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Die Zeit danach ...

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler Melanie Hansen
01.09.2022
31.03.2023
50
115.721
29
Alle Kapitel
275 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
 
23.03.2023 3.893
 
Heute wäre ja eigentlich NHK-Time. Mit einer neuen Folge kann ich (leider) nicht dienen, dafür mit einem neuen Kapitel. Auch dieses basiert wieder auf den wenigen Infos, die wir zum Beginn von Staffel 18 haben. In einem halben Jahr wissen wir dann, wie es wirklich weitergeht. ;)

Viel Freude damit!



Eine Woche war der schreckliche Unfall nun her. Sieben Tage, an denen Melanie den besagten Tag immer wieder von ihrem geistigen Auge wie in Zeitlupe ablaufen sah. Mit all den furchtbaren Bildern und all den negativen Emotionen. Sieben Tage, an denen sie die besorgten Blicke der Kollegen ertragen musste. Fünf Tage, an denen Haller seit ihrem Geständnis über ihre Beziehung zu Mattes nur noch das Nötigste mit ihr sprach. Und fünf Tage, an denen sie jeden Abend an Mattes’ Bett im EKH gesessen und gehofft und gebangt hatte.
Aber es waren auch fünf Tage gewesen, in denen sie nicht mehr allein gewesen war. Seitdem sie Mattes’ Mutter über ihre Beziehung zu ihrem Sohn und die wahren Umstände des Unglücks aufgeklärt hatte, hatte sie eine Verbündete an ihrer Seite.
Entgegen Melanies Erwartungen hatte Dörte Seeler ihr keine Vorwürfe gemacht. Sie hatte ihr auch nicht die Schuld am Unfall ihres Sohnes gegeben. Stattdessen war das genaue Gegenteil passiert: Mattes’ Mutter war dankbar über ihre Ehrlichkeit gewesen, hatte ihr gut zugeredet und sie anschließend liebevoll in den Arm genommen. So, als würde sie sie in ihrer Familie willkommen heißen – obwohl das entscheidende Bindeglied gerade nicht anwesend war.
Zudem hatte Dörte Seeler Jasmin und die anderen Ärzte im EKH von ihrer Schweigepflicht gegenüber Melanie entbunden und darauf bestanden, dass diese jederzeit zu ihrem Sohn durfte. Jasmin hatte dies mit hochgezogener Augenbraue zur Kenntnis genommen, aber nichts weiter dazu gesagt. Wahrscheinlich konnte sie sich ihren Teil denken – genau wie Wolle, der seit den Geschehnissen besorgt um sie herumschlich, sie sorgenvoll betrachtete und auch die angespannte Stimmung zwischen ihr und Wolf skeptisch beäugte.
Wie von ihrem Chef gewünscht, hatte Melanie über die wahren Geschehnisse des Unfalltages geschwiegen. Zumindest im PK. Dörte Seeler hatte sie alles erzählt und sie war dankbar, dass sie mit ihr jemanden hatte, dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Und mit dem sie über Mattes sprechen konnte.
Vor zwei Tagen hatte sie sie sogar nachmittags zu sich nach Hause eingeladen und alte Fotoalben herausgeholt. Mattes als Baby, als Kind, als Jugendlicher, als junger Mann. Sie hatten beide zusammen gelacht, zusammen geweint und als Melanie am frühen Abend wieder ins EKH fuhr, hatte sie zum ersten Mal seit den Geschehnissen eine verhaltene Freude in sich gespürt. Freude darüber, dass sie zum ersten Mal nach all den Jahren Einblicke in Mattes’ Leben bekommen hatte. In sein Leben vor ihr.
Und ihr war auch noch einmal bewusst geworden, wie sehr sie ihn liebte. Und dass sie sich ein Leben ohne ihn einfach nicht mehr vorstellen konnte. Wieder hatte sie stundenlang an seinem Bett gesessen, seine Hand gehalten und mit ihm gesprochen – ohne zu wissen, ob er überhaupt irgendetwas davon mitbekam. Später am Abend war sie dann nach einer sanften Aufforderung Jasmins nach Hause gefahren und mit seinem Kissen unter ihrem Kopf eingeschlafen.
Als Melanie an diesem Morgen ins PK fuhr, lag der Unfall genau sieben Tage zurück. Sieben Tage, an denen Mattes jetzt schon im künstlichen Koma lag. In einem instabilen Zustand. Und noch immer konnten Jasmin und Dr. Sharif nicht sagen, ob und wann sich an diesem Zustand etwas ändern würde.
Die Ungewissheit zermürbte Melanie. Aber sie wusste, dass sie weiterhin stark sein und bleiben musste. Für Mattes. Für sie beide. Und im gewissen Sinne auch für seine Mutter. Wenn sie allerdings gewusst hätte, dass der heutige Tag ihr noch einmal alle vorhandenen Kräfte abverlangen würde, wäre sie sicherlich mit einem wesentlich schlechteren Gefühl ins PK gefahren.
„Morgen Wolle“, grüßte sie den Wachhabenden kurz, bevor sie mit starrem Blick an ihm vorbeiging und einen kurzen Blick auf Hallers Bürotür warf. Sie hoffte, dass ihr Chef und sie sich heute nicht oft begegnen würden. Er hatte ihr vor einigen Tagen unmissverständlich klar gemacht, dass Mattes’ und ihr Verhalten in den vergangenen Monaten absolut unprofessionell gewesen war. Und er hatte ja auch Recht. Aber dass er jetzt ihr Schweigen verlangte, empfand sie als Unrecht.
Auch ohne hinter sich zu sehen, spürte sie die Blicke von Daisy und Kris in ihrem Rücken. Während Kris sie in den vergangenen Tagen verstärkt in Ruhe gelassen hatte, war Daisy regelmäßig auf sie zugekommen und hatte ihre Hilfe angeboten. Dabei wusste Melanie gerade selbst nicht, was ihr eigentlich lieber war – die Ruhe oder die Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt war ihr noch nicht klar, dass sie heute beides brauchen würde …
„Was ist los?“, hörte Melanie Wolle irgendwann ins Telefon sagen. Sie schreckte auf. Wie lange hatte sie eigentlich schon hier gesessen und in Gedanken durch ihren Bildschirm hindurch gestarrt? Irgendetwas an Wolles Stimme irritierte sie. Ihr erfahrener Kollege klang lauter als sonst, erschrockener, beunruhigter.
Während er noch telefonierte, sah er aus den Augenwinkeln zu Melanie. Sofort sprang sie auf. War etwas mit Mattes? Oh Gott, hatte etwa gerade das EKH angerufen und mitgeteilt, dass es Mattes schlechter ging? Aber dann hätte Dörte sie doch sicherlich angerufen. Schnell blickte sie auf ihr Handy. Da war nichts. Trotzdem schien irgendetwas nicht zu stimmen. Das spürte sie einfach.
„Was ist los, Wolle?“ Hektisch ging sie auf ihn zu. Er zögerte einen Moment – kein gutes Zeichen. „Das war das EKH.“ Betroffen schaute er sie an, während sie hörte, dass Daisy und Kris ebenfalls aufstanden und hinter sie traten. Das EKH? Nein, das durfte nicht sein. „Ist was mit Mattes?“ Melanie merkte, dass ihre Stimme lauter geworden war.
„Nein, beruhige dich. Es …“ Wolle machte eine Pause. „Es hat einen Hackerangriff gegeben“, berichtete er. Melanie sah ihm an, dass er sich um einen neutralen Tonfall bemühte, obwohl er nicht danach klang. „Was heißt das?“ Sie hatte zwar eine Ahnung, was das hieß, hoffte aber immer noch auf das Beste. „So wie ich das verstanden habe, laufen jetzt die Notstromaggregate. Und es gibt wohl Probleme mit ein paar Geräten.“
Betreten blickt er sie an. Ihr wurde plötzlich schwindelig, wie so oft in den vergangenen Tagen. Daisy trat neben sie und stützte sie leicht, indem sie ihr eine Hand auf die Taille legte. „Aber Mattes…“ war das Einzige, was Melanie in diesem Moment herausbrachte. Niemand sagte etwas und ein unangenehmes Schweigen lag in der Luft. Aber da war noch etwas in Wolles Blick. Etwas, das Melanie erschreckte. Und ihr auf eine undefinierbare Art und Weise Angst einjagte.
„Wolle, haben sie noch irgendetwas anderes gesagt?“ Als der Wachhabende sich nur räusperte und versuchte, ihrem Blick auszuweichen, wurde ihr Stimme lauter. „Was ist los?“ „Ja, also …“ Melanie sah ihrem älteren Kollegen an, dass er gerade versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Also, wenn ich das richtig verstanden habe, ist das EKH wohl gerade ziemlich lahmgelegt.“
Für einen Moment glaubte Melanie, dass ihr Herz aussetzen würde. Lahmgelegt? Das würde bedeuten, dass die medizinischen Abläufe gestört wären. Dass die medizinischen Geräte nur noch für eine bestimmte Zeit laufen würden. Abläufe und Geräte, die Mattes gerade so dringend brauchte. Weil sie ihn am Leben hielten.
Sie hielt sich die Hand vor den Mund und wandte sich ab – wohlwissend, dass ihr das Entsetzen und die Panik gerade ins Gesicht geschrieben waren. Aber sie wollte nicht, dass ihre Kollegen das so unmittelbar mitbekamen. Weil sie irgendwann anfangen würden, sich Fragen zu stellen – was sie wahrscheinlich eh schon taten. Warum sie das alles so mitnahm? Warum sie so extrem betroffen war? Warum sie eine solche Angst um Mattes hatte? Viel stärker und deutlicher, als das eigentlich für einen Streifenpartner üblich wäre.
Melanie hatte Haller zugesagt, über ihre Beziehung zu Mattes hier auf dem PK Stillschweigen zu bewahren. Aber sie wusste nicht, wie lange sie den Schein noch aufrechterhalten konnte. Und wie lange es noch dauern würde, bis ihre Kollegen endgültig die richtigen Schlüsse aus ihrem Verhalten und ihren Gefühlen ziehen würden.
„Ich rufe Jasmin an“, meinte sie tonlos und ging schnell zu ihrem Schreibtisch. Beinahe hätte sie dabei einen Kollegen umgerannt, der ihr gerade entgegenkam. „Melanie, das bringt doch nichts“, kam Wolle ihr hinterher. „Jasmin hat sicherlich gerade andere Sorgen.“ Ja, da hatte Wolle wohl Recht. Sie würde ihre Freundin wahrscheinlich gar nicht ans Telefon kriegen.
„Aber wir müssen doch irgendetwas machen. Und von irgendwem Informationen bekommen.“ Melanie wusste selbst nicht genau, ob sie gerade laut dachte oder ihren Kollegen zu den nächsten Schritten aufforderte. „Pass auf, Melanie. Ich rufe jetzt mal beim LKA an und frage nach, ok? Die werden ja sicherlich was wissen.“ Sie nickte nur stumm und folgte Wolle, der sofort zum Telefon griff, während sie angespannt neben Daisy und Kris wartete.
Von dem Gespräch an sich bekam sie nicht viel mit, da Wolle das Gespräch nicht über Lautsprecher führte. Wahrscheinlich hatte er bewusst die entsprechende Taste nicht betätigt, damit sie selbst nicht alles hörte. Nicht alles mitbekam, was sie wahrscheinlich noch in weitere Aufruhr versetzen würde.
„Ja, okay.“ „Alles klar.“ „Gut, dann verbleiben wir so.“ Melanie konnte anhand Wolles Gesprächsfetzen nur ahnen, was er mit den Kollegen vom LKA besprach. Ungeduldig schaute sie ihn an und rückte immer näher an den Hörer – in der Hoffnung, mehr über das zu erfahren, was gerade im EKH vor sich ging. Wo Mattes seit einer Woche im künstlichen Koma lag.
„Was ist hier los?“, vernahm Melanie plötzlich Hallers Stimme. Sie war so in ihre verzweifelten Versuche vertieft gewesen, etwas von dem Dialog am Telefon mitzubekommen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie ihr Chef aus seinem Büro gekommen war. Wolle deutete ihm mit einer kurzen Handbewegung an, dass er ihn nach dem Gespräch aufklären würde. „Es gab einen Hackerangriff. Auf das EKH. Die sind lahmgelegt“, antwortete Melanie stattdessen tonlos. Wolf schaute sie nur kurz an, aber sie wusste genau, wie sie seinen Blick zu deuten hatte.
„Wie bitte? Was geht da vor sich? Und was bedeutet das für Mattes?“, sprach er das aus, was sie bereits wenige Minuten zuvor gedacht hatte. Sie kam aber gar nicht mehr dazu zu antworten, denn Wolle hatte das Telefonat zwischenzeitlich beendet und blickte nun zwischen Haller und ihr hin und her.
„Jetzt schieß los, Jörn“, sagte ihr Vorgesetzter in seiner typisch dominanten Art. „Also, der Vorfall ist dem LKA seit einer Stunde bekannt und die Spezialisten sitzen schon dran.“ Man sah ihm an, dass es nicht nicht leichtfiel, dies möglichst neutral zu schildern. „Ja, und was heißt das jetzt?“ Es war so, als würde Wolf gerade genau die Fragen stellen, die auch Melanie auf der Zunge lagen – und damit das Gespräch für sie übernehmen. „Dass wir abwarten müssen, bis das Problem behoben ist.“
„Bis das Problem behoben ist“, wiederholte Haller die Worte seines Kollegen fast zynisch. „Ja, und wie lange wird das dauern? Ich meine, das ist ein Krankenhaus. Wer bitte greift die IT eines Krankenhauses an?“ Das war die gleiche Frage, die auch Melanie sich bereits gestellt hatte. Aber die Antwort darauf interessierte sie ehrlicherweise nicht. Sie interessierte nur, was das für Mattes bedeutete. „Das konnte mir das LKA auch nicht sagen.“ Wolle klang fast entschuldigend, obwohl er nun wahrlich nichts dafür konnte, sondern nur die Fakten wiedergab.
„Mann, Mann, Mann, das darf doch alles nicht wahr sein“. Wolf ging einige Meter auf und ab, bevor er wieder in seinen anweisenden Tonfall verfiel. „Okay, Daisy, Kris, ihr geht rüber ins EKH und schaut, ob die da noch Hilfe brauchen. Wahrscheinlich müssen ja Patienten verlegt werden.“ Melanie bekam nur mit, wie ihre beiden Kollegen sich ihre Jacken und Mützen schnappten und aus dem PK stürmten.
Intuitiv wollte sie das Gleiche tun und wandte sich ab. Sie würde Mattes jetzt nicht allein lassen. „Melanie“, sagte Wolf scharf. „Du gehst jetzt nicht da rüber.“ „Wie bitte?“ Entsetzt sah sie ihn an. „Du kannst jetzt eh nichts für Mattes tun. Ich weiß, dass dir das nicht leichtfällt, aber da drüben ist sicherlich schon Chaos genug.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Krankenhauses, das sich nur wenige hunderte Meter vom PK entfernt befand.
„Und was soll ich dann deiner Meinung nach machen, Wolf?“ Jetzt war ihr Tonfall scharf. „Abwarten und Däumchen drehen?“ „Melanie“, versuchte Wolf es noch einmal. „Was willst du denn da drüben? Das LKA ist dran und solange müssen wir abwarten.“ „Ich soll also abwarten? Einfach so hier rum sitzen, so tun, als sei nichts, Berichte schreiben, und ja, vielleicht auch noch ein paar Zeugen vernehmen?“ Sie wusste, wie zynisch sie gerade klang.
Die Antwort ihres Vorgesetzten wartete sie gar nicht erst ab. „Ich muss mal hier raus.“ Sie atmete laut aus, ging zu ihrem Schreibtisch und nahm sich ihre Jacke, während Wolf und Wolle ihr nur hinterher blickten. „Und dann rufe ich Mattes’ Mutter an“, fügte sie noch hinzu, während sie ohne ein weiteres Wort zu sagen an den beiden vorbei nach draußen stürmte.
Als sie vor dem PK stand, hielt sie sich schwer atmend an der roten Backsteinmauer fest. Schon wieder drohte ihre Welt ein kleines bisschen mehr einzustürzen. Und schon wieder konnte sie nichts tun, außer abzuwarten und zu hoffen. Aber sie hatte es so satt. Das Geschehen nicht selbst beeinflussen zu können. Und komplett vom Schicksal oder was auch immer abhängig zu sein.
Entschlossen griff sie nach dem Handy in ihrer Jackentasche. Sie wollte Mattes’ Mutter nicht zusätzlich beunruhigen, aber sie hatte ein Recht, die aktuellen Entwicklungen im EKH zu erfahren. Vielleicht war sie ja auch bereits informiert worden. Und wenn Melanie ganz ehrlich zu sich selbst war, brauchte sie in diesem Moment jemanden, mit dem sie sprechen konnte. Eine Person, die ihre Sorge und Angst um Mattes teile.
Dörte Seeler nahm bereits nach dem zweiten Klingeln ab. „Melanie, gibt’s was Neues?“ Mattes’ Mutter und sie waren schnell zum ‚Du‘ übergegangen und es fühlte sich absolut richtig so an. „Nicht zu Mattes selbst“, antwortete Melanie. „Aber im EKH gibt’s Probleme. Weißt du es schon?“ „Welche Probleme denn?“, beantwortete Dörte damit ihre Frage.
„Es gab einen Hackerangriff. Das EKH ist lahmgelegt.“ Für einige Momente blieb es still am anderen Ende der Leitung. Wahrscheinlich musste auch Mattes’ Mutter diese Information erst einmal verarbeiten – genau wie sie selbst eine Viertelstunde zuvor.
„Was heißt das genau? Weißt du schon irgendwas?“ Dörte war der Schock über diese Neuigkeit anzuhören, aber auch, dass sie gerade versuchte, ruhig zu bleiben. „Nein. Nur, dass die Spezialisten vom LKA schon dran sind. Aber keiner weiß, wie lange das dauert“, fasste Melanie die wichtigsten Informationen kurz zusammen.
„Wo bist du gerade? Ich komme zu dir.“ Genau das hatte Melanie gehofft. Dass sie in dieser Situation der Unsicherheit und der Abhängigkeit von anderen nicht allein war. Sondern, dass sie einen Menschen an ihrer Seite hatte, dem es genauso ging wie ihr in diesem Moment. „Noch vor dem PK. Aber ich wollte jetzt zum EKH rübergehen.“ ‚Auch wenn mein Chef mir das eigentlich untersagt hat‘, fügte sie noch in Gedanken hinzu.
„Dann lass uns dort treffen. Ich bin in einer halben Stunde da.“ Im Hintergrund hörte Melanie, wie Dörte bereits herumging und -kramte. Wahrscheinlich packte sie gerade ihre Handtasche und nahm ihre Jacke von der Garderobe. „Okay, dann bis gleich“, war das Einzige, was sie noch erwiderte, bevor sie sich in Richtung EKH aufmachte – und schon wieder das Gefühl hatte, einen schweren Gang anzutreten.

Schon einige hundert Meter vor dem EKH bot sich Melanie ein ungewöhnliches Bild. Der Eingang war abgesperrt. Kranken- und Rettungswagen standen davor. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger rannten hektisch umher. Patienten wurden hinausgeführt. Die Aufregung, die in der Luft lag, war deutlich spür- und greifbar. Aber ihre eigene Aufregung noch viel mehr.
Hinter diesen Krankenhausmauern lag Mattes. Er konnte nicht einfach in ein anderes Krankenhaus transportiert werden. Und er war darauf angewiesen, dass die Maschinen weiterliefen – ohne durch irgendwelche herzlosen Idioten von außen lahmgelegt zu werden. Wie gerne würde sie jetzt zu ihm. Aber hier herrschte scheinbar das pure Chaos und sie wusste nicht, wie lange sie irritiert davorgestanden hatte.
„Melanie, da bist du ja.“ Dörte musste sich extrem beeilt haben, denn es war noch keine halbe Stunde seit ihrem Telefonat vergangen. Kurz nahm sie Melanie in den Arm. „Hast du schon irgendwas gehört?“ Sie klang etwas außer Atem, so als wäre sie von ihrem Auto bis hierhin gerannt.
„Nein, leider nicht. Aber ich rufe jetzt mal im PK an. Vielleicht wissen die mittlerweile irgendwas.“ Sie wählte Wolles Nummer, in der Hoffnung, dass ihr Chef nicht danebenstehen und Wolle das Wort verbieten würde. „Melanie“, meldete sich ihr Kollege relativ schnell. „Ja, Wolle, gibt’s was Neues?“ Dass sie gerade mit Mattes’ Mutter gemeinsam vor dem EHK stand, verschwieg sie bewusst. Wer wusste, ob Haller nicht doch irgendwo in Wolles Nähe war und alles mitbekam.
„Ich habe gerade noch einmal mit dem LKA telefoniert. Sie haben wohl die undichte Stelle im IT-System des EKHs gefunden und sind dran.“ „Okay, haben sie gesagt, wie lange das noch dauert?“ Gleichzeitig nickte sie Dörte zu, um ihr zu signalisieren, dass es Neuigkeiten gab. „Steht nach wie vor nicht fest. Ist wohl etwas komplizierter als gedacht.“ Melanie hörte, dass auch Wolle die ganze Situation zu schaffen machte.
„Okay, rufst du mich an, sobald du was weißt?“ „Ja klar, mache ich, Melanie. Aber …“ Er stockte. „Aber was?“ „Bitte versuch, ruhig zu bleiben, ja?“ Der Wachhabende senkte die Stimme. „Wolf ist nicht so begeistert, dass du einfach raus bist.“ „Danke, Wolle“, war das Einzige, was Melanie noch sagte, bevor sie das Telefonat beendete.
Ehrlich gesagt war es ihr gerade ziemlich egal, was ihr Chef von ihrem Verhalten hielt. Er war auch nicht ganz unschuldig an dieser Situation. Schließlich war er derjenige gewesen, der sie zum Schweigen verdonnert hatte. Und der ihr klar gemacht hatte, dass sie sich auf dem PK nicht anmerken lassen sollte, dass zwischen Mattes und ihr mehr war. Dann musste er jetzt auch damit leben, dass sie Situationen vermied, in denen ihre Angst um Mattes’ Leben offensichtlich werden könnte – und damit auch die Gefühle, die sie für ihn hatte.
„Sie haben das IT-Leck gefunden“, gab Melanie den Inhalt des Telefonates für Dörte wieder. „Sie arbeiten jetzt dran, wissen aber nicht, wie lange das dauert.“ Mattes’ Mutter nickte nachdenklich und schaute auf den Boden. „Also können wir nur abwarten.“ Was sollte Melanie darauf antworten? Dieser Aussage war nichts entgegenzusetzen.
„Ich versuche jetzt mal, Jasmin anzurufen“, sagte sie entschieden, auch wenn ihre Hoffnung, die Oberärztin zu erreichen, relativ niedrig war. Wider Erwarten meldete ihre Freundin sich aber nach einer gefühlten Ewigkeit des Klingelns. „Ich hab’ schon erwartet, dass du anrufst.“ Ihre Stimme klang hektisch – genau wie das übrige Stimmengewirr im Hintergrund. „Wie geht es Mattes? Ist mit ihm alles okay? Funktionieren die Geräte bei ihm noch?“, fragte Melanie ohne Umschweife.
Sie hörte Jasmin hörbar atmen. Wahrscheinlich rannte sie gerade mit dem Handy in der Hand durch einen der Flure des EKH. Vielleicht war es aber auch etwas anderes. Denn das Zögern in der Stimme ihrer Freundin irritierte sie. „Es gab einen kleinen Zwischenfall.“ Melanie erstarrte, nahm das Handy vom Ohr und stellte den Lautsprecher an. „Was ist los, Jasmin? Mattes’ Mutter hört mit.“  „Es ist wirklich nichts Schlimmes, Melanie. Als der Hackerangriff erfolgte, war für ein paar Sekunden der Strom weg. Aber auf der Intensivstation sind sofort die Notstromaggregate angesprungen. Mattes’ Zustand ist unverändert.“ ‚Ja, unverändert instabil‘, dachte Melanie.
Sie machte sich Sorgen, große Sorgen. Aber noch viel schlimmer war es für sie, dass sie hier nutzlos vor dem EKH stand und nichts, aber auch gar nichts für Mattes in dieser Situation tun konnte. Außer zu hoffen, dass die Spezialisten vom LKA das IT-Netzwerk des Krankenhauses schließen und wieder in den Normalzustand zurückversetzen würden – und das möglichst zeitnah.
„Hör zu, Melanie, ich verstehe deine Sorge, aber ich muss jetzt wirklich weiter. Wenn irgendetwas ist, rufe ich dich sofort an, ja?“ Melanie konnte nichts mehr darauf erwidern, weil Jasmin bereits aufgelegt hatte. Sie nahm es ihrer Freundin nicht übel, hatte diese in dieser heiklen Lage doch gerade sicherlich noch viele andere Baustellen und Patienten, um die sie sich kümmern musste.
Hilflos sah sie Mattes’ Mutter an, die ihre Hände in ihre nahm. „Melanie, wir beide müssen jetzt weiterhin hoffen. Die Notstromversorgung im Krankenhaus läuft mindestens 24 Stunden. Das ist so vorgeschrieben, um den Betrieb essenzieller Systeme bei einem Blackout aufrechtzuerhalten.“ Jetzt klang Dörte Seeler ganz wie die promovierte Wissenschaftlerin, die sie war. „Und bis dahin bekommen deine Kollegen das ganz sicher hin.“
In diesem Moment fragte Melanie sich, woher diese Frau ihre Kraft nahm. Eigentlich müsste sie – die Jüngere von beiden – ihr, der Älteren, Mut zusprechen. Aber groteskerweise war es genau andersherum. „Ich hoffe es, Dörte“, sagte sie leise. „Ich hoffe es.“ „Komm, lass uns ein Stück gehen.“ Mattes’ Mutter legte ihr ruhig den Arm auf den unteren Rücken. „Hier können wir gerade eh nichts machen.“

Etwa eine Stunde waren Melanie und Dörte ruhig an der Elbe vorbeigegangen. Teilweise hatten sie beide minutenlang gar nichts gesagt und Melanie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Hatte über Mattes nachgedacht. Darüber, ob der Zwischenfall heute morgen wegen des Hackerangriffs ihm nicht doch geschadet hatte. Und immer wieder hatte sie das Handy aus ihrer Uniformtasche geholt, um sich zu vergewissern, dass sie nicht doch einen Anruf von Wolle oder Jasmin verpasst hatte – mit dem immer gleichen Ergebnis: das Display zeigte nichts an.
Als sie gerade mit Dörte darüber sprach, wer in den nächsten Tagen wann bei Mattes im Krankenhaus bleiben würde, spürte sie plötzlich die Vibration, noch bevor der Klingelton einsetzte. „Wolle“, meldete sie sich mit Blick auf ihr Handy atemlos. „Melanie, ich habe gute Nachrichten.“ Sie atmete erleichtert aus und streckte ihren Daumen nach oben, um Mattes’ Mutter ein Zeichen zu geben. „Das LKA konnte das Netzwerk des EKHs wieder herstellen. Es läuft jetzt langsam wieder alles auf Normalbetrieb.“ „Alles klar, Wolle, danke.“
Sie lächelte erleichtert und steckte das Smartphone zurück in ihre Uniform. „Dann sollten wir uns aufmachen“, sah Dörte sie aufmunternd an. Wenn Melanie zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, was sie im EKH erwarten würde, wäre das Lächeln auf ihren Lippen allerdings sicherlich sofort wieder verschwunden.
Schon als sie gemeinsam mit Dörte im EKH ankam, beschlich Melanie plötzlich ein komisches Gefühl. Und dieses verstärkte sich mit jedem Schritt, den sie Mattes’ Zimmer näherkam. Es hatte sie nicht getäuscht. Schon von Weitem hörte sie hektische Stimmen. Eine Krankenschwester rannte schnell in Mattes’ Zimmer, während Frauke genauso schnell herausrannte. „Was ist hier los?“ Sie hielt Frauke am Arm fest und merkte, dass ihre Stimme sich fast überschlug.
„Es gab Komplikationen, Melanie. Und ihr könnt da jetzt auch nicht rein.“ Weiter sagte Frauke nichts, sondern rannte weiter, während sie irgendwelche Anweisungen in ihr Telefon sprach. Fast schon automatisch griff Melanie nach Dörtes Hand. Ihr Herz schlug so laut in ihrer Brust, dass sie dachte, jeder auf dieser Station könne es hören. Sie krallte sich regelrecht an Mattes’ Mutter fest, als plötzlich die Tür von Mattes’ Zimmer abrupt aufgerissen wurde.
Und dann sah sie ihn. Mattes. Denn Jasmin und Dr. Sharif kamen nicht wie erwartet allein aus dem Zimmer. Der Oberarzt zog an Mattes’ Bett, während Jasmin es von hinten anschob. „Oh Gott, was ist los?“ Melanie hörte in der Stimme von Mattes’ Mutter die gleiche Panik und Angst, die sie gerade ebenfalls spürte.
„Frau Seeler, der Hirndruck Ihres Sohnes ist plötzlich rapide angestiegen. Er muss sofort in den OP“, erklärte Jasmin ihr schnell. „Ich komme später noch einmal zu Ihnen.“ Und dann konnte Melanie nur noch verzweifelt dabei zusehen, wie Mattes immer weiter von ihr entfernt wurde – und nur hoffen, dass das noch nicht das Ende war …
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