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24. August

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteAngst / P16 / Gen
01.09.2022
01.09.2022
1
1.852
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Als Sally die Augen öffnete, erstreckte sich ein schwach beleuchteter Gang vor ihr. An dessen Ende schimmerte eine metallische Tür, deren Oberfläche an einigen Stellen von Rost zerfressen war. An den weißen Wänden zu beiden Seiten gingen weitere Türen ab. Der Putz rieselte bereits an den Ecken ab. Ihr Blick fuhr auf den Boden. Rote Fliesen. Die Farbe erinnerte sie an ...
„Blut.“, flüsterte sie. Eine schmale, lange Blutlache, direkt zu ihren Füßen. Vorsichtig fuhr sie mit der Spitze ihres Schuhs den Boden entlang. Ein spitzes Quietschen durchdrang die Stille.
Nein, kein Blut.
Sie machte einen Schritt in Richtung der gegenüberliegenden Tür. Da bemerkte sie, wie etwas an ihrem Rücken drückte. Die Bücher in ihrem Rucksack drückten hier und da. Instinktiv umklammerte sie die losen Riemen der Schultasche. Zögernd machte sie sich auf den Weg.
Da erschnupperte sie einen beißenden Geruch von abgestandenem Schweiß und Turnschuhen. Plötzlich meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Bevor sie den Gedanken in Worte formulierte, wusste sie bereits, was sie hinter jener Tür erwarten würde.
Die Turnhalle ihrer Schule.
Bloß, was machte sie hier?
„Hallo?“, murmelte sie leise in den leeren Korridor. Als Antwort heulte ein Wind über ihr auf. Die Lichter flackerten für einen kurzen Moment, wie Blitze einer Fotokamera.
Hatte sie etwa ihren Turnbeutel vergessen und war deswegen zurückgekommen?
Sie erinnerte sich nicht.
Erneut wagte sie einen weiteren Schritt. Außer dem Wind, der sich ab und zu in den Dielen bemerkbar machte, herrschte absolute Stille.
Keine rufenden Schüler, die sich eifrig Bälle zuspielten.
Keine Trillerpfeife, die das Ende der Sportstunde signalisierte.
Kein brüllender Sportlehrer.
Nichts.
Nie hätte sie gedacht, dass ihr die Abwesenheit von Schülern mehr Angst einjagen würde als ihre Anwesenheit.
Da war nur Sally und die quietschenden Schuhsohlen zu ihren Füßen.
Sie drehte sich um. Hinter ihr befand sich der Eingang zur Sporthalle, oder Ausgang, je nach dem auf welcher Seite der Tür man sich befand. Hinter dem Glas blickte ihr Dunkelheit entgegen. Der Abend musste weit fortgeschritten sein. Gelbe Punkte leuchteten in der Schwärze, der Schein der Straßenlaternen.
Deswegen war es wohl so ruhig hier. Die Schule hatte schon lange geschlossen.
Das erklärte jedoch nicht den Grund für ihr Erscheinen. Eilig lief sie zurück zum Ausgang. Gerade wollte sie durch diese wieder zurück, nach Hause, oder wo auch immer sie hergekommen war, doch die Klinke ließ sich nicht bewegen.
Abgeschlossen.
Ihr Herz begann, ein bebendes Orchester zu spielen. Sie hörte den dumpfen Bass in ihren Ohren – die Symphonie der Angst.
Sie war wirklich allein.
Und es kam noch schlimmer: Sie war eingeschlossen.
„Nicht gut.“, dachte sie. „Überhaupt nicht gut.“. Sie rüttelte heftiger am Griff und klopfte an die Glasscheibe, als hinter ihr ein Schluchzen erklang.
Sie hielt inne und blickte zurück entlang des Ganges.
War das der Grund gewesen?
Sie wandte sich vom Ausgang ab und beschloss, sich umzuschauen.
Rechts neben ihr tauchte die Tür zur Umkleidekabine der Jungs auf.
Das Schluchzen mischte sich dem geisterhaften Heulen unter. Sally drehte den Kopf in dessen Richtung. Der Laut kam nur wenige Meter entfernt, aus der Umkleide der Mädchen.
Sie schluckte und näherte sich der Geräuschquelle.
„Hallo?“, versuchte sie es erneut. Diesmal ein wenig lauter. Aber der Kloß im Hals verschluckte die letzte Silbe. Das Schluchzen versiegte mit einem Mal. Es war wieder still geworden.
Zitternd hob sie die Hand und schob die Tür auf.
Vor ihr reihten sich die bekannten Holzbänke auf. An der linken Wand befanden sich blaue Schließfächer. Eine weitere Tür führte zu den Toiletten.
Womöglich hatte sie sich das nur eingebildet.
„Niemand hier.“, dachte Sally und schüttelte den Kopf.
Was um alles in der Welt tust du hier?
Und was noch viel wichtiger war: Wie um alles in der Welt kommst du hier raus?
Sie schaute die Fenster an, die hochgelegen, rund um die Wände platziert waren. Da würde sie auf keinen Fall durchpassen.
Während sie an ihrem Fluchtplan tüftelte, erklang das Schluchzen erneut.
Es kam aus der Toilette.
„Hallo!“, rief sie, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Was dachte sie, würde sie dort erwarten?
Wer auch immer sie war, vielleicht kannte sie einen Weg hier raus.
Dennoch weigerten sich ihre Beine, auch nur einen weiteren Schritt zu machen. Sie spürte die unsichtbaren Fesseln der Angst.
Jemand schnäuzte.
„Ja?“, drang eine wimmernde Stimme zu ihr herüber.
„Alles okay?“, fragte Sally.
„Ja...“, antwortete die Stimme.
„Okay.“, erwiderte Sally. Sie beugte sie kurz aus der Tür und blickte wieder den Flur entlang.
Immer noch nichts zu sehen.
Immer noch nichts zu hören.
Als sie den Blick wieder in die Kabine richtete, stand ein Mädchen direkt vor ihr. Sally machte einen Satz nach hinten und fasste sich vor Schreck an die Brust. An ihrem Rücken spürte sie die kühle Wand.
„Wow.“, stieß sie atemlos aus. „Da hast du mich aber echt erschreckt.“.
Das Mädchen blickte sie mit geröteten Augen an. Sally kannte sie nicht. Unter ihren leuchtend-grünen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet. In ihren Händen hielt sie ein Taschentuch, das nicht nur eine nasale Entladung ertragen hatte. Auf ihrem weißen T-Shirt erkannte sie einige, feuchte Flecken. Sie trug eine Jeans mit zwei großen Löchern an den Knien.
„Was machst du hier?“, fragte Sally.
„Ich suche meine Turnschuhe. Die mit den Einhörnern.“, murmelte das Mädchen und wirbelte das Taschentuch zwischen ihren Fingern. „Ich hatte sie hier vergessen.“.
„Okay.“, sagte Sally wieder. „Und, wo sind die Anderen?“.
„Welche Anderen?“.
„Ein Lehrer, der Hausmeister, irgendjemand, oder bist du alleine? Wieso ist die Tür abgeschlossen? Wie sind wir hier überhaupt reingekommen...“, begann Sally in der Hoffnung auf Antworten, doch unterbrach ein jähes, lautes Poltern ihren Versuch, die Situation zu verstehen.
Das Mädchen schreckte auf. Mit geweiteten Augen starrte sie Sally an. Ohne ein weiteres Wort lief sie zurück zu den Toiletten.
Das Poltern erklang erneut. Ein leichtes Stechen machte sich in ihrem Magen bemerkbar.
Dieses Gefühl, wenn irgendetwas bevorsteht. Eine unantastbare Gefahr, ein lauerndes Tier, das seine Beute in die Falle gelockt hatte.
Das Gefühl, das den Jäger zum Gejagten macht.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Dass es sich bei dem Geräusch um ein Monster handelte, schien ihr in diesem Moment plausibler als die Ankunft des Hausmeisters für den abendlichen Rundgang.
Sally folgte dem Mädchen in die Toiletten.

In der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand, traf Sally sie erneut an.
„Was ist hier los?“, flüsterte sie und trat einen Schritt auf sie zu. Deren Schultern bebten, die Hände vergrub sie in ihrem Gesicht. Vorsichtig streckte Sally eine Hand aus, um das Mädchen zu beruhigen, besann sich jedoch wieder.
Bumm – bumm - bumm.
Irgendjemand war im Flur.
Sally blickte sich um. Zwei Waschbecken zu ihrer Linken, über denen der Spiegel zerschlagen war. Zwei grünliche Kabinen auf der anderen Seite. Unzählige Sprüche und Graffitis zierten ihre Oberflächen.
Schweißperlen legten sich auf ihre Stirn.
Überlebensinstinkt.
„Los, in die Toiletten!“, zischte Sally ihr zu.
Hastig ging sie auf die erste Kabine zu. Ein Schatten huschte an ihr vorbei. Quietschend meldete sich die Schwingtür neben ihr. Das Mädchen schien ihrem Rat gefolgt zu sein.
„Schließ‘ die Tür.“, flüsterte Sally ihrer Klo-Nachbarin zu. Der Riegel klickte.
Ihr Atem beschleunigte sich.
Leise legte sie ein Ohr auf die kühle Wand. Das Poltern verstummte. Statt schwerer Schritte lief nun jemand leichtfüßig über den Boden. Der Absatz der Schuhe hinterließ ein helles Klackern auf den Fliesen.
Sally entfernte sich und setzte sich auf die Klobrille. Dann hob sie die Füße an und umschlang ihre Beine.
Kinder lernten früh, nicht von ihren Eltern, sondern von den Kreaturen ihrer Albträume, dass sie ihre Füße stets von Öffnungen fernhalten sollten.
Deswegen hing auch nie ein Bein aus dem Bett, wenn Sally schlief. Denn nur ein unachtsamer Moment, und das Monster unter dem Bett würde seine Kralle ausfahren und sie für immer zu sich nehmen.
Die Schritte näherten sich. Sie betraten die Umkleidekabine. Kurz verharrten sie da. Dann klackerten sie weiter. Immer näher an ihr Versteck.
Dann hörte sie noch etwas.
Eine fröhliche Melodie begleitete den heulenden Wind. Jemand summte vor sich hin.
Die Schritte kamen zum Stehen. Ein Schatten trat unter der Kabine zu Sally hinein.
Sie hielt die Luft an. Das Pochen in ihren Ohren, das wirbelnde Blut entwickelten sich zu einem Rauschen. Doch von außen war nichts zu hören. Niemand konnte ihre Angst hören. Nur sie war ihr ausgeliefert.
Auch von der Nebenkabine drang kein Lebenszeichen heraus.
„Leute! Los, wir sind spät dran!“, rief eine Stimme. Jemand klopfte von der anderen Seite gegen die Tür. Sally zuckte zusammen.
Sie konnte die Stimme keiner Person zuordnen. Allem Anschein nach schien die Person jedoch ganz genau zu wissen, wer sie war, denn im nächsten Moment, sagte sie ihren Namen.
„Sally! Ich weiß, dass du da drin bist!“, sagte sie und klopfte erneut. Diesmal ein wenig energischer. „Und du auch, Jessy!“.
Der Absatz klackerte von Sally’s Toilette fort und kam neben ihr zum Stehen.
Sally öffnete ihren Rucksack. Aus ihrem Notizblock entriss sie eine kleine Ecke und schrieb etwas darauf. Dann bückte sie sich vorsichtig hinunter und schob den Zettel zu Jessy herüber. Es dauerte einige Augenblicke, doch dann sah Sally eine blasse Hand, die das Papier an sich nahm.
Mach‘ nicht die Tür auf!
„Ich zähle jetzt bis drei!“, sagte die Stimme auf der anderen Seite. Das Klopfen wurde immer aufdringlicher, aggressiver. Sie stand jetzt wieder vor Sally’s Toilette.
Diesmal rüttelte sie am Griff. Sie sah ein Paar weißer Turnschuhe. Auf dem Fußrücken blitzte ein buntes Einhorn auf.
Waren das die Turnschuhe, von denen Jessy vorhin gesprochen hatte? Das Einhorn galoppierte davon und rüttelte diesmal an der benachbarten Tür.
„Drei.“, sagte die Stimme.
„Mach‘ nicht die Tür auf.“, flüsterte Sally.
„Zwei.“.
Neben ihr raschelte es. Ein Schatten bewegte sich auf die Toilettentür zu.
„Eins.“.
„MACH‘ NICHT DIE TÜR AUF!“, schrie Sally. Doch das penetrante Quietschen der Kabinentür ertönte und Jessy trat hinaus.
„Das sind meine Schuhe!“, hörte sie das Mädchen wütend rufen.
Einen Wimpernschlag später klatschte etwas dumpf auf dem Boden.
Haltlos.
Leblos.
Dann, wenige, unerträgliche Minuten, später, durchbrach etwas die Stille.
Schmatzen.
Schlürfen.
Schmatzen.
Reißen.
Schmatzen.
Rote Flüssigkeit rann über den Kacheln zu ihrer Kabine. Die feinen Spuren vermischten sich zu einer Lache, bedeckten bald den gesamten Boden.
Sally starrte auf die Kabinentür.
Tiefe Furchen zeichneten sich auf dort auf der Kabinenwand ab. In großen Lettern las sie die Botschaft.
Mach‘ nicht die Tür auf.
Dahinter reihten sich unzählige Daten auf. Ganz am Ende der Liste entdeckte sie den 24. August.
Heute.
Sally presste die Lider aufeinander.

Es klingelte. Die Pause begann, in einer Viertelstunde würde sie wieder im Klassenzimmer sitzen. Zwischen den Anderen. Unter den Anderen. Sie würden nichts merken.
Hinter dem Panorama-Fenster hatte sich Dunst gebildet. Kondenswasser, entstanden durch Schweiß und heißem Atem.  Schemenhaft erkannte sie das kleine, blonde Mädchen. Wieder einmal saß sie am Rande des Spiels und beobachtete die Anderen. Das rote Team führte.

Die Glastür schloss sich hinter hier mit einem Klicken. Die Umkleidekabine stand noch leer.  Sie ging die einzelnen Reihen ab.
Das Einhorn.
Da lag es, unter der morschen Holzbank, neben ein Paar Socken.
Ein letztes Mal blickte sie sich um. Dann verschwanden die Schuhe in ihrem Rucksack.


Verschwinde, dachte sie.
Verschwinde, ich habe alles getan, was du verlangtest.
Jetzt verschwinde endlich.
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