In ihren Augen nichts als Kälte
von Amunele
Kurzbeschreibung
Liza kennt die Kälte nur zu gut, denn längst ist sie Teil davon geworden. Ein plötzlicher Verlust könnte die schutzspendenden, mühevoll aufgebauten Mauern weiter verhärten oder sie endgültig zum Einsturz bringen. Doch wer soll die alleinerziehende Frau noch auffangen, wenn sie erst einmal gebrochen ist? Den hilfsbereiten Agent Morgan kann sie jedenfalls von der ersten Sekunde an nicht wirklich leiden.
OneshotKrimi, Schmerz/Trost / P16 / Het
Derek Morgan
14.09.2022
14.09.2022
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8.813
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14.09.2022
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Die Idee dieser Geschichte stammt von der lieben Vilu, die eine unglaubliche Geduld mit meiner langsamen Schreibweise bewiesen hat. Dies ist für dich, enjoy! <3
CN: Das ist eine emotionale Story über Verlust, Trauer und Hoffnungslosigkeit, die an manchen Stellen sehr mitreißend sein kann. Themen wie Schlaflosigkeit und Tod spielen eine zentrale Rolle und mögen den ein oder anderen Leser / die ein oder andere Leserin unangenehm berühren.
****
Das graue Doppelhaus schmiegte sich etwas windschief an den Hang, als würde die Last der Jahre es zunehmend in die Knie zwingen. Im rechten Türrahmen stand eine Frau, deren kinnlanges Haar zu einem kleinen Zopf zurückgebunden war. Sie blickte einige Minuten den zwei Kindern hinterher, die in ihren bunten Jacken dem Novemberwind trotzen.
Der Junge war beinah so groß wie seine ältere Schwester, die ihn wiederholt kichernd in die Seite stieß. Mit ihren hüpfenden Schritten und schwingenden Armen sah sie so fröhlich aus. Ein kurzes Winken, dann waren sie hinter der Kurve verschwunden.
Liza rieb sich die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte und trat wieder ins Innere. Sie schlüpfte aus den Hausschuhen, machte eine Kanne Kaffee und stieg die schmale Wendeltreppe hinauf. Der langsam hochfahrende Laptop schien ihre tiefe Müdigkeit zu spiegeln. Letzte Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden – wieder einmal! Ihr kamen die Tabletten in den Sinn, die so greifbar nah in der Schublade warteten, aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, sie musste es schaffen, allein gegen dagegen zu kämpfen. Medikamente zu nehmen, das erschienen ihr wie der leichte Weg, doch dieser Weg war nicht ihrer. Wie sollte sie je besser schlafen, wenn sie selbst nicht die Kraft dazu aufbrachte?
Seufzend begann sie, ihre Mails zu lesen und bald zeigte das heiße schwarze Getränk seine Wirkung: Lizas Haltung wurde aufrechter, das Gähnen seltener und sie fühlte sich nicht länger wie überfahren, sondern wie ein einigermaßen normaler Mensch.
Im Radio kündigte der Sprecher die Nachrichten an, doch sie hörte nur mit einem halben Ohr den Berichten über die Börse und den neuen Gesetzesentwürfen zu. Als eine andere Stimme etwas über einen Fallschirmsprung, eine Entführung und das Wetter sagte, war sie schon wieder in die Arbeit vertieft.
Erst die Sirenen eines Feuerwehrwagens draußen ließen Liza vom Bildschirm aufschauen. Der Anblick des Himmels war trostlos. Schon seit Tagen sah es nach Regen aus, die Luft schmeckte feucht und eine kriechende Kälte lag darin. Vielleicht kommt bald der Schnee, dachte sie und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der von Kinderhand bemalten Tasse. Neben einem Schäfchen, ein paar Wolken und einem zu groß geratenen Vogel stand „MAMI“ in unsicheren Buchstaben darauf.
Ihr Daumen strich sanft über den Schriftzug und Liza spürte für einen Moment tausend Gefühle aufkommen, tausend unterdrückte Gedanken und Ängste und kurz zitterten ihre Finger, der ganze Körper bebte und dann wischte sie sich über die feucht gewordenen Augen und wischte auch das aufwühlende Chaos davon.
Auf ihrem Bildschirm war ein Icon aufgetaucht und jetzt erst bemerkte sie den schrillen Sound des eingehenden Videoanrufs, den sie eilig annahm.
Heute war so viel zu tun, dass Liza kaum merkte, wie die Stunden an ihr vorbeizogen. Der Kaffee war lange leer, als ein knurrender Magen sie aus der Konzentration riss. Genervt von diesem körperlichen Bedürfnis klappte sie den Laptop zu und stand auf. Essen konnte manchmal so lästig sein.
Wieder im Erdgeschoss setzte sie sich für einen Moment auf den erhöhten Stuhl an der Durchreiche zur Küche, den Kopf in die Hände gestützt und lieferte sich ein Starrduell mit dem Kühlschrank. Um zu Kochen war es jetzt zu spät, aber Liza wusste genau, dass sie keine Snacks auf der anderen Seite der schweren Tür erwarteten. Sie könnte zwar den Schokoladenpudding der Kinder essen, doch diesen Fehler wollte sie nicht erneut begehen. Junas vorwurfsvolle Blicke verfolgten sie heute noch, denn die Kleine konnte ganz schön nachtragend sein, wenn es um Schokoladiges ging. Das hat sie nicht von ihrer Mutter, schoss es Liza durch den Kopf.
Einen Moment noch starrte sie auf die Magnettür, an der bloß ein Abfallkalender hing, und stand zähneknirschend auf.
Der Inhalt des Kühlschranks machte die Situation nicht besser und sie spielte kurz mit dem Gedanken, hungrig wieder an die Arbeit zu gehen, als ihr Blick auf ein angebrochenes Glas Früchtejoghurt fiel. Immerhin muss ich so nicht kochen. Die schwarz bemalten Fingernägel griffen danach und einen Augenblick später drückte sie mit der Hüfte die Tür wieder zu.
Sie füllte den Joghurt in eine kleine Schüssel und stieg mit müden Schritten die Treppe hoch. Ihre Beine fühlten sich schwer an, brauchten extra Kraft, um sich für das Erreichen der nächsten Stufe ausreichend anzuheben.
Gähnend setzte sie sich an den Schreibtisch, öffnete eine Nachrichtenwebsite, ohne sie zu lesen und spielte lustlos mit dem Löffel. Liza blinzelte.
Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie sofort, dass etwas falsch war.
Sie hob den Kopf von der Tischplatte, sah das Icon der verpassten Videoanrufe, die klebrige Spur, welche der fallengelassene Löffel hinterlassen hatte, bevor ihr Blick an der Kaffeetasse hängenblieb. Die Uhr am unteren Bildschirmrand bestätigte ihre Befürchtungen: Sie war eingeschlafen. Doch die verlorene Arbeitszeit war nicht für das nagende Gefühl in ihrem Inneren zuständig.
Liza erhob sich, horchte einen Moment in die verdächtige Stille des Hauses und rief: „Philipp?“
„Philipp, bist du da?“
Der Knoten in ihrer Magengrube zog sich zu. Sie hechtete plötzlich hellwach aus dem Raum, sah suchend nach unten, doch sie konnte den Eingangsbereich nicht vollständig erkennen. Polternd rannte sie die Stufen herunter, stieß sich dabei den kleinen Zeh an, aber ignorierte den Schmerz. Dort stand kein Paar Kinderschuhe auf der Fußmatte.
Noch einmal schaute Liza auf die Uhr und dann realisierte sie in einem Moment der Bitterkeit, dass Philipp tot sein musste.
Welche andere Lösung sollte es für sein Zuspätkommen geben? Er würde niemals einfach so mit anderen Kindern heimgehen, ohne Bescheid zu geben. Außerdem lebten sie noch nicht allzu lange hier, sodass der Junge kaum Freunde hatte.
Vor mehr als einer Stunde hätte er zu Hause sein sollen.
Eine Ewigkeit stand sie unbeweglich auf den kalten Fliesen, starrte und starrte weiter auf die leere Stelle, dort wo Schuhe und Schulranzen hätten stehen sollen. Ihr Körper war zu schwer, um sich zu bewegen. Es ist hoffnungslos, war das Einzige, was sie dachte. Es ist hoffnungslos, er ist tot.
Irgendwann realisierte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte, woraufhin sie alle Kraft dazu aufwendete, sich zu bewegen: Zuerst ließ sie langsam die Finger zucken und war überrascht, wie leicht es ging. Daraufhin rieb sie sich die kalten Ärmel – nur ganz sanft – doch es funktionierte: Liza gewann das Gefühl in ihrem tauben Körper zurück.
Dann begann die wahre Tortur.
Eine Stunde verbrachte sie mit Telefonieren. „Nein, es ist nichts, ich mache mir nur Sorgen, weil er noch nicht zu Hause ist.“ „Kein Problem, nein, nein, es geht mir gut.“ Es war so leicht, zu lügen. Sie fügte sich ohne Probleme in die Rolle der leicht besorgten Mutter, die nichts Böses erwartete.
Am Ende wusste sie immerhin, dass Philipp nicht in der Schule gefehlt hatte. Was immer ihm passiert war, es musste danach geschehen sein. Aber wie zur Hölle konnte ein Kind auf dem Weg von der Schule bis zum Bus – oder vom Bus bis nach Hause? – verschwinden? Die Busse hielten doch direkt an der Schule und hier musste er nur den Hang herauf …
Liza zog sich Jacke und Schuhe an, steckte das Handy ein und verließ das Haus.
Es waren nur wenige Schritte von der roten Haustür bis zur Straße. Ein schmaler Streifen getrimmter Rasen ohne Beete, Blumen oder anderen Schnickschnack säumte den Weg. Der kalte Wind erfasst sie sofort, zog dünne Strähnen aus ihrem Zopf und wirbelte diese herum. Während sie die serpentinenartige Straße hinterging, suchte sie verzweifelt nach Hinweisen, nach irgendeinem Detail, das auf den Verbleib des Jungen deuten würde.
Wenn jemand sie grüßte, nickte sie nur, Abwesenheit in den Augen. Ihre Schritte waren hektisch, obwohl der Schuh schmerzhaft auf den geschundenen Zeh drückte. Sie spürte es kaum.
Viel zu schnell war sie an der Hauptstraße angekommen, wo sie die leere Bushaltestelle fand. Dahinter erstreckten sich die Hügel aus dunklen Tannenwäldern, nur unterbrochen von dem schmalen Bach, der weiter südlich in den großen Fluss mündete.
Liza lehnte sich gegen die raue Wand des Häuschens und fragte sich, was sie geglaubt hatte, hier zu finden. Selbst wenn Philipp hier gewesen war, hatte er wohl kaum eine Spur aus Brotkrummen hinterlassen, wie im Märchen. Außerdem war sie keine Detektivin, sondern nur eine normale Innenarchitektin. Sie schluckte und wählte die einzige Nummer, die zu diesem Zeitpunkt übrig blieb.
Sie hatte damit gerechnet, dass man sie vertrösten würde, dass man ihr sagte, der Junge sei nicht lange genug verschwunden, um nach ihm zu suchen, aber die Beamten nahmen sie tatsächlich von der ersten Sekunde an ernst.
Eine halbe Stunde lang wartete Liza in der Kälte und sie konnte erst aufatmen, als sie Juna aus dem ankommenden Schulbus steigen sah. Sie schloss die verwirrte Elfjährige in die Arme und teilte ihr mit, sie müsse sich beeilen. Auf dem Weg nach Hause, ließ sie die kleine Hand kein einziges Mal los. Erst in Sicherheit, beantwortete sie die vielen Fragen des Mädchens.
Liza ging etwas in die Knie, blickte Juna in die Augen und strich ihr übers Haar, die linke Hand auf ihrer Schulter. Hatten sie nicht schon genug durchgemacht?
„Wir müssen jetzt ganz stark sein.“
Im Kindergesicht sammelten sich Tränen, doch Juna nickte tapfer.
„Dein Bruder ist heute nicht nach Hause gekommen. Ich weiß nicht, wo er ist. Gleich wird die Polizei hier sein. Du weißt doch noch, dass die Polizei immer nett zu dir war, oder?“
Wieder ein Nicken. Jetzt rannen die Tränen schon über das Gesicht. Juna kämpfte sich frei, wischte die Wangen trocken und lief davon.
Liza fand sie im Wohnzimmer, das Gesicht fest in die Sofakissen gepresst. Sie wusste, dass Worte hier nichts helfen konnten, denn das Mädchen war klug genug, um die Tragweite der Situation zu verstehen. Nichtsdestotrotz schob sie sich neben den Körper und streichelte beruhigend den bebenden Rücken. Juna hatte nicht mal die dicke Jacke ausgezogen. Liza wartete und bereitete sich auf die Frage vor, die kommen musste, kommen würde, die sie aber unmöglich ehrlich beantworten konnte.
Der Strom der Tränen war nicht versiegt, sondern in ein erschütterndes Schluchzen übergegangen. Trotzdem schälte Juna sich aus den Kissen, zog die verklebten blonden Strähnen aus ihren Wimpern, legte die wahrscheinlich viel zu warme Jacke ab, um sie kraftlos von sich zu werfen und sah Liza an. Ihre Worte überraschten die Erwachsene zutiefst, denn es war nicht die befürchtete Frage, die über ihre Lippen kam, sondern der Versuch einer Aufmunterung: „Wir werden das schaffen.“
Die Hoffnung, die darin lag, berührte Lizas Herz. Wenigstens eine von uns kann noch an das Gute glauben. In diesem Augenblick war sie so stolz, wie man es auf eine Nicht überhaupt sein kann.
Die Polizei kam und für Liza verschwamm die Zeit. Man redete viel auf sie ein, stellte Fragen und versuchte sie zu beruhigen – als sei sie je panisch gewesen. Im Gegenteil, nach außen hin mimte sie die Ruhe selbst. Juna verhielt sich hervorragend, aber Liza spürte, dass ihr die Unwissenheit zu schaffen machte. Die beiden Kinder fuhren zwar mit demselben Bus zur Schule, aber Juna besuchte schon die nebenan liegende Middle School und bekam nichts von den Aktivitäten Philipps mit. Aber selbst, wenn sie in eine Klasse gingen, wäre das kein Schutz, dachte Liza. Es braucht nur einen falschen Schritt, etwas fehlendes Glück und dann … Ich kann froh sein, sie nicht beide verloren zu haben.
Die Behörden riefen in der Schule und beim Busunternehmen an, fragten nach allen Freunden und Klassenkameraden und wurden zunehmend hektisch. Philipp schien wie vom Erdboden verschluckt, nachdem er das Schulgebäude verlassen hatte.
„Frau Summer können Sie mir noch ein paar Details verraten?“, fragte der Polizist, der schon die ganze Zeit mit einem dicken Notizblock herumrannte. Er hatte kaum noch Haar auf dem Kopf und sein Hemd spannte gefährlich über dem runden Bauch.
Liza wollte schreien. Wie gerne hätte sie all die Leute wieder fortgeschickt! Als ob diese ganzen Fragen ihn retten könnten! „Wie war Philipps Verfassung heute Morgen?“ „Was hat er getragen?“ Blablabla! Es machte sie fertig, dass niemand wirklich aktiv wurde, sich in der Schule umsah oder irgendwas tat, außer zu reden. Ja, sie kooperierte, aber das letzte Fünkchen Hoffnung, das vielleicht kurz in ihr aufgekeimt war, war vergangen. Für sie ging es jetzt nur darum, das Ganze irgendwie aufzuklären. Mit Klarheit – so endgültig sie auch sein mochte – konnte sie umgehen. Unsicherheit war die schlimmste Folter und der Tod entgegen der allgemeinen Meinung so alltäglich. Überall und immer wechselte er sich mit neuem Leben ab, ein endloser Kreislauf. Und der Tod war immerhin gewiss, eines der wenigen Dinge, die alle Menschen vereinte.
Der Polizist musste ihr Schweigen falsch gedeutet haben, denn er legte ihr mitleidig die Hand auf den Arm. Er behandelte sie wie eine typische Mutter, die bei jedem Problem unter Schock geriet, und nicht wie einen normalen Menschen. Emotionslos sah sie ihn an und stand vom Sofa auf. Sie musste weg, weg von dieser Inkompetenz. Wie sollte sie ruhig dasitzen, wenn jede Sekunde zählte? Jemand drückte ihr ein Glas Wasser in die Hand, doch sie verspürte keinen Durst.
Ziellos ging sie durch die Zimmer, da fiel ihre Aufmerksamkeit auf ein Telefongespräch, welches die leitende Beamtin führte: „… deutet darauf hin, dass es derselbe Täter ist. Aha. Ja, Sie können gerne vorbeikommen und mit uns arbeiten.“ Nicht noch mehr nutzlos rumstehende Menschen!
Später sagten sie, Philipp sei der dritte Entführungsfall, der dritte Junge seines Alters, der in der Umgebung verschwunden war.
„Es gibt da eine Einheit des FBIs, ich habe gerade mit ihnen telefoniert und sie können möglicherweise bei diesem Fall helfen.“
Liza ließ sich bloß zu einem müden Nicken herab.
„Wollen Sie denn nicht jede Möglichkeit ausschöpfen, um Philipp wiederzufinden?“, kommentierte die Polizistin ihre mangelnde Reaktion. Oh, ich sage besser nicht, was ich wirklich will!
„Sie wissen sicherlich was das Beste ist“, meinte Liza, ohne daran zu glauben. „Mein Einverständnis haben Sie, dieses Team herzuholen.“
„Gut, denn sie sind bereits unterwegs.“
Ein Klingeln schreckte sie auf. Laut fiel das Buch zu Boden und zerriss die Ruhe des Wohnzimmers, in dem das einzige Geräusch der dumpf herein dringende Fernseher der Nachbarn war. Lizas Versuch sich aufs Lesen zu konzentrieren, war ohnehin gescheitert. Wiederholt waren ihre Gedanken abgeschweift und hatten sie auf die erdbraune Tapete starren lassen.
Schnell schlüpfte sie in die Hausschuhe und hastete zur Tür, um ein weiteres Klingeln zu verhindern, da Juna bereits im Bett war. Ob das Mädchen allerdings wirklich schlief, konnte Liza nur spekulieren. Die ganze Zeit hatte sie damit gerechnet, die leise schlurfenden Schritte auf dem Treppenabsatz zu hören und ihr einen Kakao als Einschlafhilfe machen zu müssen, doch bisher war es ruhig geblieben.
Zumindest bis diese verdammten Leute da draußen kein Problem darin gesehen hatten, nach 22 Uhr kräftig die Klingel zu betätigen.
Sie bereute es schon jetzt, sich mit der Zusammenarbeit einverstanden erklärt zu haben und öffnete etwas zu schwungvoll die Tür.
Drei Gestalten kamen dahinter zum Vorschein. Die kleinste vorne war ein älterer Mann mit erkennbar europäischen Wurzeln, der ihr seine Polizeimarke entgegenhielt.
„Guten Abend Frau Summer. Ich bin Agent Rossi. Und das sind meine Kollegen Agent Prentiss und Morgan.“ Zuerst deutete er auf eine dunkelhaarige Frau, die tief in ihren schwarzen Mantel eingetaucht war und dennoch eine elegante Figur machte; danach auf einen muskulösen Kerl, der mehr wie ein Bodybuilder aussah, als jemand, der für den Staat arbeitete. „Ich hoffe es ist in Ordnung, wenn wir Sie zu dieser späten Stunden stören.“
Er schob sich an ihr vorbei ins Warme, als hätte er gewusst, dass sie kein Auge zubekommen konnte und klopfte sich die gepflegten Lederschuhe gründlich ab.
Lizas Augen verengten sich als die beiden anderen ihm mit ihren aufgesetzt lächelnden Mündern folgten. Vorsichtig beobachtete sie die Szene: Die Fremden nahmen jedes Detail auf, das sich nicht wehren konnte und liefen mit forschenden Schritten tiefer in den Raum hinein. Doch auch Liza war eine gute Beobachterin. Sie konnte erkennen, dass sie alle Anzeichen von Erschöpfung mit sich trugen. Vor allem der Teamälteste konnte die tiefen Augenringe im grellen Flurlicht nicht verbergen. Nachdem er einen kleinen Kreis gegangen war, kam er bedächtig auf sie zu, die Hände hatte er dabei locker in den Hosentaschen.
Sie machte keinerlei Anstalten, den Agents ihre Jacken abzunehmen oder sie weiter hereinzubitten, doch ließ sie die Gefühle der Abneigung nicht durchschimmern. Nach außen hin zeigte sie nichts außer unberührte Leere.
„Können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?“
Sie nickte steif und wies auf den Durchgang zum Wohnzimmer.
Der Muskelmann lehnte bereits lässig im Türrahmen. Liza lief an ihm vorbei, warf einen kurzen Blick auf dessen engen Strickpullover und fragte sich augenblicklich, ob er keine Kleidung seiner Größe besaß. Außerdem roch er etwas zu stark nach Aftershave. Typischer Womanizer, dachte sie.
Als Agent Rossi das Zimmer betrat, schien er sie für einen Moment zu vergessen. Zuvor hatte er sie wie eine skeptische Katze aus dem Augenwinkel beobachtet, doch jetzt drehte sich sein Kopf zu den großflächigen Fotoprints. So ging es den meisten Leuten, die ihre Fotografien das erste Mal zu Gesicht bekamen. Einst hatte Liza diese Bilder geliebt. Heute stellten sie Denkmale an eine andere Zeit dar, an die Person, welche sie mal gewesen war. Sie brachte es nicht übers Herz sie abzuhängen, ja wo sollte sie die riesigen Bilder überhaupt aufbewahren? Aber dieser Mensch, der unbeschwert die Welt bereiste, existierte schon länger nicht mehr.
Sie wartete darauf, dass die Fremden etwas sagen würden und schaute sich nach der Frau um, die als einzige bisher nicht im Raum war.
„Wollen Sie sich nicht setzen?“
Liza sah verwirrt zu der Stimme. Hatte er sie gerade in ihrem eigenen Wohnzimmer zum Sitzen aufgefordert? Die geraden Zähne Agent Morgans schimmerten ihr entgegen. Als wolle er die Situation auflockern, zuckte er kaum sichtbar mit den Schultern und ließ sich mitten in den Sessel fallen.
Unsicher setzte sie sich auf die hinterste Sofakante und beobachtete Agent Rossis sanfte Bewegungen.
„Sie sind viel gereist.“ Es war eine Feststellung keine Frage.
Liza nickte nicht. Was sollte dieser Zirkus? Sie hatte herzlich wenig Lust auf irgendwelche Spielchen.
„Wissen Sie, es ist spät und ich verstehe immer noch nicht, warum genau sie hier sind.“ Sie hatte zu Rossi gesprochen, stattdessen antwortete Muskelmann vom Sessel aus:
„Frau Summer. Die Polizei hat uns wegen Ihres Sohnes benachrichtigt …“
„Er ist nicht mein Sohn“, unterbrach sie ihn.
Der Agent zog verwundert eine der ausdrucksstarken Augenbrauen hoch. Eine kurze Pause entstand.
„Aber sie kümmern sich um ihn, wie um ihr eigenes Kind. Sie lieben ihn, weil seine Mutter ihn nicht mehr lieben kann. Sie ist verstorben“, stellte Agent Rossi so nebenbei fest als spräche er über das Wetter.
„Woher…?“ Liza blickte verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her.
„Der Raum erzählt es ihm“, erklärte Morgan augenzwinkernd. „Es gibt keine Fotos von Ihnen und den Kindern. Im Gegenteil, auf dem einzigem Familienfoto ist eine andere Frau, der Ähnlichkeit nach zu urteilen Ihre Schwester. Dennoch liegen überall Kindersachen: Bunte Kissen, Bücher, dort die Kisten mit Bausteinen und die Stofftiere. Sie verbergen nicht, dass Kinder hier leben und teilen gerne den Wohnraum mit ihnen.“
Liza senke den Blick. Wer waren diese Leute?
„Das ist unser Job, wir arbeiten damit, das Verhalten von Menschen lesen zu können.“ Wieder schenkte der Agent ihr von der Seite ein strahlendes Lächeln, doch Liza hatte nur zwei Worte im Kopf: Arroganter Angeber!
Es hätte ihr nicht egaler sein können. Dann waren diese Agents halt gut im Beobachten und Schlüsse ziehen! Wie sollte das ihr jetzt helfen, Philipp zu finden?
„Und wofür genau sind Sie jetzt hier? Ich habe meinen Neffen nicht verschleppt, so viel kann ich Ihnen sagen.“
Die Männer tauschten vielsagende Blicke, woraufhin der Teamleiter sich mit der Entschuldigung nach Prentiss zu suchen, zurückzog. Liza und Agent Morgan blieben allein.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Frau Summer. Wir gehen nicht davon aus, dass Sie in das Verschwinden involviert sind.“ Das ist ja wohl das Mindeste!
„Welcher kranke Mensch würde schon sein eigenes Kind entführten?“ Die Frage rutschte ihr lauter als beabsichtigt heraus.
Durchdringend blickten die braunen Augen in ihre. „Sagen Sie es mir.“
Ihre Stirn legte sich in Falten. Was zur Hölle meint er damit?
„Hören Sie ich habe wirklich keine Lust auf irgendwelche Andeutungen. Stellen Sie die Frage geradeheraus oder gar nicht.“ Sie wollte bestimmt klingen, aber der Tonfall offenbarte nur ihre tiefe Müdigkeit.
Agent Morgan lehnte sich ihr vielsagend entgegen.
„Der Vater, Robert Harkness. Er hat kein Alibi für die Entführungen. Er hat das Sorgerecht verloren und war schon mehrfach wegen Alkoholmissbrauchs im Krankenhaus. Würde jemand, der alles verloren hat, nicht Undenkbares tun, um seine Familie wiederzuerlangen?“
„Wenn Sie den Fall schon gelöst haben. Wozu brauchen Sie mich dann?“ Mit verschränkten Armen ließ sie sich zurückfallen.
Da war es wieder, erneut zogen die Augenbrauen des Agents sich skeptisch zusammen.
„Die Idee, dass Herr Harkness den eigenen Sohn entführen würde, schockiert sie gar nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, wozu Menschen fähig sind.“ In ihren Augen lag nichts als Kälte.
„Philipp ist nicht das erste Opfer. Es gab bereits zwei Jungen vor ihm, von unterschiedlichen Schulen, doch beide wurden keine drei Tage nach dem Verschwinden tot aufgefunden. Ihr Neffe schwebt in Lebensgefahr. Ich habe sein Foto gesehen, er passt genau in das Muster des Täters.“
Die Worte sollten sie treffen, sie aus ihrem Kokon locken und eine emotionale Reaktion herbeiführen, aber Liza fühlte sich bloß bestätigt. Sie hatte es von Anfang an gewusst. Es ging hier nicht um eine „normale“ Entführung. Der Tod weilte schon so lange in ihrem Leben, schlich um sie herum und stahl eine geliebte Person nach der anderen, da schien es nur natürlich, dass er auch vor den Kindern nicht Halt machte.
Ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatte der Agent sich näher gesetzt. Wieder konnte sie ihn riechen, doch diesmal fühlte sie sich davon nicht länger belästigt.
Bevor sie antworten konnte, hörte sie Junas Stimme aus dem Flur.
Die Mädchenhand war fest um die Gitterstäbe des Treppengeländers geklammert. Verunsichert blickte sie der fremden Frau entgegen, die am unteren Treppenabsatz stand.
„Hallo, du musst Juna sein. Ich habe schon viel von dir gehört. Mein Name ist Emily.“ Agent Prentiss ging freundlich lächelnd in die Knie, doch Juna machte keinerlei Anstalten, näherzukommen.
Liza schob sich an der Frau vorbei. „Hattest du wieder einen Alptraum?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme, obwohl sie die Antwort schon kannte. Seit ... das alles passiert war, gab es keine Nacht, in der das Mädchen nicht mindestens einmal angsterfüllt zu ihr kam. Manchmal wachte Liza sogar von ihren Schreien auf. Nichts auf der Welt hätte sie darauf vorbereiten können, ihrer Nichte wieder und wieder die nassen Wangen trockenzuwischen.
Ohne auf die Agents zu achten, nahm sie das Mädchen fest in den Arm und versprach ihr sofort einen Kakao.
Gähnend goss Liza die Milch in den kleinen Topf. Sie konnte hören, wie Agent Prentiss leise zu Juna sprach, die sich auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass man vernünftig mit dem verschüchterten Mädchen umging. Immer wenn sich die Möglichkeit ergabt, warf sie einen prüfenden Blick über die Schulter durch die geöffnete Tür. Juna schien ungewöhnlich schnell aufzutauen. Gerade hielt sie der Beamtin stolz ihr Kätzchen-Stofftier hin. Ihre Liebe zu diesem platt gelegenen Ding war unglaublich niedlich. Liza lächelte und schüttelte das Pulver in die warme Flüssigkeit.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Grübchen haben.“
Agent Morgan hatte sich angeschlichen und stand nun schmunzelnd neben ihr. Augenblicklich fror Lizas Mimik ein.
Entschuldigend hob er die Hände. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie sehen nur viel netter aus, wenn sie lächeln – weniger ernst.“
Das war ja wohl die Höhe! Philipp war verschwunden und dieser … dieser Kerl hatte nichts besseres zu tun, als sie über ihr Auftreten zu belehren! Wütend rührte Liza die Flüssigkeit, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Nach wenigen Augenblicken beruhigte sie sich aber. Wieso regte sie sich eigentlich auf? War es nicht völlig egal, was dieser eingebildete Agent von ihr dachte? Sie wusste doch, wie diese Welt funktionierte. Manche Leute – und dazu zählte sie diesen Typen – wurden mit Glück überschüttet, ohne viel dafür tun zu müssen und manche … manche kämpften und kämpften, um jeden Tage, jede Stunde der Normalität und trotzdem wurde alles bloß schwerer.
Sie nahm den fertigen Kakao vom Herd und verteilte ihn auf zwei Tassen. Doch als sie eine davon Juna bringen wollte, hielt der Agent sie auf.
„Es wäre wichtig, dass Sie mir noch eine Frage beantworten.“ Das war keine Option, das war ein Befehl.
Resigniert stellte sie eine Tasse auf die Durchreiche und wärmte sich an der zweiten, ohne daraus zu trinken, die Hände. Herausfordernd sah sie ihm nun direkt in die Augen. Kurz glaube sie, etwas darin zu erkennen, einen Hauch Unsicherheit vielleicht? Kaum merklich schüttelte er jedoch den Kopf und was immer dagewesen war verschwand.
„Frau Summer, wenn ich so offen sein darf, was ist mit ihnen passiert? Verstehen Sie mich nicht falsch, jeder reagiert in einer solchen Situation anders, aber die meisten Menschen verhalten sich ängstlich oder besorgt, Sie hingegen wirken so abgeklärt.“
Liza legte den Kopf schief. „Seltsam“, sagte sie und nahm dann doch einen Schluck Kakao. „Ich dachte Sie hätten Ihre Hausaufgaben gemacht.“ Dann griff sie nach der zweiten Tasse und schob ihn zur Seite.
„Es tut mir leid, dass ich nicht besonders hilfreich war, aber ich bin jetzt wirklich müde und auch Juna braucht ihren Schlaf.“
Zu ihrer Überraschung stimmte Agent Rossi ihr zu: „Sie haben Recht, wir haben Sie schon zu lange aufgehalten.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wir halten Sie auf dem Laufenden, machen Sie sich keine Sorgen.“
Keine zwei Minuten später war die Haustür hinter den drei Ermittlern ins Schloss gefallen und Liza atmete auf.
Das Scheinwerferlicht des vorbeifahrenden Autos erhellte kurz das Schlafzimmer und ließ die Schatten darin tanzen. Es hatten zu regnen angefangen, ein stetiger aber leiser Regen, der die restlichen Nachteulen in den Schlaf zu wiegen vermochte. Liza Summer allerdings lag seit geraumer Zeit mit klopfendem Herzen unter der dicken Winterdecke und starrte in die Schwärze. Sie war so müde, so unendlich müde, dass sich ihre schweren Glieder kaum bewegen wollten, doch sie freundete sich zunehmend mit dem Gedanken an, aufzustehen. Außerdem musste sie zur Toilette.
Seufzend schwang sie sich aus dem Bett und trottete ins Badezimmer. Wenn sie doch nur etwas tun könnte! Irgendetwas Besseres, als hier nutzlos herumzuliegen und zu warten.
Erst da sie vor ihrem Kleiderschrank stand, realisierte sie, dass sie den Entschluss längst gefasst hatte. Sie legte sich den dicken grauen Strickschal um, schlüpfte in die gefütterte Jacke und tauschte die Pyjamahose gegen eine dunkle Stoffhose aus. Vorsichtig schlich sie anschließend die Treppenstufen hinunter.
Draußen schlug ihr eiskalte Luft entgegen. Sie zog die Kapuze tiefer über die Stirn und eilte zum Auto, aber die Kälte kroch ihr trotzdem in die Knochen. Hinter dem Steuer sitzend zögerte sie. „Will ich das wirklich machen?“ Niemand antwortete und so verhallten die geflüsterten Worte in der Dunkelheit.
Liza rieb die Hände aneinander bevor sie nach dem kühlen Lenkrad griff und den Schlüssel herumdrehte. Augenblicklich drang ihr Gesang aus dem Radio entgegen, welches sie sofort ausschaltete. Sie würde jetzt alle Konzentration brauchen. Kurz sah sie zu Junas Zimmerfenster hinauf, dann parkte sie aus und fuhr durch die leeren Straßen.
Roberts Haus war am Rande der Stadt westlich hinter dem Hafen. Es mochte eines Tages schön gewesen sein, aber jetzt war die rote Farbe so weit abgeblättert, dass man sie kaum mehr sehen konnte, dem Dach fehlten Ziegel und der Garten bestand nur aus wilden Efeu, das keiner anderen Pflanze Platz machte und bereits ein Fenster unter sich begraben hatte.
Sie kam nicht mehr gerne her. Zu viele Erinnerungen an Grillabende und erbitterte Tischtennisspiele waren mit diesem Ort verbunden.
Der Motor erstarb und sie fand sich umgeben von nächtlicher Stille, die nur durch das Geräusch ihres eigenen aufgeregten Atmens unterbrochen wurde. Entschlossen stieg sie aus, die Tür fiel leise zu und sie überquerte schräg die Straße. In keinem der Fenster brannte noch Licht.
Schnell lief sie über die drei flachen Stufen, wolle gerade nach der Klingel greifen, da nahm sie ein Geräusch hinter sich wahr. Jemand räusperte sich.
Liza sah vorsichtig über die Schulter, bereit sich jeden Moment zu verteidigen. Konnte ihr jemand gefolgt sein? Oder hatte sie sich verhört und es war doch nur ein Tier, das sich aus dem Wald gewagt hatte?
Nein. Jetzt war sie sicher. Da kamen definitiv Schritte auf sie zu. Ängstlich suchte sie nach etwas, das sie zur Verteidigung nutzen könnte. Doch als sie sich herunterbeugte, um nach einem großen Kieselstein zu greifen, kam Agent Morgan mit erhobenen Händen in den Lichtschein getreten.
„Was tun Sie hier?“ entfuhr es beiden gleichzeitig.
Ein plötzlich freundliches Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Agents.
„Frau Summer. Ich bin zugegeben etwas überrascht, ausgerechnet Sie zu sehen.“ Er zog die linke Augenbraue skeptisch in die Höhe. „Was genau suchen Sie hier um diese Uhrzeit?“
Sie verschränkte die Arme. Ich muss Ihnen gar nichts sagen! Innerlich verfluchte sie sich. Sie hätte damit rechnen müssen, dass jemand ein Auge auf Robert hatte!
Moment. Wurde sie jetzt verdächtigt?
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, die Lippen fest zusammengepresst. Der Wind kündigte neuen Regen an. Wieso konnte nicht irgendein Streifenpolizist auf das Haus aufpassen? Wieso musste es Mister Schönling sein?
„Ich bin hier, um mit Robert zu reden. Und ich mache es direkt und warte nicht wie eine Katze vor dem Mäuseloch bis sich von selbst etwas tut.“ Warum ließ sie sich jetzt doch zu einer Erklärung herab?
„Sie glauben also, dass er etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnte.“
Emotionslos wendete sie sich ab, ging wieder zur Tür. Ihre Lust Robert aus dem Schlaf zu klingeln, war gerade noch etwas größer geworden.
„Es wäre besser, wenn Sie das nicht täten.“ Der Agent hatte nach ihrem Arm gegriffen. „Es ist keine gute Idee, ihn jetzt zu provozieren.“
Liza schüttelte den Griff leicht ab, aber selbst ihr abfälligster Blick reichte nicht, den Mann wieder auf Abstand zu bringen.
Sollte sie etwa jetzt aufgeben und ohne Antworten einfach zurückfahren?
„Vertrauen Sie uns und den Ermittlungen, Sie müssen doch müde sein. Gönnen Sie sich etwas Ruhe“, schlug er vor.
Kurz war da brennende Wut, ein starkes, aber vergessenes Gefühl. Wie konnte sich dieser Typ nur so erhaben fühlen? Wie konnte er auch nur für eine Sekunde denken, ihr wäre es tatsächlich möglich, zu schlafen? Doch dann verpuffte der Zorn, so schnell wie er gekommen war und hinterließ die bekannte gleichgültige Leere.
„Er wird sowieso tot sein. Wozu der ganze Aufwand?“
Jetzt machte der Agent tatsächlich einen Schritt zurück.
„Frau Summer, ich verspreche Ihnen, wir werden unserer Bestes tun, dass...“
„Blablabla!“, unterbrach sie ihn. „Sie sagten es doch selbst: Die anderen Kinder haben keine drei Tage überlebt. Wieso sollte es jetzt anders sein? Und selbst wenn Robert der Täter ist, warum nimmt er Philipp erst jetzt? Was ist die Verbindung zu den anderen Kindern? Sie wissen doch selbst, dass das alles keinen Sinn macht und doch sind Sie hier, verschwenden Zeit und Ressourcen.“ Robert mochte ein Trinker sein, aber einer dieser traurigen melancholischen Trinker, die nie aggressiv werden, sondern nur weinen und dann für Tage nicht mehr aus dem Bett kommen. Dennoch wollte Liza ihn unbedingt sehen, nur um sicherzugehen ...
Das letzte Mal, das sie miteinander geredet hatten, war nach dem Sorgerechtsentscheid gewesen. Ihren ehemals guten Freund so am Boden zerstört zu sehen, hätte Liza das Herz gebrochen, wäre es nicht schon zuvor gewaltsam aus ihrer Brust gerissen worden. Sie wusste, dass er sie dafür hasste. Dafür, dass sie funktionierte, dafür dass sie die Kinder bekommen hatte, aber der Selbsthass war stärker. Also trank er und trank, bis er seinen Job verlor und ihm nichts außer dem leeren Haus geblieben war.
Es war ihm nur in ihrem Beisein erlaubt, die Kinder zu sehen, aber er war zu keinem der Treffen erschienen. Sie konnte das alles verstehen, konnte seinen Schmerz auch heute in jeder Faser ihres Körpers spüren – schließlich hatte auch sie auf einen Schlag ihr früheres Leben verloren – aber sie machte weiter. Für diese beiden Kinder würde sie sich jedes Mal wieder zusammenflicken.
„Wir müssen jeder Spur nachgehen.“ Liza hätte die Antwort vorhersagen können. Waren denn alle Polizisten und anderweitige Verbrechensbekämpfer gleich?
„Wenn Sie meinen, dass dafür genug Zeit ist.“ Ihre Stimme war reines Gift.
„Langsam reicht es mir, Lady.“ Die Wut strömte aus ihm heraus, bevor er sie unter Kontrolle bekommen konnte. „Ich weiß, dass Sie Schlimmes durchgemacht haben. Aber wir geben ALLES, um Ihren Neffen zu finden. Unserer ganzen Team, arbeitet Tag und Nacht dafür, dass Sie ihn wieder in die Arme schließen können. Es ist mir egal, ob Sie an uns glauben oder uns auch nur vertrauen, aber machen Sie es uns bitte nicht schwerer!“ Sie konnte seinem Gesicht ablesen, dass er den Ausbruch sofort bereute. Unsicher warf er einen Blick zur Tür, horchte ob er gehört worden war und verschränkte anschließend die Arme.
Liza aber lächelte.
Kopfschüttelnd schob sie sich an ihm vorbei. Am Bordstein drehte sie sich zu dem verdutzten Mann um, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nein, sie würde es nicht sagen.
Das Haus war still und kühl. Sie drehte sich auf die andere Seite, doch ihr linker Arm kribbelte entsetzlich. Ächzend setzte sie sich auf und schüttelte das träge das Handgelenk. Keine zwei Stunden hatte sie geschlafen. Die kleine Kugellampe tauchte das Wohnzimmer in ein dämmriges Licht.
Dann fiel ihr Blick auf den Zettel auf dem Teppichboden. Er war schon etwas zerknittert und das Papier dünn geworden. Sie musste damit in der Hand eingeschlafen sein. Wie automatisch griffen ihre Finger danach, strichen ihn glatt und wieder starrte sie auf die schräge Schrift: Nur für den Fall
Darunter stand eine Telefonnummer, Agent Morgans Telefonnummer.
Sie konnte es nicht verstehen. Wieso war er so nett zu ihr? Wann hatte er diesen Zettel hier platziert? Sie hatte die Nummer ausprobiert. Nachdem sie nach Hause gekommen war und das Papierchen auf dem Sofa gefunden hatte, als hätte es dort gewartet, hatte sie sofort zum Telefon gegriffen. Aber sobald seine Stimme ihr aus dem Hörer entgegen gedrungen war, hatte sie aufgelegt.
Möglicherweise war sie unfair zu ihm gewesen. Sie hatte ihn als arrogant und besserwisserisch eingeschätzt, als einen Mann, der sich durch seine Arbeit profiliert. Aber wie er sie zurechtgewiesen hatte, war so herrlich imperfekt gewesen – so unkontrolliert, menschlich und … ehrlich. Er war dabei nicht mal beleidigend geworden.
War es also tatsächlich möglich? Gab es da draußen Hoffnung? Lange hatte sie es nicht mehr gewagt auch nur an das Wort zu denken. Es schmeckte fremd und bitter auf ihrer Zunge als sie es leise aussprach.
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen, die Sicht verschwamm und sie musste schluchzen.
Hoffnung.
Sie schluckte, wischte sich wieder und wieder über das Gesicht und tippte dann die Nummer in ihr Handy. Es dauerte bis sich jemand am anderen Ende meldete. Liza hatte schon damit gerechnet, dass eine Computerstimme ihr die Mailbox ankündigen würde und zuckte daher beim Klang von Agent Morgans verschlafener Stimme leicht zusammen. Sie war plötzlich wie versteinert und brachte kein Wort heraus, während die Tränen begannen, ihr unkontrolliert über das Gesicht zu laufen.
Das zweite nachfragende „Hallo?“ riss sie aus der Starre.
Ohne sich vorzustellen, sprudelten Worte aus ihr heraus. Zuerst stotternd und wirr, dann lauter, klarer. Mehrfach entschuldigte sie sich für ihr Verhalten, sprach über die so tief sitzende Angst, noch einmal jemanden zu verlieren, der ihr lieb und teuer war, und zuletzt übernahmen die Tränen vollständig die Kontrolle, sodass sie eine Weile nur schluchzte. Morgan sagte wenig. Er ließ sie gewähren, munterte sie mit einem kurzen Kommentar auf, wo es möglich war und lauschte ansonsten der Geschichte einer Gebrochenen. Am Ende sagte er bloß: „Ich komme.“
Liza konnte die Zeit nicht einschätzen, seit er aufgelegt hatte. Die Tränen waren versiegt, aber sie saß weiterhin zusammengekauert auf der Sofaecke, das Handy in der schwitzenden Hand. Ihr Kopf pochte, wie nach einer durchzechten Nacht. Sie war eine Fremde im eigenen Körper, sah sich selbst von außen und konnte doch nichts an diesem bedauernswerten Zustand ändern. Es tat so weh.
Damals hatte sie nicht weinen können.
Damals als der Mann nicht nur ihre Schwestern, sondern auch Carl – ihre große Liebe – ermordet hatte. Seitdem war alles verdreht und falsch. Sie redete sich wiederholt ein, dass sie immerhin nicht hatten leiden müssen. Zwei glatte Kopfschüsse.
Der Täter wurde nie gefasst. Er brach ein in das Haus, das Carl von seiner Mutter geerbt hatte, und schoss die beiden nieder. Sie hatten nicht die Chance, sich zu wehren. Als die Polizei eintraf, war es bereits zu spät. Der Familienschmuck und die Portemonnaies waren geraubt und alles, was Liza Halt gegeben hatte, war fort.
„Wir waren verabredet, doch ich musste länger arbeiten und sie ist schon mal vorgefahren, um mit Carl das Essen vorzubereiten“, schilderte Liza kurze Zeit später dem Agent. Es machte ihr nichts aus, dass er dicht neben ihr saß und den Arm um sie gelegt hatte. Sie fürchtete sogar, dass sie ohne diesen Halt auf der Stelle in tausend Teile zerbrochen wäre.
Es gab nichts mehr zu sagen. Der Agent wusste jetzt alles. Er wusste, warum sie den Behörden nicht traute und wieso sie nie gewagt hatte, zu hoffen. Im Gegenzug erzählte er von vergangen Fällen und wie weit sie in den aktuellen Ermittlungen waren. Nur einen Bruchteil davon hörte sie wirklich. Es spielte nur eine Rolle, dass dort etwas war, dass gegen die Leere und die Stille half – dass jemand da war.
Verwirrt wachte Liza auf, weil etwas an ihrem Arm rüttelte. Im ersten Augenblick war sie verwundert, nicht Agent Morgan sondern Juna zu erblicken.
„Warum schläfst du denn auf dem Sofa?“, fragte das Mädchen und wippte ungeduldig auf den Zehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, platze es aus ihr heraus: „Ich hab Frühstück gemacht!“
Auf dem Kaffeetisch standen drei Teller und daneben lag je eine fein säuberlich gefaltete Serviette. Schmunzelnd gab Liza Juna einen Kuss auf die Stirn und nahm sich eines der zwei dicken Erdnussbuttersandwichs. Sie biss einmal ab, was Juna strahlende Freude aufs Gesicht zauberte, entschuldigte sich aber kurz ins Bad. Auf dem Weg dorthin musste sie sich nach Morgan umsehen, aber nichts deutete mehr auf dessen Besuch. Sie wusste nicht warum, doch der Gedanke schmerzte, dass er verschwunden war, ohne sich zu verabschieden. War er wirklich da gewesen? Die letzte Nacht fühlte sich wie ein verschwommener Traum an.
„Möchtest du deine Erdnussbutter denn gar nicht ?“ Juna hatte sich mit einem Spielzeugauto auf den Sessel verzogen und würdigte ihr Sandwich keines Blickes.
„Ich hab meins doch schon gegessen! Das letzte ist für Philipp, damit er auch was hat, wenn er zurückkommt.“
Liza schluckte und unterdrückte die Tränen mit aller Kraft. Oh, noch einmal die Welt aus den Augen eines Kindes sehen!
Der graue Himmel verdunkelte sich zunehmend und kündigte schlechtes Wetter an. Obwohl sie viel mit Juna spielte, fühlte sich verdammt allein, so einsam wie lange nicht. Es war so banal, was sie tat, wie sie hier aufräumte und versuchte irgendetwas zu machen, nur um sich von der schrecklichen Tatsache abzulenken, dass Philipp die Zeit davon lief. Sie wagte es kaum, sich auszumalen, was für Ängste er diese Nacht durchstanden haben musste. Möglicherweise war er gefesselt, hatte Durst und Hunger oder durchlitt viel Schlimmeres.
Die Tür zu Philipps Zimmer war immer noch angelehnt, so wie er sie hinterlassen hatte. Sanft stieß Liza sie auf und blieb auf der Schwelle stehen. Sie hatte es vermieden, den Raum zu betreten, denn er sprach so deutlich von seinem Verschwinden, dass es schmerzte. Das kurze Bett musste er am Morgen selbst gemacht haben, Decke und Kissen waren glatt gestrichen und nur der lila Elefant lag vergessen am Fußende. Mit klopfendem Herzen trat sie über die Schwelle, atmete die schon abgestandene Heizungsluft ein und setzte sich auf die Bettkante. Sie griff nach dem Stofftier ohne zu bemerken, dass ihre Finger angefangen hatten zu zittern. Heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie ließ sich in die Kissen zurückfallen, den Elefanten in fester Umklammerung.
Einen Moment ließ sie die Tränen zu, doch schnell besann sie sich wieder. Was war das? Von hier konnte sie dort am Schreibtisch etwas Buntes sehen. Allerdings war ihr Blick zu verschwommen, um es genau erkennen zu können. Liza richtete sich auf und näherte sich der Schublade. Was dort herausschaute, war die Verpackung eines Müsliriegels. Stirnrunzelnd schob sie die Schublade auf und etliche weitere zerknüllte Plastikverpackungen quollen ihr entgegen.
Sie hatte diese Süßigkeiten nicht gekauft.
Ein ungutes Gefühl in ihrem Inneren sagte ihr, dass das etwas zu bedeuten hatte.
Es klingelte und klingelte, aber wieder ging nur die Mailbox dran. Sie hatte bereits zwei Nachrichten hinterlassen, zögerte kurz, ob sie es ein weiteres Mal machen sollte und legte vor dem Piepton auf. Draußen regnete es jetzt in Strömen und die Tropfen prasselten laut gegen das Fenster, vor dem sie stand.
Was passierte gerade bei den Ermittlern, dass sich Morgan seit Stunden nicht meldete? Zu ihrer Sorge um Philipp schlich sich eine vorsichtige Sorge um den Agent hinzu. Es konnte so schnell gehen, ein falscher Schritt, eine Sekunde unaufmerksam und schon war man vom Bus überfahren oder hatte eine Kugel im Kopf. Und wer sollte dann ihren Neffen finden? Dann war wirklich alle Hoffnung verloren. Ach, wie hatte es überhaupt soweit kommen können? War sie nicht ohne die Hoffnung besser dran gewesen? Jetzt war da so viel Verletzlichkeit, welche nicht mehr verschwinden wollte. So viel Schmerz, der ihr bei jedem Atemzug, bei jeder Bewegung, das Herz weiter zerriss.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Sie hatte kein Auto vorfahren gehört und dachte erst, es sich eingebildet zu haben, doch bevor sie den Flur erreicht hatte, klopfte es mehrfach.
Sie öffnete einem völlig durchnässten Agent Morgan, der diesmal kein Lächeln auf den Lippen hatte. Er schob sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Trockene, wo er etwas verloren stehenblieb. Liza blickte den tropfenden Mann an und musste ein Kopfschütteln unterdrücken. Das kommt davon, wenn man Kleidung nicht nach praktischem Nutzen, sondern nach Aussehen wählt. Dennoch eilte sie, ihm ein Handtuch zu holen. Als sie wieder in den Flur kam, guckte eine neugierige Juna aus dem Wohnzimmer dem Agent dabei zu, wie er sich der schweren Jacke und den Schuhen entledigte. Zum Glück schienen seine Socken trocken geblieben zu sein, aber die Hose und der gesamte Kragen machten den Eindruck als sei er damit unter der Dusche gewesen.
„Juna, geh weiter Fernsehen.“ Sie hatte nicht so bestimmt klingen wollen und es tat ihr sofort leid. Das Mädchen zog ohne deutliche Gefühlsregung ab, doch Liza war sicher, dass sie versuchen würde, zu lauschen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie vorsichtig. Wieso ist er hergekommen? Hat er meine Nachrichten gehört? Sie war nervös. Auch wenn ein Teil von ihr froh war, ihn zu sehen, machte dieser unangekündigte Besuch sie unruhig. Das konnte nichts Gutes bedeuten. War es geschehen? Hatten sie ihn … gefunden?
„Frau Summer, ich hatte gehofft, Sie haben einen Moment Zeit.“ Er nahm das Handtuch und rieb sich so gut es ging damit ab. „Vielen Dank.“ Da war wieder das strahlende Lächeln. Wie viele Frauen dem wohl schon verfallen waren?
Sie setzten sich in die Küche. Sanft drang die Geräuschkulisse eines Cartoons aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüber. Liza stellte das Radio an, in der Hoffnung es Junas Ohren schwieriger zu machen, und wartete darauf, dass er es endlich aussprach, die Worte, die ihre Qualen beenden würden.
„Frau Summer.“ Er griff ihre Hände über dem Küchentisch und nahm sie in seine. Normalerweise wäre sie zurückgezuckt, aber die warme Berührung entspannte sie.
„Es gibt Neuigkeiten.“ Die langsame Annäherung also. Es mochte vielleicht für die meisten einfacherer sein, doch sie hasste es. Nun rück' schon damit raus! Ich will Klarheit!
„Das Team hat heute morgen ...“ Nein! Bitte nicht! „... Herr Harkness gefunden. Er muss sich in der Nacht das Leben genommen haben.“
Liza verstand nicht. Herr Harkness? Robert? Es geht hier nicht um Philipp?
Sie sacke im Stuhl zusammen und ihre Hände glitten aus Morgans.
„Er muss schon tot gewesen sein, als wir vor seinem Haus waren. Er ...“ Zuhören konnte sie nicht mehr. Der Mund ihres Gegenübers bewegte sich zwar und sie nickte, aber kein Wort kam bei ihr an. Robert war tot. So viel Schmerz. Und sie hatte an ihm gezweifelt. Wieso eigentlich?
Oh, sie wusste warum! Das Team war es. Sie hatten Robert verdächtigt, sodass sie es auch geglaubt hatte – zumindest ein Teil von ihr hatte entgegen aller Logik, all ihrer Erfahrungen mit diesem Menschen, gezweifelt.
„Gehen Sie bitte.“
Morgan sah sie verwirrt an, nicht wegen der Unterbrechung, sondern wegen des bösartigen Tons.
„Es tut mir leid. Ich weiß, dass Herr Harkness ein Freund war.“
„Ich sagte: Gehen Sie.“ Diesmal war sie lauter. Juna blickte herüber.
Agent Morgan stand vorsichtig auf und machte rückwärts ein paar Schritte Richtung Flur. So viel Mitleid lag in seinem Blick, es war kaum zu ertragen.
„Bitte, Frau Summer, schließen Sie uns nicht wieder aus. Wir müssen Philipp immer noch finden.“
„Sie sind Schuld. Ihre Verdächtigungen haben ihn in den Selbstmord getrieben.“ Am liebsten hätte sie auf den Boden gespuckt.
„Nein. Er war schon länger suizidär. Wir haben ihn nie unter Druck gesetzt ...“
„Wieso sollte ich Ihnen glauben? Weil Sie ein paar Stunden für mich da waren? Ihr Cops seid doch alle gleich!“
Morgans Stimme war ruhig geblieben: „Ich hatte nie vor, Sie auf die eine oder andere Weise zu manipulieren.“ Sie sah die Gänsehaut auf seinen Armen, doch bevor sie etwas Entschärfendes sagen konnte, bevor sie verstand, dass dieser Mann nicht der Feind war, hatte er sich schon in den Eingangsbereich zurückgezogen. Schnell war er wieder in Schuhe und feuchte Jacke geschlüpft. Ohne zu zögern, trat er in den strömenden Regen hinaus und ein Blinzeln später war die Haustür vor Lizas Nase zugefallen.
Ein Karussell der Gedanken drehte sich in ihrem Kopf. Robert war tot. Sie musste Leuten Bescheid geben. Wie sollte sie es Juna sagen? War sie zu hart zu Agent Morgan gewesen? Sollte sie sich entschuldigen? Was war jetzt die wichtigste Aufgabe? Wie viel hatte Juna mitbekommen? … Sie konnte nicht mehr richtig denken.
Und dann fiel ihr ein, dass sie ihm nichts von ihrem Fund erzählt hatte. Sie rief Juna.
„Ist der nasse Mann schon weg?“
„Ja, er musste gehen. Du weißt doch, die Polizei ist immer sehr beschäftigt.“
„War er gemein zu dir?“
„Nein. Wieso fragst du das?“
„Du hast mit ihm geschimpft, das habe ich gehört.“ Die Kleine war viel klüger als ihr gut tat. Liza strich ihr liebevoll übers Haar.
„Ich muss dich etwas fragen. Ich glaube, es könnte wichtig sein.“ Juna nickte ernst.
„Hat Philipp dir je etwas über Süßigkeiten erzählt?“ Liza konnte in ihrem Gesicht sehen, dass sie etwas wusste. „Es ist nicht schlimm, wenn du ein Geheimnis verrätst. In einem Notfall ist das in Ordnung.“
Ihr Herz pochte bis zum Hals, während sie Junas Erzählungen über die Frau mit dem fahrenden Kiosk lauschte, bei der Philipp wohl mehrfach heimlich sein Essensgeld ausgegeben hatte.
„Manchmal hat er mir was abgegeben“, gab Juna beschämt zu, als erwartete sie eine Strafe. Stattdessen wurde sie fest in die Arme genommen.
Liza Summer war nicht dumm, doch was noch viel wichtiger war: Sie war misstrauisch. Genau dieses Misstrauen war es, das sie zum Handeln brachte. Sie ließ das Kind los, murmelte eine Entschuldigung, griff nach dem Schlüsselbund und warf sich eine Jacke über, bevor sie ins nasse Grau trat. Der kalte Regen stach sie, so wie er zuvor Morgan getroffen haben musste. Vielleicht war es nicht zu spät, vielleicht war er hier noch irgendwo.
Bald war jeder Zentimeter, der nicht vom Regenmantel bedeckt war, klitschnass. Zwei Autos fuhren den Hang hinunter an ihr vorbei und sie schielte durch die Scheiben, konnte aber kein bekanntes Gesicht finden. Möglicherweise hatte er sich irgendwo untergestellt. Sie lief um die Kurve und wich einer großen Pfütze auf dem porösen Gehweg aus. Links von ihr knallte eine Autotür und diesmal erkannte sie die beiden Männer. Wie eine Wahnsinnige winkend lief sie dem Fahrzeug entgegen. Der Fahrer, Agent Rossi, hatte gerade zu einer Wende angesetzt. Lizas Hand klatschte flach auf die Scheibe, bis sie leicht heruntergefahren wurde.
„Die Kioskfrau!“, platze es aus ihr heraus. Die Männer im Auto warfen sich fragende Blicke zu. „Philipp hat heimlich bei ihr Süßigkeiten gekauft. Sie muss ihn gesehen haben! Sie kennt ihn!“ Liza nahm wahr, wie Agent Rossi aufs Gas trat und der Spalt im Fenster sich schloss. Überrascht sprang sie zur Seite und wenige Sekunden später waren die beiden außer Sicht.
Außer Atmen blieb Liza am Straßenrand zurück. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie fror. Sie wusste nicht, was gerade passiert war, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. So schnell sie konnte rannte sie nach Hause, mit dem festen Ziel dort eine lange, heiße Dusche zu nehmen.
Frisch eingecremt, mit einem Handtuch um die Haare und in einen kuscheligen Bademantel gewickelt kam sie eine Stunde später aus dem Bad. Eine Nachricht leuchtete im Display ihres Handys auf. Sie bestand nur aus einem Wort: Danke.
Da war es wieder. Das süße Gefühl der Hoffnung. Auch wenn sie nicht wusste, was Agent Morgan damit genau sagte, gab ihr dieses Danke neue Kraft.
In den nächsten Stunden nahm sie das Handy immer wieder zur Hand, tippte eine Antwort, ohne sie je abzuschicken und löschte alles wieder. Sie traute sich nicht, nach dem Fortschritt der Ermittlungen zu fragen oder ob ihr Hinweis hilfreich gewesen war. Aber das war nicht das einzige, was sie währen der Memorie-Partie gegen Juna ablenkte und hoffnungslos verlieren ließ. Offenbar hatte sie Agent Morgan falsch eingeschätzt und das ließ sie nicht los. War sie wirklich bereit dazu? Sie öffnete seine Nachricht und tippte: Wenn das hier je vorbei sein sollte, möchten Sie dann vielleicht mit mir ausgehen? Überrascht starrte sie auf die Buchstaben. War es das, was sie wollte? Kopfschüttelnd löschte sie die Antwort und warf das Telefon weit weg aufs Sofa. Nein, heute war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Doch wer weiß, irgendwann war sie möglicherweise bereit, einer neuen Liebe eine Chance zu geben.
Niemand bereite Liza auf das unbeschreiblich erleichternde Gefühl vor als die Beamten Philipp noch am selben Tag nach Hause brachten. Agent Prentiss versuchte ihr alles ausführlich zu erklären, doch es fiel ihr schwer die Details zu behalten. Wichtig war nur Philipp. Philipp, der so blass und verängstigt war, dass es ihr Herz hätte erschüttern können, wäre sie nicht so unheimlich glücklich.
Tatsächlich war die Betreiberin des fahrenden Kiosk der entscheidende Hinweis gewesen, aber nicht so wie Liza es gedacht hatte. Denn anstatt sie zu befragen, hatte sie wohl auffällig gut ins Profil gepasst – was immer das genau heißen sollte – sodass sie als Täterin in Frage kam. Wieso eine eigentlich nette Frau, die immer mit Kindern gearbeitet hatte, zu so etwas in der Lage war, wollte sie nicht wissen. Für Mord gab es nach Lizas Meinung keine Erklärung.
Immerhin hatte die Frau Philipp einigermaßen mit Essen und Trinken versorgt, doch würde er wohl nie wieder einen der Nussriegel anfassen. Später erzählte er manchmal von dem Zimmer, in dem sie ihn eingesperrt hatte. Ein Zimmer, das einst einem anderen Jungen gehört hatte. Dieser Junge hatte Flugzeuge und Traktoren gemocht und mit seinem Namen hatte sie Philipp stets angesprochen. Er hatte schnell gelernt, nicht zu protestieren.
Liza wusste nicht, ob er die Geschehnisse je vollständig verkraften würde. Philipp war noch jung und stärker als es den Anschein machte, aber manchmal erkannte sie diese Furcht in seinen Augen, mit der auch sie stets lebte. Sie alle würden ihr Leben lang Narben davontragen.
Zwei Wochen später fand Roberts Beerdigung statt. Liza hätte den Kindern diesen Tag gerne erspart, doch beide wünschten sie dabei zu sein und so ließ sie es zu. Es war hart, die alten Bekannten und schockierten Verwandten wiederzusehen. Vor allem da niemand richtig zu wissen schien, wie er mit ihr und den Kindern umgehen sollte. Ohne Agent Morgan hätte sie diesen Tag wahrscheinlich nicht überstanden, doch ungefragt war er die ganze Zeit an ihrer Seite.
Liza glaube nicht daran, dass nie wieder schlechte Zeiten kommen würden, denn das wäre utopisch, aber sie hatte es wieder gewagt, zu hoffen. Und dabei hatte sie gelernt, dass Hoffnung nie umsonst war und dass es – egal wie sehr man am Boden war – da draußen Menschen gibt, die sich kümmern.
Scheu warf sie ein Lächeln zu dem Mann, der ihre rechte Hand hielt. Philipp und Juna liefen in dicken Jacken voraus, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Der Himmel war weiterhin bewölkt, aber kein Tropfen wagte es, daraus hervorzubrechen.
Agent Morgan erwiderte das Lächeln und drückte ihre Hand fester. Die klare Luft roch nach Schnee.
CN: Das ist eine emotionale Story über Verlust, Trauer und Hoffnungslosigkeit, die an manchen Stellen sehr mitreißend sein kann. Themen wie Schlaflosigkeit und Tod spielen eine zentrale Rolle und mögen den ein oder anderen Leser / die ein oder andere Leserin unangenehm berühren.
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Part 1
Das graue Doppelhaus schmiegte sich etwas windschief an den Hang, als würde die Last der Jahre es zunehmend in die Knie zwingen. Im rechten Türrahmen stand eine Frau, deren kinnlanges Haar zu einem kleinen Zopf zurückgebunden war. Sie blickte einige Minuten den zwei Kindern hinterher, die in ihren bunten Jacken dem Novemberwind trotzen.
Der Junge war beinah so groß wie seine ältere Schwester, die ihn wiederholt kichernd in die Seite stieß. Mit ihren hüpfenden Schritten und schwingenden Armen sah sie so fröhlich aus. Ein kurzes Winken, dann waren sie hinter der Kurve verschwunden.
Liza rieb sich die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte und trat wieder ins Innere. Sie schlüpfte aus den Hausschuhen, machte eine Kanne Kaffee und stieg die schmale Wendeltreppe hinauf. Der langsam hochfahrende Laptop schien ihre tiefe Müdigkeit zu spiegeln. Letzte Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden – wieder einmal! Ihr kamen die Tabletten in den Sinn, die so greifbar nah in der Schublade warteten, aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, sie musste es schaffen, allein gegen dagegen zu kämpfen. Medikamente zu nehmen, das erschienen ihr wie der leichte Weg, doch dieser Weg war nicht ihrer. Wie sollte sie je besser schlafen, wenn sie selbst nicht die Kraft dazu aufbrachte?
Seufzend begann sie, ihre Mails zu lesen und bald zeigte das heiße schwarze Getränk seine Wirkung: Lizas Haltung wurde aufrechter, das Gähnen seltener und sie fühlte sich nicht länger wie überfahren, sondern wie ein einigermaßen normaler Mensch.
Im Radio kündigte der Sprecher die Nachrichten an, doch sie hörte nur mit einem halben Ohr den Berichten über die Börse und den neuen Gesetzesentwürfen zu. Als eine andere Stimme etwas über einen Fallschirmsprung, eine Entführung und das Wetter sagte, war sie schon wieder in die Arbeit vertieft.
Erst die Sirenen eines Feuerwehrwagens draußen ließen Liza vom Bildschirm aufschauen. Der Anblick des Himmels war trostlos. Schon seit Tagen sah es nach Regen aus, die Luft schmeckte feucht und eine kriechende Kälte lag darin. Vielleicht kommt bald der Schnee, dachte sie und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der von Kinderhand bemalten Tasse. Neben einem Schäfchen, ein paar Wolken und einem zu groß geratenen Vogel stand „MAMI“ in unsicheren Buchstaben darauf.
Ihr Daumen strich sanft über den Schriftzug und Liza spürte für einen Moment tausend Gefühle aufkommen, tausend unterdrückte Gedanken und Ängste und kurz zitterten ihre Finger, der ganze Körper bebte und dann wischte sie sich über die feucht gewordenen Augen und wischte auch das aufwühlende Chaos davon.
Auf ihrem Bildschirm war ein Icon aufgetaucht und jetzt erst bemerkte sie den schrillen Sound des eingehenden Videoanrufs, den sie eilig annahm.
Heute war so viel zu tun, dass Liza kaum merkte, wie die Stunden an ihr vorbeizogen. Der Kaffee war lange leer, als ein knurrender Magen sie aus der Konzentration riss. Genervt von diesem körperlichen Bedürfnis klappte sie den Laptop zu und stand auf. Essen konnte manchmal so lästig sein.
Wieder im Erdgeschoss setzte sie sich für einen Moment auf den erhöhten Stuhl an der Durchreiche zur Küche, den Kopf in die Hände gestützt und lieferte sich ein Starrduell mit dem Kühlschrank. Um zu Kochen war es jetzt zu spät, aber Liza wusste genau, dass sie keine Snacks auf der anderen Seite der schweren Tür erwarteten. Sie könnte zwar den Schokoladenpudding der Kinder essen, doch diesen Fehler wollte sie nicht erneut begehen. Junas vorwurfsvolle Blicke verfolgten sie heute noch, denn die Kleine konnte ganz schön nachtragend sein, wenn es um Schokoladiges ging. Das hat sie nicht von ihrer Mutter, schoss es Liza durch den Kopf.
Einen Moment noch starrte sie auf die Magnettür, an der bloß ein Abfallkalender hing, und stand zähneknirschend auf.
Der Inhalt des Kühlschranks machte die Situation nicht besser und sie spielte kurz mit dem Gedanken, hungrig wieder an die Arbeit zu gehen, als ihr Blick auf ein angebrochenes Glas Früchtejoghurt fiel. Immerhin muss ich so nicht kochen. Die schwarz bemalten Fingernägel griffen danach und einen Augenblick später drückte sie mit der Hüfte die Tür wieder zu.
Sie füllte den Joghurt in eine kleine Schüssel und stieg mit müden Schritten die Treppe hoch. Ihre Beine fühlten sich schwer an, brauchten extra Kraft, um sich für das Erreichen der nächsten Stufe ausreichend anzuheben.
Gähnend setzte sie sich an den Schreibtisch, öffnete eine Nachrichtenwebsite, ohne sie zu lesen und spielte lustlos mit dem Löffel. Liza blinzelte.
Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie sofort, dass etwas falsch war.
Sie hob den Kopf von der Tischplatte, sah das Icon der verpassten Videoanrufe, die klebrige Spur, welche der fallengelassene Löffel hinterlassen hatte, bevor ihr Blick an der Kaffeetasse hängenblieb. Die Uhr am unteren Bildschirmrand bestätigte ihre Befürchtungen: Sie war eingeschlafen. Doch die verlorene Arbeitszeit war nicht für das nagende Gefühl in ihrem Inneren zuständig.
Liza erhob sich, horchte einen Moment in die verdächtige Stille des Hauses und rief: „Philipp?“
„Philipp, bist du da?“
Der Knoten in ihrer Magengrube zog sich zu. Sie hechtete plötzlich hellwach aus dem Raum, sah suchend nach unten, doch sie konnte den Eingangsbereich nicht vollständig erkennen. Polternd rannte sie die Stufen herunter, stieß sich dabei den kleinen Zeh an, aber ignorierte den Schmerz. Dort stand kein Paar Kinderschuhe auf der Fußmatte.
Noch einmal schaute Liza auf die Uhr und dann realisierte sie in einem Moment der Bitterkeit, dass Philipp tot sein musste.
Welche andere Lösung sollte es für sein Zuspätkommen geben? Er würde niemals einfach so mit anderen Kindern heimgehen, ohne Bescheid zu geben. Außerdem lebten sie noch nicht allzu lange hier, sodass der Junge kaum Freunde hatte.
Vor mehr als einer Stunde hätte er zu Hause sein sollen.
Eine Ewigkeit stand sie unbeweglich auf den kalten Fliesen, starrte und starrte weiter auf die leere Stelle, dort wo Schuhe und Schulranzen hätten stehen sollen. Ihr Körper war zu schwer, um sich zu bewegen. Es ist hoffnungslos, war das Einzige, was sie dachte. Es ist hoffnungslos, er ist tot.
Irgendwann realisierte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte, woraufhin sie alle Kraft dazu aufwendete, sich zu bewegen: Zuerst ließ sie langsam die Finger zucken und war überrascht, wie leicht es ging. Daraufhin rieb sie sich die kalten Ärmel – nur ganz sanft – doch es funktionierte: Liza gewann das Gefühl in ihrem tauben Körper zurück.
Dann begann die wahre Tortur.
Eine Stunde verbrachte sie mit Telefonieren. „Nein, es ist nichts, ich mache mir nur Sorgen, weil er noch nicht zu Hause ist.“ „Kein Problem, nein, nein, es geht mir gut.“ Es war so leicht, zu lügen. Sie fügte sich ohne Probleme in die Rolle der leicht besorgten Mutter, die nichts Böses erwartete.
Am Ende wusste sie immerhin, dass Philipp nicht in der Schule gefehlt hatte. Was immer ihm passiert war, es musste danach geschehen sein. Aber wie zur Hölle konnte ein Kind auf dem Weg von der Schule bis zum Bus – oder vom Bus bis nach Hause? – verschwinden? Die Busse hielten doch direkt an der Schule und hier musste er nur den Hang herauf …
Liza zog sich Jacke und Schuhe an, steckte das Handy ein und verließ das Haus.
Es waren nur wenige Schritte von der roten Haustür bis zur Straße. Ein schmaler Streifen getrimmter Rasen ohne Beete, Blumen oder anderen Schnickschnack säumte den Weg. Der kalte Wind erfasst sie sofort, zog dünne Strähnen aus ihrem Zopf und wirbelte diese herum. Während sie die serpentinenartige Straße hinterging, suchte sie verzweifelt nach Hinweisen, nach irgendeinem Detail, das auf den Verbleib des Jungen deuten würde.
Wenn jemand sie grüßte, nickte sie nur, Abwesenheit in den Augen. Ihre Schritte waren hektisch, obwohl der Schuh schmerzhaft auf den geschundenen Zeh drückte. Sie spürte es kaum.
Viel zu schnell war sie an der Hauptstraße angekommen, wo sie die leere Bushaltestelle fand. Dahinter erstreckten sich die Hügel aus dunklen Tannenwäldern, nur unterbrochen von dem schmalen Bach, der weiter südlich in den großen Fluss mündete.
Liza lehnte sich gegen die raue Wand des Häuschens und fragte sich, was sie geglaubt hatte, hier zu finden. Selbst wenn Philipp hier gewesen war, hatte er wohl kaum eine Spur aus Brotkrummen hinterlassen, wie im Märchen. Außerdem war sie keine Detektivin, sondern nur eine normale Innenarchitektin. Sie schluckte und wählte die einzige Nummer, die zu diesem Zeitpunkt übrig blieb.
Sie hatte damit gerechnet, dass man sie vertrösten würde, dass man ihr sagte, der Junge sei nicht lange genug verschwunden, um nach ihm zu suchen, aber die Beamten nahmen sie tatsächlich von der ersten Sekunde an ernst.
Eine halbe Stunde lang wartete Liza in der Kälte und sie konnte erst aufatmen, als sie Juna aus dem ankommenden Schulbus steigen sah. Sie schloss die verwirrte Elfjährige in die Arme und teilte ihr mit, sie müsse sich beeilen. Auf dem Weg nach Hause, ließ sie die kleine Hand kein einziges Mal los. Erst in Sicherheit, beantwortete sie die vielen Fragen des Mädchens.
Liza ging etwas in die Knie, blickte Juna in die Augen und strich ihr übers Haar, die linke Hand auf ihrer Schulter. Hatten sie nicht schon genug durchgemacht?
„Wir müssen jetzt ganz stark sein.“
Im Kindergesicht sammelten sich Tränen, doch Juna nickte tapfer.
„Dein Bruder ist heute nicht nach Hause gekommen. Ich weiß nicht, wo er ist. Gleich wird die Polizei hier sein. Du weißt doch noch, dass die Polizei immer nett zu dir war, oder?“
Wieder ein Nicken. Jetzt rannen die Tränen schon über das Gesicht. Juna kämpfte sich frei, wischte die Wangen trocken und lief davon.
Liza fand sie im Wohnzimmer, das Gesicht fest in die Sofakissen gepresst. Sie wusste, dass Worte hier nichts helfen konnten, denn das Mädchen war klug genug, um die Tragweite der Situation zu verstehen. Nichtsdestotrotz schob sie sich neben den Körper und streichelte beruhigend den bebenden Rücken. Juna hatte nicht mal die dicke Jacke ausgezogen. Liza wartete und bereitete sich auf die Frage vor, die kommen musste, kommen würde, die sie aber unmöglich ehrlich beantworten konnte.
Der Strom der Tränen war nicht versiegt, sondern in ein erschütterndes Schluchzen übergegangen. Trotzdem schälte Juna sich aus den Kissen, zog die verklebten blonden Strähnen aus ihren Wimpern, legte die wahrscheinlich viel zu warme Jacke ab, um sie kraftlos von sich zu werfen und sah Liza an. Ihre Worte überraschten die Erwachsene zutiefst, denn es war nicht die befürchtete Frage, die über ihre Lippen kam, sondern der Versuch einer Aufmunterung: „Wir werden das schaffen.“
Die Hoffnung, die darin lag, berührte Lizas Herz. Wenigstens eine von uns kann noch an das Gute glauben. In diesem Augenblick war sie so stolz, wie man es auf eine Nicht überhaupt sein kann.
Die Polizei kam und für Liza verschwamm die Zeit. Man redete viel auf sie ein, stellte Fragen und versuchte sie zu beruhigen – als sei sie je panisch gewesen. Im Gegenteil, nach außen hin mimte sie die Ruhe selbst. Juna verhielt sich hervorragend, aber Liza spürte, dass ihr die Unwissenheit zu schaffen machte. Die beiden Kinder fuhren zwar mit demselben Bus zur Schule, aber Juna besuchte schon die nebenan liegende Middle School und bekam nichts von den Aktivitäten Philipps mit. Aber selbst, wenn sie in eine Klasse gingen, wäre das kein Schutz, dachte Liza. Es braucht nur einen falschen Schritt, etwas fehlendes Glück und dann … Ich kann froh sein, sie nicht beide verloren zu haben.
Die Behörden riefen in der Schule und beim Busunternehmen an, fragten nach allen Freunden und Klassenkameraden und wurden zunehmend hektisch. Philipp schien wie vom Erdboden verschluckt, nachdem er das Schulgebäude verlassen hatte.
„Frau Summer können Sie mir noch ein paar Details verraten?“, fragte der Polizist, der schon die ganze Zeit mit einem dicken Notizblock herumrannte. Er hatte kaum noch Haar auf dem Kopf und sein Hemd spannte gefährlich über dem runden Bauch.
Liza wollte schreien. Wie gerne hätte sie all die Leute wieder fortgeschickt! Als ob diese ganzen Fragen ihn retten könnten! „Wie war Philipps Verfassung heute Morgen?“ „Was hat er getragen?“ Blablabla! Es machte sie fertig, dass niemand wirklich aktiv wurde, sich in der Schule umsah oder irgendwas tat, außer zu reden. Ja, sie kooperierte, aber das letzte Fünkchen Hoffnung, das vielleicht kurz in ihr aufgekeimt war, war vergangen. Für sie ging es jetzt nur darum, das Ganze irgendwie aufzuklären. Mit Klarheit – so endgültig sie auch sein mochte – konnte sie umgehen. Unsicherheit war die schlimmste Folter und der Tod entgegen der allgemeinen Meinung so alltäglich. Überall und immer wechselte er sich mit neuem Leben ab, ein endloser Kreislauf. Und der Tod war immerhin gewiss, eines der wenigen Dinge, die alle Menschen vereinte.
Der Polizist musste ihr Schweigen falsch gedeutet haben, denn er legte ihr mitleidig die Hand auf den Arm. Er behandelte sie wie eine typische Mutter, die bei jedem Problem unter Schock geriet, und nicht wie einen normalen Menschen. Emotionslos sah sie ihn an und stand vom Sofa auf. Sie musste weg, weg von dieser Inkompetenz. Wie sollte sie ruhig dasitzen, wenn jede Sekunde zählte? Jemand drückte ihr ein Glas Wasser in die Hand, doch sie verspürte keinen Durst.
Ziellos ging sie durch die Zimmer, da fiel ihre Aufmerksamkeit auf ein Telefongespräch, welches die leitende Beamtin führte: „… deutet darauf hin, dass es derselbe Täter ist. Aha. Ja, Sie können gerne vorbeikommen und mit uns arbeiten.“ Nicht noch mehr nutzlos rumstehende Menschen!
Später sagten sie, Philipp sei der dritte Entführungsfall, der dritte Junge seines Alters, der in der Umgebung verschwunden war.
„Es gibt da eine Einheit des FBIs, ich habe gerade mit ihnen telefoniert und sie können möglicherweise bei diesem Fall helfen.“
Liza ließ sich bloß zu einem müden Nicken herab.
„Wollen Sie denn nicht jede Möglichkeit ausschöpfen, um Philipp wiederzufinden?“, kommentierte die Polizistin ihre mangelnde Reaktion. Oh, ich sage besser nicht, was ich wirklich will!
„Sie wissen sicherlich was das Beste ist“, meinte Liza, ohne daran zu glauben. „Mein Einverständnis haben Sie, dieses Team herzuholen.“
„Gut, denn sie sind bereits unterwegs.“
Part 2
Ein Klingeln schreckte sie auf. Laut fiel das Buch zu Boden und zerriss die Ruhe des Wohnzimmers, in dem das einzige Geräusch der dumpf herein dringende Fernseher der Nachbarn war. Lizas Versuch sich aufs Lesen zu konzentrieren, war ohnehin gescheitert. Wiederholt waren ihre Gedanken abgeschweift und hatten sie auf die erdbraune Tapete starren lassen.
Schnell schlüpfte sie in die Hausschuhe und hastete zur Tür, um ein weiteres Klingeln zu verhindern, da Juna bereits im Bett war. Ob das Mädchen allerdings wirklich schlief, konnte Liza nur spekulieren. Die ganze Zeit hatte sie damit gerechnet, die leise schlurfenden Schritte auf dem Treppenabsatz zu hören und ihr einen Kakao als Einschlafhilfe machen zu müssen, doch bisher war es ruhig geblieben.
Zumindest bis diese verdammten Leute da draußen kein Problem darin gesehen hatten, nach 22 Uhr kräftig die Klingel zu betätigen.
Sie bereute es schon jetzt, sich mit der Zusammenarbeit einverstanden erklärt zu haben und öffnete etwas zu schwungvoll die Tür.
Drei Gestalten kamen dahinter zum Vorschein. Die kleinste vorne war ein älterer Mann mit erkennbar europäischen Wurzeln, der ihr seine Polizeimarke entgegenhielt.
„Guten Abend Frau Summer. Ich bin Agent Rossi. Und das sind meine Kollegen Agent Prentiss und Morgan.“ Zuerst deutete er auf eine dunkelhaarige Frau, die tief in ihren schwarzen Mantel eingetaucht war und dennoch eine elegante Figur machte; danach auf einen muskulösen Kerl, der mehr wie ein Bodybuilder aussah, als jemand, der für den Staat arbeitete. „Ich hoffe es ist in Ordnung, wenn wir Sie zu dieser späten Stunden stören.“
Er schob sich an ihr vorbei ins Warme, als hätte er gewusst, dass sie kein Auge zubekommen konnte und klopfte sich die gepflegten Lederschuhe gründlich ab.
Lizas Augen verengten sich als die beiden anderen ihm mit ihren aufgesetzt lächelnden Mündern folgten. Vorsichtig beobachtete sie die Szene: Die Fremden nahmen jedes Detail auf, das sich nicht wehren konnte und liefen mit forschenden Schritten tiefer in den Raum hinein. Doch auch Liza war eine gute Beobachterin. Sie konnte erkennen, dass sie alle Anzeichen von Erschöpfung mit sich trugen. Vor allem der Teamälteste konnte die tiefen Augenringe im grellen Flurlicht nicht verbergen. Nachdem er einen kleinen Kreis gegangen war, kam er bedächtig auf sie zu, die Hände hatte er dabei locker in den Hosentaschen.
Sie machte keinerlei Anstalten, den Agents ihre Jacken abzunehmen oder sie weiter hereinzubitten, doch ließ sie die Gefühle der Abneigung nicht durchschimmern. Nach außen hin zeigte sie nichts außer unberührte Leere.
„Können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?“
Sie nickte steif und wies auf den Durchgang zum Wohnzimmer.
Der Muskelmann lehnte bereits lässig im Türrahmen. Liza lief an ihm vorbei, warf einen kurzen Blick auf dessen engen Strickpullover und fragte sich augenblicklich, ob er keine Kleidung seiner Größe besaß. Außerdem roch er etwas zu stark nach Aftershave. Typischer Womanizer, dachte sie.
Als Agent Rossi das Zimmer betrat, schien er sie für einen Moment zu vergessen. Zuvor hatte er sie wie eine skeptische Katze aus dem Augenwinkel beobachtet, doch jetzt drehte sich sein Kopf zu den großflächigen Fotoprints. So ging es den meisten Leuten, die ihre Fotografien das erste Mal zu Gesicht bekamen. Einst hatte Liza diese Bilder geliebt. Heute stellten sie Denkmale an eine andere Zeit dar, an die Person, welche sie mal gewesen war. Sie brachte es nicht übers Herz sie abzuhängen, ja wo sollte sie die riesigen Bilder überhaupt aufbewahren? Aber dieser Mensch, der unbeschwert die Welt bereiste, existierte schon länger nicht mehr.
Sie wartete darauf, dass die Fremden etwas sagen würden und schaute sich nach der Frau um, die als einzige bisher nicht im Raum war.
„Wollen Sie sich nicht setzen?“
Liza sah verwirrt zu der Stimme. Hatte er sie gerade in ihrem eigenen Wohnzimmer zum Sitzen aufgefordert? Die geraden Zähne Agent Morgans schimmerten ihr entgegen. Als wolle er die Situation auflockern, zuckte er kaum sichtbar mit den Schultern und ließ sich mitten in den Sessel fallen.
Unsicher setzte sie sich auf die hinterste Sofakante und beobachtete Agent Rossis sanfte Bewegungen.
„Sie sind viel gereist.“ Es war eine Feststellung keine Frage.
Liza nickte nicht. Was sollte dieser Zirkus? Sie hatte herzlich wenig Lust auf irgendwelche Spielchen.
„Wissen Sie, es ist spät und ich verstehe immer noch nicht, warum genau sie hier sind.“ Sie hatte zu Rossi gesprochen, stattdessen antwortete Muskelmann vom Sessel aus:
„Frau Summer. Die Polizei hat uns wegen Ihres Sohnes benachrichtigt …“
„Er ist nicht mein Sohn“, unterbrach sie ihn.
Der Agent zog verwundert eine der ausdrucksstarken Augenbrauen hoch. Eine kurze Pause entstand.
„Aber sie kümmern sich um ihn, wie um ihr eigenes Kind. Sie lieben ihn, weil seine Mutter ihn nicht mehr lieben kann. Sie ist verstorben“, stellte Agent Rossi so nebenbei fest als spräche er über das Wetter.
„Woher…?“ Liza blickte verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her.
„Der Raum erzählt es ihm“, erklärte Morgan augenzwinkernd. „Es gibt keine Fotos von Ihnen und den Kindern. Im Gegenteil, auf dem einzigem Familienfoto ist eine andere Frau, der Ähnlichkeit nach zu urteilen Ihre Schwester. Dennoch liegen überall Kindersachen: Bunte Kissen, Bücher, dort die Kisten mit Bausteinen und die Stofftiere. Sie verbergen nicht, dass Kinder hier leben und teilen gerne den Wohnraum mit ihnen.“
Liza senke den Blick. Wer waren diese Leute?
„Das ist unser Job, wir arbeiten damit, das Verhalten von Menschen lesen zu können.“ Wieder schenkte der Agent ihr von der Seite ein strahlendes Lächeln, doch Liza hatte nur zwei Worte im Kopf: Arroganter Angeber!
Es hätte ihr nicht egaler sein können. Dann waren diese Agents halt gut im Beobachten und Schlüsse ziehen! Wie sollte das ihr jetzt helfen, Philipp zu finden?
„Und wofür genau sind Sie jetzt hier? Ich habe meinen Neffen nicht verschleppt, so viel kann ich Ihnen sagen.“
Die Männer tauschten vielsagende Blicke, woraufhin der Teamleiter sich mit der Entschuldigung nach Prentiss zu suchen, zurückzog. Liza und Agent Morgan blieben allein.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Frau Summer. Wir gehen nicht davon aus, dass Sie in das Verschwinden involviert sind.“ Das ist ja wohl das Mindeste!
„Welcher kranke Mensch würde schon sein eigenes Kind entführten?“ Die Frage rutschte ihr lauter als beabsichtigt heraus.
Durchdringend blickten die braunen Augen in ihre. „Sagen Sie es mir.“
Ihre Stirn legte sich in Falten. Was zur Hölle meint er damit?
„Hören Sie ich habe wirklich keine Lust auf irgendwelche Andeutungen. Stellen Sie die Frage geradeheraus oder gar nicht.“ Sie wollte bestimmt klingen, aber der Tonfall offenbarte nur ihre tiefe Müdigkeit.
Agent Morgan lehnte sich ihr vielsagend entgegen.
„Der Vater, Robert Harkness. Er hat kein Alibi für die Entführungen. Er hat das Sorgerecht verloren und war schon mehrfach wegen Alkoholmissbrauchs im Krankenhaus. Würde jemand, der alles verloren hat, nicht Undenkbares tun, um seine Familie wiederzuerlangen?“
„Wenn Sie den Fall schon gelöst haben. Wozu brauchen Sie mich dann?“ Mit verschränkten Armen ließ sie sich zurückfallen.
Da war es wieder, erneut zogen die Augenbrauen des Agents sich skeptisch zusammen.
„Die Idee, dass Herr Harkness den eigenen Sohn entführen würde, schockiert sie gar nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, wozu Menschen fähig sind.“ In ihren Augen lag nichts als Kälte.
„Philipp ist nicht das erste Opfer. Es gab bereits zwei Jungen vor ihm, von unterschiedlichen Schulen, doch beide wurden keine drei Tage nach dem Verschwinden tot aufgefunden. Ihr Neffe schwebt in Lebensgefahr. Ich habe sein Foto gesehen, er passt genau in das Muster des Täters.“
Die Worte sollten sie treffen, sie aus ihrem Kokon locken und eine emotionale Reaktion herbeiführen, aber Liza fühlte sich bloß bestätigt. Sie hatte es von Anfang an gewusst. Es ging hier nicht um eine „normale“ Entführung. Der Tod weilte schon so lange in ihrem Leben, schlich um sie herum und stahl eine geliebte Person nach der anderen, da schien es nur natürlich, dass er auch vor den Kindern nicht Halt machte.
Ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatte der Agent sich näher gesetzt. Wieder konnte sie ihn riechen, doch diesmal fühlte sie sich davon nicht länger belästigt.
Bevor sie antworten konnte, hörte sie Junas Stimme aus dem Flur.
Die Mädchenhand war fest um die Gitterstäbe des Treppengeländers geklammert. Verunsichert blickte sie der fremden Frau entgegen, die am unteren Treppenabsatz stand.
„Hallo, du musst Juna sein. Ich habe schon viel von dir gehört. Mein Name ist Emily.“ Agent Prentiss ging freundlich lächelnd in die Knie, doch Juna machte keinerlei Anstalten, näherzukommen.
Liza schob sich an der Frau vorbei. „Hattest du wieder einen Alptraum?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme, obwohl sie die Antwort schon kannte. Seit ... das alles passiert war, gab es keine Nacht, in der das Mädchen nicht mindestens einmal angsterfüllt zu ihr kam. Manchmal wachte Liza sogar von ihren Schreien auf. Nichts auf der Welt hätte sie darauf vorbereiten können, ihrer Nichte wieder und wieder die nassen Wangen trockenzuwischen.
Ohne auf die Agents zu achten, nahm sie das Mädchen fest in den Arm und versprach ihr sofort einen Kakao.
Gähnend goss Liza die Milch in den kleinen Topf. Sie konnte hören, wie Agent Prentiss leise zu Juna sprach, die sich auf die unterste Treppenstufe gesetzt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass man vernünftig mit dem verschüchterten Mädchen umging. Immer wenn sich die Möglichkeit ergabt, warf sie einen prüfenden Blick über die Schulter durch die geöffnete Tür. Juna schien ungewöhnlich schnell aufzutauen. Gerade hielt sie der Beamtin stolz ihr Kätzchen-Stofftier hin. Ihre Liebe zu diesem platt gelegenen Ding war unglaublich niedlich. Liza lächelte und schüttelte das Pulver in die warme Flüssigkeit.
„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Grübchen haben.“
Agent Morgan hatte sich angeschlichen und stand nun schmunzelnd neben ihr. Augenblicklich fror Lizas Mimik ein.
Entschuldigend hob er die Hände. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie sehen nur viel netter aus, wenn sie lächeln – weniger ernst.“
Das war ja wohl die Höhe! Philipp war verschwunden und dieser … dieser Kerl hatte nichts besseres zu tun, als sie über ihr Auftreten zu belehren! Wütend rührte Liza die Flüssigkeit, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Nach wenigen Augenblicken beruhigte sie sich aber. Wieso regte sie sich eigentlich auf? War es nicht völlig egal, was dieser eingebildete Agent von ihr dachte? Sie wusste doch, wie diese Welt funktionierte. Manche Leute – und dazu zählte sie diesen Typen – wurden mit Glück überschüttet, ohne viel dafür tun zu müssen und manche … manche kämpften und kämpften, um jeden Tage, jede Stunde der Normalität und trotzdem wurde alles bloß schwerer.
Sie nahm den fertigen Kakao vom Herd und verteilte ihn auf zwei Tassen. Doch als sie eine davon Juna bringen wollte, hielt der Agent sie auf.
„Es wäre wichtig, dass Sie mir noch eine Frage beantworten.“ Das war keine Option, das war ein Befehl.
Resigniert stellte sie eine Tasse auf die Durchreiche und wärmte sich an der zweiten, ohne daraus zu trinken, die Hände. Herausfordernd sah sie ihm nun direkt in die Augen. Kurz glaube sie, etwas darin zu erkennen, einen Hauch Unsicherheit vielleicht? Kaum merklich schüttelte er jedoch den Kopf und was immer dagewesen war verschwand.
„Frau Summer, wenn ich so offen sein darf, was ist mit ihnen passiert? Verstehen Sie mich nicht falsch, jeder reagiert in einer solchen Situation anders, aber die meisten Menschen verhalten sich ängstlich oder besorgt, Sie hingegen wirken so abgeklärt.“
Liza legte den Kopf schief. „Seltsam“, sagte sie und nahm dann doch einen Schluck Kakao. „Ich dachte Sie hätten Ihre Hausaufgaben gemacht.“ Dann griff sie nach der zweiten Tasse und schob ihn zur Seite.
„Es tut mir leid, dass ich nicht besonders hilfreich war, aber ich bin jetzt wirklich müde und auch Juna braucht ihren Schlaf.“
Zu ihrer Überraschung stimmte Agent Rossi ihr zu: „Sie haben Recht, wir haben Sie schon zu lange aufgehalten.“ Er schüttelte ihre Hand. „Wir halten Sie auf dem Laufenden, machen Sie sich keine Sorgen.“
Keine zwei Minuten später war die Haustür hinter den drei Ermittlern ins Schloss gefallen und Liza atmete auf.
Part 3
Das Scheinwerferlicht des vorbeifahrenden Autos erhellte kurz das Schlafzimmer und ließ die Schatten darin tanzen. Es hatten zu regnen angefangen, ein stetiger aber leiser Regen, der die restlichen Nachteulen in den Schlaf zu wiegen vermochte. Liza Summer allerdings lag seit geraumer Zeit mit klopfendem Herzen unter der dicken Winterdecke und starrte in die Schwärze. Sie war so müde, so unendlich müde, dass sich ihre schweren Glieder kaum bewegen wollten, doch sie freundete sich zunehmend mit dem Gedanken an, aufzustehen. Außerdem musste sie zur Toilette.
Seufzend schwang sie sich aus dem Bett und trottete ins Badezimmer. Wenn sie doch nur etwas tun könnte! Irgendetwas Besseres, als hier nutzlos herumzuliegen und zu warten.
Erst da sie vor ihrem Kleiderschrank stand, realisierte sie, dass sie den Entschluss längst gefasst hatte. Sie legte sich den dicken grauen Strickschal um, schlüpfte in die gefütterte Jacke und tauschte die Pyjamahose gegen eine dunkle Stoffhose aus. Vorsichtig schlich sie anschließend die Treppenstufen hinunter.
Draußen schlug ihr eiskalte Luft entgegen. Sie zog die Kapuze tiefer über die Stirn und eilte zum Auto, aber die Kälte kroch ihr trotzdem in die Knochen. Hinter dem Steuer sitzend zögerte sie. „Will ich das wirklich machen?“ Niemand antwortete und so verhallten die geflüsterten Worte in der Dunkelheit.
Liza rieb die Hände aneinander bevor sie nach dem kühlen Lenkrad griff und den Schlüssel herumdrehte. Augenblicklich drang ihr Gesang aus dem Radio entgegen, welches sie sofort ausschaltete. Sie würde jetzt alle Konzentration brauchen. Kurz sah sie zu Junas Zimmerfenster hinauf, dann parkte sie aus und fuhr durch die leeren Straßen.
Roberts Haus war am Rande der Stadt westlich hinter dem Hafen. Es mochte eines Tages schön gewesen sein, aber jetzt war die rote Farbe so weit abgeblättert, dass man sie kaum mehr sehen konnte, dem Dach fehlten Ziegel und der Garten bestand nur aus wilden Efeu, das keiner anderen Pflanze Platz machte und bereits ein Fenster unter sich begraben hatte.
Sie kam nicht mehr gerne her. Zu viele Erinnerungen an Grillabende und erbitterte Tischtennisspiele waren mit diesem Ort verbunden.
Der Motor erstarb und sie fand sich umgeben von nächtlicher Stille, die nur durch das Geräusch ihres eigenen aufgeregten Atmens unterbrochen wurde. Entschlossen stieg sie aus, die Tür fiel leise zu und sie überquerte schräg die Straße. In keinem der Fenster brannte noch Licht.
Schnell lief sie über die drei flachen Stufen, wolle gerade nach der Klingel greifen, da nahm sie ein Geräusch hinter sich wahr. Jemand räusperte sich.
Liza sah vorsichtig über die Schulter, bereit sich jeden Moment zu verteidigen. Konnte ihr jemand gefolgt sein? Oder hatte sie sich verhört und es war doch nur ein Tier, das sich aus dem Wald gewagt hatte?
Nein. Jetzt war sie sicher. Da kamen definitiv Schritte auf sie zu. Ängstlich suchte sie nach etwas, das sie zur Verteidigung nutzen könnte. Doch als sie sich herunterbeugte, um nach einem großen Kieselstein zu greifen, kam Agent Morgan mit erhobenen Händen in den Lichtschein getreten.
„Was tun Sie hier?“ entfuhr es beiden gleichzeitig.
Ein plötzlich freundliches Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Agents.
„Frau Summer. Ich bin zugegeben etwas überrascht, ausgerechnet Sie zu sehen.“ Er zog die linke Augenbraue skeptisch in die Höhe. „Was genau suchen Sie hier um diese Uhrzeit?“
Sie verschränkte die Arme. Ich muss Ihnen gar nichts sagen! Innerlich verfluchte sie sich. Sie hätte damit rechnen müssen, dass jemand ein Auge auf Robert hatte!
Moment. Wurde sie jetzt verdächtigt?
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, die Lippen fest zusammengepresst. Der Wind kündigte neuen Regen an. Wieso konnte nicht irgendein Streifenpolizist auf das Haus aufpassen? Wieso musste es Mister Schönling sein?
„Ich bin hier, um mit Robert zu reden. Und ich mache es direkt und warte nicht wie eine Katze vor dem Mäuseloch bis sich von selbst etwas tut.“ Warum ließ sie sich jetzt doch zu einer Erklärung herab?
„Sie glauben also, dass er etwas mit dem Verschwinden zu tun haben könnte.“
Emotionslos wendete sie sich ab, ging wieder zur Tür. Ihre Lust Robert aus dem Schlaf zu klingeln, war gerade noch etwas größer geworden.
„Es wäre besser, wenn Sie das nicht täten.“ Der Agent hatte nach ihrem Arm gegriffen. „Es ist keine gute Idee, ihn jetzt zu provozieren.“
Liza schüttelte den Griff leicht ab, aber selbst ihr abfälligster Blick reichte nicht, den Mann wieder auf Abstand zu bringen.
Sollte sie etwa jetzt aufgeben und ohne Antworten einfach zurückfahren?
„Vertrauen Sie uns und den Ermittlungen, Sie müssen doch müde sein. Gönnen Sie sich etwas Ruhe“, schlug er vor.
Kurz war da brennende Wut, ein starkes, aber vergessenes Gefühl. Wie konnte sich dieser Typ nur so erhaben fühlen? Wie konnte er auch nur für eine Sekunde denken, ihr wäre es tatsächlich möglich, zu schlafen? Doch dann verpuffte der Zorn, so schnell wie er gekommen war und hinterließ die bekannte gleichgültige Leere.
„Er wird sowieso tot sein. Wozu der ganze Aufwand?“
Jetzt machte der Agent tatsächlich einen Schritt zurück.
„Frau Summer, ich verspreche Ihnen, wir werden unserer Bestes tun, dass...“
„Blablabla!“, unterbrach sie ihn. „Sie sagten es doch selbst: Die anderen Kinder haben keine drei Tage überlebt. Wieso sollte es jetzt anders sein? Und selbst wenn Robert der Täter ist, warum nimmt er Philipp erst jetzt? Was ist die Verbindung zu den anderen Kindern? Sie wissen doch selbst, dass das alles keinen Sinn macht und doch sind Sie hier, verschwenden Zeit und Ressourcen.“ Robert mochte ein Trinker sein, aber einer dieser traurigen melancholischen Trinker, die nie aggressiv werden, sondern nur weinen und dann für Tage nicht mehr aus dem Bett kommen. Dennoch wollte Liza ihn unbedingt sehen, nur um sicherzugehen ...
Das letzte Mal, das sie miteinander geredet hatten, war nach dem Sorgerechtsentscheid gewesen. Ihren ehemals guten Freund so am Boden zerstört zu sehen, hätte Liza das Herz gebrochen, wäre es nicht schon zuvor gewaltsam aus ihrer Brust gerissen worden. Sie wusste, dass er sie dafür hasste. Dafür, dass sie funktionierte, dafür dass sie die Kinder bekommen hatte, aber der Selbsthass war stärker. Also trank er und trank, bis er seinen Job verlor und ihm nichts außer dem leeren Haus geblieben war.
Es war ihm nur in ihrem Beisein erlaubt, die Kinder zu sehen, aber er war zu keinem der Treffen erschienen. Sie konnte das alles verstehen, konnte seinen Schmerz auch heute in jeder Faser ihres Körpers spüren – schließlich hatte auch sie auf einen Schlag ihr früheres Leben verloren – aber sie machte weiter. Für diese beiden Kinder würde sie sich jedes Mal wieder zusammenflicken.
„Wir müssen jeder Spur nachgehen.“ Liza hätte die Antwort vorhersagen können. Waren denn alle Polizisten und anderweitige Verbrechensbekämpfer gleich?
„Wenn Sie meinen, dass dafür genug Zeit ist.“ Ihre Stimme war reines Gift.
„Langsam reicht es mir, Lady.“ Die Wut strömte aus ihm heraus, bevor er sie unter Kontrolle bekommen konnte. „Ich weiß, dass Sie Schlimmes durchgemacht haben. Aber wir geben ALLES, um Ihren Neffen zu finden. Unserer ganzen Team, arbeitet Tag und Nacht dafür, dass Sie ihn wieder in die Arme schließen können. Es ist mir egal, ob Sie an uns glauben oder uns auch nur vertrauen, aber machen Sie es uns bitte nicht schwerer!“ Sie konnte seinem Gesicht ablesen, dass er den Ausbruch sofort bereute. Unsicher warf er einen Blick zur Tür, horchte ob er gehört worden war und verschränkte anschließend die Arme.
Liza aber lächelte.
Kopfschüttelnd schob sie sich an ihm vorbei. Am Bordstein drehte sie sich zu dem verdutzten Mann um, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Nein, sie würde es nicht sagen.
Das Haus war still und kühl. Sie drehte sich auf die andere Seite, doch ihr linker Arm kribbelte entsetzlich. Ächzend setzte sie sich auf und schüttelte das träge das Handgelenk. Keine zwei Stunden hatte sie geschlafen. Die kleine Kugellampe tauchte das Wohnzimmer in ein dämmriges Licht.
Dann fiel ihr Blick auf den Zettel auf dem Teppichboden. Er war schon etwas zerknittert und das Papier dünn geworden. Sie musste damit in der Hand eingeschlafen sein. Wie automatisch griffen ihre Finger danach, strichen ihn glatt und wieder starrte sie auf die schräge Schrift: Nur für den Fall
Darunter stand eine Telefonnummer, Agent Morgans Telefonnummer.
Sie konnte es nicht verstehen. Wieso war er so nett zu ihr? Wann hatte er diesen Zettel hier platziert? Sie hatte die Nummer ausprobiert. Nachdem sie nach Hause gekommen war und das Papierchen auf dem Sofa gefunden hatte, als hätte es dort gewartet, hatte sie sofort zum Telefon gegriffen. Aber sobald seine Stimme ihr aus dem Hörer entgegen gedrungen war, hatte sie aufgelegt.
Möglicherweise war sie unfair zu ihm gewesen. Sie hatte ihn als arrogant und besserwisserisch eingeschätzt, als einen Mann, der sich durch seine Arbeit profiliert. Aber wie er sie zurechtgewiesen hatte, war so herrlich imperfekt gewesen – so unkontrolliert, menschlich und … ehrlich. Er war dabei nicht mal beleidigend geworden.
War es also tatsächlich möglich? Gab es da draußen Hoffnung? Lange hatte sie es nicht mehr gewagt auch nur an das Wort zu denken. Es schmeckte fremd und bitter auf ihrer Zunge als sie es leise aussprach.
Plötzlich brannten Tränen in ihren Augen, die Sicht verschwamm und sie musste schluchzen.
Hoffnung.
Sie schluckte, wischte sich wieder und wieder über das Gesicht und tippte dann die Nummer in ihr Handy. Es dauerte bis sich jemand am anderen Ende meldete. Liza hatte schon damit gerechnet, dass eine Computerstimme ihr die Mailbox ankündigen würde und zuckte daher beim Klang von Agent Morgans verschlafener Stimme leicht zusammen. Sie war plötzlich wie versteinert und brachte kein Wort heraus, während die Tränen begannen, ihr unkontrolliert über das Gesicht zu laufen.
Das zweite nachfragende „Hallo?“ riss sie aus der Starre.
Ohne sich vorzustellen, sprudelten Worte aus ihr heraus. Zuerst stotternd und wirr, dann lauter, klarer. Mehrfach entschuldigte sie sich für ihr Verhalten, sprach über die so tief sitzende Angst, noch einmal jemanden zu verlieren, der ihr lieb und teuer war, und zuletzt übernahmen die Tränen vollständig die Kontrolle, sodass sie eine Weile nur schluchzte. Morgan sagte wenig. Er ließ sie gewähren, munterte sie mit einem kurzen Kommentar auf, wo es möglich war und lauschte ansonsten der Geschichte einer Gebrochenen. Am Ende sagte er bloß: „Ich komme.“
Liza konnte die Zeit nicht einschätzen, seit er aufgelegt hatte. Die Tränen waren versiegt, aber sie saß weiterhin zusammengekauert auf der Sofaecke, das Handy in der schwitzenden Hand. Ihr Kopf pochte, wie nach einer durchzechten Nacht. Sie war eine Fremde im eigenen Körper, sah sich selbst von außen und konnte doch nichts an diesem bedauernswerten Zustand ändern. Es tat so weh.
Damals hatte sie nicht weinen können.
Damals als der Mann nicht nur ihre Schwestern, sondern auch Carl – ihre große Liebe – ermordet hatte. Seitdem war alles verdreht und falsch. Sie redete sich wiederholt ein, dass sie immerhin nicht hatten leiden müssen. Zwei glatte Kopfschüsse.
Der Täter wurde nie gefasst. Er brach ein in das Haus, das Carl von seiner Mutter geerbt hatte, und schoss die beiden nieder. Sie hatten nicht die Chance, sich zu wehren. Als die Polizei eintraf, war es bereits zu spät. Der Familienschmuck und die Portemonnaies waren geraubt und alles, was Liza Halt gegeben hatte, war fort.
„Wir waren verabredet, doch ich musste länger arbeiten und sie ist schon mal vorgefahren, um mit Carl das Essen vorzubereiten“, schilderte Liza kurze Zeit später dem Agent. Es machte ihr nichts aus, dass er dicht neben ihr saß und den Arm um sie gelegt hatte. Sie fürchtete sogar, dass sie ohne diesen Halt auf der Stelle in tausend Teile zerbrochen wäre.
Es gab nichts mehr zu sagen. Der Agent wusste jetzt alles. Er wusste, warum sie den Behörden nicht traute und wieso sie nie gewagt hatte, zu hoffen. Im Gegenzug erzählte er von vergangen Fällen und wie weit sie in den aktuellen Ermittlungen waren. Nur einen Bruchteil davon hörte sie wirklich. Es spielte nur eine Rolle, dass dort etwas war, dass gegen die Leere und die Stille half – dass jemand da war.
Part 4
Verwirrt wachte Liza auf, weil etwas an ihrem Arm rüttelte. Im ersten Augenblick war sie verwundert, nicht Agent Morgan sondern Juna zu erblicken.
„Warum schläfst du denn auf dem Sofa?“, fragte das Mädchen und wippte ungeduldig auf den Zehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, platze es aus ihr heraus: „Ich hab Frühstück gemacht!“
Auf dem Kaffeetisch standen drei Teller und daneben lag je eine fein säuberlich gefaltete Serviette. Schmunzelnd gab Liza Juna einen Kuss auf die Stirn und nahm sich eines der zwei dicken Erdnussbuttersandwichs. Sie biss einmal ab, was Juna strahlende Freude aufs Gesicht zauberte, entschuldigte sich aber kurz ins Bad. Auf dem Weg dorthin musste sie sich nach Morgan umsehen, aber nichts deutete mehr auf dessen Besuch. Sie wusste nicht warum, doch der Gedanke schmerzte, dass er verschwunden war, ohne sich zu verabschieden. War er wirklich da gewesen? Die letzte Nacht fühlte sich wie ein verschwommener Traum an.
„Möchtest du deine Erdnussbutter denn gar nicht ?“ Juna hatte sich mit einem Spielzeugauto auf den Sessel verzogen und würdigte ihr Sandwich keines Blickes.
„Ich hab meins doch schon gegessen! Das letzte ist für Philipp, damit er auch was hat, wenn er zurückkommt.“
Liza schluckte und unterdrückte die Tränen mit aller Kraft. Oh, noch einmal die Welt aus den Augen eines Kindes sehen!
Der graue Himmel verdunkelte sich zunehmend und kündigte schlechtes Wetter an. Obwohl sie viel mit Juna spielte, fühlte sich verdammt allein, so einsam wie lange nicht. Es war so banal, was sie tat, wie sie hier aufräumte und versuchte irgendetwas zu machen, nur um sich von der schrecklichen Tatsache abzulenken, dass Philipp die Zeit davon lief. Sie wagte es kaum, sich auszumalen, was für Ängste er diese Nacht durchstanden haben musste. Möglicherweise war er gefesselt, hatte Durst und Hunger oder durchlitt viel Schlimmeres.
Die Tür zu Philipps Zimmer war immer noch angelehnt, so wie er sie hinterlassen hatte. Sanft stieß Liza sie auf und blieb auf der Schwelle stehen. Sie hatte es vermieden, den Raum zu betreten, denn er sprach so deutlich von seinem Verschwinden, dass es schmerzte. Das kurze Bett musste er am Morgen selbst gemacht haben, Decke und Kissen waren glatt gestrichen und nur der lila Elefant lag vergessen am Fußende. Mit klopfendem Herzen trat sie über die Schwelle, atmete die schon abgestandene Heizungsluft ein und setzte sich auf die Bettkante. Sie griff nach dem Stofftier ohne zu bemerken, dass ihre Finger angefangen hatten zu zittern. Heiße Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie ließ sich in die Kissen zurückfallen, den Elefanten in fester Umklammerung.
Einen Moment ließ sie die Tränen zu, doch schnell besann sie sich wieder. Was war das? Von hier konnte sie dort am Schreibtisch etwas Buntes sehen. Allerdings war ihr Blick zu verschwommen, um es genau erkennen zu können. Liza richtete sich auf und näherte sich der Schublade. Was dort herausschaute, war die Verpackung eines Müsliriegels. Stirnrunzelnd schob sie die Schublade auf und etliche weitere zerknüllte Plastikverpackungen quollen ihr entgegen.
Sie hatte diese Süßigkeiten nicht gekauft.
Ein ungutes Gefühl in ihrem Inneren sagte ihr, dass das etwas zu bedeuten hatte.
Es klingelte und klingelte, aber wieder ging nur die Mailbox dran. Sie hatte bereits zwei Nachrichten hinterlassen, zögerte kurz, ob sie es ein weiteres Mal machen sollte und legte vor dem Piepton auf. Draußen regnete es jetzt in Strömen und die Tropfen prasselten laut gegen das Fenster, vor dem sie stand.
Was passierte gerade bei den Ermittlern, dass sich Morgan seit Stunden nicht meldete? Zu ihrer Sorge um Philipp schlich sich eine vorsichtige Sorge um den Agent hinzu. Es konnte so schnell gehen, ein falscher Schritt, eine Sekunde unaufmerksam und schon war man vom Bus überfahren oder hatte eine Kugel im Kopf. Und wer sollte dann ihren Neffen finden? Dann war wirklich alle Hoffnung verloren. Ach, wie hatte es überhaupt soweit kommen können? War sie nicht ohne die Hoffnung besser dran gewesen? Jetzt war da so viel Verletzlichkeit, welche nicht mehr verschwinden wollte. So viel Schmerz, der ihr bei jedem Atemzug, bei jeder Bewegung, das Herz weiter zerriss.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Sie hatte kein Auto vorfahren gehört und dachte erst, es sich eingebildet zu haben, doch bevor sie den Flur erreicht hatte, klopfte es mehrfach.
Sie öffnete einem völlig durchnässten Agent Morgan, der diesmal kein Lächeln auf den Lippen hatte. Er schob sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Trockene, wo er etwas verloren stehenblieb. Liza blickte den tropfenden Mann an und musste ein Kopfschütteln unterdrücken. Das kommt davon, wenn man Kleidung nicht nach praktischem Nutzen, sondern nach Aussehen wählt. Dennoch eilte sie, ihm ein Handtuch zu holen. Als sie wieder in den Flur kam, guckte eine neugierige Juna aus dem Wohnzimmer dem Agent dabei zu, wie er sich der schweren Jacke und den Schuhen entledigte. Zum Glück schienen seine Socken trocken geblieben zu sein, aber die Hose und der gesamte Kragen machten den Eindruck als sei er damit unter der Dusche gewesen.
„Juna, geh weiter Fernsehen.“ Sie hatte nicht so bestimmt klingen wollen und es tat ihr sofort leid. Das Mädchen zog ohne deutliche Gefühlsregung ab, doch Liza war sicher, dass sie versuchen würde, zu lauschen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie vorsichtig. Wieso ist er hergekommen? Hat er meine Nachrichten gehört? Sie war nervös. Auch wenn ein Teil von ihr froh war, ihn zu sehen, machte dieser unangekündigte Besuch sie unruhig. Das konnte nichts Gutes bedeuten. War es geschehen? Hatten sie ihn … gefunden?
„Frau Summer, ich hatte gehofft, Sie haben einen Moment Zeit.“ Er nahm das Handtuch und rieb sich so gut es ging damit ab. „Vielen Dank.“ Da war wieder das strahlende Lächeln. Wie viele Frauen dem wohl schon verfallen waren?
Sie setzten sich in die Küche. Sanft drang die Geräuschkulisse eines Cartoons aus dem Wohnzimmer zu ihnen herüber. Liza stellte das Radio an, in der Hoffnung es Junas Ohren schwieriger zu machen, und wartete darauf, dass er es endlich aussprach, die Worte, die ihre Qualen beenden würden.
„Frau Summer.“ Er griff ihre Hände über dem Küchentisch und nahm sie in seine. Normalerweise wäre sie zurückgezuckt, aber die warme Berührung entspannte sie.
„Es gibt Neuigkeiten.“ Die langsame Annäherung also. Es mochte vielleicht für die meisten einfacherer sein, doch sie hasste es. Nun rück' schon damit raus! Ich will Klarheit!
„Das Team hat heute morgen ...“ Nein! Bitte nicht! „... Herr Harkness gefunden. Er muss sich in der Nacht das Leben genommen haben.“
Liza verstand nicht. Herr Harkness? Robert? Es geht hier nicht um Philipp?
Sie sacke im Stuhl zusammen und ihre Hände glitten aus Morgans.
„Er muss schon tot gewesen sein, als wir vor seinem Haus waren. Er ...“ Zuhören konnte sie nicht mehr. Der Mund ihres Gegenübers bewegte sich zwar und sie nickte, aber kein Wort kam bei ihr an. Robert war tot. So viel Schmerz. Und sie hatte an ihm gezweifelt. Wieso eigentlich?
Oh, sie wusste warum! Das Team war es. Sie hatten Robert verdächtigt, sodass sie es auch geglaubt hatte – zumindest ein Teil von ihr hatte entgegen aller Logik, all ihrer Erfahrungen mit diesem Menschen, gezweifelt.
„Gehen Sie bitte.“
Morgan sah sie verwirrt an, nicht wegen der Unterbrechung, sondern wegen des bösartigen Tons.
„Es tut mir leid. Ich weiß, dass Herr Harkness ein Freund war.“
„Ich sagte: Gehen Sie.“ Diesmal war sie lauter. Juna blickte herüber.
Agent Morgan stand vorsichtig auf und machte rückwärts ein paar Schritte Richtung Flur. So viel Mitleid lag in seinem Blick, es war kaum zu ertragen.
„Bitte, Frau Summer, schließen Sie uns nicht wieder aus. Wir müssen Philipp immer noch finden.“
„Sie sind Schuld. Ihre Verdächtigungen haben ihn in den Selbstmord getrieben.“ Am liebsten hätte sie auf den Boden gespuckt.
„Nein. Er war schon länger suizidär. Wir haben ihn nie unter Druck gesetzt ...“
„Wieso sollte ich Ihnen glauben? Weil Sie ein paar Stunden für mich da waren? Ihr Cops seid doch alle gleich!“
Morgans Stimme war ruhig geblieben: „Ich hatte nie vor, Sie auf die eine oder andere Weise zu manipulieren.“ Sie sah die Gänsehaut auf seinen Armen, doch bevor sie etwas Entschärfendes sagen konnte, bevor sie verstand, dass dieser Mann nicht der Feind war, hatte er sich schon in den Eingangsbereich zurückgezogen. Schnell war er wieder in Schuhe und feuchte Jacke geschlüpft. Ohne zu zögern, trat er in den strömenden Regen hinaus und ein Blinzeln später war die Haustür vor Lizas Nase zugefallen.
Ein Karussell der Gedanken drehte sich in ihrem Kopf. Robert war tot. Sie musste Leuten Bescheid geben. Wie sollte sie es Juna sagen? War sie zu hart zu Agent Morgan gewesen? Sollte sie sich entschuldigen? Was war jetzt die wichtigste Aufgabe? Wie viel hatte Juna mitbekommen? … Sie konnte nicht mehr richtig denken.
Und dann fiel ihr ein, dass sie ihm nichts von ihrem Fund erzählt hatte. Sie rief Juna.
„Ist der nasse Mann schon weg?“
„Ja, er musste gehen. Du weißt doch, die Polizei ist immer sehr beschäftigt.“
„War er gemein zu dir?“
„Nein. Wieso fragst du das?“
„Du hast mit ihm geschimpft, das habe ich gehört.“ Die Kleine war viel klüger als ihr gut tat. Liza strich ihr liebevoll übers Haar.
„Ich muss dich etwas fragen. Ich glaube, es könnte wichtig sein.“ Juna nickte ernst.
„Hat Philipp dir je etwas über Süßigkeiten erzählt?“ Liza konnte in ihrem Gesicht sehen, dass sie etwas wusste. „Es ist nicht schlimm, wenn du ein Geheimnis verrätst. In einem Notfall ist das in Ordnung.“
Ihr Herz pochte bis zum Hals, während sie Junas Erzählungen über die Frau mit dem fahrenden Kiosk lauschte, bei der Philipp wohl mehrfach heimlich sein Essensgeld ausgegeben hatte.
„Manchmal hat er mir was abgegeben“, gab Juna beschämt zu, als erwartete sie eine Strafe. Stattdessen wurde sie fest in die Arme genommen.
Liza Summer war nicht dumm, doch was noch viel wichtiger war: Sie war misstrauisch. Genau dieses Misstrauen war es, das sie zum Handeln brachte. Sie ließ das Kind los, murmelte eine Entschuldigung, griff nach dem Schlüsselbund und warf sich eine Jacke über, bevor sie ins nasse Grau trat. Der kalte Regen stach sie, so wie er zuvor Morgan getroffen haben musste. Vielleicht war es nicht zu spät, vielleicht war er hier noch irgendwo.
Bald war jeder Zentimeter, der nicht vom Regenmantel bedeckt war, klitschnass. Zwei Autos fuhren den Hang hinunter an ihr vorbei und sie schielte durch die Scheiben, konnte aber kein bekanntes Gesicht finden. Möglicherweise hatte er sich irgendwo untergestellt. Sie lief um die Kurve und wich einer großen Pfütze auf dem porösen Gehweg aus. Links von ihr knallte eine Autotür und diesmal erkannte sie die beiden Männer. Wie eine Wahnsinnige winkend lief sie dem Fahrzeug entgegen. Der Fahrer, Agent Rossi, hatte gerade zu einer Wende angesetzt. Lizas Hand klatschte flach auf die Scheibe, bis sie leicht heruntergefahren wurde.
„Die Kioskfrau!“, platze es aus ihr heraus. Die Männer im Auto warfen sich fragende Blicke zu. „Philipp hat heimlich bei ihr Süßigkeiten gekauft. Sie muss ihn gesehen haben! Sie kennt ihn!“ Liza nahm wahr, wie Agent Rossi aufs Gas trat und der Spalt im Fenster sich schloss. Überrascht sprang sie zur Seite und wenige Sekunden später waren die beiden außer Sicht.
Außer Atmen blieb Liza am Straßenrand zurück. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie fror. Sie wusste nicht, was gerade passiert war, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. So schnell sie konnte rannte sie nach Hause, mit dem festen Ziel dort eine lange, heiße Dusche zu nehmen.
Frisch eingecremt, mit einem Handtuch um die Haare und in einen kuscheligen Bademantel gewickelt kam sie eine Stunde später aus dem Bad. Eine Nachricht leuchtete im Display ihres Handys auf. Sie bestand nur aus einem Wort: Danke.
Da war es wieder. Das süße Gefühl der Hoffnung. Auch wenn sie nicht wusste, was Agent Morgan damit genau sagte, gab ihr dieses Danke neue Kraft.
In den nächsten Stunden nahm sie das Handy immer wieder zur Hand, tippte eine Antwort, ohne sie je abzuschicken und löschte alles wieder. Sie traute sich nicht, nach dem Fortschritt der Ermittlungen zu fragen oder ob ihr Hinweis hilfreich gewesen war. Aber das war nicht das einzige, was sie währen der Memorie-Partie gegen Juna ablenkte und hoffnungslos verlieren ließ. Offenbar hatte sie Agent Morgan falsch eingeschätzt und das ließ sie nicht los. War sie wirklich bereit dazu? Sie öffnete seine Nachricht und tippte: Wenn das hier je vorbei sein sollte, möchten Sie dann vielleicht mit mir ausgehen? Überrascht starrte sie auf die Buchstaben. War es das, was sie wollte? Kopfschüttelnd löschte sie die Antwort und warf das Telefon weit weg aufs Sofa. Nein, heute war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Doch wer weiß, irgendwann war sie möglicherweise bereit, einer neuen Liebe eine Chance zu geben.
Epilog
Niemand bereite Liza auf das unbeschreiblich erleichternde Gefühl vor als die Beamten Philipp noch am selben Tag nach Hause brachten. Agent Prentiss versuchte ihr alles ausführlich zu erklären, doch es fiel ihr schwer die Details zu behalten. Wichtig war nur Philipp. Philipp, der so blass und verängstigt war, dass es ihr Herz hätte erschüttern können, wäre sie nicht so unheimlich glücklich.
Tatsächlich war die Betreiberin des fahrenden Kiosk der entscheidende Hinweis gewesen, aber nicht so wie Liza es gedacht hatte. Denn anstatt sie zu befragen, hatte sie wohl auffällig gut ins Profil gepasst – was immer das genau heißen sollte – sodass sie als Täterin in Frage kam. Wieso eine eigentlich nette Frau, die immer mit Kindern gearbeitet hatte, zu so etwas in der Lage war, wollte sie nicht wissen. Für Mord gab es nach Lizas Meinung keine Erklärung.
Immerhin hatte die Frau Philipp einigermaßen mit Essen und Trinken versorgt, doch würde er wohl nie wieder einen der Nussriegel anfassen. Später erzählte er manchmal von dem Zimmer, in dem sie ihn eingesperrt hatte. Ein Zimmer, das einst einem anderen Jungen gehört hatte. Dieser Junge hatte Flugzeuge und Traktoren gemocht und mit seinem Namen hatte sie Philipp stets angesprochen. Er hatte schnell gelernt, nicht zu protestieren.
Liza wusste nicht, ob er die Geschehnisse je vollständig verkraften würde. Philipp war noch jung und stärker als es den Anschein machte, aber manchmal erkannte sie diese Furcht in seinen Augen, mit der auch sie stets lebte. Sie alle würden ihr Leben lang Narben davontragen.
Zwei Wochen später fand Roberts Beerdigung statt. Liza hätte den Kindern diesen Tag gerne erspart, doch beide wünschten sie dabei zu sein und so ließ sie es zu. Es war hart, die alten Bekannten und schockierten Verwandten wiederzusehen. Vor allem da niemand richtig zu wissen schien, wie er mit ihr und den Kindern umgehen sollte. Ohne Agent Morgan hätte sie diesen Tag wahrscheinlich nicht überstanden, doch ungefragt war er die ganze Zeit an ihrer Seite.
Liza glaube nicht daran, dass nie wieder schlechte Zeiten kommen würden, denn das wäre utopisch, aber sie hatte es wieder gewagt, zu hoffen. Und dabei hatte sie gelernt, dass Hoffnung nie umsonst war und dass es – egal wie sehr man am Boden war – da draußen Menschen gibt, die sich kümmern.
Scheu warf sie ein Lächeln zu dem Mann, der ihre rechte Hand hielt. Philipp und Juna liefen in dicken Jacken voraus, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Der Himmel war weiterhin bewölkt, aber kein Tropfen wagte es, daraus hervorzubrechen.
Agent Morgan erwiderte das Lächeln und drückte ihre Hand fester. Die klare Luft roch nach Schnee.