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Die Zeit danach ...

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler Melanie Hansen
01.09.2022
31.03.2023
50
115.721
29
Alle Kapitel
275 Reviews
Dieses Kapitel
4 Reviews
 
28.03.2023 3.755
 
Das Ziel ist langsam in Sicht. Dies ist nun das vorletzte Kapitel und ich hoffe wirklich sehr, dass es so oder so ähnlich in einer der ersten Folgen von Staffel 18 ablaufen wird. Viel Freude damit!

PS: Nach über 16 Jahren holen Anja, Tammy und ich die Hafenkante zum allerersten Mal auf die Kinoleinwand! Im Rahmen des 1. Fan-Wochenendes (@wir.sehen.uns.am.pk21) zeigen wir mit Unterstützung der Produktion und des ZDF am Sonntag, 7. Mai, um 10 Uhr die beiden Folgen „Letzter Schritt“ und „Baby an Bord“ im Hansa Filmstudio Bergedorf. Der Eintritt ist kostenlos, das Kartenkontingent begrenzt. Euer persönliches Ticket könnt ihr euch mit Angabe eures vollständigen Namens unter der E-Mail-Adresse franzbroetchen.u.feierabendbier@gmail.com sichern. Vielleicht sehen wir uns ja dort … :)



Zum allerersten Mal seit dem schrecklichen Unfall wachte Melanie nicht mit einem Gefühl von Unsicherheit, Panik und Angst auf. Stattdessen verspürte sie bereits in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen Erleichterung, Freude und Zuversicht. Dass Mattes gestern aus dem künstlichen Koma geholt worden war, dass er sie erkannt und die ersten Worte mit ihr gesprochen hatte, machte sie unfassbar glücklich.
Mit Dörte Seeler hatte sie gestern Abend noch vereinbart, dass sie nach ihrer Schicht zu Mattes ins EKH gehen würde und dass der Tag Mutter und Sohn gehören sollte. Eigentlich hätte sie sich am liebsten heute freigenommen, um den ganzen Tag bei Mattes zu verbringen. Aber sie wusste, dass es vernünftiger war, erst einmal ihre Schicht hinter sich zu bringen und dann am Abend Ruhe und Zeit für ihn zu haben.
Haller hätte einen spontanen freien Tag ihrerseits sicherlich auch nicht besonders gutgeheißen, hatte er ihr doch deutlich zu verstehen gegeben, was er von ihrer Beziehung mit ihrem Streifenpartner hielt. Dörte hatte ihr aber versichert, Mattes Bescheid zu sagen, dass sie später am Tag bei ihm sein würde.
Melanie freute sich so sehr auf diesen Moment. Der Moment, in dem sie seit dem Unfall endlich mit ihm allein sein würde. Mit ihm sprechen konnte. Und mit ihm die Unterhaltung fortsetzen konnte, die das furchtbare Unglück so abrupt beendet hatte. Die Unterhaltung über ihre Zukunft.
Sie wollte ihn ganz sicher nicht überfordern. Und sie würde dabei nur so weit gehen, wie Mattes zu gehen bereit wäre. Dass er noch immer extrem geschwächt war, war gestern Abend nach seinem Aufwachen offensichtlich gewesen. Und dass selbst kleinste Gespräche und Handlungen ihn enorm anstrengten, auch. Er würde heute Abend das Tempo bestimmen, nicht sie.
Als Melanie vor dem PK ankam, erschienen ihr dessen rötliche Mauern strahlender als in den Tagen zuvor. Die Sonnenstrahlen wirkten viel heller und die Möwen über ihrem Kopf viel lebendiger. Wie anders sie die Welt doch in den vergangenen Tagen wahrgenommen hatten. Grauer, trüber, trauriger – weil eine dunkle Wolke über ihr gehangen hatte.
Melanie wusste, dass noch ein langer Weg vor Mattes und ihr lag. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass bereits in einigen Tagen oder Wochen alles wieder seinen gewohnten Gang gehen würde. Mattes würde sicherlich einige Zeit brauchen, um sich wieder vollständig zu regenerieren. Und sie beide würden sicherlich einige Zeit brauchen, um Hallers Vertrauen zurückzugewinnen, wenn sie es überhaupt zurückbekommen konnten. Und welche Konsequenzen aus ihrer Beziehung für den Dienst resultieren würden, wusste sie auch noch nicht.
Aber das war ihr gerade alles egal. Ihre gesamten dienstlichen Herausforderungen erschienen ihr so unfassbar klein im Vergleich zu den privaten Herausforderungen, die sie in den vergangenen Tagen bewerkstelligen musste – und wahrscheinlich auch noch in den nächsten Monaten bewerkstelligen müsste.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ging sie durch die Eingangstür, zum ersten Mal seit Tagen. „Melanie. Ist irgendwas passiert?“ Wolle schien ihren Stimmungsumschwung direkt bemerkt zu haben. Und in diesem Moment fiel ihr ein, dass sie gestern Abend niemanden ihrer Kollegen mehr über die Verbesserung von Mattes’ Zustand informiert hatte. Der Tag war unglaublich anstrengend gewesen und sie hatte einfach nicht mehr daran gedacht.
Leicht schuldbewusst blickte Melanie den Wachhabenden an, was aber nichts daran änderte, dass aus ihrem vorherigen Lächeln nun ein Strahlen wurde. „Mattes ist gestern Abend aufgewacht.“ In Wolles Gesichtsausdruck war sofort die gleiche Erleichterung zu erkennen, die sie am Vorabend ebenfalls empfunden hatte.
„Er ist aufgewacht?“ Melanie drehte sich um. Scheinbar hatte Kris ihre Unterhaltung mitbekommen und war von hinten an sie herangetreten. Direkt neben ihm stand Daisy, die sie genauso erwartungsvoll anblickte wie ihr Kollege. Melanie nickte. „Ja, gestern Abend. Sie haben ihn aus dem künstlichen Koma geholt.“ „Puh“, war das Einzige, was Kris sagte. Auch ihm war die Erleichterung deutlich anzusehen.
„Ja und, wie geht’s ihm?“, wollte nun Daisy wissen. Melanie hatte nicht mehr die Möglichkeit, ihr zu antworten, denn Haller kam aus seinem Büro und blieb stehen, als er seine vier Mitarbeiter zusammen vor sich sah. „Ist was passiert?“, stellte er die gleiche Frage, die schon Wolle einige Momente vor ihm gestellt hatte. „Mattes ist aufgewacht“, antwortete dieser dann anstelle von Melanie.
Sie merkte, dass Haller gerade versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. „Na Gott sei Dank“, war das Einzige, was er sagte. „Und wie geht’s ihm jetzt?“, wiederholte Daisy ihre vorherige Frage. „Den Umständen entsprechend. Er ist natürlich noch sehr schwach, aber er hat seine Mutter und mich erkannt und konnte auch ein paar Worte mit uns sprechen.“ Bei dem Gedanken daran musste Melanie unwillkürlich wieder lächeln.
„Ach, du warst dabei, als er aufgewacht ist?“ Kris blickte sie etwas irritiert an und auch Wolles Neugier schien nun geweckt, denn er musterte sie mit durchdringendem Blick. Unter normalen Umständen wäre Melanie jetzt innerlich zusammengezuckt und hätte versucht, sich in Ausreden zu flüchten. Aber diesmal nicht. Nicht mehr.
„Ja, ich war dabei“, sagte sie ruhig und blickte Kris dabei unverwandt an. Sie sah die Fragen und Vermutungen, die sich in seinem Blick spiegelten. Es waren genau die Fragen und Vermutungen, die wahrscheinlich gerade fast alle in der Runde hatten.
„Es ist ja auch egal, wer alles dabei war. Hauptsache, Mattes ist auf dem Weg der Besserung“, mischte sich nun Wolf wieder in die Unterhaltung ein. Er warf Melanie kurz einen scharfen Blick zu und sie wusste genau, was er dachte. „Und jetzt wieder alle an die Arbeit“, machte ihr Chef klar, dass er die Unterhaltung als beendet betrachtete. Melanie hörte nur noch, wie er ein leises „Mann, Mann, Mann“ murmelte, als er in sein Büro zurückging und die Tür hinter sich zuwarf.

Es war fast Punkt 18.30 Uhr, als Melanie die Intensivstation des EKH betrat. Direkt nach ihrem Schichtende hatte sie sich so schnell wie möglich umgezogen, sich noch etwas frisch gemacht und dann den Weg zum Krankenhaus eingeschlagen. Dörte Seeler hatte sie tagsüber mit Nachrichten zu Mattes’ Gesundheitszustand auf dem Laufenden gehalten. In ihrer Mittagspause und während ihres Fußweges ins EKH hatten sie noch einmal kurz telefoniert.
Mattes war laut seiner Mutter immer noch schwach, konnte auch weiterhin nur unter Anstrengung sprechen und hatte nach wie vor Gedächtnislücken hinsichtlich des Unfalls. Aber alles das waren ganz normale Folgen seiner schweren Verletzungen, wie Jasmin und Dr. Sharif Dörte wohl noch mehrmals versichert hatten. Trotzdem waren Fortschritte erkennbar. Zwar nur leichte, aber alles andere wäre medizinisch auch nicht erklärbar gewesen.
Mit jedem Schritt, den Melanie nun auf Mattes’ Zimmer zuging, schlug ihr Herz schneller. Aber diesmal nicht aus Angst wie an den vorherigen Tagen, sondern aus Freude. Er war aufgewacht. Er würde überleben. Und endlich wären sie zu zweit. Endlich allein. Auch wenn sie sich bessere und schönere Umstände dafür gewünscht hätte. Aber es ging ihm besser, und das war das Einzige, was zählte.
Vorsichtig schaute sie durch die milchige Scheibe, die Mattes und sie voneinander trennte. Er schien zu schlafen, denn seine Augen waren geschlossen und sein Körper bis auf die gleichmäßigen Atemzüge ruhig. Leise öffnete sie die Tür, ging zum Bett, legte ihre Tasche ab und setzte sich neben ihn.
Wie oft hatte sie an den vergangenen Tagen so hier gesessen – in völliger Ungewissheit darüber, ob Mattes je wieder aufwachen würde, und in völliger Angst darüber, ob er das überhaupt überleben würde. Aber heute war das anders. Ganz anders.
Liebevoll musterte sie sein Gesicht. Er sah so friedlich aus, während er dalag und schlief. So, als wäre dieser Unfall nie passiert. Vorsichtig griff sie nach seiner rechten Hand. Sie wollte ihn nicht wecken, aber sie brauchte in diesem Moment seine Berührung. Und vielleicht brauchte er ihre Berührung ja genauso.
Es dauerte nur wenige Momente, bis sie eine leichte Regung in seinem Körper vernahm. Seine Finger bewegten sich zaghaft und er öffnete langsam und blinzelnd die Augen. Augenblicklich fiel sein Blick auf sie und sein Mund verzog sich zu einem leichten Lächeln. „Me-lanie.“ Seine Stimme klang heiser und war fast ein Flüstern.
Sie sah, dass er versuchte, sich ein Stück aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. „Schhhhh. Bleib liegen.“ Ganz vorsichtig drückte sie ihn mit ihrer freien Hand ein paar Zentimeter in sein Kissen zurück, während ihre andere immer noch in seiner lag. Er sagte nichts, sondern musterte sie intensiv. „Meine … Meine Mutter hat … mir erzählt … mir erzählt, was passiert ist.“
Melanie wandte ihren Blick betroffen ab und schaute vor sich auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Was sollte sie darauf sagen? Es war offensichtlich, dass Mattes noch einige Probleme mit dem Sprechen hatte und es ihn hörbar anstrengte. Außerdem wollte sie selbst die schrecklichen Momente des Unfalls nicht schon wieder erleben. Auch wenn es nur in ihrer Erinnerung war. Denn ihre Schuldgefühle ihm gegenüber waren keine Erinnerung, sondern Realität.
„Hey … schau … mich an.“ Obwohl Mattes’ Stimme leise war, konnte Melanie eine gewisse Entschlossenheit darin hören. Langsam hob sie ihren Kopf wieder und blickte ihn an. „Weißt du denn noch, was passiert ist?“, fragte sie vorsichtig. Vielleicht war es besser, erst einmal herauszufinden, an was er sich überhaupt noch erinnerte.
„Nicht … so richtig. Wir … wir haben gesprochen. Und dann … war da … dieser Typ. Danach weiß ich … nichts mehr.“ Die Erinnerung daran ließ Melanie unmerklich zusammenzucken, aber Mattes schien es trotzdem bemerkt zu haben. Er versuchte, den Druck seiner Hand in ihrer zu verstärken, auch wenn dieser sich im Vergleich zu sonst deutlich schwächer anfühlte.
Wieder senkte Melanie schuldbewusst ihren Blick. „Es tut mir so leid, Mattes.“ Gedankenverloren streichelte sie über seine Finger. „Wenn ich nicht gewesen wäre, dann lägst du jetzt nicht hier. Dann wäre das alles nicht passiert.“ Sie wusste, dass Mattes sich eigentlich nicht aufregen sollte, aber nun hatte sie doch Schwierigkeiten, ihre Tränen zurückzuhalten.
„Nein … Melanie. Es ist … nicht … deine Schuld.“ Beim Klang seiner Stimme verstärkte sich das Beben ihrer Schultern und sie sah eine einzelne Träne auf das weiße Bettlaken vor ihr tropfen. „Es ist nicht … deine Schuld.“ Mattes’ Stimme war nun fester geworden, eindringlicher, ein wenig lauter.
Sie hob ihren Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Aber wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätten wir nicht da mitten auf der Straße gestanden. Und dann wärst du diesem Typen auch nicht hintergerannt. Und dann … “ Sie stockte. Und wieder spürte sie, dass Mattes gerade versuchte, ihren Händedruck zu erwidern.
„Niemand … niemand hat mich … gezwungen, ihm … hinterher zu rennen. Das war … das war meine eigene … Entscheidung.“ Er atmete tief aus und ließ sich ein Stück tiefer in sein Kissen fallen. Melanie sah ihm an, dass das Sprechen ihm große Schwierigkeiten bereitete. „Lass uns jetzt nicht weiter darüber reden, ja?“ Sie streichelte beruhigend über seine Finger und dann seinen Unterarm hinauf. Er nickte nur und schloss langsam die Augen.
Einige Minuten lang sagte niemand von ihnen etwas. Es war unverkennbar, dass Mattes immer noch sehr erschöpft war. Melanie wollte ihn daher nicht unnötig aufregen, sondern ihm die Ruhe geben, die er in diesem Moment brauchte. Also sah sie ihn nur an, wie er mit geschlossenen Augen vor ihr lag, und streichelte abwechselnd über seinen Unterarm und seinen Handrücken.
„Du siehst … müde aus“, kam es plötzlich von Mattes. Melanie schreckte hoch. Scheinbar waren auch ihr die Augen zugefallen. Sanft lächelte sie ihn an. „Das ist egal, was mit mir ist. Hauptsache, die geht’s besser.“ Ihr Lächeln verstärkte sich. „Meine Mutter … meinte, du … wärst jeden Abend hier gewesen?“ „Ja, das stimmt“, erwiderte Melanie leise.
Mattes musterte sie. „Sie schwärmt … übrigens in … den … höchsten Tönen von dir.“ Nun lag ein angedeutetes Schmunzeln auf seinem Gesicht. „Mattes, es tut mir leid, aber ich musste es ihr sagen. Ich wollte sie nicht anlügen.“ Melanie zuckte entschuldigend mit den Schultern und schaute auf ihre Finger, die gerade über sein Handgelenk fuhren. „Das war … kein … Vorwurf. Es ist gut, dass … sie es weiß.“ Sie schaute wieder hoch und sein Kopf war ein angedeutetes Nicken.
Melanie atmete einmal tief durch. Sollte sie Mattes jetzt auch noch die andere Wahrheit sagen? Wie viel konnte sie ihm gerade zumuten? Und was würde ihn nur unnötig aufregen? „Deine Mutter ist nicht die Einzige, die es weiß“, sagte sie zögernd und sah, dass sich Mattes’ Gesichtszüge leicht anspannten. „Wer … denn noch?“
Wieder wandte Melanie ihren Blick ab und suchte nach den richtigen Worten. „Also …“, setzte sie vorsichtig an und strich dabei fast mechanisch über Mattes’ Finger. „Haller wollte wissen, warum du dem Typen überhaupt hinterhergelaufen bist. Er hat es einfach nicht verstanden und die ganze Zeit nachgebohrt. Und dann … “ Sie sprach nicht weiter. Den Rest ihrer Antwort konnte Mattes sich sicherlich denken.
„Wie hat er reagiert?“, war das Einzige, was er fragte. Melanie hob ihren Kopf und schaute ihn an. „Er war nicht besonders begeistert.“ Dass Haller auch noch von ihr verlangt hatte, auf dem PK und in ihrer Stellungnahme über die genauen Umstände des Unfalls zu schweigen, verschwieg sie ihm an dieser Stelle erst einmal. Es war auch so schon genug, was er in den 24 Stunden seit seinem Aufwachen hatte erfahren und verarbeiten müssen.
Mattes nickte nur. „Es … es tut mir leid, dass … du das allein machen musstest. Dass ich … dass ich nicht da war.“ „Nein, Mattes“, Melanie schüttelte den Kopf. „Mach dir deswegen bitte keine Sorgen. Es war in dem Moment meine Entscheidung. Und mir tut es leid, dass ich diese nicht mit dir absprechen konnte.“
Sie sah ihn an und spürte, dass er seine Hand vorsichtig aus ihrer löste. Dann hob er ganz langsam, ganz zaghaft seinen Arm und streckte ihn nach ihrer Wange aus. Als sie merkte, dass er nicht nah genug an sie herankam, rückte sie noch einige Zentimeter dichter an ihn. Und dann, nach über einer Woche, berührte er ihr Gesicht.
Die Berührung war leicht, federleicht, kaum spürbar, aber dennoch bedeutet diese kleine Geste gerade alles für Melanie. Ihr Herz klopfte, ihre Knie wurden weich und sie legte ihre Hand auf seine, die sich immer noch auf ihrer Wange befand. „Oh, Mattes.“
Und dann konnte sie ihre Emotionen nicht länger zurückhalten. Ihre Schultern bebten und die Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich hatte so eine scheiß Angst um dich“, schluchzte sie, während ihre Hand immer noch auf seiner lag. Sie spürte, dass er versuchte, über ihre Wange zu streicheln, aber der Druck ihrer Hand ließ das nicht gänzlich zu.
„Melanie … ich bin … hier. Es wird … wieder alles gut.“ Nun war er derjenige, der ihr gut zuredete. Dabei hätte es doch eigentlich umgekehrt sein müssen. Unter Tränen schaute sie ihn an. Und gleichzeitig strahlte sie. Es war so, als würde ihr die wahre Bedeutung seiner Worte gerade erst so richtig bewusst werden. Was sie wirklich bedeuteten.
Dass sie ihn nicht verloren hatte. Und dass sie nun gemeinsam ihre Zukunft planen konnten. Weil es diese Zukunft wirklich gab. „Ich bin so froh, dass du das sagst“, erwiderte sie mit belegter Stimme und immer noch leicht schluchzend. Wahrscheinlich sah sie gerade absolut furchtbar aus, aber das spielte jetzt keine Rolle.
„Ich kann … mich übrigens … noch grob an das vor … vor dem Unfall erinnern.“ Nun war es Mattes, der seinen Blick intensivierte. Melanies Augen weiteten sich leicht und erwartungsvoll schaute sie ihn an. „Was weißt du denn noch?“
„Wir … wir haben gesprochen … oder?“ Melanie nickte leicht. „Ja, haben wir.“ Aber wusste er auch noch, worüber sie beide gesprochen hatten? Diese Frage beantwortete Mattes mit seiner nächsten Äußerung selbst. „Über … uns.“ Das klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage. Melanies Nicken verstärkte sich.
„Ich weiß … aber leider nicht … nicht mehr genau, was … ich gesagt habe.“ Fast entschuldigend blickte er sie an. „Aber ich glaube …“, fuhr er weiter fort, „dass es etwas … etwas Gutes war?“ Nun war sein Blick fragend – so, als suche er in ihrem Gesicht nach den Antworten, die er gerade selbst nicht hatte.
Ganz sanft löste Melanie seine Hand von ihrem Gesicht und legte sie vor sich ab, die Berührung immer noch haltend. Mit ihrer anderen Hand berührte sie seine Wange und streichelte mit ihrem Daumen vorsichtig darüber. Er wirkte trotz seiner Fortschritte immer noch so zerbrechlich. Und die Tatsache, dass er immer noch einen Verband um seinen Kopf hatte, minderte diese Wirkung nicht gerade.
„Es war nicht nur etwas Gutes, Mattes.“ Liebevoll blickte sie ihn an. „Es war sogar etwas sehr Schönes.“ Wieder versuchte er, sich etwas aufzurichten. Er schaffte nur wenige Zentimeter, aber Melanie sah ihm seine Erwartungshaltung deutlich an. „Nun spann mich nicht so auf … die Folter. Was … was habe ich gesagt?“ Seine Stimme klang nun ein Stück lauter, aber auch nervöser.
Es tat Melanie fast ein bisschen leid, ihn so zu erleben. Obwohl sie wahrscheinlich genauso nervös war. „So ganz bekomme ich es auch nicht mehr zusammen. Aber du hast mir gesagt, dass ich … großartig bin.“ Etwas verlegen blickte sie nach unten. „Bist du ja auch.“ Sie hörte an seiner Stimme, dass er versuchte zu grinsen.
„Und was noch?“ Er drückte leicht ihre Hand, so als wolle er sie damit zum Weitersprechen animieren. „Ich glaube, dass dir bei meinem Anblick warm wird, oder sowas Ähnliches.“ Jetzt war es Melanie, die leicht grinsen musste. Sie schaute wieder zu Mattes auf. „Das stimmt ja auch“, erwiderte er und sie erkannte ein leichtes Leuchten in seinen Augen. „Wenn man mal davon absieht, dass … dass ich gerade noch etwas eingeschränkt bin.“ Er schaute kurz auf die Schläuche und Infusionen, die mit seinem Körper verbunden waren.
Melanie streichelte fester über seine Hand. Es tat ihr immer noch weh zu sehen, dass er hier so lag. Verletzt, verwundet, die Nachwirkungen des Unfalls immer noch sicht- und spürbar. „Die Hauptsache ist, dass du aufgewacht bist. Und dass es dir besser geht.“ Erleichtert schaute sie ihn an.
Aber plötzlich kam ihr noch ein anderer Gedanke. Ein Gedanke, der sie in den vergangenen Tagen sehr oft beschäftigt hatte – und den sie nun aussprechen musste. „Hast du eigentlich was mitbekommen?“ Fragend schaute Mattes sie an. Er schien nicht zu verstehen, was sie meinte. „Also, als du im künstlichen Koma lagst?“, ergänzte sie. „Hast du irgendwas gehört? Oder wahrgenommen?“
Leicht schüttelte er den Kopf. „Ich … kann mich nicht erinnern. Was sollte ich denn mitbekommen haben?“ Nun blickte er sie musternd an, als würde er spüren, dass sie irgendetwas beschäftigte. Okay, er hatte sie also nicht gehört. Die drei Worte, die sie ihm schon so lange hätte sagen sollen.  Denn daran würde er sich sicherlich erinnern. Und die sie ihm dann gesagt hatte, als es fast zu spät gewesen wäre. Diesen Fehler wollte sie kein zweites Mal machen.
„Ich habe mit dir gesprochen, als du hier lagst“, versuchte sie es zunächst etwas allgemeiner. „Oh, dann hattest du … ja die beste Gelegenheit … mir all das an den Kopf zu werfen … was du mir immer schon mal sagen wolltest.“ Er versuchte zu lachen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Scheinbar schmerzte ihn die Bewegung seines Brustkorbes und seiner Muskeln noch zu sehr.
Melanie blickte ihn halb vorwurfsvoll, halb belustigt an. „Wenn du nicht so da lägst, würde ich dir jetzt auf den Oberarm hauen.“  Sein Gesichtsausdruck wurde wieder ernster. „Bevor du das machst … Wir hatten unser Gespräch … unser Gespräch vor dem Unfall nicht beendet … oder?“
Etwas unsicher rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Natürlich wollte er das wissen. Und natürlich hatte er eine wahrheitsgemäße Antwort auf seine Frage verdient. „Nein, hatten wir nicht. Also nicht so richtig.“ Von einer Sekunde auf die andere fühlte Melanie sich wieder in diesen Moment zurückversetzt. Als sie gemeinsam auf dem St. Annenufer gestanden und über den Stand ihrer Beziehung gesprochen hatten. Als Mattes ihr gestanden hatte, wie er sie sah. Und wo er sie beide sah.
„Hattest du … hattest du nicht irgendwas von … Happy-End gesagt?“ Melanie spürte, dass sich erneut sein Druck auf ihrer Hand verstärkte. Unwillkürlich musste sie bei der Erinnerung daran lächeln. „Ja, hatte ich“, bestätigte sie lächelnd. „Und? Gibt es das jetzt? Unser … unser Happy-End? Machen wir da weiter, wo wir vor … vor dem Unfall aufgehört haben?“
Sie betrachtete ihn. Sein Gesichtsausdruck war voller Hoffnung – fast schon flehend. „Du hast wirklich nicht gehört, was ich dir gesagt habe, als du hier lagst?“, fragte sie noch einmal, obwohl sie Mattes’ Antwort auf diese Frage bereits kannte. Er schüttelte den Kopf. „Verrätst du … es mir denn? Ich bin jetzt nämlich … ganz schön neugierig. Und es … muss ja was … sehr Wichtiges gewesen sein.“
Melanie zog ihre Schultern nach hinten, atmete noch einmal tief aus und lehnte sich dann zu ihm herüber, sodass ihr Kopf nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt war. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und schaute ihm tief in die Augen. „Dann jetzt zum zweiten Mal …“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich liebe dich, Mattes Seeler.“
So, jetzt war es raus. Erneut. Und diesmal konnte sie absolut sicher sein, dass er es gehört hatte. Ihr Herz schlug laut in ihrer Brust und sie hatte das Gefühl, dass man es auf der gesamten Station hören konnte. Aber gleichzeitig war da auch noch etwas anderes. Nämlich innere Erleichterung, egal was nun passierte. Und absolute Gewissheit darüber, dass sie gerade das Richtige getan und gesagt hatte.
Ruhig legte sie ihre Stirn an seiner ab und schloss die Augen – dankbar dafür, dass Mattes doch noch die Chance bekommen hatte, persönlich aus ihrem Mund zu hören, was sie für ihn empfand. Dass sie noch die Chance bekommen hatte, absolut ehrlich zu ihm zu sein. Dass sie beide noch die Chance bekommen hatten, diesen einzigartigen Moment zu teilen.
Plötzlich spürte sie, dass er mit seiner Hand ihre festhielt. Dass er die Berührung ihrer Stirn löste. Und dass er sie ein paar Zentimeter von sich wegschob. „Melanie“, seine Stimme klang leise, aber dennoch fest. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen wieder und blickte direkt in die von Mattes. Sie spürte, dass er über ihren Handrücken strich, während sie sein Gesicht immer noch in ihren Händen hielt. „Ich liebe dich auch.“
Zum ersten Mal an diesem Abend klang seine Stimme nicht zögernd und stockend, sondern eindringlich und klar. Und zum ersten Mal seit dem Unfall spürte sie nur wenige Momente später endlich wieder seine Lippen auf ihren …
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