Die letzte Kugel
von Leuchtboje85
Kurzbeschreibung
Der Abschied von einem nahestehenden Menschen gehört zum Leben dazu. Eine schmerzhafte Erfahrung, die auch Kommissar Richard Moser machen muss.
OneshotFreundschaft, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Rex
Richard "Richie" Moser
11.09.2022
11.09.2022
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2.415
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Das helle Licht der Messinglampe spiegelte sich im grünen Filz des Billardtisches und verlieh diesem einen leichten grüngelben Schimmer. Im hinteren Bereich des Cafés Wunderer im vierzehnten Wiener Bezirk herrschte zu vorgerückter Stunde noch immer ein reges Treiben. In der Luft hing eine Dunstwolke aus Zigarettenqualm, dem Geruch von deftiger Hausmannskost und dem Mief der Großstadt. Tagsüber genossen die Gäste hier beim Studieren der Tagespresse ihre Melange. Abends traf man sich auf ein Bier, spielte ein paar Runden Karambol, unterhielt sich nebenbei über das weltpolitische Geschehen und kam zu der Erkenntnis, dass früher eh immer alles besser war.
Mit beiden Händen stützte sich Richard Moser auf der hölzernen Bande des mittigen Karamboltisches ab. Die Hemdsärmel hatte er lässig hochgekrempelt, den Kragen leicht geöffnet. Schließlich hatte er Feierabend! Zeit den Zwang des strengen österreichischen Beamtentums für ein paar Stunden abzustreifen. Gespannt blickte er auf die drei ruhenden Kugeln vor sich.
„Das wird nie was!“ sagte er mit einem selbstsicheren Funkeln in den Augen an seinen Spielpartner Max Koch gewandt.
„Warte nur ab!“ Max schien gar nicht daran zu denken, sich von Richards freundschaftlicher Provokation aus der Ruhe bringen zu lassen. Er setzte den Kö an und fokussierte, wie ein Jäger vor dem entscheidenden Schuss, konzentriert den gelben Ball. Dann ein zielsicherer Stoß! Die gelbe Kugel touchierte die rote, ehe sie im spitzen Winkel an der grünen Bande abprallte, um die auf grader Linie liegende weiße Kugel zu karambolieren.
„Unentschieden!“ Max grinste siegessicher.
---
Das dunkle durchdringende Läuten der benachbarten Kirchenglocken hallte in die einsame Stille dieses Novemberabends. Es war zehn Uhr. Draußen rüttelte der stürmische Wind mit aller Kraft an den Fenstern des Cafés und schien sich durch die Ritzen und Spalten den Weg ins Innere bahnen zu wollen.
An der Wandfront saß Moser an einem brauen Holztisch und schaute geistesabwesend auf die drei verlassenen Billardtische in der Mitte des Raumes. Die Kös auf dem grünen Filzbezug waren akkurat nebeneinandergelegt, als würden sie nur auf das nächste Spiel warten. „Möchten sie noch ein Bier? Hallo?“ Moser schaute hoch und blickte in die fragenden Augen eines Kellners.
„Verzeihung, ich war gerade mit den Gedanken…“ Mit der linken Hand deutete er entschuldigend an seinen Kopf.
„Was hatten sie g´sagt?“
„Ob sie noch ein Bier möchten?“, wiederholte der Kellner leicht ungeduldig seine Frage.
„Wir schließen nämlich in a halb‘ Stund“
„Ja, ich nehme noch eins!“
„Guat, in Ordnung!“ Der Kellner nickte und entfernte sich wieder.
„Für mi bitte a norma des Selbe.“ Einige Tische von Moser entfernt deutete ein älterer Herr auf das leere Schnaps- und Bierglas vor sich.
Er war etwa Mitte siebzig, hatte ein leichtes Doppelkinn und trug eine abgenutzte schwarze Lederjacke. Mit einer Zigarette in der Hand schaute er in Richtung des Kellners. Im schummrigen Licht der grünen Zuglampe fielen dem Kommissar die Herrenbrille und das graue schüttere Haar des Mannes auf, welches akkurat nach hinten gekämmt war. Moser sah ihn schweigend an. Für einen Augenblick glaubte er, Max in dem Fremden erkennen zu können.
Der Mann bemerkte, dass er beobachtete wurde.
„Willst`s a aine?“, fragte er den Kommissar leicht lallend und nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch.
„Wenn du eine übrig hast, gerne!“. Der Fremde stand auf, wobei sein Stuhl unter einem lauten Scheppern nach hinten umkippte. Mit der Zigarettenschachtel in der Hand ging er sichtlich schwankend auf Rex und Moser zu. Auffordernd hielt er dem Kommissar die geöffnete Packung sowie ein Feuerzeug entgegen. Moser bedankte sich, wobei er eine Zigarette herausnahm und sich diese anzündete. Deutlich konnte er dabei die Alkoholfahne des Mannes wahrnehmen. Aber nun gut. Er war weder von der Verkehrspolizei noch im Dienst und ging davon aus, dass der Fremde den späteren Heimweg zu Fuß antreten würde. Zudem war auch er selbst mittlerweile alles andere als nüchtern und irgendwie war ihm an diesem Abend eh alles egal.
Der alte Mann blickte den jungen Kommissar mitleidig an, als dieser kurz hintereinander zwei kräftige Züge nahm.
„Deine Frau?“, fragte er. Moser reagierte nicht.
„Die Weiber…“ Der Fremde machte eine abwertende Handbewegung.
„In der Pfeiff‘ rauchen kannst‘ die alle“, sagte er und zog ebenfalls an seiner Zigarette.
„Da schuftet man ein Leben lang, und dann…“ Er schüttelte mit dem Kopf.
„Glaub mir, du bist besser dran ohne sie“, sagte er und klopfte Moser aufmunternd auf die Schulter, um dann wieder an seinen Platz zurückzutorkeln. Moser sah ihm hinterher. Auch wenn er dankbar für die Zigarette des gesprächigen Fremden war, so war er aktuell wahrlich nicht in der Stimmung sich die Frauenprobleme des Mannes anzuhören. Ihn plagten momentan andere Sorgen.
Der Kommissar zog an der Zigarette und blickte sich um. Bis auf sie zwei, Rex und dem Kellner war scheinbar niemand mehr hier. Moser bemerkte, wie Rex den Kopf auf seinem Oberschenkel legte und leise begann zu winseln. „Ach Rex.“ Tief seufzend streichelte er den Kopf seines Hundes.
Er war müde und erschöpft. Alles fühlte sich so unendlich schwer an, als hätte jemand über Nacht seinen Körper gegen eine leblose Masse Blei ausgetauscht. Er, sonst die Ungeduld und Hektik in Person, saß jetzt hier und starrte regungslos vor sich ins Leere. Am liebsten würde er seinen Kopf auf die kalte Tischplatte legen und auf der Stelle hier einschlafen. Schlafen, einfach nur schlafen und erst wieder erwachen, wenn der morgige Tag vorüber war.
Es war am Donnerstag vor einer Woche - ein verregneter Tag Mitte November. Wie jede Woche waren er und Max zu ihrem gemeinsamen Billardabend im Café Wunderer verabredet. Der junge Kommissar und sein alter Chef. Selbe Zeit. Selber Ort. Wie schon seit über zehn Jahren. Ein paar Partien Karambol. Dazu zwei, drei Bierchen und nebenbei über vergangene und aktuelle Fälle plaudern. Ein bisschen Fachsimpeln über Psychoanalyse und die Abgründe der menschlichen Seele.
Nur etwas war an diesem Tag anders. Max, der sonst immer überpünktlich zu ihren gemeinsamen Treffen erschien, war noch nicht vor Ort, als Moser und Rex das Café betraten. Verwundert setzte sich der Kommissar an ihren angestammten Platz und wartete. Zehn Minuten. Dreißig Minuten. Eine Stunde, aber Max kam nicht. Nachdem er seinen Freund auch nicht per Telefon erreichen konnte, fuhr Moser mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu dessen Wohnung im zwölften Bezirk. Er öffnete diese mit einem Zweitschlüssel, den Max ihm vor vielen Jahren anvertraut hatte und den er seitdem stets bei sich trug.
„Max? Bist du da?“, rief Moser beim Betreten der Wohnung. Auf den ersten Blick erschien ihm alles so wie immer. Der für Max` Wohnung typische Geruch aus Antiquitäten, alten Büchern und seinem schweren Herrenparfüm lag in der Luft. Und doch strahlte die Wohnung diesmal eine eigenartige Ruhe aus, die nur vom Knarren der alten Dielen unterbrochen wurde, als Moser und Rex sich in der Wohnung nach Max umsahen.
Dann fanden sie ihn. In seinem Bett. Die Augen geschlossen. Still und friedlich lag er da. Es schien als hätte Max sich nur kurz für ein Nickerchen hingelegt, um dann frisch und munter zu ihrem gemeinsamen Billardabend zu gehen. Der Kommissar wusste jedoch sofort, was los war.
„Max!“ Wie angewurzelt stand Moser für den Bruchteil einer Sekunde an der Schwelle zur Schlafzimmertür, eher er auf seinen Freund zueilte. Der Kommissar beugte sich über ihn und fühlte mit seinem Zeige -und Mittelfinger den Puls des alten Herren. Aber außer die Kälte der durch Falten gezeichneten Haut, konnte Moser nichts spüren. Seitlich am Hals seines Freundes bemerkte er bläulich violette Verfärbungen– Totenflecke! Trotz allem konnte er seine Finger nicht von Max lösen–in der stillen Hoffnung, doch noch das Wummern des Blutes, welches kraftvoll durch die Adern seines alten Freundes schoss, spüren zu können. Moser drückte sein Ohr auf Max´ Brust. Stille. Jetzt begann er zu begreifen. Die Musik des Lebens in Max war für immer verstummt. Als würde eine unsichtbare Kraft ihn zu Boden ziehen, sank Moser auf die Kante des aus den 50er Jahren antiken Holzbettes nieder. Seine Mundwinkel zitterten. Tränen stiegen ihm in die Augen.
Der Kommissar betrachtete die alten, von Lebenserfahrung gezeichneten Hände seines väterlichen Freundes. Jede Falte schien eine für sich eigene Geschichte zu erzählen. Geschichten von Freud und Leid, Hoffnung und Sorgen. Behutsam, als würde Max jeden Moment wieder die Augen öffnen, nahm Moser dessen linke Hand in die seinigen. Der Kommissar spürte die Kälte, welche von Max ausging, und es kam ihm so vor, als wolle diese von ihm Besitz ergreifen. Unter Tränen blickte er schweigend auf seinen für immer entschlafenen Freund.
Mit seiner feuchten Schnauze stupste Rex Max wiederholt an der Wange an. Als dieser nicht reagierte, legte Rex seinen Kopf auf dessen Schulter. „Der Max wird nicht mehr aufwachen“, sagte Moser leise mit gebrochener Stimme und streichelte Rex.
Wie hatte Moser sich vor diesem Tag gefürchtet! Gleichzeitig hatte er, wenn sie beide fröhlich beisammensaßen und über alte Zeiten plauderten, den manchmal aus dem Nichts aufkommenden Gedanken eisern ignoriert, dass dies vielleicht ihr letztes gemeinsames Treffen sein könnte. Hätte er den nahenden Abschied vielleicht ahnen müssen? Was hätte er in diesem Fall bei ihrem letzten Treffen anders gemacht?
Über die Jahre hatte Moser sich im Umgang mit Toten angewöhnt das Schicksal der Opfer nicht zu dicht an sich rankommen zulassen, eine Art distanzierte Objektivität. Dies ermöglichte ihm, seine Arbeit gewissenhaft zu erledigen und dabei kein wichtiges Detail für die weitere Ermittlungsarbeit zu übersehen. Die Begegnung mit Verstorbenen und dem Tod war für ihn mittlerweile zur Routine geworden. Nur manchmal, wenn es um Delikte an Kindern ging, bröckelte dieser emotionale Panzer.
Aber jetzt fühlte er sich seinen Gefühlen in ihrer vollsten Intensität schutzlos ausgeliefert. Das hier war kein Tatort. Der Mann vor ihm im Bett war keine ihm fremde Person. Es war sein engster Freund, ja fast ein Familienmitglied - das Einzige, das ihm nach dem Tod seiner Mutter vor vielen Jahren noch geblieben war. Es war der Mann, dem er so viel in seinem Leben zu verdanken hatte.
„Bitt scheen, ihr Bier!“ Der Kellner stellte das Glas vor Moser auf den Tisch. Er nahm sogleich einen kräftigen Schluck und wischte es sich mit dem Ärmel den Schaum von den Lippen. Rex fing leise an zu winseln. Ohne seinen Hund dabei anzuschauen, streichelte er wie ferngesteuert dessen Kopf.
Oft hatte Moser sich gefragt, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte Max ihn damals nicht bei dem Versuch ein Mopet zu stehlen, aufgegriffen und zur Polizei gebracht. Vielleicht wäre er dann endgültig auf die schiefe Bahn geraten: Alkohol, Drogen, Diebstähle – ein Leben im Strudel der Kriminalität. Vielleicht hätte er sich schon längst zu Tode gesoffen oder den goldenen Schuss gesetzt? Vielleicht säße er längst im Knast? Vielleicht hätte er doch irgendwie den Absprung geschafft und wäre jetzt als LKW-Fahrer auf den Straßen Europas unterwegs, während zuhause seine Verlobte mit ihrem gemeinsamen Kind auf ihn warten würde. Auf jeden Fall, so ist Moser sich sicher, wäre er ohne Max nie Polizist geworden. Er wäre nie der Mensch geworden, der er jetzt war.
Der Kommissar blickte sich im Café um. Drei Tische neben ihm war der ältere Herr, der ihn erst an Max erinnerte, mittlerweile an seinem Tisch eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.
Nie wieder würden Max und er sich hier an einem Donnerstagabend treffen, Billard spielen und Bier trinken. Nie wieder würde Moser seinen ehemaligen Chef um Rat fragen können, wenn er bei einem schwierigen Fall nicht weiterkam. Nie wieder würden sie an lauen Sommerabenden gemeinsam bei Moser im Garten sitzen und Dias von Max alten Fällen anschauen. Nie wieder würde Moser sich über Max Übereifer aufregen können, wenn dieser in aller Herrgottsfrühe den Rasen im Garten des Kommissars mähte, während er sich noch unausgeschlafen von einer Seite auf die andere wälzte. Nie wieder würde Max Moser und seine Kollegen bei Undercover Ermittlungen unterstützen können, indem er den einsamen Rentner mimte und gemeinsam mit Rex durch Wiens Stadtsparks spazierte oder auf Staatskosten fürstlich in einem Nobelrestaurant dinierte. Beim Gedanken über die damals hohe Rechnung und wie Moser den Undercover Einsatz vor seinem Vorgesetzten rechtfertigen musste, huschte dem Kommissar ein Schmunzeln über die Lippen.
Wieder nahm Moser einen kräftigen Zug an der Zigarette. Er spürte ein raues Kratzen im Rachen. Eine sich angenehm anfühlende leichte Wärme breitete sich von seinem Mund in Richtung Luftröhre aus. Der Rauch erreichte seine Lunge und legte sich wie ein Schleier über den Schmerz in seinem Brustkorb, der sich dort seit dem Tod seines Freundes wie ein Parasit hartnäckig eingenistet hatte. Kraftvoll und deutlich hörbar lies Moser den Rauch aus seinem Mund wieder entweichen. Es schien, als würde auch ein Teil der bleiernen Schwere, die ihn seit Tagen quälte, mit jedem Atemzug aus ihm strömen. Nachdenklich schaute Moser der Rauchwolke hinterher, die sich im Raum verteilte und immer blasser wurde, so wie auch eines Tages die Trauer in ihm immer blasser werden und er wieder seinen gewohnten Alltag nachgehen würde. Dann wird dieser Abend hier im Café nur noch einer von vielen in seinem Leben sein. Aber vergessen, nein vergessen würde er Max und was er ihm zu verdanken hatte nie. Da war Moser sich sicher.
Rex schien im wahrsten Sinne des Wortes die Schnauze voll zu haben, von der stinkenden neuen Angewohnheit seines Herrchens. Nachdem er Moser mit einem vorwurfsvollen Blick strafte, entfernte Rex sich von ihm und tapste allein durch das einsame Café. An dem mittleren der drei Billardtische blieb er stehen, legte seine Vorderpfoten auf den grünen Filz und blickte neugierig auf das Spielfeld. Mit der Schnauze stupste er gegen die weiße Kugel, die vor ihm lag, sodass diese einige Zentimeter über den Tisch rollte. Rex schien Gefallen an dem neuen Spiel zu finden und quittierte dies mit einem leisen freudigen Bellen.
Erst jetzt nahm der Kommissar wieder Notiz von seinem Hund und beobachtet ihn eine Weile.
Dann stand Moser auf, ging zum Billardtisch und nahm den Kö in die Hand. Er fokussierte die weiße Kugel, um dann kraftvoll den Kö gegen diese zu stoßen. Sein Spiel war wie in einem Rausch. Als würde der Kö von Zauberhand gesteuert werden, immer volle Punktzahl. Alles um ihn herum schien in diesem Moment weit weg zu sein. Es gab nur noch ihn und den Billardtisch. Plötzlich schien es dem Kommissar, als sei Max ganz nah bei ihm. Er konnte seine Anwesenheit förmlich spüren, sah ihn im Geiste vor sich, wie er diesem Spiel mit einem gutmütigen Lächeln zusah. Moser spielte Runde um Runde. Insgesamt zehnmal. Dann ein Glockenschlag draußen. Halb elf. Sperrstunde. Der Kommissar seufzte. Im Bewusstsein, dass dies die letzte Runde Karambol sein würde, die er je in diesem Café spielen würde, sagte er leise, als würde sein verstorbener Freund direkt neben ihm stehen: „Diese letzte Kugel gehört ganz allein dir, Max.“
--ENDE--
Mit beiden Händen stützte sich Richard Moser auf der hölzernen Bande des mittigen Karamboltisches ab. Die Hemdsärmel hatte er lässig hochgekrempelt, den Kragen leicht geöffnet. Schließlich hatte er Feierabend! Zeit den Zwang des strengen österreichischen Beamtentums für ein paar Stunden abzustreifen. Gespannt blickte er auf die drei ruhenden Kugeln vor sich.
„Das wird nie was!“ sagte er mit einem selbstsicheren Funkeln in den Augen an seinen Spielpartner Max Koch gewandt.
„Warte nur ab!“ Max schien gar nicht daran zu denken, sich von Richards freundschaftlicher Provokation aus der Ruhe bringen zu lassen. Er setzte den Kö an und fokussierte, wie ein Jäger vor dem entscheidenden Schuss, konzentriert den gelben Ball. Dann ein zielsicherer Stoß! Die gelbe Kugel touchierte die rote, ehe sie im spitzen Winkel an der grünen Bande abprallte, um die auf grader Linie liegende weiße Kugel zu karambolieren.
„Unentschieden!“ Max grinste siegessicher.
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Das dunkle durchdringende Läuten der benachbarten Kirchenglocken hallte in die einsame Stille dieses Novemberabends. Es war zehn Uhr. Draußen rüttelte der stürmische Wind mit aller Kraft an den Fenstern des Cafés und schien sich durch die Ritzen und Spalten den Weg ins Innere bahnen zu wollen.
An der Wandfront saß Moser an einem brauen Holztisch und schaute geistesabwesend auf die drei verlassenen Billardtische in der Mitte des Raumes. Die Kös auf dem grünen Filzbezug waren akkurat nebeneinandergelegt, als würden sie nur auf das nächste Spiel warten. „Möchten sie noch ein Bier? Hallo?“ Moser schaute hoch und blickte in die fragenden Augen eines Kellners.
„Verzeihung, ich war gerade mit den Gedanken…“ Mit der linken Hand deutete er entschuldigend an seinen Kopf.
„Was hatten sie g´sagt?“
„Ob sie noch ein Bier möchten?“, wiederholte der Kellner leicht ungeduldig seine Frage.
„Wir schließen nämlich in a halb‘ Stund“
„Ja, ich nehme noch eins!“
„Guat, in Ordnung!“ Der Kellner nickte und entfernte sich wieder.
„Für mi bitte a norma des Selbe.“ Einige Tische von Moser entfernt deutete ein älterer Herr auf das leere Schnaps- und Bierglas vor sich.
Er war etwa Mitte siebzig, hatte ein leichtes Doppelkinn und trug eine abgenutzte schwarze Lederjacke. Mit einer Zigarette in der Hand schaute er in Richtung des Kellners. Im schummrigen Licht der grünen Zuglampe fielen dem Kommissar die Herrenbrille und das graue schüttere Haar des Mannes auf, welches akkurat nach hinten gekämmt war. Moser sah ihn schweigend an. Für einen Augenblick glaubte er, Max in dem Fremden erkennen zu können.
Der Mann bemerkte, dass er beobachtete wurde.
„Willst`s a aine?“, fragte er den Kommissar leicht lallend und nahm die Zigarettenschachtel vom Tisch.
„Wenn du eine übrig hast, gerne!“. Der Fremde stand auf, wobei sein Stuhl unter einem lauten Scheppern nach hinten umkippte. Mit der Zigarettenschachtel in der Hand ging er sichtlich schwankend auf Rex und Moser zu. Auffordernd hielt er dem Kommissar die geöffnete Packung sowie ein Feuerzeug entgegen. Moser bedankte sich, wobei er eine Zigarette herausnahm und sich diese anzündete. Deutlich konnte er dabei die Alkoholfahne des Mannes wahrnehmen. Aber nun gut. Er war weder von der Verkehrspolizei noch im Dienst und ging davon aus, dass der Fremde den späteren Heimweg zu Fuß antreten würde. Zudem war auch er selbst mittlerweile alles andere als nüchtern und irgendwie war ihm an diesem Abend eh alles egal.
Der alte Mann blickte den jungen Kommissar mitleidig an, als dieser kurz hintereinander zwei kräftige Züge nahm.
„Deine Frau?“, fragte er. Moser reagierte nicht.
„Die Weiber…“ Der Fremde machte eine abwertende Handbewegung.
„In der Pfeiff‘ rauchen kannst‘ die alle“, sagte er und zog ebenfalls an seiner Zigarette.
„Da schuftet man ein Leben lang, und dann…“ Er schüttelte mit dem Kopf.
„Glaub mir, du bist besser dran ohne sie“, sagte er und klopfte Moser aufmunternd auf die Schulter, um dann wieder an seinen Platz zurückzutorkeln. Moser sah ihm hinterher. Auch wenn er dankbar für die Zigarette des gesprächigen Fremden war, so war er aktuell wahrlich nicht in der Stimmung sich die Frauenprobleme des Mannes anzuhören. Ihn plagten momentan andere Sorgen.
Der Kommissar zog an der Zigarette und blickte sich um. Bis auf sie zwei, Rex und dem Kellner war scheinbar niemand mehr hier. Moser bemerkte, wie Rex den Kopf auf seinem Oberschenkel legte und leise begann zu winseln. „Ach Rex.“ Tief seufzend streichelte er den Kopf seines Hundes.
Er war müde und erschöpft. Alles fühlte sich so unendlich schwer an, als hätte jemand über Nacht seinen Körper gegen eine leblose Masse Blei ausgetauscht. Er, sonst die Ungeduld und Hektik in Person, saß jetzt hier und starrte regungslos vor sich ins Leere. Am liebsten würde er seinen Kopf auf die kalte Tischplatte legen und auf der Stelle hier einschlafen. Schlafen, einfach nur schlafen und erst wieder erwachen, wenn der morgige Tag vorüber war.
Es war am Donnerstag vor einer Woche - ein verregneter Tag Mitte November. Wie jede Woche waren er und Max zu ihrem gemeinsamen Billardabend im Café Wunderer verabredet. Der junge Kommissar und sein alter Chef. Selbe Zeit. Selber Ort. Wie schon seit über zehn Jahren. Ein paar Partien Karambol. Dazu zwei, drei Bierchen und nebenbei über vergangene und aktuelle Fälle plaudern. Ein bisschen Fachsimpeln über Psychoanalyse und die Abgründe der menschlichen Seele.
Nur etwas war an diesem Tag anders. Max, der sonst immer überpünktlich zu ihren gemeinsamen Treffen erschien, war noch nicht vor Ort, als Moser und Rex das Café betraten. Verwundert setzte sich der Kommissar an ihren angestammten Platz und wartete. Zehn Minuten. Dreißig Minuten. Eine Stunde, aber Max kam nicht. Nachdem er seinen Freund auch nicht per Telefon erreichen konnte, fuhr Moser mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu dessen Wohnung im zwölften Bezirk. Er öffnete diese mit einem Zweitschlüssel, den Max ihm vor vielen Jahren anvertraut hatte und den er seitdem stets bei sich trug.
„Max? Bist du da?“, rief Moser beim Betreten der Wohnung. Auf den ersten Blick erschien ihm alles so wie immer. Der für Max` Wohnung typische Geruch aus Antiquitäten, alten Büchern und seinem schweren Herrenparfüm lag in der Luft. Und doch strahlte die Wohnung diesmal eine eigenartige Ruhe aus, die nur vom Knarren der alten Dielen unterbrochen wurde, als Moser und Rex sich in der Wohnung nach Max umsahen.
Dann fanden sie ihn. In seinem Bett. Die Augen geschlossen. Still und friedlich lag er da. Es schien als hätte Max sich nur kurz für ein Nickerchen hingelegt, um dann frisch und munter zu ihrem gemeinsamen Billardabend zu gehen. Der Kommissar wusste jedoch sofort, was los war.
„Max!“ Wie angewurzelt stand Moser für den Bruchteil einer Sekunde an der Schwelle zur Schlafzimmertür, eher er auf seinen Freund zueilte. Der Kommissar beugte sich über ihn und fühlte mit seinem Zeige -und Mittelfinger den Puls des alten Herren. Aber außer die Kälte der durch Falten gezeichneten Haut, konnte Moser nichts spüren. Seitlich am Hals seines Freundes bemerkte er bläulich violette Verfärbungen– Totenflecke! Trotz allem konnte er seine Finger nicht von Max lösen–in der stillen Hoffnung, doch noch das Wummern des Blutes, welches kraftvoll durch die Adern seines alten Freundes schoss, spüren zu können. Moser drückte sein Ohr auf Max´ Brust. Stille. Jetzt begann er zu begreifen. Die Musik des Lebens in Max war für immer verstummt. Als würde eine unsichtbare Kraft ihn zu Boden ziehen, sank Moser auf die Kante des aus den 50er Jahren antiken Holzbettes nieder. Seine Mundwinkel zitterten. Tränen stiegen ihm in die Augen.
Der Kommissar betrachtete die alten, von Lebenserfahrung gezeichneten Hände seines väterlichen Freundes. Jede Falte schien eine für sich eigene Geschichte zu erzählen. Geschichten von Freud und Leid, Hoffnung und Sorgen. Behutsam, als würde Max jeden Moment wieder die Augen öffnen, nahm Moser dessen linke Hand in die seinigen. Der Kommissar spürte die Kälte, welche von Max ausging, und es kam ihm so vor, als wolle diese von ihm Besitz ergreifen. Unter Tränen blickte er schweigend auf seinen für immer entschlafenen Freund.
Mit seiner feuchten Schnauze stupste Rex Max wiederholt an der Wange an. Als dieser nicht reagierte, legte Rex seinen Kopf auf dessen Schulter. „Der Max wird nicht mehr aufwachen“, sagte Moser leise mit gebrochener Stimme und streichelte Rex.
Wie hatte Moser sich vor diesem Tag gefürchtet! Gleichzeitig hatte er, wenn sie beide fröhlich beisammensaßen und über alte Zeiten plauderten, den manchmal aus dem Nichts aufkommenden Gedanken eisern ignoriert, dass dies vielleicht ihr letztes gemeinsames Treffen sein könnte. Hätte er den nahenden Abschied vielleicht ahnen müssen? Was hätte er in diesem Fall bei ihrem letzten Treffen anders gemacht?
Über die Jahre hatte Moser sich im Umgang mit Toten angewöhnt das Schicksal der Opfer nicht zu dicht an sich rankommen zulassen, eine Art distanzierte Objektivität. Dies ermöglichte ihm, seine Arbeit gewissenhaft zu erledigen und dabei kein wichtiges Detail für die weitere Ermittlungsarbeit zu übersehen. Die Begegnung mit Verstorbenen und dem Tod war für ihn mittlerweile zur Routine geworden. Nur manchmal, wenn es um Delikte an Kindern ging, bröckelte dieser emotionale Panzer.
Aber jetzt fühlte er sich seinen Gefühlen in ihrer vollsten Intensität schutzlos ausgeliefert. Das hier war kein Tatort. Der Mann vor ihm im Bett war keine ihm fremde Person. Es war sein engster Freund, ja fast ein Familienmitglied - das Einzige, das ihm nach dem Tod seiner Mutter vor vielen Jahren noch geblieben war. Es war der Mann, dem er so viel in seinem Leben zu verdanken hatte.
„Bitt scheen, ihr Bier!“ Der Kellner stellte das Glas vor Moser auf den Tisch. Er nahm sogleich einen kräftigen Schluck und wischte es sich mit dem Ärmel den Schaum von den Lippen. Rex fing leise an zu winseln. Ohne seinen Hund dabei anzuschauen, streichelte er wie ferngesteuert dessen Kopf.
Oft hatte Moser sich gefragt, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte Max ihn damals nicht bei dem Versuch ein Mopet zu stehlen, aufgegriffen und zur Polizei gebracht. Vielleicht wäre er dann endgültig auf die schiefe Bahn geraten: Alkohol, Drogen, Diebstähle – ein Leben im Strudel der Kriminalität. Vielleicht hätte er sich schon längst zu Tode gesoffen oder den goldenen Schuss gesetzt? Vielleicht säße er längst im Knast? Vielleicht hätte er doch irgendwie den Absprung geschafft und wäre jetzt als LKW-Fahrer auf den Straßen Europas unterwegs, während zuhause seine Verlobte mit ihrem gemeinsamen Kind auf ihn warten würde. Auf jeden Fall, so ist Moser sich sicher, wäre er ohne Max nie Polizist geworden. Er wäre nie der Mensch geworden, der er jetzt war.
Der Kommissar blickte sich im Café um. Drei Tische neben ihm war der ältere Herr, der ihn erst an Max erinnerte, mittlerweile an seinem Tisch eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.
Nie wieder würden Max und er sich hier an einem Donnerstagabend treffen, Billard spielen und Bier trinken. Nie wieder würde Moser seinen ehemaligen Chef um Rat fragen können, wenn er bei einem schwierigen Fall nicht weiterkam. Nie wieder würden sie an lauen Sommerabenden gemeinsam bei Moser im Garten sitzen und Dias von Max alten Fällen anschauen. Nie wieder würde Moser sich über Max Übereifer aufregen können, wenn dieser in aller Herrgottsfrühe den Rasen im Garten des Kommissars mähte, während er sich noch unausgeschlafen von einer Seite auf die andere wälzte. Nie wieder würde Max Moser und seine Kollegen bei Undercover Ermittlungen unterstützen können, indem er den einsamen Rentner mimte und gemeinsam mit Rex durch Wiens Stadtsparks spazierte oder auf Staatskosten fürstlich in einem Nobelrestaurant dinierte. Beim Gedanken über die damals hohe Rechnung und wie Moser den Undercover Einsatz vor seinem Vorgesetzten rechtfertigen musste, huschte dem Kommissar ein Schmunzeln über die Lippen.
Wieder nahm Moser einen kräftigen Zug an der Zigarette. Er spürte ein raues Kratzen im Rachen. Eine sich angenehm anfühlende leichte Wärme breitete sich von seinem Mund in Richtung Luftröhre aus. Der Rauch erreichte seine Lunge und legte sich wie ein Schleier über den Schmerz in seinem Brustkorb, der sich dort seit dem Tod seines Freundes wie ein Parasit hartnäckig eingenistet hatte. Kraftvoll und deutlich hörbar lies Moser den Rauch aus seinem Mund wieder entweichen. Es schien, als würde auch ein Teil der bleiernen Schwere, die ihn seit Tagen quälte, mit jedem Atemzug aus ihm strömen. Nachdenklich schaute Moser der Rauchwolke hinterher, die sich im Raum verteilte und immer blasser wurde, so wie auch eines Tages die Trauer in ihm immer blasser werden und er wieder seinen gewohnten Alltag nachgehen würde. Dann wird dieser Abend hier im Café nur noch einer von vielen in seinem Leben sein. Aber vergessen, nein vergessen würde er Max und was er ihm zu verdanken hatte nie. Da war Moser sich sicher.
Rex schien im wahrsten Sinne des Wortes die Schnauze voll zu haben, von der stinkenden neuen Angewohnheit seines Herrchens. Nachdem er Moser mit einem vorwurfsvollen Blick strafte, entfernte Rex sich von ihm und tapste allein durch das einsame Café. An dem mittleren der drei Billardtische blieb er stehen, legte seine Vorderpfoten auf den grünen Filz und blickte neugierig auf das Spielfeld. Mit der Schnauze stupste er gegen die weiße Kugel, die vor ihm lag, sodass diese einige Zentimeter über den Tisch rollte. Rex schien Gefallen an dem neuen Spiel zu finden und quittierte dies mit einem leisen freudigen Bellen.
Erst jetzt nahm der Kommissar wieder Notiz von seinem Hund und beobachtet ihn eine Weile.
Dann stand Moser auf, ging zum Billardtisch und nahm den Kö in die Hand. Er fokussierte die weiße Kugel, um dann kraftvoll den Kö gegen diese zu stoßen. Sein Spiel war wie in einem Rausch. Als würde der Kö von Zauberhand gesteuert werden, immer volle Punktzahl. Alles um ihn herum schien in diesem Moment weit weg zu sein. Es gab nur noch ihn und den Billardtisch. Plötzlich schien es dem Kommissar, als sei Max ganz nah bei ihm. Er konnte seine Anwesenheit förmlich spüren, sah ihn im Geiste vor sich, wie er diesem Spiel mit einem gutmütigen Lächeln zusah. Moser spielte Runde um Runde. Insgesamt zehnmal. Dann ein Glockenschlag draußen. Halb elf. Sperrstunde. Der Kommissar seufzte. Im Bewusstsein, dass dies die letzte Runde Karambol sein würde, die er je in diesem Café spielen würde, sagte er leise, als würde sein verstorbener Freund direkt neben ihm stehen: „Diese letzte Kugel gehört ganz allein dir, Max.“
--ENDE--