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Der Jahreskreis #1: Der längste Tag und die kürzeste Nacht

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama / P12 / Gen
Guy of Gisburne OC (Own Character)
15.09.2022
15.09.2022
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Der Sommer war die eine Jahreszeit, in der der Junge sich freier fühlen konnte als zu anderen Zeiten des Jahres. Im Sommer hatte er so sehr viel mehr Zeit, die Felder und Wälder um sein Zuhause herum zu erkunden. Die Tage waren so lang und die Sonne stand so lange am Himmel, dass er Gelegenheit bekam, größere Exkursionen zu unternehmen, ohne vermisst zu werden.
Allerdings lag dies vor allem daran, dass die Erwachsenen die längeren Tage für solche Dinge nutzten, für die sich nur Erwachsene interessierten und aus diesem Grund achteten sie nicht so stark auf die Kinder. Dies war etwas, das dann auch dem Sohn des Ritters zugutekam. Mehr sogar als den Kindern der freien Bauern, denen der Leibeigenen und der Diener, weil er noch nicht so viele Aufgaben wie die anderen hatte.
Und so war dies bereits der zweite Sommer, in dem der Junge seine eigenen Abenteuer erleben durfte. Sobald er alles das erledigt hatte, was ihm aufgetragen worden war – glücklicherweise war es immer etwas, was er bereits am frühen Morgen tun konnte – machte er sich auf den Weg, denn es gab viel zu entdecken. Bereits im Jahr zuvor hatte er darüber nachgedacht, um wieviel es schöner wäre, wenn er mit anderen Kindern unterwegs sein könnte. Da er daran aber nichts ändern konnte, zuckte er nur mit den Schultern – es war nicht das erste Mal, dass er sich in einer solchen Situation befand - und machte einfach allein weiter.
Im Jahr zuvor hatte er sich noch nicht in den Wald getraut, aber nun war er der Meinung mit sechs Jahren alt genug zu sein, um auch ihn zu erkunden. Was sollte ihm schon geschehen? Er hatte einen Dolch aus dem Gutshaus mitgehen lassen – nicht wissend, dass dafür der Sohn eines Dieners bestraft werden würde – und einen dicken, stabilen Stock gefunden, der auch als Waffe taugte und dies schien ihm ausreichend zu sein. Außerdem war er flink auf den Füßen und überzeugt, jeder Gefahr davonlaufen zu können. Dabei dachte er nur an andere Menschen, denn mit Tieren hatte er noch nie ein Problem gehabt.
Ab dem Beginn des Sommers zog er jeden Tag aus und da er sich immer weiter von dem Haus entfernte, in dem er lebte – schließlich wurden die Tage immer länger – dauerte es nicht lange, bis er seinen Weg in die Tiefe des Waldes gefunden hatte. Dabei vergeudete er keinen Gedanken daran, dass seine Freiheit wieder beschnitten werden würde, sobald die Tage kürzer wurden.
Im Herzen des Waldes traf er dann auf einen anderen Jungen, der offensichtlich auch auf Abenteuer aus war. Der andere schien in etwa so alt zu sein wie er selbst, auch wenn er etwas größer war. Und wo der Sohn des Ritters hell war – helle Haare, helle Augen, helle Haut – da war der andere dunkel. Das Haar, das ihm lang bis auf den Rücken fiel – ihn aber dennoch nicht wie ein Mädchen aussehen ließ – war schwarz wie die Nacht. Die Augen waren so dunkel wie die fruchtbare Erde auf den Feldern, die die Leibeigenen für den Ritter bewirtschafteten und auch seine Haut war viel dunkler als die des Jungen.
Aber wen interessierten schon solche Unterschiede? Niemanden! Für die beiden Jungen war viel wichtiger, dass sie den gleichen Drang nach Abenteuern hatten und den gleichen Mangel an Furcht, ihnen könne etwas zustoßen. Und ab dem Tag, an dem die beiden sich im Wald begegneten, gingen sie nur noch gemeinsam auf Exkursion. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der Sohn des Ritters nun einen Freund. Aber trotzdem dies etwas war, über das er sich sehr freute, verspürte er keinen Drang, auch nur irgendjemandem von seinem Freund zu erzählen. Sowieso gab es nur seine Kinderfrau, die sich für das interessierte, was der Junge erzählte und sie hätte bestimmt mit ihm geschimpft, wenn sie erfahren hätte, wie tief er in den Wald vorgedrungen war. Vor allem deswegen, weil die Dorfbewohner sagten, er wäre verflucht. Der Junge allerdings hatte nie etwas von einem Fluch gespürt. Das war aber nicht der Grund, wieso er nichts verlauten ließ. Er wollte einfach nur seinen Freund mit niemandem teilen.
Diese wunderbare Freundschaft erlebte ihren Höhepunkt am Tag der Sommersonnenwende. Der Sohn des Ritters wusste, dass die Bauern und Leibeigenen – und die Diener, die es schafften, an diesem Tag aus dem Gutshaus zu entkommen – dieses Ereignis immer feierten, indem sie riesige Feuer entzündeten und tanzten, aßen und tranken und in der folgenden kurzen Nacht allerlei Dinge taten, über die mit Kindern nicht gesprochen wurde. Aber die Kinder durften in dieser Nacht ebenfalls lange wachbleiben und mit den Erwachsenen feiern. Zumindest galt dies für die anderen Kinder. Der Sohn eines Ritters durfte so etwas nicht, denn auch seine Eltern nahmen an diesem Fest – oder den anderen der Dorfbewohner – nicht teil. Dies war nichts, was der Adel tat.
So war der Junge auch in diesem Jahr davon ausgegangen, allein zu Hause zu bleiben, während im Dorf der längste Tag und die kürzeste Nacht des Jahres gefeiert wurde … und die Fruchtbarkeit. Zumindest hatten das zwei der Pferdeknechte gesagt, nicht gewahr, dass sie belauscht wurden. Zwar konnte der Junge mit dieser Aussage nichts anfangen, aber er hatte trotzdem mitbekommen, wie sehr die beiden jungen Männer sich darauf freuten, was sie bei dem Fest erleben würden.
In diesem Jahr sollte aber alles anders kommen, denn sein neuer Freund fragte ihn, ob er mit ihm feiern wolle. Seine Familie würde bereits am frühen Morgen mit dem Fest beginnen und statt durch den Wald zu streifen, könnten die beiden Jungen doch sofort dorthin gehen. Der Sohn des Ritters fand an diesem Vorschlag nichts auszusetzen, daher stimmte er sofort zu.
Am nächsten Morgen erledigte er rasch seine Aufgaben und verschwand dann im Wald, bevor irgendjemand auf die Idee kam, ihn aufzuhalten, und traf sich mit seinem Freund. Dabei dachte er nicht daran, dass ihm etwas zustoßen konnte, obwohl er von dem anderen eigentlich nicht mehr wusste als seinen Namen. Hasel. So hatte der andere sich genannt, als sie sich zum ersten Mal begegneten und dabei so herzhaft gelacht, dass seine weißen Zähne im Dunkel des Waldes aufblitzten und dem Jungen kam der Name nie seltsam vor, denn er passte zu seinem Freund. Später gab der andere zu, seine Mutter nenne ihn so, aber sein richtiger Name sei so fürchterlich, dass er sich sehr darüber freuen würde, von dem Jungen auch so genannt zu werden. Der Sohn des Ritters tat dies gerne und er gab dem anderen selbstverständlich auch seinen Namen, aber er hatte nur den, auf den er getauft worden war, weil seine Mutter ihn nie mit einem anderen bedacht hatte. Er dachte sich nichts dabei, seinem Freund zu erlauben, seinen Namen zu benutzen.
An dem Tag, der der längste des Jahres war, führte Hasel den Jungen zu einer sonnenbeschienenen Lichtung, auf der sich bereits viele Menschen – Männer, Frauen und Kinder – versammelt hatten, um zu feiern. Sie waren alle in farbenfrohe, lange und luftige Gewänder gekleidet, so ganz anders als die, die der Junge kannte. Er hatte nie darauf geachtet, dass auch Hasel nicht ganz so angezogen war wie er selbst, denn so etwas war für einen Jungen in seinem Alter nicht wichtig. Sein Freund trug eine Hose und ein Hemd, die auch schmutzig werden konnten – genau wie er selbst – und das hatte ihm gereicht. Jetzt allerdings, kaum beim Fest angekommen, zog der andere das einfache Hemd aus und streifte sich auch etwas Farbenfrohes über den Kopf und dann drängte er den Sohn des Ritters dazu, sich ebenfalls umzuziehen. Dieser zauderte zuerst, denn die Kleidung, die sein Freund ihm gab, schien ihm viel zu fein zu sein, um auf einer Lichtung im Wald zu feiern. Zuhause hatte ihm nie jemand erlaubt, so etwas zu tragen.
Als ein hochgewachsener Mann auf ihn zukam, der eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Freund aufwies, befürchtete der Junge, er würde jetzt Ärger bekommen, weil er das angebotene, feine Hemd doch angenommen hatte, aber der Mann lachte nur und versicherte ihm, als Hasels Freund dürfe er all das tun, was auch sein Sohn tun durfte. Und so lernte der Junge Hasels Vater kennen.
Den ganzen Tag über wurde musiziert und getanzt, gegessen und getrunken und nach und nach hatte der Junge das Gefühl, er kenne diese Menschen schon immer. Er bewunderte die Männer, die groß und stark waren und staunte über die Frauen, die ihm schöner vorkamen als andere. Und alle auf der Lichtung lachten und waren freundlich zu ihm und es gab niemanden, der mit ihm schimpfte und der Junge wünschte sich auf einmal, diese Menschen hier wären seine Familie.
Und bevor er es gewahr wurde, kam der Abend heran und die Feuer wurden entzündet und dann bat Hasel ihn, doch noch etwas zu bleiben. Der Sohn des Ritters fühlte sich bei diesem Fest derart wohl, dass er nicht weiter darüber nachdachte, ob er zuhause vermisst werden würde. Er tanzte mit den anderen, er lachte mit den anderen, er aß und trank und alles schmeckte phantastisch und er wurde auch nicht müde. Trotzdem ließ er sich immer mal wieder neben seinem Freund Hasel nieder und genoss es, wenn der andere seinen Arm um ihn legte. Und es störte ihn überhaupt nicht, dass die Menschen um ihn herum nicht ganz so aussahen, wie er es von den Menschen auf dem Gut seines Vaters gewohnt war. Sie waren schöner, sie waren stärker, sie waren beweglicher, sie hatten wohlklingende Stimmen. Ihre Ohren kamen ihm ebenfalls anders vor, aber das kannte er schon von seinem Freund. Und ihre Augen leuchteten im Dunkel in den unterschiedlichsten Farben, selbst die von Hasel, obwohl sie am Tag so dunkel erschienen. Und der Junge fand all das ganz wunderbar und er wünschte sich, dies wäre nicht die kürzeste Nacht des Jahres und er könnte für immer weiterfeiern, denn so glücklich hatte er sich noch nie gefühlt.
„Ich wünschte, du wärst mein Bruder, Hasel, und ich könnte für immer bei deiner Familie bleiben“, vertraute er seinem Freund schließlich an.
„Ich werde meinen Vater fragen, mein Freund“, erwiderte der andere. Aber stattdessen feierten sie weiter, bis der Junge irgendwann vor Erschöpfung einschlief.
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Als Guy erwachte, befand er sich allein auf der Lichtung. Allerdings war dies nicht das, was ihm als Erstes auffiel, weil Schnee den Boden und die Bäume und auch ihn selbst bedeckte. Dies erschreckte ihn so sehr, dass er seinen Freund fürs erste vergaß. Darüber hinaus fror er auch erbärmlich, denn er trug nichts anderes als eine Hose und das farbenfrohe Hemd, welches er beim Fest erhalten hatte. Aber auch das fiel ihm zuerst nicht auf.
Schließlich rappelte er sich auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Er war zu verwirrt, um sich zu fürchten, zumindest solange er sich noch im Wald befand. Aber als er schließlich das Dorf erreichte, in dem die Leibeigenen seines Vaters lebten, und den ersten Menschen begegnete, da begann er sich doch zu fürchten. Diejenigen, die ihn erblickten, wichen vor ihm zurück und bekreuzigten sich auch noch, wobei sie den Eindruck erweckten, sie hätten Angst vor ihm. Als er dann endlich das Haus seines Vaters erreichte, da erging es ihm dort mit den Dienern nicht anders.
Sein Vater jedoch zeigte keine Angst. Stattdessen war er fürchterlich wütend auf den Jungen und dies ließ er ihn auch sofort sehr schmerzhaft spüren. Seine Mutter ließ ihren Gemahl gewähren, ohne einzuschreiten und so sorgte der Ritter dafür, dass der Junge schnell vergaß, wie er Mittsommer gefeiert hatte. Er erinnerte sich auch nicht mehr daran, woher das farbenfrohe Hemd stammte, das er in seiner Truhe fand – der Junge erfuhr nie, dass seine Mutter es an sich genommen hatte – aber trotzdem konnte er es niemals wegwerfen und es begleitete ihn überall dorthin, wohin sein Weg in führte.
Zuerst nach Gloucester, wo sein Vater ihn als Page hinschickte, sobald er sieben Jahre alt war und dies war der Grund, weshalb er im nächsten Sommer nicht mehr auf Abenteuer gehen konnte. Dann wurde er Knappe und musste seinen Ritter begleiten und wieder hatte er das farbenfrohe Hemd dabei. Und als er als Ritter nach England zurückkehrte, da verschwand es schließlich in der Truhe in seiner Kammer in Burg Nottingham und er hätte bestimmt längst völlig vergessen, dass er es besaß, wenn es nicht jedes Jahr am Tag nach Mittsommer auf seinem Bett gelegen hätte.
Und wenn er nicht immer in der kürzesten Nacht des Jahres davon träumen würde, dass er mit seinem Freund tanzte und lachte, aß und trank und glücklich war. Am nächsten Morgen legte er das Hemd wieder unten in seine Truhe und vergaß es erneut, so wie er auch seinen Traum vergaß.
Daher erinnerte er sich auch nicht daran, dass sein Freund Hasel im jedes Jahr versprach, für ihn wäre immer ein Platz an seiner Seite und eines Tages könne er bei ihm bleiben. Aber das war nicht so schlimm, denn Hasel würde dieses Versprechen niemals vergessen.
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