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Schattenherz

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P16 / Het
06.09.2022
05.02.2023
38
50.685
12
Alle Kapitel
18 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
 
06.09.2022 1.556
 
(Triggerwarning! Wer nicht mit den Themen Suizid Gedanken, Depression, Gewalt o. ä. umgehen kann, der sollte ab hier bitte nicht mehr weiter Lesen!)

Rennen hatte nie zu meinen Stärken gezählt. Ich war weder schnell, noch besaß ich die nötige Ausdauer.
Man sollte meinen, allein dieses Wissen, würde mich davon abhalten meinen Körper zu Leistungen anzutreiben, zu der er einfach nicht fähig war.
Tat es zu meinem Leidwesen nicht …
Als ich über den Gehweg flitzte, als wäre ein durchgedrehter Killerclown hinter mir her, verdrängte ich das Offensichtliche.
Zum Beispiel, dass ich einen neuen Weltrekord als schnellste Frau der Welt aufstellen müsste, um mein Ziel rechtzeitig zu erreichen. Die Alternative auf dem Weg, eine Zeitmaschine zu finden, wäre da schon sehr viel wahrscheinlicher.
Leider stand die Fähigkeit, Dinge zu verdrängen, auf der Liste meiner Stärken ganz weit oben. Ob man es wirklich als Stärke bezeichnen konnte, darüber ließ sich streiten … zumindest war ich gut darin.
Dass es heute recht mild war, – wenn man bedachte, dass wir Anfang Juni hatten – war das einzig Gute an diesem Tag.
Nicht nur, dass ich verschlafen hatte und die Bahn mir vor der Nase weggefahren war, nein, ich stand gerade im Begriff meinen Job zu verlieren.
Schon wieder.
Dreimal hatte mein Chef schon beide Augen zugedrückt. Was bei John, der Unpünktlichkeit hasste, einem Sechser im Lotto gleichkam.
Niemand gewann zweimal im Lotto …
Aber hey, manchmal geschahen Wunder.
Und so rannte ich weiter, verdrängte das offensichtliche und klammerte mich an dem letzten Stück Treibholz, des bereits gesunkenem Schiffs.
Nur knapp schaffte ich es, einem entgegenkommenden Fahrradfahrer auszuweichen, als ich um die letzte Ecke bog, die mich von meinem Ziel trennte. Mit einem schnellen »Entschuldigung« hetzte ich weiter. Die Tür des Cafés kam, wie ein Rettungsring näher.
Ich wünschte, ich wüsste, wie sehr ich mich verspätete, doch leider war der Akku meines Handys immer noch leer. Was auch der Grund für meine Verspätung war – ich hatte vergessen es aufzuladen, bevor ich mich schlafen gelegt hatte.
Einzig meiner inneren Uhr war es zu verdanken, dass ich überhaupt aufgestanden war. Beziehungsweise meiner drückenden Blase, denn ein morgendlicher Toilettengang, war das erste, was ich nach dem Aufstehen tat.
Als ich schließlich nach Atem ringend vor dem kleinen Café stand, schickte ich noch ein Stoßgebet gen Himmel, bevor ich die Tür, die beim Öffnen leises Glockenläuten von sich gab, vorsichtig aufschob. Der Geruch von süßem Gebäck und frisch gebrühtem Kaffee, der mir entgegenwehte, ließ meinen Magen leise Knurren.
Ich hatte das Café noch nicht mal betreten, da zerplatzte mein Rettungsring auch schon mit einem leisen Zischen und versank mit dem Rest meiner Hoffnung in den Tiefen des Meeres.
John stand am Tresen und bediente gerade einen Kunden, als er beim Klang der Türglocke auf mich aufmerksam wurde.
Unbemerkt hereinschleichen konnte ich also abhaken …
Sein Kopf drehte sich demonstrativ zu der Uhr, die hinter ihm über der Speisekarte hing.
Ich musste den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht mehr sehen, um zu wissen, wie es um mich stand.
Ich war 35 Minuten zu spät. Heute würde kein Wunder geschehen.


Eine kühle Brise wehte mir entgegen, als ich durch die Tür nach draußen trat. Ich blickte auf den Brief in meiner Hand, auf dem groß und deutlich Kündigung stand, und schluckte den Kloß, der sich daraufhin in meiner Kehle bildete, herunter. Tränen würden mir jetzt auch nicht weiterhelfen.
»Wir wissen beide, dass es nicht der richtige Job für dich ist«, hatte John gesagt, bevor er mir meine Kündigung in die Hand gedrückt hatte. »Such dir einen Job, der dir Spaß macht.«
Doch das war nicht, was ich wollte und vor allem nicht, was ich brauchte. Ich brauchte keinen Job, der mir Spaß machte. Alles, was ich brauchte, war ein Job, bei dem ich genug Geld verdiente, um nicht zu verhungern oder auf der Straße zu landen. Einen Job, der mich ablenkte. Wenn ich arbeite, konnte ich alles ausblenden und wenn ich Glück hatte, war ich am Ende so müde, dass ich auch Zuhause nicht mehr die Kraft hatte, um über irgendetwas nachzudenken.
Es war lange her seit ich weiter, als ein paar Stunden gedacht hatte. Ich hatte immer nur von einem Tag zum nächsten gelebt, nur im Jetzt. Mein Leben hatte eine Routine. Eine Routine, die mir Sicherheit gab. Die mir das Gefühl von Kontrolle, über mein Leben gab. Nun stand ich wieder vor einer Hürde, die es zu überwinden galt.
Ich schloss kurz die Augen und nahm einen tiefen Atemzug.
Ich hatte es immer irgendwie geschafft, ich würde es auch wieder schaffen.

Als ich meine Wohnung am Stadtrand erreichte, spürte ich erst, wie erschöpft ich war. Und das nicht nur wegen des hektischen Morgens. Ich hatte mal wieder kaum ein Auge zu getan.
Erleichtert, dass ich es die Treppen des vierten Stocks, heraufgeschafft hatte, betrat ich meine Wohnung. Der kleine Flur war bis auf ein zweites Paar Schuhe, vollkommen leer. Kein Schuhregal, keine Deko, nichts. Nur weiße kahle Wände, als würde hier niemand leben.
Ich streifte meine Schuhe ab und ließ meine Tasche direkt daneben auf dem Boden plumpsen.
Meine Wohnung war recht klein. Da war einmal das winzige Bad, – in dem man sich nur auf der Stelle drehen musste, um alles zu berühren – zu meiner linken und ein kleines Schlafzimmer zu meiner rechten. Direkt vor mir führte eine Tür zum größten Raum, der gleichzeitig Wohnzimmer, Esszimmer und Küche war.
Nachdem ich heute Sport für eine Woche gemacht hatte, brauchte ich dringend etwas zu trinken.
In der Küche gönnte ich mir erstmal ein großes Glas Wasser aus dem Wasserhahn und ließ meinen Blick über meine Wohnung schweifen.
Fast zwei Jahre war ich schon hier, doch es sah immer noch so aus, als wäre ich gerade erst eingezogen. Es standen zwar keine Umzugskartons rum, doch die Wohnung war, genau wie der Flur, kahl und leer. Bloß eine graue Couch, ein Fernseherschrank samt Fernseher  – wobei die zwei Hängeschränke, die eigentlich an die Wand gehörten, daneben standen – und ein Couchtisch schmückten das Wohnzimmer. Der Esstisch, an dem vier Personen Platz hatten, trennte die Küche vom Wohnzimmer.
Es wirkte, als wäre ich nie wirklich angekommen, als wäre dies nur ein Zwischenstopp. Wohin wusste ich nicht. Ich hatte mir schon lange keine Gedanken mehr über die Zukunft gemacht.
Einst hatte ich das, eine Zukunft, von der manche nur träumen konnten. Doch dann wurde alles von Dunkelheit überschattet. Eine Dunkelheit, die drohte mich zu ersticken und jeden der in meiner Nähe war, mit in den Abgrund zu reißen. Also blieb mir nichts übrig, als zu fliehen, in ein neues Leben ohne Zukunft, doch auch ohne Vergangenheit.
Eine leichte Brise konnte ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lassen. Es dauert Jahre etwas aufzubauen, doch nur eine einzige Sekunde reichte aus, um etwas zu zerstören.
Als ich damals aufgebrochen war, nahm ich nichts mit. Keine Fotos, keine Habseligkeiten, keine Erinnerungen. Ich hatte alles hinter mir gelassen.
Müde rieb ich mir die Schläfen. Jetzt über meine Vergangenheit nachzudenken war schlecht. Ich hatte schon genug Probleme, mit denen ich mich rumschlagen musste. Ein neuer Job zum Beispiel ...
Doch zuerst musste ich einen klaren Kopf bekommen. Auf dem Weg zum Schlafzimmer holte ich mein Handy aus der Tasche. Ich hatte es trotz leeren Akkus eingesteckt, weil ich annahm, ich würde es auf der Arbeit aufladen können. Woraus ja dann nichts wurde ...
Im Schlafzimmer, das aus einem einfachen Bett, einem Kleiderschrank und einem kleinen Nachttisch bestand, zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus und ließ meine Klamotten achtlos auf dem Boden liegen. Zum Wegräumen würde ich auch später noch mehr als genug Zeit haben.
Nachdem ich mein Handy auf dem Nachttisch abgelegt und zum Aufladen an die Steckdose gesteckt hatte, kuschelte ich mich in meine Decke.
Nur ein paar Stunden schlaf, sagte ich mir. Es war schon lange her, seit ich wirklich ausgeschlafen hatte. Eine Zeitlang hatte ich Schlaftabletten für dieses Problem geschluckt. Doch als ich mich danach immer wie ein Zombie gefühlt hatte, hatte ich wieder damit aufgehört. Ob ich sie nahm oder ob ich sie nicht nahm, machte keinen wirklichen Unterschied. In beiden Fällen fühlte ich mich müde.
Die Hektik von heute, hatte mich allerdings so sehr verausgabt, dass es nicht lange dauerte, da war ich auch schon eingeschlafen.

Das Klingeln meines Handys riss mich unsanft aus dem Schlaf. Verschlafen blinzelte ich zum Fenster. Es war immer noch hell, ich konnte also noch nicht lange geschlafen haben. Dass ich mich fühlte, als hätte ich die Augen eben erst geschlossen, wäre eigentlich schon Indiz genug dafür.
Ich schlug die Decke über meinen Kopf und versuchte, das nervige Geräusch auszublenden. Wer immer anrief, hatte sich entweder verwählt oder wollte mir irgendeinen überteuerten Vertrag andrehen. Niemand hatte meine Nummer.
Außer ...
Ich lugte unter der Decke hervor. Was, wenn es John war? Was wenn er mir nochmal eine Chance gab, weil er auf die Schnelle keinen Ersatz fand. Schnell griff ich nach dem immer noch klingelnden Handy.
Das »Unbekannt«, dass auf dem Display stand, ließ mich kurz zögern. Wenn wirklich die Chance bestand, dass ich meinen Job wiederbekam, wäre es dumm, nicht dranzugehen. Bevor ich es mir nochmal anderes überlegen konnte, drückte ich auf den grünen Hörer und hielt mir das Handy ans Ohr.
»Hallo?«, fragte ich zögerlich.
Stille.
Kurz sah ich nach, ob ich aus Versehen aufgelegt hatte.
Erneut wollte ich etwas sagen, als plötzlich eine Stimme ertönte.
»Ava?«
Ich erstarrte.
Es war nicht John.
Am anderen Ende war meine Vergangenheit.
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