pfeile trafen schlechter als sonst. Als er schließlich zehn Pfeile für einen einzigen Rehbock brauchte, beschloss er, es für heute gut sein zu lassen. Es war einfach nicht sein Tag. Er sagte Jace sogar, dass er vorerst nicht mehr kommen würde. Als Grund schob er eine Reise vor, die es natürlich nicht gab.

Nun lag er rücklings auf seinem Bett aus Seegras und überlegte bereits seit Stunden, was eigentlich mit ihm falsch war. Heute Morgen war er noch voller Tatendrang gewesen, wieso also war die Jagd heute so schrecklich missglückt? Dabei hatte er Jace dieses Mal sogar alleine begleitet. Etwas, das er sich noch vor einigen Monaten sehnlichst gewünscht hätte. Lag es wirklich nur daran, dass Magnus nicht dabei gewesen war? Würde das nicht bedeuten, dass er nur wegen des Hexenmeisters überhaupt noch an die Oberfläche ging? Um ihn zu sehen und nicht Jace?

Frustriert drehte er sich auf den Bauch und grub sein Gesicht ins Kissen. Der Weg zum Strand kam ihm wieder in den Sinn. Wie nah er Magnus gewesen war und wie wenig ihn das gestört hatte. Sein exzentrischer Modegeschmack. Sein Lachen. Seine Augen. Jedes einzelne Detail war in Alecs Gedächtnis gebrannt und jedes davon rief ein wohliges Kribbeln in seinem Bauch hervor, das er nie wieder missen wollte. Mit jedem weiteren Gedanken, sank er immer weiter in einen Sumpf, aus dem es kein Zurück mehr gab. Tief in sich hatte er es schon lange gewusst: Er mochte Magnus mehr, als nur als Freund. Er hatte es bisher nur nicht akzeptieren wollen. Es war undenkbar! Als Mann einen Mann zu lieben war ja schon ungewöhnlich, seltsam gar. Einen Menschen zu lieben lächerlich. Nur dumme, kleine Meerjungfrauen dachten überhaupt über so etwas nach. Aber ein Hexenwesen? In all den Geschichten waren das immer die Bösen, die widerwärtigen Antagonisten, die in schleimigen Höhlen hausten und der Prinzessin, die sich, naiv und hoffnungslos romantisch wie sie war, in einen menschlichen Prinzen verliebt hatte, die Erfüllung ihrer Träume versprachen, obwohl nur Schmerz und Hoffnungslosigkeit auf sie warteten.

Nur war Magnus kein widerwärtiges Wesen, das bewusst auf die Unerfahrenheit junger Meermenschen hoffte. Er war das komplette Gegenteil! Freundlich, wenn auch mit eigenwilligem Humor und noch eigenwilligerem Geschmack. Hilfsbereit, wenn auch nur für monetäre Gegenleistung. Die war aber fair, teilweise sogar weit unter dem üblichen Preis. Und bei jedem seiner Zauber hatte die Sicherheit desjenigen, auf den er angewandt wurde, oberste Priorität. Alles was über Hexenwesen erzählt wurde, war falsch, das wusste Alec mittlerweile. Auch unter ihnen gab es, wie überall, gute und schlechte. Aber er wusste auch, dass niemand im oder um den Palast es akzeptieren würde. Wenn er zu seinen Gefühlen stand, wäre er ein Ausgestoßener. Ja, er könnte mit Magnus zusammen in dessen Höhle leben. Dass dieser durchaus Interesse an Alec hatte, war ja schon bei ihrem ersten, spätestens bei ihrem zweiten Treffen offensichtlich gewesen. Noch immer kamen flotte Sprüche, Komplimente oder gar direkte Flirtversuche, auf die Alec in letzter Zeit sogar immer häufiger eingegangen war. Aber trotzdem wäre das keine Lösung. Er hatte hier ein Leben und im Gegensatz zu den Prinzessinnen aus den Geschichten wäre er durch seine Entscheidung nicht aus der Welt. Selbst bevor er Jace vor dem Ertrinken gerettet hatte, war Alec Magnus das ein oder andere Mal über den Weg geschwommen. Genauso würde auch er, sollte er wirklich zu Magnus ziehen, dem ein oder anderen Meermenschen über den Weg schwimmen. Und jedes Mal würde man ihm mit Abneigung und offener Feindseligkeit begegnen. Wollte er das? War er wirklich bereit dazu, alles aufzugeben und es gegen ewige Schmach einzutauschen?

Tagelang plagte Alec sich mit diesen Gedanken. Jeder in seiner Umgebung bekam seine schlechte Laune zu spüren und im Nachhinein tat es ihm jedes Mal leid. Aber er konnte einfach nicht über seinen Schatten springen. Zu sehr war er damit beschäftigt, für sich selber zu entscheiden, was er wollte.

Eine Woche verging und noch immer hatte Alec keine Lösung gefunden. Allerdings sehnte er sich mittlerweile so sehr danach Magnus wiederzutreffen, dass er sich schließlich dazu aufraffte, an dem Tag, an dem der nächste Jagdausflug gewesen wäre, hätte er ihn nicht abgesagt, zum Riff zu gehen. Magnus würde bestimmt dort sein, denn zu dessen Höhle traute sich Alec gerade nicht. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt und die Vorstellung, einem der anderen Meerestiere über den Weg zu laufen, jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

Den ganzen Weg überlegte Alec, was er sagen sollte. Allem voran natürlich, dass er vorerst nicht mehr an die Oberfläche gehen würde. So viel war klar. Aber mit welcher Begründung? Sollte er es einfach dabei belassen, dass er kein Interesse mehr an Jace hatte? Ganz stimmte das nicht. Auch wenn er nicht mehr in den Menschenmann verliebt war, so hatte er die Jagd mit ihm durchaus genossen. Sobald er das Chaos in sich geklärt hatte, konnte er sich auch durchaus vorstellen, wieder einige Ausflüge an die Oberfläche zu unternehmen. Sollte er Magnus einfach seine Gefühle gestehen? Wollte er das? Was, wenn dieser doch nicht an ihm interessiert war? Wenn all die Sprüche nur dazu hatten dienen sollen, dass Alec sich wohler mit sich selber und seiner Neigung fühlte? Je näher er dem Riff kam, desto größer wurde seine Angst. Als er schließlich vor Magnus schwamm, war sein Kopf wie leergefegt. Kein Wort kam über seine Lippen. Er erwiderte nicht einmal die Begrüßung, geschweige denn beantwortete er die Frage danach, wie denn die Jagd letzte Woche gelaufen war. Er konnte nur stumm dabei zusehen, wie Magnus lässiges Grinsen zu Besorgnis wurde.

„Alles in Ordnung, Alec?“

Er ballte die Hände zu Fäusten, versuchte sich dazu zu zwingen, wenigstens einen Satz hervorzubringen. Aber es war vergebens. Der Kloß in seinem Hals wurde nur noch größer, machte ihm nun selbst das Atmen schwer. Alec schluckte und senkte den Blick. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Magnus’ Hand. Er lehnte sich in den festen Griff und sofort löste sich ein Teil seiner Anspannung. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen. Mehr als er selbst bei seiner ersten Haijagd benötigt hatte.

„Ich glaube, ich habe mich verliebt“, flüsterte er.

Stille. Alec fürchtete schon, Magnus hätte ihn nicht gehört. So leise, wie er gesprochen hatte, wäre das nicht weiter verwunderlich gewesen. Allerdings hieße das, er müsste sich noch einmal überwinden, die Worte auszusprechen. Vorsichtig hob er den Blick, suchte in Magnus’ Augen nach einem Zeichen, dass dieser ihn gehört hatte. Verwunderung mit einer Prise wohlwollender Belustigung spiegelte sich in diesen.

„Alec, ich bin nicht blöd“, antwortete Magnus schließlich. „Denkst du wirklich, ich habe dir deine fadenscheinige Begründung von wegen ‚Er hat eventuell etwas, das ich verloren habe‘ abgenommen? Es war offensichtlich, dass er dir gefällt und das ist völlig in Ordnung! Ich werde dir aber nicht dabei helfen, ihn mit einem Zauber oder Trank-“

„Ich meine nicht Jace, verdammt, sondern dich!“, platzte es aus Alec heraus.

Sofort bereute er seine Worte. Mit leicht geöffnetem Mund stand Magnus ihm gegenüber. Geschockt. Sprachlos. Aber zurücknehmen, was er gesagt hatte, konnte Alec nun nicht mehr. Stattdessen sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Alles, was er sich die letzten Tage über Stück für Stück selber eingestanden hatte. Er wusste einfach nicht, wem er es sonst erzählen sollte. Die Zweifel, Sehnsüchte und Wünsche, die ihn zerfressen hatten, fanden nun ihren Weg nach draußen.

„Ich will dich, aber ich weiß nicht, ob ich wirklich bereit bin, das aufzugeben, was ich habe“, beendete er seinen Monolog. Etwas leiser fügte er noch hinzu: „Du verdienst jemand besseren als mich. Jemanden, der zu dir steht.“

Starke Arme schlangen sich um Alecs Körper und zogen ihn in eine feste Umarmung.

„Diesen anderen will ich aber nicht“, flüsterte Magnus in sein Ohr und eine angenehme Wärme breitete sich in ihm aus.

Fest krallte Alec sich in Magnus Jacke, als hinge sein Leben davon ab. Er wollte ihn nie wieder loslassen. In diesem Moment war es ihm auch egal, was andere Meermenschen davon halten würden. Hier war er sicher, musste sich nicht für seine Gefühle schämen. Sollten sie doch über ihn lachen, ihn ausstoßen. Mit Magnus hatte er alles, was er gerade brauchte. All die Probleme, seine Selbstzweifel und die fehlende Anerkennung durch seinen Vater, schienen ihm in diesem Moment so klein und unscheinbar.

Alec hatte keine Ahnung, wie lange sie so im Wasser trieben. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, aber dem Licht nach zu urteilen, waren es nur einige Minuten gewesen. Eine Ruhe hatte sich in ihm breit gemacht, die er seit Isabelles Geburtstag nicht mehr gespürt hatte. Gemeinsam schwammen sie zu Magnus’ Höhle, Hand in Hand. Zum ersten Mal in seinem Leben war Alec mit sich zufrieden.

***

Einige Jahre später stand selbst der Meerkönig, anfangs vehementer Gegner der Beziehung, hinter den beiden. In einem großen Fest vermählte er schließlich seinen Sohn mit dem Hexenmeister. Auch die Ausflüge an Land behielt der Prinz bei. Er knüpfte Kontakte, schloss Allianzen mit den Menschen und weitete die Möglichkeiten von Meermenschen und Menschen aus. Beziehungen zwischen den Spezies wurden üblich. Dank den Meerhexen und Hexenmeistern, die seit der Hochzeit des Thronfolgers nach und nach von allen Meermenschen als Teil ihrer Gesellschaft akzeptiert wurden, waren selbst Vermählungen ohne Schaden für eine Partei möglich. Das Königreich erblühte heller und mächtiger als irgendein anderes Unterwasserreich und so lebten sie glücklich und zufrieden bis zu Alecs Lebensende.

~~ Ende ~~
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