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Die Zeit danach ...

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler Melanie Hansen
01.09.2022
31.03.2023
50
115.721
29
Alle Kapitel
275 Reviews
Dieses Kapitel
5 Reviews
 
25.03.2023 3.868
 
So, wir biegen langsam auf die Zielgerade ein. Ich weiß, dass ihr das wahrscheinlich nicht gerne hört, aber dies ist nun das drittletzte Kapitel dieser FF. ;)

Viel Spaß damit!



Seit zwei Stunden saß Melanie gemeinsam mit Dörte Seeler im Wartebereich vor dem OP-Saal. Zwei Stunden, in denen jede einzelne Minute, jede einzelne Sekunde ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Sie hatte eine kaum auszuhaltende Angst. Angst davor, dass irgendwann einer der operierenden Ärzte herauskommen und ihr mitteilen würde, dass Mattes es nicht geschafft hatte.
Und sein Leben hing gerade tatsächlich am seidenen Faden. Jasmin war in der Zwischenzeit zu ihnen gekommen und hatte ihnen noch einmal in Ruhe erklärt, was passiert war: Der Druck in Mattes’ Kopf war plötzlich ungewöhnlich hoch angestiegen.
Dies hatte aber scheinbar nichts mit dem mehrsekündigen Stromausfall durch den Hackerangriff zu tun, sondern mit seinen Unfallverletzungen sowie dem kritischen Zustand, in dem er sich bereits seit einer Woche befand. Und die OP war notwendig geworden, um den Druck auf sein Gehirn wieder zu senken.
Das Warten war unerträglich. Schon wieder war Melanie in der Situation, in der sie selbst nichts für Mattes tun konnte. In der seine Zukunft – ihre gemeinsame Zukunft – von externen Faktoren und anderen Personen abhing. In der sie einfach nur dasitzen und hoffen konnte. Hoffen, dass sich doch irgendwie alles zum Guten wenden würde.
„Möchtest du einen Kaffee, Melanie?“, fragte Dörte sie irgendwann. Sie schüttelte nur den Kopf. Sie konnte jetzt nichts trinken, wollte es auch nicht. Denn das hätte ihr eine Normalität vorgegaukelt, die gerade nicht ihre Wirklichkeit war. Eine Realität, die sich falsch und unangemessen angefühlt hätte. Aber sie konnte auch verstehen, dass Mattes’ Mutter sich gerade ablenken wollte und wahrscheinlich auch musste.
„Ich gehe mir mal kurz einen holen, ja?“ Dörte stand auf und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. Gedankenverloren blickte Melanie ihr hinterher. Was, wenn diese Frau, die sie in den vergangenen Tagen so schätzen gelernt hatte, das Einzige wäre, was ihr von Mattes noch bleiben würde? Der Mensch, der ihr so unglaublich viel bedeutete. Der alles für sie war.
Traurig blickte sie auf die Uhr, die an der Wand gegenüber hing. Das Ticken der Zeiger machte sie ganz verrückt. Konnte man das nicht irgendwie abstellen? Und waren wirklich erst wieder zwei Minuten vergangen? Wie lange dauerte das überhaupt noch? Jasmin hatte ihnen erklärt, dass man nicht genau sagen könne, wie viel Zeit die OP in Anspruch nehmen würde. Und dass das eben auch von Mattes’ Zustand und der genauen Ursache für den Hirndruck abhinge.
Melanie atmete tief durch und stand auf. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Unruhig lief sie auf und ab. Wenn denn doch endlich einmal ein Arzt aus dem OP-Saal kommen und ihnen mitteilen würde, wie es um Mattes stand. Aber vielleicht wollte sie das auch gar nicht. Zumindest nicht, wenn die Nachrichten schlecht sein würden.
„Und, irgendetwas Neues?“ Dörte kam nach einigen Minuten um die Ecke und sah sie fragend an. „Nein“, meinte Melanie kopfschüttelnd. Mattes’ Mutter setzte sich mit ihrem Kaffee in der Hand wieder auf einen der Besucherstühle und machte ihr ein Zeichen, sich zu ihr zu gesellen. Nur, dass Melanie gerade überhaupt nicht wusste, ob sie lieber sitzen oder stehen wollte. Scheinbar war sie gerade unfähig, die banalsten Entscheidungen zu treffen.
Dies musste sie aber auch gar nicht mehr, denn plötzlich ging die Tür zum OP-Bereich auf und ein Arzt kam heraus. Dörte sprang sofort auf und Melanie ging direkt auf ihn zu. „Jens Hillmann“ las sie aus den Augenwinkeln auf seinem Namensschild. Wieso fiel ihr gerade so etwas auf? Wo es doch so viel Wichtigeres gab. Aber vielleicht klammerte sie sich gerade an alles, was die Worte des Arztes überdeckte. Worte, die sie vielleicht nicht hören wollte.
„Frau Seeler“, sprach der Arzt Mattes’ Mutter direkt an. Melanie war näher an sie herangerückt und hatte ihr intuitiv den Arm auf die Schulter gelegt. Sie brauchte gerade diesen Halt und die Gewissheit, dass sie nicht allein in dieser Situation war. Auf dem Gesicht des Mediziners lag ein leichtes Lächeln. Und das war das erste Mal, dass Melanie seit dem Unfall wieder Hoffnung schöpfte. Hoffnung, dass eventuell doch wieder alles gut werden würde.
Die nächsten Worte des Arztes sollten ihre Hoffnung bestätigen. Es waren die Worte, die sie sich zu hören erhofft, aber nicht zu hören erwartet hatte: „Wir konnten Ihren Sohn stabilisieren und den Druck auf sein Gehirn wieder normalisieren.“ Jetzt begann sich alles in Melanie zu drehen. Aber nicht vor Angst, sondern vor Erleichterung. Dörte schien genauso erleichtert wie sie und griff nach ihrer Hand.
„Was heißt das genau, Dr. Hillmann?“, fragte Mattes’ Mutter den Arzt, während sie Melanies Finger fest drückte. „Ich möchte Sie jetzt nicht unnötig mit medizinischen Details konfrontieren. Aber momentan sieht es gut aus. Wenn der Zustand Ihres Sohnes sich in den nächsten Tagen verbessert, wovon ich nach jetzigem Stand ausgehe, können wir ihn bald aus dem künstlichen Koma holen.“
Oh Gott. Genau diese Worte hatte Melanie hören wollen. Genau diese Worte hatte sie gebraucht.  Und genau diese Worte schienen den quälenden Zustand zu beenden, in dem sie sich nun seit über einer Woche befand. Wie hatte sie die vergangenen Tage eigentlich durchgestanden?
Am liebsten wäre sie dem Mediziner um den Hals gefallen. Das tat sie stattdessen bei Dörte. Sie schluchzte erleichtert in den Armen von Mattes’ Mutter auf und hörte an deren Schluchzen, dass sie genauso erleichtert war wie sie. Nachdem sie sich langsam wieder aus der Umarmung gelöst hatten, blickte Dörte erneut den Arzt an. „Wird mein Sohn Folgen aufgrund dieser Sache zurücktragen?“
Oh nein. Diesen Gedanken hatte Melanie in den vergangenen Tagen erfolgreich zu verdrängen versucht. Sie hatte zwar immer wieder einmal darüber nachgedacht und auch mit Dörte darüber gesprochen. Aber für sie war in der vergangenen Woche viel wichtiger gewesen, dass Mattes überhaupt wieder aufwachte, als über mögliche dauerhafte Schädigungen nachzudenken. Aber nun konnte sie vor dieser Frage nicht mehr flüchten.
„Das kann ich Ihnen derzeit noch nicht sagen, Frau Seeler“, antwortete der Arzt ruhig. „Wir müssen schauen, was passiert, wenn er aufwacht. Es kann sein, dass er desorientiert ist oder Gedächtnislücken hat. Es kann aber auch sein, dass einige Funktionen seines Körpers eingeschränkt sind und vielleicht auch bleiben. Das müssen wir abwarten.“
Abwarten. Melanie konnte dieses Wort nicht mehr hören. Sie hatte in den vergangenen sieben Tagen genug abgewartet. Gewartet, gehofft und gebangt. Sollte das jetzt schon wieder losgehen? Sie hatte doch erst vor wenigen Momenten eine unendliche Erleichterung darüber verspürt, dass Mattes’ das Schlimmste überstanden zu haben schien. Sollte jetzt ein erneuter Rückschlag erfolgen? Nur am Rand bekam sie inmitten ihrer Gedankenflut mit, dass Dörte noch ein paar Worte mit Dr. Hillmann austauschte und sich bei ihm für die Auskunft bedankte, bevor er den Wartebereich vor dem OP verließ.
Angespannt sah Melanie sie an. „Komm, Melanie“, Dörte zog sie an sich. „Die Ärzte haben ihr Bestes getan. Und mein Sohn ist ein Kämpfer.“ „Ich weiß“, sagte Melanie leise. Und mit etwas mehr Nachdruck: „Egal, was passiert, wenn er aufwacht … Ich werde für ihn da sein. Ich lasse ihn nicht allein.“ Sie wusste nicht, ob sie gerade mit Mattes’ Mutter sprach oder eher mit sich selbst.
„Das weiß ich.“ Dörte sah sie nachdenklich, aber gleichzeitig gerührt an. „Mattes hat wirklich eine gute Wahl mit dir getroffen.“ Ungewollte musste Melanie lächeln. Ja, das hatte er wohl. Aber sie umgekehrt genauso. Und das, was sie gerade im Beisein seiner Mutter gesagt hatte, hatte sie ernst gemeint. Egal, was mit ihm war – sie würde an seiner Seite sein. Und an seiner Seite bleiben.
Nach fünf Minuten, in denen Dörte und Melanie Seite an Seite auf den Stühlen im Wartebereich gesessen hatten, ging die Tür vom OP-Bereich auf – und Mattes wurde herausgefahren. Gleichzeitig sprangen Dörte und sie auf. Und zum ersten Mal seit dem Schockmoment vor über zwei Stunden konnte Melanie wieder einen Blick auf ihn werfen.
Sein äußerer Anblick schien unverändert. Aber trotzdem glaubte Melanie, eine Besserung darin zu erkennen. Vielleicht bildete sie sich das aber auch einfach nur ein, weil sie es glauben wollte. Und weil sie die Wahrheit nicht sehen wollte. „Wir bringen ihn jetzt auf sein Zimmer“, erklärte ihnen einer der beiden Pfleger, die Mattes’ Bett schoben. „Können wir danach zu ihm?“, fragte Melanie, während ihr Blick immer noch auf Mattes ruhte.
„Das hat Dr. Hillmann mir eben erklärt, Melanie“, antwortete Dörte stattdessen. „Mattes braucht wohl jetzt Ruhe. Wir können morgen wieder zu ihm.“ Entschuldigend sah sie Mattes’ Mutter an. „Sorry, das habe ich irgendwie nicht mitgekommen.“ „Du warst in Gedanken.“ Dörte strich ihr verständnisvoll über den Oberarm.
Danach löste sie die Berührung und beugte sich noch einmal kurz über Mattes. Sanft strich sie ihm über die Wange – eine Geste, die Melanie fast zu Tränen rührte. Darin war so viel Liebe für ihren Sohn erkennbar. Es wurde Zeit, dass Mattes und seine Mutter sich wieder annäherten. Wenn er die ganze Sache ohne Folgeschäden überstanden hätte, würde sie auf jeden Fall versuchen, beiden dabei zu helfen.
„Was hältst du davon, wenn wir noch irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen? Nach diesem Tag könnte jetzt ein bisschen was vertragen.“ Aufmunternd blickte Mattes’ Mutter sie an. Unschlüssig blickte Melanie zwischen ihr und Mattes hin und her, der nun langsam in seinem Bett von den Pflegern über den Flur zum Aufzug geschoben wurde.
„Wir können hier gerade eh nichts machen“, sprach Dörte das aus, was Melanie eigentlich gerade auch selbst dachte. Trotzdem fiel es ihr unglaublich schwer, Mattes Meter für Meter aus ihrem Blickfeld verschwinden zu sehen. Sie atmete einmal tief aus. „Ja, ich glaube, du hast Recht. Morgen sehen wir ihn ja wieder.“ Zu diesem Zeitpunkt wusste Melanie noch nicht, dass der nächste Tag eine unerwartete Wende für sie alle bringen würde …

Am nächsten Mittag war Melanie gerade auf dem Weg ins PK zu ihrer Spätschicht, als ihr Handy klingelte. „Hallo Dörte. Ist mit Mattes alles okay?“ Irgendwie war diese Begrüßung in den vergangenen Tagen zu einer Art Standardspruch zwischen ihnen beiden geworden.
„Melanie, kannst du sofort ins EKH kommen?“ Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Hatte Mattes’ Zustand sich über Nacht doch wieder verschlechtert? „Ja, natürlich. Was ist los?“ Aber wollte sie die Antwort überhaupt hören?
„Ich habe eben mit Frau Dr. Jonas gesprochen. Mattes’ Werte haben sich deutlich verbessert. Sie wollen ihn noch gleich aus dem künstlichen Koma holen.“ Was? Fast wäre Melanie vor Aufregung gegen eine Mülltonne auf dem Bürgersteig gelaufen. Das waren die besten Neuigkeiten, die jemand ihr heute hätte machen können. Aber gleichzeitig Neuigkeiten, die ihr auch Angst machen. Was wäre, wenn der Mattes, der heute aufwachte, nicht mehr der Mattes von davor war? Wenn er sich nicht mehr an sie erinnern konnte oder noch Schlimmeres?
„Ich komme sofort, Dörte.“ Schnell rief Melanie auf dem PK an und gab Wolle Bescheid, dass sie heute nicht zur Arbeit kommen würde. Ihr Kollege nahm die Nachricht mit Verständnis auf und wünschte Mattes und ihr alles Gute. Mit klopfendem Herzen schlug Melanie die Richtung zum EKH ein. Was würde sie dort heute noch alles erwarten? Und vor allem: Wie würde Mattes auf sie reagieren? Und würde er überhaupt auf sie reagieren?
Als sie über die Gänge des EKH ging und sich Schritt für Schritt seinem Zimmer näherte, begann ihr Herz noch unkontrollierter zu klopfen. Ja, sie freute sich unglaublich, dass ihr Partner auf dem Weg der Besserung zu schein schien. Aber würde wieder alles so werden wie vorher?
Schon durch die Scheibe sah sie Jasmin und Dr. Sharif mit Dörte zusammen vor Mattes’ Bett stehen. Ganz leise klopfte sie an und warte ein „Herein“ gar nicht erst ab, bevor sie mit zitternden Händen die Tür öffnete. „Melanie, da bist du ja.“ Jasmin lächelte sie kurz an.
Wieder fiel ihr Blick direkt auf Mattes, wie er mit dem Verband um seinen Kopf im Bett lag, immer noch künstlich schlafend. Am liebsten wäre sie direkt zu ihm gegangen und hätte seine Hand genommen, so wie sie das an den vergangenen Abenden jedes Mal gemacht hatte. Wenn sie allein gewesen waren. Als sie mit ihm gesprochen und ihm von ihrem Tag erzählt hatte.
Stattdessen stellte sie sich neben Dörte und schaute fragend in die Runde. Dr. Sharif deutete ihren Blick wohl als eine Aufforderung zum Reden, als er ruhig ansetzte: „Wir werden Herrn Seeler jetzt ganz vorsichtig aufwachen lassen. Das kann ein paar Minuten dauern. Ich möchte Sie bitten, sich ruhig zu verhalten, egal was passiert. Okay?“ Dabei blickte er Melanie und Mattes’ Mutter durchdringend an.
Melanie nickte nur stumm. Sie merkte, dass ihre Knie weich wurden und ihr Körper zitterte. „Das ist wirklich wichtig“, ergänzte Jasmin die Worte ihres Kollegen. „Wir wissen nicht, wie Mattes reagiert. Und erfahrungsgemäß wird er wahrscheinlich erst einmal etwas orientierungslos sein.“
Melanie nickte mechanisch. Das hatte sie alles verstanden. „Wir dürfen nicht vergessen, dass er über eine Woche im künstlichen Koma lag“, schaltete sich nun auch Dr. Sharif noch einmal ein, dessen Blick bei dieser Äußerung auf ihr ruhte. War ihre Aufregung so deutlich? Und waren ihre Gefühle für Mattes so offensichtlich? Melanie entgegnete nichts, sondern verstärkte ihr Nicken. „Gut, dann fangen wir jetzt an“, sagte der Oberarzt.
Er ging um Mattes’ Bett herum und verstellte irgendetwas an den Geräten und Infusionen, die mit Mattes’ Körper verbunden waren. Plötzlich spürte sie Dörtes Hand, die sich verkrampft um ihre Taille gelegt hatte. Melanie wandte den Kopf und blickte sie hoffnungsvoll an. Sie war froh, dass sie in dieser Situation nicht allein an Mattes’ Bett stehen musste. Und Dörte ging es offensichtlich genauso.  
Jetzt konnten sie nicht mehr tun als warten – wieder einmal. Darauf warten, dass Mattes langsam und hoffentlich sicher aus seinem künstlichen Schlaf erwachte. Und hoffen, dass er immer noch der Alte war. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Die der Ärzte, der von Dörte, der von ihr. Allein diese Situation kam Melanie absolut absurd vor. Er war doch kein Tier im Zoo.
Sie schaute auf die Uhr. Es waren erst wenige Minuten vergangen, seitdem Dr. Sharif die entscheidenden Maßnahmen eingeleitet hatte. Aber auch diese wenigen Minuten kamen ihr wieder wie eine Ewigkeit vor. Wie gestern, als sie vor dem OP-Saal gewartet hatte und die Zeit nicht zu vergehen schien.
Aber plötzlich veränderte sich etwas. Zuerst war es nur minimal. Da war ein Zucken an Mattes’ rechtem kleinen Finger zu erkennen. Melanie spannte sich an. Ihre Schultern waren völlig verkrampft und ihr Blick fixierte seine Hand. Gleichzeitig spürte sie, dass auch Dörtes Griff um ihre Taille fester wurde. Da. Jetzt kam auch Bewegung in seinen Zeigefinger und Daumen.
Melanie merkte, wie sie automatisch die Luft anhielt. Sie wagte kaum noch zu atmen – aus Angst, damit den Aufwachvorgang zu verzögern oder zu stoppen. Immer noch lag ihr Blick auf Mattes’ Hand, in die gerade eindeutig Leben zu kommen schien.
Sie sah kurz zu Jasmin, die ihr wie zur Bestätigung einen beruhigenden Blick zuwarf. Scheinbar lief alles so, wie es laufen sollte. Und ihre Freundin war sicherlich in der Vergangenheit schon in vielen Situationen wie diesen gewesen – und wusste daher, was normal war und was nicht.
Wieder wanderte ihr Blick zu Mattes’ rechter Hand. Aber dann blieben ihre Augen an seiner linken hängen. Denn auch dort waren plötzlich Bewegungen zu erkennen. Sie waren zaghaft, kaum sichtbar und wären in einer normalen Situation sicherlich auch niemandem aufgefallen. Aber jetzt und hier fiel ihr alles auf, was auf eine Veränderung hindeutete. Selbst das kleinste Detail.
Ihr Blick schwankte wieder zu seiner anderen Hand, die sich nun stärker bewegte. Es schien so, als würden gerade beide Hände wieder zum Leben kommen – parallel, aber in einem unterschiedlichen Tempo.
Aber da war jetzt noch etwas anderes. Sie meinte, ein Zucken an seinem Kopf erkannt zu haben. Oder bildete sie sich das nur ein? Ihr Atem ging hektischer, so als würde sie all die Atemzüge nachholen wollen, die sie in den vorherigen Minuten vor lauter Anspannung verpasst hatte.
Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Da war tatsächlich ein Zucken. Denn seine Augenlider bewegten sich. Zuerst war die Bewegung nur leicht, fast nicht erkennbar, so wie vorher die Bewegung seiner Finger. Aber dann wurde sie stärker – und sichtbarer. Und dann, ganz langsam, blinzelte er mit den Augen. Wieder hielt Melanie die Luft an. Was würde nun passieren?
Sie sah, dass Leben in seinen Körper kam. Es war unverkennbar. Er bewegte nun nicht mehr nur seine Finger. Auch seine Unterarme zuckten. Seine Schultern bewegten sich leicht. Und dann kam auch Leben in sein Gesicht.
Melanie fixierte seine noch geschlossenen Augen mit ihrem Blick. Sie hatte ihren Atem kaum noch unter Kontrolle und bemühte sich, möglichst unhörbar Luft zu holen. Denn jetzt sollte die Aufmerksamkeit im Raum Mattes gelten und nicht ihr.
Er blinzelte mehrere Male und öffnete dann seine Augen Millimeter für Millimeter immer ein Stückchen mehr. Fast schien es so, als müsse er sich erst an die Helligkeit im Raum gewöhnen, obwohl das Zimmer leicht abgedunkelt war. Melanie schaute noch einmal kurz zu Jasmin, um sich zu vergewissern, dass alles seinen normalen Gang ging. Diese nickte ihr beruhigend zu.
Ihr Blick schwankte wieder zu Mattes und sie betrachtete ihn intensiv. Jede kleinste Bewegung von ihm saugte sie regelrecht in sich auf. Mittlerweile hatte sie ihre Hände fest ineinander gepresst, weil sie keine andere Möglichkeit hatte, die ganze Anspannung in ihrem Körper irgendwie abzubauen. Die Anspannung, die auch nicht weniger wurde, als sie besorgt sah, dass Mattes’ Blick orientierungslos zu sein schien. Es wirkte fast so, als würde er durch alle Anwesenden hindurchblicken.
Seine Augen fielen ihm wieder zu und Melanie sah, dass er dagegen ankämpfte. Wieder blinzelte er und schien einen zweiten Versuch zu starten, die Dinge um ihn herum zu erfassen. Seine Pupillen wanderten langsam von rechts nach links und von oben nach unten. Und dann, nach einigen Momenten, wurde sein Blick plötzlich fest. Er sah sie an. Sie.
Und dann öffnete er seinen Mund, ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter. Ein unverständliches Röcheln kam aus seinem Hals, aber Melanie meinte, ihn genau verstanden zu haben. Oder war das eine Einbildung gewesen? Aber dann versuchte er es erneut – und diesmal war das Röcheln verständlicher. „Me-la …nie.“
Er schaute sie an. Und sie hatte sich das auch nicht eingebildet. Er hatte wirklich ihren Namen gesagt. Er hatte sie erkannt. Am liebsten wäre sie direkt an sein Bett gestürzt, aber sie erinnerte sich an das, was Jasmin und Dr. Sharif ihr eben noch gesagt hatten: keine unkontrollierten Handlungen, keine heftigen Reaktionen.
Melanie hielt sich die Hände vor den Mund. So, wie sie vor einer Woche kaum glauben konnte, dass dieser Unfall passiert war, konnte sie nun kaum glauben, was gerade passierte. „Melanie“, kam es jetzt etwas lauter von Mattes und sie sah, dass er versuchte, seinen rechten Arm anzuheben.
Mittlerweile war Jasmin an sie herangetreten, die ihr wohl angesehen hatte, dass sie nicht wusste, was sie machen sollte. „Geh mal langsam zu ihm“, forderte die Ärztin sie leise auf. Melanie merkte den Druck der Hand ihrer Freundin auf ihrem unteren Rücken und auch Dörte schien sie ganz sanft in Richtung ihres Sohnes zu schieben.
Ganz vorsichtig ging Melanie auf das Bett zu, ohne ihren Blick von Mattes abzuwenden. Sanft griff sie nach seiner Hand. Diese fühlte sich plötzlich auch gar nicht mehr so kalt und rau an, wie sie sich in den Tagen davor angefühlt hatte. „Ich bin da, Mattes. Ich bin da.“ In diesem Moment hatte sie größte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Aber sie wusste, dass Mattes Ruhe brauchte. Und dass ihre eigene Aufregung seine eigene sicherlich verstärken würde.
Sie merkte, dass er versuchte, ihre Berührung zu erwidern, auch wenn ihm das nicht ganz gelang. „Was … Was ist passiert?“ Seine Stimme war fast ein Krächzen. Sollte sie ihm das wirklich sagen? Nicht, dass ihn das unnötig stressen würde. Hilfesuchend drehte sie sich zu den beiden Ärzten um.
„Du hattest einen Unfall, Mattes, und bist im EKH“, erklärte Jasmin ihm mit ruhiger Stimme. Er hatte aber scheinbar Schwierigkeiten, diese Informationen zu verstehen – geschweige denn zu verarbeiten. Unruhig schwankte sein Blick im Zimmer hin und her, als könne er so besser begreifen, was geschehen war und wo er sich gerade befand.
„Unfall?“, wiederholte er leise und immer noch krächzend. Er schien sich also scheinbar wirklich nicht daran zu erinnern. „Ja, Mattes“, bestätigte Jasmin noch einmal leise. „Wir erklären dir das alles, wenn du wieder fitter bist. Jetzt musst du dich erst einmal erholen.“
Mattes sah die Ärztin nur irritiert an und erwiderte nichts. Stattdessen schwankte sein Blick wieder zu Melanie. Und dann, plötzlich, war ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. Sein Blick wurde fester, klarer. Er fixierte sie regelrecht.
Plötzlich hörte Melanie ein leises Schluchzen. Scheinbar war Dörte gerade genauso emotional wie sie. Mattes wandte seinen Kopf in die Richtung, aus der das weinende Geräusch kam. Er hatte seine Mutter scheinbar noch gar nicht richtig wahrgenommen. „Ma … Mama?“ Das Sprechen schien ihm unzweifelhaft Schwierigkeiten zu bereiten, aber die Hauptsache war, dass er seine Mutter erkannte. Und sie.
„Ja, mein Junge, ich bin hier.“ Mattes’ Mutter trat neben sie und legte ihrem Sohn die Hand auf den Unterarm, nur nur eine Handbreit entfernt von Melanies Hand, die auf seinen Fingern lag. Mattes’ Blicke schwankten langsam zwischen ihr und seiner Mutter hin und her. Er schien die Situation nicht wirklich einordnen zu können, warum seine Partnerin und seine Mutter hier gemeinsam an seinem Bett standen und ihn aufgelöst anblickten.
„Herr Seeler“, wandte sich nun Dr. Sharif ruhig an Mattes. „Wir werden in den nächsten Stunden und Tagen noch einige Untersuchungen mit Ihnen machen. Aber das Wichtigste ist jetzt erst einmal, dass Sie zur Ruhe kommen und sich erholen, ja?“ Mattes’ versuchte ein Nicken, das allerdings bei einer einzigen Bewegung seines Kopfes blieb.
„Und Sie, Frau Seeler und Frau Hansen, bleiben bitte auch nicht mehr so lange, ja?“ Er schaute sie mahnend, aber gleichzeitig auch verständnisvoll an. Melanie nickte nur. Sie hatte die Worte des Arztes zwar mitbekommen, musterte aber immer noch intensiv Mattes, der versuchte, ihren Blick zu erwidern und zu halten.
Immer wieder fielen ihm seine Augen leicht zu. Aber das war Melanie egal. Er war aufgewacht. Er hatte sie erkannt. Er konnte, zumindest in Ansätzen, sprechen. Das alles waren gute Zeichen. Zeichen dafür, dass möglicherweise alles wieder so werden würde wie früher. Oder, wenn man von der Klarheit über ihre Beziehung zueinander ausging, vielleicht sogar noch schöner. Sie bekam nur am Rande mit, wie Jasmin und Dr. Sharif das Zimmer verließen.
Danach blieben Dörte und sie noch eine halbe Stunde bei Mattes – ohne viel zu sprechen, weil ihn das sichtbar anstrengte. Stattdessen blickten sie ihn an, lächelten ihm zu und gaben ihm durch ihre Anwesenheit und ihre Berührungen zu verstehen, dass sie für ihn da waren.
Irgendwann fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sanft streichelte Melanie über sein Gesicht. Sie war so dankbar. So unglaublich dankbar, dass sie dieses furchtbare Drama irgendwie halbwegs überstanden hatten. Dankbar, dass ihre Gefühle so stark, klar und gefestigt waren, dass sie auch mögliche Folgen dieses Unglücks überstehen würden.
Die Zeit der Heimlichtuerei war nun vorbei. Sie würde zu ihm stehen. Vor Haller, vor den Kollegen, vor der ganzen Welt. Denn wenn ihr dieser schreckliche Unfall eine Sache gezeigt hatte, dann dass sie ohne Mattes nicht mehr leben konnte. Und nicht mehr ohne ihn leben wollte – was ihr auch der nächste Tag noch einmal emotional vor Augen führen sollte …
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