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the sea hates a coward

von eigengrau
Kurzbeschreibung
MitmachgeschichteAbenteuer, Freundschaft / P16 / Gen
OC (Own Character)
07.09.2022
04.05.2023
12
49.461
8
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Dieses Kapitel
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19.01.2023 3.759
 
chapter o9.



Das ferne Grummeln schien sich in den Steinen festgesetzt zu haben und selbst dann aus ihnen zu sprechen, wenn niemand es wagte, die verschlossenen Lippen zu öffnen.
Die Schreie der Klagenden vermischten sich mit den Flüchen der Verdammten und mündeten in einer verzweifelten Stille, die selbst die Nachzügler, die nicht begriffen hatten, wie aussichtlos ihre Situation war, kaum zu durchdringen vermochten.
Eine poetische Art, das nachtgeschwärzte Gefängnis zu beschreiben. Eine Art, derer Moxley nicht mächtig war.
Für ihn war dieser Ort nicht mehr als eine Jauchegrube. Ein Ort voller Scheiße, der immer wieder von neuen Ärschen besucht wurde. Und leider nicht von den prallen, weiblichen, die er so gerne in den Händen hielt, um damit-

»Moxley?«

Unweigerlich kämpfte sich ein Knurren seine trockene Kehle hinauf.
Obwohl alles in ihrer Zelle unausstehlich nass war, schien es ihm doch, als wäre er dabei, zu verdursten. Der warme Rausch, der ihn jeden Tag in seinen wohlriechenden Armen wiegte und die ein oder andere Phantasie so viel fantastischer wirken ließ, war dabei, vollkommen zu verrauchen.
Er war nicht nur trockengelegt worden, man hatte ihn seines Lebenselixieres beraubt und auch wenn Moxley sich noch vage an die unwürdige Zeit erinnern konnte, in der er nicht von Prozenten sondern von Wasser und Brot gelebt hatte, so konnte er sich nicht vorstellen, jemals wieder dazu in der Lage zu sein.
Es war nicht nur der sinnesbelebende Geschmack, nach dem Moxley lechzte. Es war die brennende Wärme, die sein kaltes Herz rasen ließ. Es waren die Erinnerungen an die schönen Momente, die mit dem herben Geschmack des Bieres noch einmal auflebte. Es war der wohlige Nebel, der sich über seine Gedanken legte und ihm half, zu vergessen. Und Teufel, er wollte vieles vergessen.

»Moxley.«

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Kalt presste sich seine Haut gegen die eisernen Fesseln und einmal mehr verfluchte Moxley es, keine Flasche in der Hand zu haben.
Sie hätten ihm alles abnehmen können. Seine Kippen, seine Kleidung, ja selbst seine Ehre – wenn sie denn noch einen Rest von dieser fanden – doch nicht seinen Alkohol. Er brauchte seinen Alkohol.

»Moxley!«
»Schnauze!«

Seine Augen blitzten, als er den Kopf urplötzlich herumriss und Nobunaga direkt in die Seele starrte.
Er sah, wie sie zusammenzuckte. Für den Bruchteil einer Sekunde verschwand die Unerschrockenheit aus ihrem Blick und es war nicht die erwachsene Oni, die ihn panisch anstarrte, sondern das kleine Mädchen, welches er nur allzu oft herumgeschubst hatte.
Es brauchte nur einen einzigen Wimpernschlag, da hatte sich Nobunaga wieder gefasst.
Ihre grazilen Finger, die mittlerweile stark genug sein mussten, um wirklich hart zuzupacken, umfassten eine der langen, grünen Strähnen, die ihr ins Gesicht gefallen waren und schoben sie ganz langsam hinter ihr Ohr.
Moxleys Augen folgten der Bewegung, doch anders als erhofft, warf Nobu ihm kein abschließendes Lächeln entgegen. Ihre Mimik blieb unbewegt.

Moxley hätte sich damit zufriedengegeben, weiter in der leidgetränkten Stille vor sich hinzuvegetieren und darauf zu warten, dass er die Kopfschmerzen, die ihn immer wieder einholten, gleich einer vergangenen Liebschaft, die ihn – aus offensichtlichen Gründen – einfach nicht ziehen lassen konnte, zum wiederholten Mal in den Wind schießen konnte, doch allem Anschein nach hatte Nobunaga andere Pläne.
Nachdem sie sich kurz zurückgezogen hatte, um ihm ganz deutlich zu zeigen, dass sie noch immer genau so kindisch schnell eingeschnappt war, wie zu ihrer Zeit als Schiffsjunge, schien sie die Stille allzu bald wieder zu langweilen.

»Moxley?« Ihre Stimme hatte diesen schrecklichen Ton angenommen, den verzogene Bälger immer dann aufsetzen, wenn sie einen Erwachsenen um etwas bitten wollten. »Mir ist langweilig. Wollen wir nicht langsam mal los?«

Moxley verdrehte die Augen. Da er seinen Kopf bereits wieder zurückgelehnt hatte und in alter Manier die Decke anstarrte, glaubte er, dass Nobu die Geste nicht hatte sehen können. Und selbst wenn, gestört hätte es ihn nicht. Nicht im Geringsten.
Kurz überlegte er, ob er die Gelegenheit einfach so vorbeiziehen lassen sollte, doch sein Kopf schmerzte und selbst die winzige Chance, seine Aufmerksamkeit so wieder auf etwas Schönes lenken zu können, sorgte dafür, dass sich seine Lippen wie von selbst bewegten.

»Ich habe dir gesagt, dass du nicht darüber nachdenken sollst, eine verführte Flucht anzutreten, nur um dem Balg zu helfen.« Er hielt kurz inne, um sie in dem Glauben zu lassen, dass dies sein letztes Wort gewesen war, ehe er sie eines Besseren belehrte. »Aber glücklicherweise kenne ich die ein oder andere Taktik gegen Langeweile.«

Ihr Blick machte ihm unmissverständlich klar, dass er in dieser Nacht nicht auf seine Kosten kommen würde. Es belustigte ihn, wie überrascht sie jedes Mal aufs Neue schien, dass er tatsächlich schon wieder etwas in diese Richtung andeutete. Gleichzeitig enttäuschte ihre Ablehnung ihn jedoch auch ein wenig. Niemals hätte er sich erträumt, dass das hagere Ding sich irgendwann zu solch einem Prachtexemplar entwickeln würde. Ob sie wohl noch Schwestern hatte?

Wenn Moxley so darüber nachdachte, dann wusste er eigentlich kaum etwas über Nobunagas Herkunft. Sie waren jahrelang zusammen gesegelt, doch die Frage nach der Vergangenheit war niemals aufgekommen. Werder nach ihrer, noch nach seiner.
Es war ungeschriebenes Gesetz, dass der Vergangenheit auf der Tsurara keine Bedeutung beigemessen wurde. Wer darüber sprechen wollte, der wurde nicht aufgehalten – gut, in den meisten Fällen schon, da es niemanden interessierte – doch durch die Bank hinweg schien auch keines der Crewmitglieder das Bedürfnis danach zu verspüren, sich den Kameraden mitzuteilen.
Moxley schnaubte. Als ob die Versager irgendetwas erlebt hatten, was auch nur ansatzweise rechtfertigte, dass sie sich zu solch lausigen Trinkkumpanen entwickelt hatten.

»Moxley?«

Innerlich stöhnte er auf. Er hasste es, wie sie seinen Namen immer und immer wieder in den Mund nahm. Wie sie seine Aufmerksamkeit immer und immer wieder auf sich zog und ihn damit immer und immer wieder zurück ins Hier und Jetzt katapultierte. Einen Ort, den er bei der ersten Gelegenheit gegen seinen eigenen Tod eingetauscht hätte. Oder gegen ihren.

»Warum hast du die Fesseln immer noch an?«

Er hasste sie. Und wie er sie hasste.
Als ob die Antwort auf diese Frage nicht offensichtlich war.

»Du wirst den Reiz irgendwann verstehen, Kleines

Im Augenwinkel erkannte Moxley, wie sie einen Würgereiz vortäuschte. Nur Sekunden später wurde Nobunagas Blick jedoch wieder ernster.
Moxley zog die Stirn in Falten. Er kannte diesen Blick. Und er verabscheute ihn.

»Du bekommst sie nicht ab.«

Es war keine Frage, es war eine Feststellung.
Ihre stechend gelbe Iris schien zu wabern, während sie innerlich tausende Grüne abwägte, weshalb Moxley sich in dieser Lage befand.
Er glaubte bereits, die seltengewordene Stille für einen etwas längeren Moment auskosten zu können, als Nobus verdammter Mund sich erneut öffnete.

»Du kannst es nicht mehr kontrollieren.«
»Wenn du meinst.«

Für einen Moment schien Nobunaga zu zögern.
Ihr Blick spiegelte sich in dem seinen und Moxley hoffte inständig, dass sich nicht das darin fand, wonach sie suchte. Anderenfalls würde er sich auf eine schlaflose Nacht gefasst machen müssen. Und das nicht nach seinen Vorstellungen.

»Ich weiß es.«

Nobunaga verschränkte die Arme vor der prallen Brust. Ihr Blick ruhte weiter auf ihm. Sie forderte ihn heraus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Das musste sie auch nicht. Ihre Augen sprachen Bände.
Moxley spürte, wie sein Kopf stärker zu pochen begann. Wie die Wut, die er in den letzten Tagen so schön auf das Balg hatte projizieren können, erneut Überhand zu nehmen begann.

»Du hast doch keine Ahnung.«
»Oh doch.« Nobus Stimme triefte vor Selbstbewusstsein. »Wahrscheinlich hast du zu viel gesoffen und erinnerst dich jetzt nicht mehr daran, wie es funktioniert.«
»Halt die Fresse!«

Hätte Moxley eine Flasche in der Hand gehabt, hätte er sie in diesem Moment nach ihr geworfen. Das wussten sie beide. Ebenso, wie sie beide wussten, dass Nobu in diesem Moment die Oberhand hatte. Sie hatte sich ihrer Fesseln längst entledigt.

»Habe ich da etwa einen wunden Punkt getroffen?«

Über Nobus Züge zog sich ein Lächeln. Es hatte etwas Boshaftes an sich.
Moxley zweifelte nicht für eine einzige Sekunde daran, dass sie die Lage, in der sie sich befanden, ausnutzen würde, um den Spieß umzudrehen. Um die Opferrolle, die nach Jahren als Rangniedrigste noch immer an ihre haftete, an ihn abzugeben.
Ein Grinsen huschte über seine harten Züge. Als ob sie dazu in der Lage war.

Die Kopfschmerzen, die seinen Verstand in nicht mehr als einen Topf des beschissenen Rübenmuses verwandelten, den Musa immer wieder gekocht und den Moxley so verabscheut hatte, schienen wie weggeblasen.
Vier Worte verließen Moxleys Mund, als er sich von seiner steinernen Liege erhob.
Untermalt wurden sie von dem Knacken seiner Knochen und dem schrillen Klirren seiner fallenden Ketten.

» Ich bring dich um.«

☠️


Begleitet vom fernen Klang der Glocken, kroch der wohlbekannte Schatten immer weiter über sein Gesicht. Seine sanften Züge verschwanden hinter einer Mauer aus Gold.
Midas. Alles was du berührst, verwandelt sich in Kostbarkeiten.
Auch, wenn er diese These keineswegs unterschreiben würde, so konnte er doch nicht abstreiten, dass er im Zeichen des fremden Gesichts keinerlei Geldsorgen zu fürchten hatte.
Ganz gleich, wo er sich aus der Dunkelheit erhob und seine Dienste anbot, es gab immer eine Person, die verzweifelt genug war, um sich an ihn zu wenden.

Die Glocken klingelten in seinen empfindlichen Ohren und innerlich sehnte er sich nach der Stille, die durch ihren schrillen Klang jäh unterbrochen worden war.
Er assoziierte keinerlei Positives mit dem Geräusch. Schon vor Jahren war es dieser Klang gewesen, der ihn aus dem viel zu kurzen Schlaf gerissen hatte. Einem Schlaf, dem er zu dieser Zeit noch Bedeutung zugeschrieben hatte. Schließlich hätte er das harte Training anderenfalls nicht überlebt.
Sie hatten ihn aus einer traumlosen Welt gerissen und hineingeworfen in eine Gegenwart, die kaum weniger trostlos war. Er hatte keine Freiheit besessen. Keine Selbstbestimmung.
Das Blitzen seiner Augen blieb hinter der Fassade aus Gold verborgen.

Es blieb keine Zeit, einen weiteren Gedanken an die Vergangenheit zu verschwenden. Wie der Name vermuten ließ, war alles, was damals passiert war, vergangen. Selbst wenn er es wollte, hätte er heute nichts mehr daran ändern können.
Geist hatte die Augen nach vorne gerichtet. Die Nacht war nicht kalt genug, um seinen Atem, der ruhig und stark durch die präzise gesetzten Schlitze drang, in der Luft abzuzeichnen.
Er plante nicht, die Vergangenheit zu ändern. Er wollte nicht einmal an sie denken. Alles, was für ihn zählte, war die Zukunft.

Mit jedem einzelnen Auftrag, den er ausführte, kam er seinem Ziel, ein selbstbestimmtes Leben ohne Sorgen und Verpflichtungen führen zu können, einen kleinen Schritt näher. Doch heute hatte ihn das Schicksal wieder verdammt weit zurückgeworfen.
Seine behandschuhte Hand schloss sich fester um den Griff des Kusarigama.
Der Plan war so einfach gewesen.
Tagelang hatte er nicht mehr machen müssen, als auf das kleine aber entscheidende ‚Go‘ zu warten, das sein Auftraggeber bisher zurückgehalten hatte. Er hatte sich vergnügen können, sein Leben genossen, umgeben von Menschen, die sowohl die Bedeutung des Wortes ‚genießen‘, als auch die ihres eigenen Lebens bereits vor langer Zeit vergessen hatten.

Geist bemühte sich, keinerlei Gedanken daran zu verschwenden, dass er ihren Leben mit seinem nächsten Schritt noch weniger Sinn verleihen würde. Das seine Handlungen der Grund dafür sein könnten, dass sie auch den letzten Funken Hoffnung verloren.
Es war nicht seine Entscheidung. Er führte Aufträge aus. Er vollendete die Wünsche der Männer, die ihn bezahlten. Doch er hatte bisher nicht zugelassen, dass das Geld blutige Spuren an seinen Händen hinterließ. Und daran würde sich in dieser Nacht nichts ändern.

Sein starker Rücken drückte sich gegen die warme Mauer aus schwarzem Stein.
Seine Aufmerksamkeit war voll und ganz auf seine Umgebung gerichtet. Wie so oft verließ er sich dabei auf seinen Geruchssinn. Seine Ohren.
Geist hatte früh gelernt, dass Dinge zu erblicken nicht bedeutete, sie auch zu sehen.
Bilder verschwammen vor seinen Augen. Sie waren farblos, trist und besaßen keinerlei Aussagekraft. Geräusche und Gerüche waren hingegen nur schwer zu beeinflussen. Ihn in diesen Punkten zu täuschen, war noch keinem gelungen.

So wie er, schien jedoch kaum jemand zu denken und vor allem die Bewohner Ka no Kunis verließen im Allgemeinen sogar sehr auf ihre Augen.
Die Wachen die selbst so spät am Abend noch auf den hölzernen Wachtürmen postiert waren und sich, anders als Geist, sehr wohl auf die Informationen verließen, die ihre Augen ihnen mitteilten, nahmen ihm die Option, einen Weg über die Dächer zu nehmen.
Etwas, was Geist in diesem Moment sogar ganz gelegen kam.
Die wirren und verzweigten Gassen Ka No Kunis boten ihm besseren Schutz als der luftige Weg, den sonst nur allzu gerne beschritt. An einem Ort wie diesem machten sie es einfacher, mit den Schatten zu verschmelzen und mit der Lautlosigkeit einer Raubkatze durch die schmalen Straßen zu schleichen.

Geist hatte sein Ziel beinahe erreicht, als er, geduckt hinter einem kleinen, schwarzen Felsen, plötzlich innehielt.
Schlurfende Schritte drangen an seine Ohren. Viel zu nah.

Scharf zog er die kalte Nachtluft durch die feinen Schlitze seiner Maske ein. Ein Geruch drang in eine Nase. Etwas, dass er nicht zuordnen konnte. Oder war es vielleicht

Sekunden verstrichen.
Geists Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Bevor sich die etwaige Unruhe jedoch im Rest seines Körpers ausbreiten konnte, appellierte Geist an seine Vernunft.
Er wusste, was er tat. Es hatte in seiner mittlerweile recht langen Karriere als Söldner keine einzige Situation gegeben, aus der er es nicht wieder herausgeschafft hatte.

Geists Herzschlag beruhigte sich, ehe er abermals die Augen vor der grauen Antlitz Ka no Kunis, verschloss. Er konzentrierte sich auf seine Umgebung.

Geist konnte niemanden im angrenzenden Zimmer spüren. Seltsam. Er hatte mit mindesten einer Person gerechnet und auch die schlurfenden Schritte hatten ihn in dem Glauben gelassen, dass er jemanden außer Gefecht würde setzen müssen.
Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus, doch sein Verstand versuchte rational zu bleiben und diesen vermutlich sehr kurzweiligen Moment des Glücks zu seinem Vorteil zu nutzen. Jede weitere Minute, die verstreichen ließ, war schließlich eine Minute, in der er entdeckt werden konnte.

Die hölzerne Vergitterung ließ sich mit Leichtigkeit vom dunklen Fensterrahmen lösen, schließlich hatte Geist sie schon vor Tagen gelockert, um sich den Zugang an diesem schicksalhaften Tag zu erleichtern. Immerhin musste heute alles reibungslos verlaufen.

Mit einem Satz war Geist im Zimmer und landete elegant auf seinen Füßen. Er ging in die Hocke, verharrte kurz in der Stille. Mit gespitzten Ohren und zitternden Nasenflügeln prüfte er, ob sich etwas in seinem Umfeld verändert hatte. Negativ.
Die Holz-Vergitterung fand wieder ihren ursprünglichen Platz.

Pure Schwärze umgab Geist. Da seine eigene Welt ihm doch nie zuvor etwas Farbe bieten können, vermochte dieser Umstand es nicht, ihn aus der Ruhe zu bringen.
Es bereitete Geist keinerlei Probleme, sich in der Dunkelheit zu fortzubewegen. Etwas Spezielles in dieser Dunkelheit zu finden war eher das Problem.
Statt sich mit den Händen durch das finstere Zimmer zu tasten, schnalzte er mit der Zunge. Geist verharrte in seiner Position. Er konzentrierte sich auf das Echo, welche die, vom Schatten verschluckten Möbel, zurückwarfen.
Zu seiner rechten erkannte er etwas Massives. Vermutlich einen Schreibtisch.
Zu seiner linken Bücheregale.

Ein schwerer Teppich dämpfte seine präzisen Schritte als Geist seine Position ein wenig veränderte, um seine Vermutungen aus einem anderen Winkel zu bestätigen.
Geist versuchte, sich den Plan des Raumes, den er zuvor ausgiebig studiert hatte, in Gedächtnis zu rufen.
Solange der Besitzer innerhalb der letzten Stunden keine große Umzugs-Aktion begonnen hatte, sollte sich sein Ziel noch immer auf der anderen Seite es Zimmers befinden.

Geist trat einen Schritt vor.
Und fuhr verwirrt herum.

Er war gegen etwas gestoßen. Leicht, nicht so, dass es schmerzte, doch Geist war sich absolut sicher, dass er, ganz egal, wann er durch das kleine Fenster gespäht hatte, nie etwas an dieser Stelle des Raumes hatte ausmachen können. Vor allem nichts, was sich so anfühlte.

Geists Griff um seine Waffe wurde augenblicklich fester.
Tief zog er die Luft ein. Der Geruch eines Fremden umspielte seine Nasenflügel, doch da er sich in der Wohnung einer ebenso fremden Person befand, hatte er diesen Umstand bisher einfach darauf bezogen.
Langsam schwante ihm, dass dies ein Fehler gewesen war.

Geist wartete. Eine Sekunde. Zwei.
Nichts passierte.

Er schnalzte mit der Zunge. Eine Wiederholung.
Doch das Ergebnis, welches er erhielt, blieb dasselbe.

Irritiert fuhren Geists Augenbrauen hinter dem trügerischen Gold der Maske, zusammen. Seine freie Hand schoss nach vorne, um die Person zu berühren.

Ein leichter Stoß reichte, um den fremden Körper schwanken zu lassen. Doch anders, als Geist erwartet hatte, fiel er nicht.
Das heiße Blut, welches in seinen Ohren rauschte und sein Herz rasen ließ, schien zu erstarren.
Erst das verräterische Knarren des Holzbalkens, perfekt im Einklang mit dem Pendeln des Körpers, ließ ihn realisieren.

Tot.
Die Person, die vor ihm in der Luft hing, war tot.
Aufgehängt wie einen Schinken zum Räuchern.

Alarmglocken schrillten in seinem Kopf und Geist musste all seine mitunter durchaus geringe Selbstbeherrschung zusammennehmen, um seinem Fluchtinstinkt nicht augenblicklich nachzukommen.
Seine Finger bahnten sich ihren Weg über den Körper, der sich beinahe noch warm anfühlte. Fast wäre er zurückgezuckt, als er etwas an der Brust des Toten ertastete. Doch anstatt sich verunsichern zu lassen, griff er eilig danach und risse es von dem Toten.

Mehr Zeit, sich mit der Situation vertraut zu machen, blieb ihm nicht.
Durch den kurzen Moment der Unachtsamkeit hatte er nicht wahrgenommen, wie sich schwere Schritte genähert hatten.
Nun waren sie ihm so dicht, dass Geist die Präsenz der Männer nicht mehr länger ignorieren konnte. Verdammt.

Es dauerte nur einen Augenblick, einen einzigen Wimpernschlag, bis die schwere Eingangstür aus ihrer Angel gerissen wurde.
Krachend fiel sie gegen eines der überfüllten Bücherregale, während eine unerträgliche Helligkeit den Raum schlagartig durchflutete.
Das Licht schmerzte in Geists Augen. Die wohlbekannte Schwärze ließ ihn im Stich und auch, wenn er dies bereits von ihr gewohnt war, fühlte es sich doch an, als hätte sie ihn in die Hände der Brigade gestoßen, gleich einem Freund, dem nach all der gemeinsamen Zeit doch nur daran gelegen war, seine eigene Haut zu retten.

Geist starrte in die Gesichter der Männer. Verschwommen. Eintönig.
Sie riefen etwas, doch sein rasender Herzschlag schien jedes Wort zu übertönen.

Ihm war, als hätte er jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren, doch anstatt regungslos in seiner Position zu verharren – Auge in Auge mit einer noch warmen Leiche, was ihn keineswegs in ein positives Licht rücken würde – hatten seine Beine bereits entschieden, dass sie ihn auf dem schnellsten Weg aus diesem Schlamassel retten würden.
Das Surren des Pfeils schien fern, als Geist die Arme in die Höhe riss und mit einem ohrenbetäubenden Krachen durch die hölzernen Fenstergitter brach.
Nichts wie weg.

☠️


Obwohl die Welt, die er sah, noch immer grau und schemenhaft anmutete, konnte Geist nicht anders, als innezuhalten. Er ignoriere den Tumult, der zu seinen Füßen aufzuleben begann, überhörte die erschrockenen Schreie der Menschen, die das Grauen mit eigenen Augen betrachten wollten.

All dies interessierte Geist nicht. Anders, als die Menschen, war es nicht der Tote, der es ihm schwer machte, seinen Blick abzuwenden. Es war die blutige Feder, die er aus seiner Brust gerissen hatte.
Leicht ruhte sie in seiner Hand. Ihre feinen Fasern tanzten im frischen Wind und immer wieder verfing sich eine in dem halb geronnenen Blut, welches den Stiel der Feder benetzte und nun auch an Geist Fingern klebte.
Er musste die Farben der Feder nicht erkennen, um zu wissen, dass sie schon einmal gesehen hatte.

Geist stellte keine Fragen. Er tat ausschließlich, was man ihm auftrug.

Selbst wenn sein Auftraggeber seinen Tod wollte, konnte er sich damit abfinden. Schließlich bedeutete es für einen Reisenden wie ihn nur, dass seine Arbeit nicht weiter gefordert war.
Er hatte bereits zuvor gewusst, dass er Ka no Kuni noch vor Anbruch des nächsten Tages würde verlassen müssen. Die Feder des Pfaus war nur ein weiterer Grund, seine harten, goldenen Züge wieder weicher werden zu lassen. Er vermisste das Lachen des Jungen bereits.

☠️


Währenddessen hatte Emory ganz andere Sorgen. Er war kein zu Unrecht beschuldigter Mörder, der sich hoch über den Köpfen der Menschen in einen kleinen Felsspalt zurückgezogen hatte, um seine verräterische Kleidung gegen etwas durchaus Unauffälligeres zu tauschen. Nein.
Ganz anders als Geist, war es Emory nicht vergönnt, Abstand zu der Menschenmasse aufzubauen, die sich Sekunde um Sekunde zu verdoppeln schien. Er steckte mitten drin.

Emory wusste nicht, was er sich dabei gedacht hatte. Er war die Hauptstraße hinabgelaufen, ohne Ziel, ohne Plan.
Er hatte vorgehabt, Ira zu finden, doch anstatt in den jungen Mann hineinzustolpern, war Emory in einer riesigen Menschenmasse gelandet, die ihn nun seit Minuten herumschubste, wie einen Sandsack. Jeder versuchte, sich an ihm vorbeizudrängeln und einen Blick auf etwas zu werfen, was Emory in seinem Leben niemals hatte sehen wollen. Einen Toten.

Ein Ellbogen bohrte sich in seine Seite und ließ ihn keuchen.
Emory spürte, wie die warmen Bäche des roten Bluts, welche für eine gefühlte Ewigkeit aus seiner Nase herausgebrochen und erst vor wenigen Minuten endlich versiegt waren, die zweite Runde einläuteten.
Noch ehe er den Handrücken heben konnte, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, hatte es seine Lippen benetzt. Der bittere Geschmack des Eisens belegte seine Zunge und Emory fühlte sich bereits wieder den Tränen nahe.

Doch Emory fand keine Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Die Menschen drängten sich immer dichter und obwohl er nicht so recht wusste, wie er es geschafft hatte, befand er sich plötzlich nicht mehr am Rand, sondern im Zentrum der tuschelnden Masse.
Er versuchte, unter dem Arm eines großgewachsenen Mannes hinweg zu schlüpfen. Er schaffte es und sobald Emory sich aufrichtete, gelang es ihm, sich - dank seiner sonst so verfluchten Größe - einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Und einen Ausweg zu erkennen.

Eilig machte Emory einen Schritt nach vorne.
Noch ehe er den Fuß vollkommen auf dem staubigen Grund abgesetzt hatte, wurde er zurückgerissen. Schmerzhaft flog sein Kopf in den Nacken. Im Bruchteil einer Sekunde legten sich Hände, unnachgiebig und hart wie eiserne Fesseln, um seine Handgelenke.
Eine markerschütternde Stimme erhob sich über seinen Kopf.

» Ich hab ihn! Er war es! Er hat den Yǎnshèng getötet!«



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nachwort




Hey ihr Lieben,

wie ihr merken konntet, kam das Kapitel heute mal ein wenig später, als sonst. Vielleicht liegt das daran, dass ich bis eben noch daran geschrieben habe, weil mir entfallen ist, dass heute schon wieder Donnerstag ist… nah, als ob mir so etwas passieren würde.

Ich muss ehrlich zugeben, dass ich in diesem Kapitel eigentlich noch sehr viel mehr Emory-Action unterbringen wollte, aber auf die könnt ihr euch beim nächsten Mal freuen. Vielleicht.

Ansonsten fasse ich mich mal wieder kurz und bedanke mich zum Abschluss noch einmal unglaublich herzlich bei Grauschwinge, Zombieschnitte und Liya Pheles. Eure Reviews bedeutet mir wirklich viel und ich werde mich sehr bemühen, bald darauf zu antworten!

Bis zum nächsten Mal!

Liebe Grüße

eigengrau ❤️
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