Die Zeit danach ...
von desii-nhk
Kurzbeschreibung
Nach über einem Jahrzehnt haben Melanie und Mattes die „magische Grenze“ überschritten und sich endlich geküsst. Aber wie geht es jetzt weiter? Meine Gedanken und Ideen zu Staffel 17 ...
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler
Melanie Hansen
01.09.2022
31.03.2023
50
115.721
28
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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20.03.2023
3.463
Weiter geht’s … Ich habe mich beim Schreiben einfach an dem orientiert, was wir schon über den Anfang von Staffel 18 wissen. Das ist zwar nicht sooo viel, aber es hat trotzdem gereicht. :)
Dieses Kapitel, in dem Dörte Seeler eine entscheidende Rolle spielt, habe ich geschrieben, bevor ich das Staffelfinale gesehen habe. Ich war daher sehr unsicher, ob ich sie wirklich authentisch dargestellt habe. Aber was soll ich sagen: Volltreffer – und sehr froh, dass ich mich da nicht von den negativen Darstellungen in der Vergangenheit, sondern von meinem Bauchgefühl habe leiten lassen. <3
Und danke an Anja für die Idee mit dem Sch... du weißt schon (will gerade nicht spoilern)!
—
„Oh Gott, nein!“ Panisch schreckte Melanie hoch. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich um und realisierte erst nach wenigen Momenten, wo sie sich gerade befand: in ihrem Bett. Und nicht im EKH, wo Jasmin ihr gerade gesagt hatte, dass Mattes nicht mehr aufwachen würde. „Es war nur ein Albtraum, Melanie. Nur ein Albtraum“, sprach sie sich selbst Mut zu.
Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch ihre Uniform vom Vortag trug. Und dass sie schweißgebadet war. Kein Wunder. Ihr Traum war schrecklich real gewesen und ihre Angst wirkte auch jetzt nach dem Aufwachen immer noch nach. Wie mochte es Mattes wohl gerade gehen?
Orientierungslos tastete sie nach ihrem Handy, das sich irgendwo in ihrem Bett befinden musste. Irgendwann spürte sie das eckige Metall unter ihren Beinen. Wie war es denn dort hingekommen? Langsam griff sie danach und ihr Herz fing spürbar stärker an zu pochen. Hatte sie etwa einen Anruf von Jasmin verpasst? Aber nein, ein Blick auf das Display verriet ihr, dass Mattes’ Zustand scheinbar unverändert war. Kein verpasster Anruf.
Aber trotzdem musste sie wissen, wie es Mattes ging. Und ob heute Nacht wirklich nichts passiert war. Vielleicht hatte Jasmin sie aus Rücksicht ja auch nicht wecken wollen. Auch wenn sie versprochen hatte, sich sofort zu melden, falls es etwas Neues gäbe.
Schnell öffnete sie ihr WhatsApp und den Chatverlauf mit Jasmin. „Wie geht es ihm?“, war das Einzige, was sie ohne Begrüßung in ihr Handy tippte, während ihre Finger dabei sichtbar zitterten. Ihre Freundin würde schon verstehen, dass sie sich jetzt nicht an sozialen Gepflogenheiten aufhielt.
Als sie den Chat wieder schloss, sah sie eine neue Nachricht von Franzi: „Hallo Melanie, es tut mir so leid, was passiert ist! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann oder du reden möchtest, dann lass es mich bitte wissen. Jederzeit. Wir denken gerade alle an Mattes und dich.“ Dahinter hatte sie noch einen Herz-Emoji eingefügt.
Melanie schaute auf die Uhr. Es war 5.12 Uhr und ihre Kollegin und Freundin um diese Zeit sicherlich noch nicht wach. Andererseits hatte sie ihr geschrieben, dass sie sich immer melden könne. Und irgendwie hatte Melanie gerade das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Aber würde sie das aushalten? Und würde sie es schaffen, die Wahrheit weiter zu verheimlichen? Wollte sie das überhaupt noch?
Denn irgendwie war es ihr mittlerweile fast schon egal, wenn Franzi das von Mattes und ihr erfahren würde. Es konnte doch sowieso eigentlich alles schon nicht mehr schlimmer werden, als es gerade eh schon war. Unentschlossen blickte sie auf ihr Smartphone. Sollte sie wirklich ihre Kollegin aus dem Schlaf reißen? Und was war, wenn Jasmin ihr in der Zwischenzeit antworten würde?
Ganz langsam setzte sie sich auf. Ihr war schwindelig und die Umgebung um sie herum begann, sich zu drehen. Instinktiv stützte sie sich mit der rechten Hand an ihrer Bettkante ab. Was sollte sie jetzt am besten als erstes machen? Duschen? Auf Jasmins Rückmeldung warten? Franzi anrufen? Sie entschloss sich für Ersteres, merkte aber, dass selbst die kleinsten Entscheidungen ihr gerade unheimlich schwerfielen. Und sie eine Menge Kraft kosteten.
Mühsam rappelte sie sich auf, griff nach ihrem Handy und ging langsam ins Bad. Als sie sich selbst im Spiegel sah, erschrak sie. Genau wie gestern auf der Krankenhaus-Toilette. Sie sah schlimm aus – und das hatte nichts mit verzerrter Selbstwahrnehmung zu tun. Ihre Augen waren immer noch gerötet vom vielen Weinen. Ihre Haut war blass und gleichzeitig mit roten Hitzeflecken übersät. Sie hatte das Gefühl, dass sie innerhalb noch nicht einmal eines einzigen Tages um Jahre gealtert war.
Schwerfällig zog sie ihre Uniform aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Sie würde sie in den nächsten Tagen eh nicht brauchen. Denn ganz normal ihren Dienst antreten konnte sie nicht. Das war ihr schon in den ersten Minuten nach dem Aufwachen klar geworden. Sie musste jetzt bei Mattes bleiben. Dafür würden Haller und die anderen sicherlich Verständnis haben. Und wenn nicht, wäre es ihr auch egal. Jasmin würde sie sicher ohne zu zögern krankschreiben.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre Freundin ihr noch nicht zurückgeschrieben hatte, trat Melanie langsam in die Duschkabine. Sie schaltete den Wasserhahn an und sprang erschrocken zurück, als die ersten Tropfen des Strahls ihre immer noch erhitzte Haut trafen. Wieso hatte sie vergessen, dass ihre Dusche immer erst ein paar Momente brauchte, bis das Wasser warm geworden war?
Erst, als der Strahl eine relativ hinnehmbare Temperatur erreicht hatte, stellte sie sich komplett unter den Duschkopf. Als sie nach ihrem Duschgel griff, sah sie, dass das Wasser auf dem Boden nicht klar und farblos war wie sonst, sondern sich leicht rötlich färbte. Hatte sie etwa immer noch Blut irgendwo auf ihrer Haut? Sie blicke an sich herunter und sah dann, dass sich unter ihren Fingernägeln eine bröckelige, mittlerweile schon leicht braune Subtanz befand. Wieso fiel ihr das erst jetzt auf?
Nach wenigen Minuten schaltete sie den Hahn wieder aus. Für eine entspannte Dusche war jetzt eh der falsche Zeitpunkt, aber so fühlte sie sich zumindest ein bisschen gereinigt. Nachdem sie sich ein Handtuch umgewickelt hatte, ging sie langsam zurück ins Schlafzimmer und blieb unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank stehen. Wahrscheinlich sollte sie sich etwas Bequemes anziehen, denn wer wusste, wie lange sie heute im Krankenhaus bleiben würde.
Es war erst 5.43 Uhr, als sie bereits fertig angezogen auf ihrem Bett saß. Wieso hatte Jasmin immer noch nicht geantwortet? Hatte es doch Komplikationen gegeben? Und hatte Jasmin sie darüber nicht mitten in der Nacht am Telefon informieren wollen? Mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Kontaktliste, um sie anzurufen, als ihr WhatsApp eine neue Nachricht von ihr anzeigte: „Sein Zustand ist unverändert.“
Melanie wusste nicht, ob sie sich über diese Information freuen sollte oder nicht. Ob sie erleichtert sein sollte oder entsetzt. Aber immerhin schien heute Nacht nicht wieder so ein Zwischenfall passiert zu sein wie gestern Abend. Als sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Sie merkte, dass der Gedanke daran ihr wieder die Tränen in die Augen schießen ließ. Aber sie wollte diesen jetzt keinen Raum geben. Sie musste weiter stark sein.
Kraftlos ließ sie das Handy sinken. Sollte sie nun ins EKH fahren? Es war doch sehr früh und sie wusste, dass jetzt eigentlich noch keine Besuchszeit war. Und auch, dass Jasmin sie nur deswegen gestern auf die Intensivstation zu Mattes gelassen hatte, weil sie befreundet waren. Denn offiziell war sie nur Mattes’ Streifenpartnerin und hätte unter normalen Umständen wahrscheinlich gar nicht zu ihm gedurft.
Vielleicht wäre es besser, noch etwas zu warten. Und in der Zwischenzeit Kraft zu tanken. Sich etwas Beistand zu holen. Von einer Person, die Mattes und sie schon lange kannte. Wieder griff sie nach ihrem Handy und suchte in der Anrufliste nach der richtigen Nummer. Es dauerte nur wenige Momente, bis Franzi sich verschlafen meldete: „Melanie, gibt’s was Neues?“ Auch ihre Kollegin hielt sich gerade nicht an Höflichkeitsfloskeln auf.
„Nein, leider nicht. Sein Zustand ist unverändert.“ Erst jetzt nahm Melanie bewusst wahr, wie heiser und belegt ihre Stimme klang. „Scheiße“, kam es von der anderen Seite der Leitung. Was sollte sie darauf erwidern? Genau das gab ihre Situation in einem einzigen Wort ziemlich genau wider. „Kann ich was für dich tun, Melanie?“, fragte Franzi nun leiser.
Melanie stand auf. „Nein, ich glaube nicht. Ich … Ich musste einfach mal mit jemandem reden.“ „Das kann ich gut verstehen“, sagte ihre Kollegin mitfühlend, bevor sie ergänzte: „Fährst du gleich wieder ins EKH?“ „Ja, auf jeden Fall. Kannst du Haller sagen, dass ich heute nicht reinkomme? Und dass ich auch nicht weiß, wie das die nächsten Tage sein wird.“ „Na klar“, bestätigte Franzi. „Da hat doch jeder Verständnis für.“ Melanie nickte stumm. Und wenn nicht, wäre es ihr auch egal.
„Konntest du … Konntest du Mattes denn schon sehen?“, fragte Franzi zögerlich. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob sie Melanie diese Frage überhaupt stellen konnte. Und ob sie damit umgehen konnte. „Ja, gestern zweimal kurz.“ Wieder sah Melanie die Bilder vor sich. Wie hilflos Mattes da gelegen hatte. Wie hilflos sie ihn angesehen hatte. Und wie hilflos sie sich gefühlt hatte, als sie die vielleicht einzige Chance genutzt hatte, ihm zu sagen, was sie für ihn empfand. Wirklich für ihn empfand.
Sie griff nach der Taschentuchpackung auf ihrem Nachttisch, zog eines der Taschentücher heraus und schnäuzte sich die Nase. „Es tut mir so leid, Melanie“, kam es betroffen von Franzi. „Danke. Das tut gut zu hören.“ Einige Momente lang sagte keine von ihnen etwas.
Wie gerne hätte Melanie sich Franzi in diesem Moment anvertraut. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, was gerade wirklich in ihr vorging. Wie gerne hätte sie ihr mitgeteilt, was sie in diesem Moment fühlte. Und warum sie eigentlich, wirklich so verzweifelt war.
Aber sie konnte es nicht. Sie wollte, aber es ging nicht. Irgendetwas in ihr hielt sie davon ab. Vielleicht die Erkenntnis darüber, dass sie damit die Vereinbarung brechen würde, die Mattes und sie schon vor Monaten getroffen hatten: es niemandem zu sagen. Und über die sie nicht mehr richtig gesprochen hatten. Weil es dazu nicht mehr gekommen war.
„Melanie, wenn du irgendwen zum Reden brauchst oder … oder dich sonst irgendetwas bedrückt, du kannst mir alles sagen, okay?“ Das klang fast so, als würde Franzi etwas ahnen. Als wüsste sie eigentlich schon längst, was los war. Aber wäre das wirklich verwunderlich? Nick hatte ihr sicherlich nichts gesagt, sonst wäre schon früher eine Andeutung von ihr gekommen. Aber sie kannte Mattes und sie schon so viele Jahre. Und sie hatte die Verbundenheit zwischen ihnen in all dieser Zeit mitbekommen, auch wenn sie die meiste Zeit rein kollegial und freundschaftlich gewesen war.
„Das ist lieb, Franzi, danke“, antwortete Melanie, ohne näher auf die Äußerung ihrer Kollegin einzugehen. Ob und wann sie ihr etwas sagte, hing sicherlich auch davon ab, wie es mit Mattes weiterginge. „Du, ich glaube, ich mache mich jetzt mal langsam fertig und fahre ins EKH, okay?“ So sehr sie auch jemanden zum Reden gebraucht hatte, aber ihr wurde Franzis Mitleid gerade fast etwas zuviel. Obwohl sie wusste, dass ihre Kollegin es nur gut mit ihr meinte.
„Alles klar“, kam es verständnisvoll zurück. „Aber wenn was ist, dann melde dich bitte.“ Melanie antwortete nur noch „Das mache ich“, bevor sie das Gespräch beendete. Sollte sie sich jetzt wirklich schon auf den Weg ins EKH machen? Ein Blick auf ihr Handy zeigte, dass das Telefonat mit Franzi nur ein paar Minuten gedauert hatte. Aber weiter untätig und ruhelos hier herumsitzen konnte sie auch nicht.
Also stand sie auf, ging in ihre Küche und nahm sich eine Scheibe Brot aus dem Schrank. Sie hatte überhaupt keinen Hunger, aber so hätte sie wenigstens irgendetwas im Magen und würde noch etwas Zeit totschlagen, bevor sie ins Krankenhaus fuhr. Langsam biss sie ein Stück ab und stellte dann fest, dass sie Butter und irgendeinen Belag völlig vergessen hatte.
Genervt legte sie die Scheibe Brot wieder weg und schaute erneut auf ihr Handy: 6.09 Uhr. Es war eigentlich immer noch viel zu früh, um ins EKH zu fahren. Aber hier, allein in ihrer Wohnung, allein mit ihren Gedanken, gefühlt so weit weg von Mattes, hielt sie es nicht mehr aus. Also griff sie ihre Jacke und Tasche und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus – wo sie sich nur wenige Stunden später in dem gleichen Dilemma wiederfinden würde, in dem sie eben noch bei ihrem Telefonat mit Franzi gesteckt hatte …
—
„Melanie.“ Frauke sah vom Empfangstresen auf. „Du bist schon hier?“, meinte die Krankenschwester mit Blick auf die große Uhr im Eingangsbereich, die gerade 6.52 Uhr anzeigte. „Ich konnte nicht mehr zuhause warten. Kann ich zu ihm?“ Frauke sah sie mit einer Mischung aus Verständnis und Unsicherheit an. „Ich frage mal Dr. Sharif, ja? Jasmins Schicht ist seit eben zu Ende und sie ist nach Hause gefahren, um etwas zu schlafen.“
Melanie nickte nur, während Frauke bereits zum Telefon gegriffen hatte. „Dr. Sharif, Melanie ist hier und möchte zu Mattes.“ Was der Oberarzt am anderen Ende sagte, bekam Melanie nicht mit. Sie sah nur, wie Frauke leicht nickte und abschließend „Okay, mache ich“ sagte. „Dr. Sharif kommt gleich und bringt dich hin, ok?“ „Ja, ist gut.“
Melanie sah sich um. Wie oft war sie in der Vergangenheit hier im EKH gewesen. Wie oft hatte sie hier mit Jasmin oder den anderen Ärzten über den Zustand von Patienten gesprochen. Wie oft war sie selbst als Patientin hier gewesen, sei es wegen ihrer Krebsdiagnose oder ihrer Fehlgeburt. Aber sie hatte das Gefühl, sich hier an diesem Ort noch nie so schlimm und hilfslos gefühlt zu haben, wie sie sich seit gestern hier fühlte.
Es dauerte nur ein paar Momente, bis Jasmins Kollege um die Ecke kam. Wieder musste Melanie an Fraukes gestrige Worte ihm gegenüber denken. Dass sie sie nicht davon abhalten können würden, Mattes zu sehen und bei ihm zu sein. „Guten Morgen, Melanie. Konnten Sie etwas schlafen?“ Lazar musterte sie etwas besorgt. „Etwas, aber nicht gut“, antwortet Melanie wahrheitsgemäß. „Jasmin meinte schon, dass Mattes’ Zustand weiterhin unverändert ist?“, vergewisserte sie sich. „Ja, das stimmt“, bestätigte der Arzt. „Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.“
Keine fünf Minuten später saß Melanie wieder an Mattes’ Bett. Es war die gleiche Situation wie gestern Abend – mit einem entscheidenden Unterschied: Jetzt wusste er, was sie für ihn fühlte. Zumindest hoffte sie, dass er es wusste. Und dass er ihre Worte zumindest irgendwie wahrgenommen hatte. Trotzdem sah er im Vergleich zum Vorabend unverändert aus. Sie griff nach seiner Hand und auch diese fühlte sich genauso an wie erst zwölf Stunden zuvor. Kalt und rau.
Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Seite gegenüber von Mattes’ Bett. Es war erst 7.21 Uhr und dennoch kam es ihr so, als würde sie schon seit Ewigkeiten hier sitzen. Sie hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr und die wenigen vergangenen Minuten kamen ihr wie Stunden vor.
Als die Tür aufging, schreckte sie auf. Dörte Seeler stand in der Tür. Im ersten Moment hatte Melanie den Reflex, Mattes’ Hand loszulassen. Aber sie wollte diese einzige Verbindung, die sie gerade zu ihm hatte, nicht beenden. Nicht trennen. „Frau Seeler, guten Morgen“, sagte sie leise, während ihre Hand weiterhin auf Mattes’ lag.
Melanie machte kurz Anstalten aufzustehen, um Dörte Seeler Platz zu machen, aber sie winkte nur kurz ab. „Bleiben Sie ruhig sitzen.“ Sie ging um das Bett herum, stellte sich auf die andere Seite und betrachtete besorgt ihren Sohn. Ein paar Minuten sagte keine von ihnen etwas, bis Dörte Seeler irgendwann ihren Blick von Mattes abwandte und Melanie ansah. „Sie sind früh hier.“ Melanie erwiderte den Blick ruhig. „Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben“, sagte sie leise.
Dörte Seeler nickte nur. Aber da war noch etwas anderes. In ihrem Blick. In ihrem Gesichtsausdruck. „Hat Mattes eigentlich eine Freundin?“, fragte sie plötzlich und sah Melanie dabei unverwandt an. Mist, wie kam seine Mutter denn jetzt darauf?
„Wie kommen Sie denn darauf?“, wiederholte sie das, was sie gerade nur in Gedanken ausgesprochen hatte. „Naja, in seinem Badezimmer standen eine zweite Zahnbürste und ein Shampoo, wie Männer es kaum benutzen. Außerdem lagen ein paar Kleidungsstücke in seinem Schlafzimmer, die eindeutig einer Frau gehören.“ Melanie wusste genau, von welchen Kleidungsstücken Dörte Seeler gerade sprach, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass ihre Wangen sich leicht rötlich färbten.
Hatte Mattes nicht mal erzählt, dass seine Mutter Wissenschaftlerin war – Biologin, wenn sie sich richtig erinnerte – und einen Doktortitel hatte? Und gerade erschien sie ihr genau wie eine solche. Wie eine Wissenschaftlerin, die lediglich die Fakten zusammentrug, eine Theorie daraus ableitete, nach Beweisen dafür suchte und darauf basierend ihre Schlüsse zog.
„Ich … Ich weiß es nicht genau, Frau Seeler.“ Sie wusste selbst, dass sie gerade überhaupt nicht überzeugend klang. Und dass ihre Aussage auch gar keinen Sinn machte. Immerhin verbrachten Mattes und sie fast jeden Tag viel Zeit auf der Arbeit miteinander. Da konnte seine Mutter berechtigterweise schon davon ausgehen, dass sie auch einmal über Privates wie Beziehungen sprachen.
Dörte Seeler musterte sie intensiv und Melanie versuchte, ihrem Blick standzuhalten. Automatisch verstärkte sie den Druck auf Mattes’ Hand – in der Hoffnung, so zumindest ein wenig Beistand von ihm in dieser Situation zu bekommen. „Also eigentlich gehe ich schon davon, dass mein Sohn eine Freundin hat.“ Der Blick seiner Mutter intensivierte sich. „Wie kommen Sie denn darauf?“ Melanie spürte, dass ihr Puls sich beschleunigte. Gleichzeitig stellte sie fest, dass sie haargenau die gleiche Frage nur wenige Momente vorher schon einmal gestellt hatte. Verdammt, wieso fiel ihr denn gerade nichts Besseres ein?
Dörte Seeler wandte den Blick von ihr ab und begann, in ihrer Tasche zu kramen. „Wissen Sie, man hat mir hier ja gestern Mattes’ Schlüssel gegeben, damit ich ein paar Sachen aus seiner Wohnung holen kann.“ Oh nein. Melanie ahnte genau, worauf das gerade hinauslief.
„Und da habe ich schon begonnen, mir Fragen zu stellen“, fuhr Mattes’ Mutter weiter fort. „Weil …“, sie fischte nun das aus ihrer Tasche, was Melanie bereits befürchtet hatte, „… er sonst wohl kaum einen solchen Anhänger an seinem Schlüsselbund hätte.“ Melanie schloss instinktiv die Augen. Sie wusste genau, was sie jetzt sehen würde. Und sie sollte Recht behalten.
Als sie ihre Augen nach wenigen Sekunden wieder öffnete, lag in Dörte Seelers Hand der Schlüsselanhänger. Ihr Schlüsselanhänger. Der mit dem ‚M’ und dem kleinen silbernen Herz. Der eigentlich als Weihnachtsgeschenk für Mattes gedacht war und den sie ihm dann eine Woche später an Silvester gegeben hatte.
Seine Mutter sah sie auffordernd und gleichzeitig nachdenklich an. „Ihr Vorname beginnt doch auch mit ‚M‘, Frau Hansen?“ Es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. Melanie nickte nur stumm. Was sollte sie nun machen? Was sollte sie sagen?
Sie wollte nicht einfach über Mattes’ Kopf hinweg – im wahrsten Sinne des Wortes – die Entscheidung treffen, seine Mutter in ihre Beziehung einzuweihen. Aber sie wollte die Frau, die gerade vor ihr stand und trotz ihrer resoluten Art so zerbrechlich wirkte, auch nicht anlügen. Zumal ja eigentlich seit gestern auch klar war, wo Mattes und sie standen. Und wie sie sich in Zukunft sahen. Nämlich gemeinsam.
Sie befand sich gerade in einem absoluten Dilemma. Egal, für welche Option sie sich nun entscheiden würde – diese wäre richtig und gleichzeitig falsch. Aber dann erlöste Mattes’ Mutter sie mit ein paar wenigen Worten: „Sie müssen nichts dazu sagen. Ich glaube, ich habe genug verstanden.“ Wissend blickte Dörte Seeler sie an und ein leichtes Lächeln umspielte dabei ihr Gesicht.
„Mein Sohn erzählt mir ja nie so viel von seiner Arbeit und aus seinem Leben, wenn wir überhaupt mal sprechen.“ Jetzt hatte ihre Stimme einen traurigen Klang angenommen. „Aber Sie hat er des Öfteren erwähnt.“ Nun musste auch Melanie leicht lächeln, während sie gleichzeitig immer noch über Mattes’ Finger strich und ihre Blicke zwischen ihm und seiner Mutter hin und her wechselten.
„Sie waren ihm schon immer sehr wichtig.“ Auch das klang bei Dörte Seeler gerade wie eine wissenschaftliche Aussage, die keinerlei Zweifel duldete. „Ja, wahrscheinlich war ich das“, antwortete Melanie leise. „Und er mir auch“, fügte sie noch genauso leise hinzu, während sie mit ihren Fingern nun über seinen Unterarm strich.
Wieder vergingen einige Minuten des Schweigens, nur unterbrochen vom monotonen Piepen der Maschinen. Melanie saß links von Mattes, seine Mutter hatte sich ebenfalls einen Stuhl herangezogen und auf seiner rechten Seite platziert. Die Uhr zeigte mittlerweile 8.46 Uhr an.
Plötzlich räusperte Dörte Seeler sich. „Wenn er hier raus ist, dann lebt euer Glück. Egal, mit welchen Konsequenzen.“ Melanie schaute auf und brauchte ein paar Momente, um sich zu sammeln. Was hatte Mattes’ Mutter da gerade gesagt? Oder hatte sie sich verhört? Wieso konnte diese Frau ihre Situation so gut einschätzen? Und warum wusste sie scheinbar ganz genau, was sie seit gestern, und eigentlich schon seit vielen Monaten, so bewegte?
Ihre Worte hallten in Melanies Kopf nach. ‚Wenn er hier raus ist …‘ Aber was wäre, wenn er hier nicht mehr herauskommen würde? Wenn sie ihre einzige Chance auf das Glück, von dem Dörte Seeler gerade sprach, vertan hatten? Nein, sie konnte nicht darüber nachdenken. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
Sie konnte einfach nur weiter hoffen, dass Mattes’ instabiler Zustand sich zeitnah verbesserte und er schon bald wieder aufwachte – eine Hoffnung, die sich leider nicht erfüllen sollte …
Dieses Kapitel, in dem Dörte Seeler eine entscheidende Rolle spielt, habe ich geschrieben, bevor ich das Staffelfinale gesehen habe. Ich war daher sehr unsicher, ob ich sie wirklich authentisch dargestellt habe. Aber was soll ich sagen: Volltreffer – und sehr froh, dass ich mich da nicht von den negativen Darstellungen in der Vergangenheit, sondern von meinem Bauchgefühl habe leiten lassen. <3
Und danke an Anja für die Idee mit dem Sch... du weißt schon (will gerade nicht spoilern)!
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„Oh Gott, nein!“ Panisch schreckte Melanie hoch. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie sich um und realisierte erst nach wenigen Momenten, wo sie sich gerade befand: in ihrem Bett. Und nicht im EKH, wo Jasmin ihr gerade gesagt hatte, dass Mattes nicht mehr aufwachen würde. „Es war nur ein Albtraum, Melanie. Nur ein Albtraum“, sprach sie sich selbst Mut zu.
Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch ihre Uniform vom Vortag trug. Und dass sie schweißgebadet war. Kein Wunder. Ihr Traum war schrecklich real gewesen und ihre Angst wirkte auch jetzt nach dem Aufwachen immer noch nach. Wie mochte es Mattes wohl gerade gehen?
Orientierungslos tastete sie nach ihrem Handy, das sich irgendwo in ihrem Bett befinden musste. Irgendwann spürte sie das eckige Metall unter ihren Beinen. Wie war es denn dort hingekommen? Langsam griff sie danach und ihr Herz fing spürbar stärker an zu pochen. Hatte sie etwa einen Anruf von Jasmin verpasst? Aber nein, ein Blick auf das Display verriet ihr, dass Mattes’ Zustand scheinbar unverändert war. Kein verpasster Anruf.
Aber trotzdem musste sie wissen, wie es Mattes ging. Und ob heute Nacht wirklich nichts passiert war. Vielleicht hatte Jasmin sie aus Rücksicht ja auch nicht wecken wollen. Auch wenn sie versprochen hatte, sich sofort zu melden, falls es etwas Neues gäbe.
Schnell öffnete sie ihr WhatsApp und den Chatverlauf mit Jasmin. „Wie geht es ihm?“, war das Einzige, was sie ohne Begrüßung in ihr Handy tippte, während ihre Finger dabei sichtbar zitterten. Ihre Freundin würde schon verstehen, dass sie sich jetzt nicht an sozialen Gepflogenheiten aufhielt.
Als sie den Chat wieder schloss, sah sie eine neue Nachricht von Franzi: „Hallo Melanie, es tut mir so leid, was passiert ist! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann oder du reden möchtest, dann lass es mich bitte wissen. Jederzeit. Wir denken gerade alle an Mattes und dich.“ Dahinter hatte sie noch einen Herz-Emoji eingefügt.
Melanie schaute auf die Uhr. Es war 5.12 Uhr und ihre Kollegin und Freundin um diese Zeit sicherlich noch nicht wach. Andererseits hatte sie ihr geschrieben, dass sie sich immer melden könne. Und irgendwie hatte Melanie gerade das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Aber würde sie das aushalten? Und würde sie es schaffen, die Wahrheit weiter zu verheimlichen? Wollte sie das überhaupt noch?
Denn irgendwie war es ihr mittlerweile fast schon egal, wenn Franzi das von Mattes und ihr erfahren würde. Es konnte doch sowieso eigentlich alles schon nicht mehr schlimmer werden, als es gerade eh schon war. Unentschlossen blickte sie auf ihr Smartphone. Sollte sie wirklich ihre Kollegin aus dem Schlaf reißen? Und was war, wenn Jasmin ihr in der Zwischenzeit antworten würde?
Ganz langsam setzte sie sich auf. Ihr war schwindelig und die Umgebung um sie herum begann, sich zu drehen. Instinktiv stützte sie sich mit der rechten Hand an ihrer Bettkante ab. Was sollte sie jetzt am besten als erstes machen? Duschen? Auf Jasmins Rückmeldung warten? Franzi anrufen? Sie entschloss sich für Ersteres, merkte aber, dass selbst die kleinsten Entscheidungen ihr gerade unheimlich schwerfielen. Und sie eine Menge Kraft kosteten.
Mühsam rappelte sie sich auf, griff nach ihrem Handy und ging langsam ins Bad. Als sie sich selbst im Spiegel sah, erschrak sie. Genau wie gestern auf der Krankenhaus-Toilette. Sie sah schlimm aus – und das hatte nichts mit verzerrter Selbstwahrnehmung zu tun. Ihre Augen waren immer noch gerötet vom vielen Weinen. Ihre Haut war blass und gleichzeitig mit roten Hitzeflecken übersät. Sie hatte das Gefühl, dass sie innerhalb noch nicht einmal eines einzigen Tages um Jahre gealtert war.
Schwerfällig zog sie ihre Uniform aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Sie würde sie in den nächsten Tagen eh nicht brauchen. Denn ganz normal ihren Dienst antreten konnte sie nicht. Das war ihr schon in den ersten Minuten nach dem Aufwachen klar geworden. Sie musste jetzt bei Mattes bleiben. Dafür würden Haller und die anderen sicherlich Verständnis haben. Und wenn nicht, wäre es ihr auch egal. Jasmin würde sie sicher ohne zu zögern krankschreiben.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihre Freundin ihr noch nicht zurückgeschrieben hatte, trat Melanie langsam in die Duschkabine. Sie schaltete den Wasserhahn an und sprang erschrocken zurück, als die ersten Tropfen des Strahls ihre immer noch erhitzte Haut trafen. Wieso hatte sie vergessen, dass ihre Dusche immer erst ein paar Momente brauchte, bis das Wasser warm geworden war?
Erst, als der Strahl eine relativ hinnehmbare Temperatur erreicht hatte, stellte sie sich komplett unter den Duschkopf. Als sie nach ihrem Duschgel griff, sah sie, dass das Wasser auf dem Boden nicht klar und farblos war wie sonst, sondern sich leicht rötlich färbte. Hatte sie etwa immer noch Blut irgendwo auf ihrer Haut? Sie blicke an sich herunter und sah dann, dass sich unter ihren Fingernägeln eine bröckelige, mittlerweile schon leicht braune Subtanz befand. Wieso fiel ihr das erst jetzt auf?
Nach wenigen Minuten schaltete sie den Hahn wieder aus. Für eine entspannte Dusche war jetzt eh der falsche Zeitpunkt, aber so fühlte sie sich zumindest ein bisschen gereinigt. Nachdem sie sich ein Handtuch umgewickelt hatte, ging sie langsam zurück ins Schlafzimmer und blieb unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank stehen. Wahrscheinlich sollte sie sich etwas Bequemes anziehen, denn wer wusste, wie lange sie heute im Krankenhaus bleiben würde.
Es war erst 5.43 Uhr, als sie bereits fertig angezogen auf ihrem Bett saß. Wieso hatte Jasmin immer noch nicht geantwortet? Hatte es doch Komplikationen gegeben? Und hatte Jasmin sie darüber nicht mitten in der Nacht am Telefon informieren wollen? Mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Kontaktliste, um sie anzurufen, als ihr WhatsApp eine neue Nachricht von ihr anzeigte: „Sein Zustand ist unverändert.“
Melanie wusste nicht, ob sie sich über diese Information freuen sollte oder nicht. Ob sie erleichtert sein sollte oder entsetzt. Aber immerhin schien heute Nacht nicht wieder so ein Zwischenfall passiert zu sein wie gestern Abend. Als sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Sie merkte, dass der Gedanke daran ihr wieder die Tränen in die Augen schießen ließ. Aber sie wollte diesen jetzt keinen Raum geben. Sie musste weiter stark sein.
Kraftlos ließ sie das Handy sinken. Sollte sie nun ins EKH fahren? Es war doch sehr früh und sie wusste, dass jetzt eigentlich noch keine Besuchszeit war. Und auch, dass Jasmin sie nur deswegen gestern auf die Intensivstation zu Mattes gelassen hatte, weil sie befreundet waren. Denn offiziell war sie nur Mattes’ Streifenpartnerin und hätte unter normalen Umständen wahrscheinlich gar nicht zu ihm gedurft.
Vielleicht wäre es besser, noch etwas zu warten. Und in der Zwischenzeit Kraft zu tanken. Sich etwas Beistand zu holen. Von einer Person, die Mattes und sie schon lange kannte. Wieder griff sie nach ihrem Handy und suchte in der Anrufliste nach der richtigen Nummer. Es dauerte nur wenige Momente, bis Franzi sich verschlafen meldete: „Melanie, gibt’s was Neues?“ Auch ihre Kollegin hielt sich gerade nicht an Höflichkeitsfloskeln auf.
„Nein, leider nicht. Sein Zustand ist unverändert.“ Erst jetzt nahm Melanie bewusst wahr, wie heiser und belegt ihre Stimme klang. „Scheiße“, kam es von der anderen Seite der Leitung. Was sollte sie darauf erwidern? Genau das gab ihre Situation in einem einzigen Wort ziemlich genau wider. „Kann ich was für dich tun, Melanie?“, fragte Franzi nun leiser.
Melanie stand auf. „Nein, ich glaube nicht. Ich … Ich musste einfach mal mit jemandem reden.“ „Das kann ich gut verstehen“, sagte ihre Kollegin mitfühlend, bevor sie ergänzte: „Fährst du gleich wieder ins EKH?“ „Ja, auf jeden Fall. Kannst du Haller sagen, dass ich heute nicht reinkomme? Und dass ich auch nicht weiß, wie das die nächsten Tage sein wird.“ „Na klar“, bestätigte Franzi. „Da hat doch jeder Verständnis für.“ Melanie nickte stumm. Und wenn nicht, wäre es ihr auch egal.
„Konntest du … Konntest du Mattes denn schon sehen?“, fragte Franzi zögerlich. Wahrscheinlich war sie sich nicht sicher, ob sie Melanie diese Frage überhaupt stellen konnte. Und ob sie damit umgehen konnte. „Ja, gestern zweimal kurz.“ Wieder sah Melanie die Bilder vor sich. Wie hilflos Mattes da gelegen hatte. Wie hilflos sie ihn angesehen hatte. Und wie hilflos sie sich gefühlt hatte, als sie die vielleicht einzige Chance genutzt hatte, ihm zu sagen, was sie für ihn empfand. Wirklich für ihn empfand.
Sie griff nach der Taschentuchpackung auf ihrem Nachttisch, zog eines der Taschentücher heraus und schnäuzte sich die Nase. „Es tut mir so leid, Melanie“, kam es betroffen von Franzi. „Danke. Das tut gut zu hören.“ Einige Momente lang sagte keine von ihnen etwas.
Wie gerne hätte Melanie sich Franzi in diesem Moment anvertraut. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, was gerade wirklich in ihr vorging. Wie gerne hätte sie ihr mitgeteilt, was sie in diesem Moment fühlte. Und warum sie eigentlich, wirklich so verzweifelt war.
Aber sie konnte es nicht. Sie wollte, aber es ging nicht. Irgendetwas in ihr hielt sie davon ab. Vielleicht die Erkenntnis darüber, dass sie damit die Vereinbarung brechen würde, die Mattes und sie schon vor Monaten getroffen hatten: es niemandem zu sagen. Und über die sie nicht mehr richtig gesprochen hatten. Weil es dazu nicht mehr gekommen war.
„Melanie, wenn du irgendwen zum Reden brauchst oder … oder dich sonst irgendetwas bedrückt, du kannst mir alles sagen, okay?“ Das klang fast so, als würde Franzi etwas ahnen. Als wüsste sie eigentlich schon längst, was los war. Aber wäre das wirklich verwunderlich? Nick hatte ihr sicherlich nichts gesagt, sonst wäre schon früher eine Andeutung von ihr gekommen. Aber sie kannte Mattes und sie schon so viele Jahre. Und sie hatte die Verbundenheit zwischen ihnen in all dieser Zeit mitbekommen, auch wenn sie die meiste Zeit rein kollegial und freundschaftlich gewesen war.
„Das ist lieb, Franzi, danke“, antwortete Melanie, ohne näher auf die Äußerung ihrer Kollegin einzugehen. Ob und wann sie ihr etwas sagte, hing sicherlich auch davon ab, wie es mit Mattes weiterginge. „Du, ich glaube, ich mache mich jetzt mal langsam fertig und fahre ins EKH, okay?“ So sehr sie auch jemanden zum Reden gebraucht hatte, aber ihr wurde Franzis Mitleid gerade fast etwas zuviel. Obwohl sie wusste, dass ihre Kollegin es nur gut mit ihr meinte.
„Alles klar“, kam es verständnisvoll zurück. „Aber wenn was ist, dann melde dich bitte.“ Melanie antwortete nur noch „Das mache ich“, bevor sie das Gespräch beendete. Sollte sie sich jetzt wirklich schon auf den Weg ins EKH machen? Ein Blick auf ihr Handy zeigte, dass das Telefonat mit Franzi nur ein paar Minuten gedauert hatte. Aber weiter untätig und ruhelos hier herumsitzen konnte sie auch nicht.
Also stand sie auf, ging in ihre Küche und nahm sich eine Scheibe Brot aus dem Schrank. Sie hatte überhaupt keinen Hunger, aber so hätte sie wenigstens irgendetwas im Magen und würde noch etwas Zeit totschlagen, bevor sie ins Krankenhaus fuhr. Langsam biss sie ein Stück ab und stellte dann fest, dass sie Butter und irgendeinen Belag völlig vergessen hatte.
Genervt legte sie die Scheibe Brot wieder weg und schaute erneut auf ihr Handy: 6.09 Uhr. Es war eigentlich immer noch viel zu früh, um ins EKH zu fahren. Aber hier, allein in ihrer Wohnung, allein mit ihren Gedanken, gefühlt so weit weg von Mattes, hielt sie es nicht mehr aus. Also griff sie ihre Jacke und Tasche und machte sich auf den Weg ins Krankenhaus – wo sie sich nur wenige Stunden später in dem gleichen Dilemma wiederfinden würde, in dem sie eben noch bei ihrem Telefonat mit Franzi gesteckt hatte …
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„Melanie.“ Frauke sah vom Empfangstresen auf. „Du bist schon hier?“, meinte die Krankenschwester mit Blick auf die große Uhr im Eingangsbereich, die gerade 6.52 Uhr anzeigte. „Ich konnte nicht mehr zuhause warten. Kann ich zu ihm?“ Frauke sah sie mit einer Mischung aus Verständnis und Unsicherheit an. „Ich frage mal Dr. Sharif, ja? Jasmins Schicht ist seit eben zu Ende und sie ist nach Hause gefahren, um etwas zu schlafen.“
Melanie nickte nur, während Frauke bereits zum Telefon gegriffen hatte. „Dr. Sharif, Melanie ist hier und möchte zu Mattes.“ Was der Oberarzt am anderen Ende sagte, bekam Melanie nicht mit. Sie sah nur, wie Frauke leicht nickte und abschließend „Okay, mache ich“ sagte. „Dr. Sharif kommt gleich und bringt dich hin, ok?“ „Ja, ist gut.“
Melanie sah sich um. Wie oft war sie in der Vergangenheit hier im EKH gewesen. Wie oft hatte sie hier mit Jasmin oder den anderen Ärzten über den Zustand von Patienten gesprochen. Wie oft war sie selbst als Patientin hier gewesen, sei es wegen ihrer Krebsdiagnose oder ihrer Fehlgeburt. Aber sie hatte das Gefühl, sich hier an diesem Ort noch nie so schlimm und hilfslos gefühlt zu haben, wie sie sich seit gestern hier fühlte.
Es dauerte nur ein paar Momente, bis Jasmins Kollege um die Ecke kam. Wieder musste Melanie an Fraukes gestrige Worte ihm gegenüber denken. Dass sie sie nicht davon abhalten können würden, Mattes zu sehen und bei ihm zu sein. „Guten Morgen, Melanie. Konnten Sie etwas schlafen?“ Lazar musterte sie etwas besorgt. „Etwas, aber nicht gut“, antwortet Melanie wahrheitsgemäß. „Jasmin meinte schon, dass Mattes’ Zustand weiterhin unverändert ist?“, vergewisserte sie sich. „Ja, das stimmt“, bestätigte der Arzt. „Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.“
Keine fünf Minuten später saß Melanie wieder an Mattes’ Bett. Es war die gleiche Situation wie gestern Abend – mit einem entscheidenden Unterschied: Jetzt wusste er, was sie für ihn fühlte. Zumindest hoffte sie, dass er es wusste. Und dass er ihre Worte zumindest irgendwie wahrgenommen hatte. Trotzdem sah er im Vergleich zum Vorabend unverändert aus. Sie griff nach seiner Hand und auch diese fühlte sich genauso an wie erst zwölf Stunden zuvor. Kalt und rau.
Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Seite gegenüber von Mattes’ Bett. Es war erst 7.21 Uhr und dennoch kam es ihr so, als würde sie schon seit Ewigkeiten hier sitzen. Sie hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr und die wenigen vergangenen Minuten kamen ihr wie Stunden vor.
Als die Tür aufging, schreckte sie auf. Dörte Seeler stand in der Tür. Im ersten Moment hatte Melanie den Reflex, Mattes’ Hand loszulassen. Aber sie wollte diese einzige Verbindung, die sie gerade zu ihm hatte, nicht beenden. Nicht trennen. „Frau Seeler, guten Morgen“, sagte sie leise, während ihre Hand weiterhin auf Mattes’ lag.
Melanie machte kurz Anstalten aufzustehen, um Dörte Seeler Platz zu machen, aber sie winkte nur kurz ab. „Bleiben Sie ruhig sitzen.“ Sie ging um das Bett herum, stellte sich auf die andere Seite und betrachtete besorgt ihren Sohn. Ein paar Minuten sagte keine von ihnen etwas, bis Dörte Seeler irgendwann ihren Blick von Mattes abwandte und Melanie ansah. „Sie sind früh hier.“ Melanie erwiderte den Blick ruhig. „Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben“, sagte sie leise.
Dörte Seeler nickte nur. Aber da war noch etwas anderes. In ihrem Blick. In ihrem Gesichtsausdruck. „Hat Mattes eigentlich eine Freundin?“, fragte sie plötzlich und sah Melanie dabei unverwandt an. Mist, wie kam seine Mutter denn jetzt darauf?
„Wie kommen Sie denn darauf?“, wiederholte sie das, was sie gerade nur in Gedanken ausgesprochen hatte. „Naja, in seinem Badezimmer standen eine zweite Zahnbürste und ein Shampoo, wie Männer es kaum benutzen. Außerdem lagen ein paar Kleidungsstücke in seinem Schlafzimmer, die eindeutig einer Frau gehören.“ Melanie wusste genau, von welchen Kleidungsstücken Dörte Seeler gerade sprach, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass ihre Wangen sich leicht rötlich färbten.
Hatte Mattes nicht mal erzählt, dass seine Mutter Wissenschaftlerin war – Biologin, wenn sie sich richtig erinnerte – und einen Doktortitel hatte? Und gerade erschien sie ihr genau wie eine solche. Wie eine Wissenschaftlerin, die lediglich die Fakten zusammentrug, eine Theorie daraus ableitete, nach Beweisen dafür suchte und darauf basierend ihre Schlüsse zog.
„Ich … Ich weiß es nicht genau, Frau Seeler.“ Sie wusste selbst, dass sie gerade überhaupt nicht überzeugend klang. Und dass ihre Aussage auch gar keinen Sinn machte. Immerhin verbrachten Mattes und sie fast jeden Tag viel Zeit auf der Arbeit miteinander. Da konnte seine Mutter berechtigterweise schon davon ausgehen, dass sie auch einmal über Privates wie Beziehungen sprachen.
Dörte Seeler musterte sie intensiv und Melanie versuchte, ihrem Blick standzuhalten. Automatisch verstärkte sie den Druck auf Mattes’ Hand – in der Hoffnung, so zumindest ein wenig Beistand von ihm in dieser Situation zu bekommen. „Also eigentlich gehe ich schon davon, dass mein Sohn eine Freundin hat.“ Der Blick seiner Mutter intensivierte sich. „Wie kommen Sie denn darauf?“ Melanie spürte, dass ihr Puls sich beschleunigte. Gleichzeitig stellte sie fest, dass sie haargenau die gleiche Frage nur wenige Momente vorher schon einmal gestellt hatte. Verdammt, wieso fiel ihr denn gerade nichts Besseres ein?
Dörte Seeler wandte den Blick von ihr ab und begann, in ihrer Tasche zu kramen. „Wissen Sie, man hat mir hier ja gestern Mattes’ Schlüssel gegeben, damit ich ein paar Sachen aus seiner Wohnung holen kann.“ Oh nein. Melanie ahnte genau, worauf das gerade hinauslief.
„Und da habe ich schon begonnen, mir Fragen zu stellen“, fuhr Mattes’ Mutter weiter fort. „Weil …“, sie fischte nun das aus ihrer Tasche, was Melanie bereits befürchtet hatte, „… er sonst wohl kaum einen solchen Anhänger an seinem Schlüsselbund hätte.“ Melanie schloss instinktiv die Augen. Sie wusste genau, was sie jetzt sehen würde. Und sie sollte Recht behalten.
Als sie ihre Augen nach wenigen Sekunden wieder öffnete, lag in Dörte Seelers Hand der Schlüsselanhänger. Ihr Schlüsselanhänger. Der mit dem ‚M’ und dem kleinen silbernen Herz. Der eigentlich als Weihnachtsgeschenk für Mattes gedacht war und den sie ihm dann eine Woche später an Silvester gegeben hatte.
Seine Mutter sah sie auffordernd und gleichzeitig nachdenklich an. „Ihr Vorname beginnt doch auch mit ‚M‘, Frau Hansen?“ Es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. Melanie nickte nur stumm. Was sollte sie nun machen? Was sollte sie sagen?
Sie wollte nicht einfach über Mattes’ Kopf hinweg – im wahrsten Sinne des Wortes – die Entscheidung treffen, seine Mutter in ihre Beziehung einzuweihen. Aber sie wollte die Frau, die gerade vor ihr stand und trotz ihrer resoluten Art so zerbrechlich wirkte, auch nicht anlügen. Zumal ja eigentlich seit gestern auch klar war, wo Mattes und sie standen. Und wie sie sich in Zukunft sahen. Nämlich gemeinsam.
Sie befand sich gerade in einem absoluten Dilemma. Egal, für welche Option sie sich nun entscheiden würde – diese wäre richtig und gleichzeitig falsch. Aber dann erlöste Mattes’ Mutter sie mit ein paar wenigen Worten: „Sie müssen nichts dazu sagen. Ich glaube, ich habe genug verstanden.“ Wissend blickte Dörte Seeler sie an und ein leichtes Lächeln umspielte dabei ihr Gesicht.
„Mein Sohn erzählt mir ja nie so viel von seiner Arbeit und aus seinem Leben, wenn wir überhaupt mal sprechen.“ Jetzt hatte ihre Stimme einen traurigen Klang angenommen. „Aber Sie hat er des Öfteren erwähnt.“ Nun musste auch Melanie leicht lächeln, während sie gleichzeitig immer noch über Mattes’ Finger strich und ihre Blicke zwischen ihm und seiner Mutter hin und her wechselten.
„Sie waren ihm schon immer sehr wichtig.“ Auch das klang bei Dörte Seeler gerade wie eine wissenschaftliche Aussage, die keinerlei Zweifel duldete. „Ja, wahrscheinlich war ich das“, antwortete Melanie leise. „Und er mir auch“, fügte sie noch genauso leise hinzu, während sie mit ihren Fingern nun über seinen Unterarm strich.
Wieder vergingen einige Minuten des Schweigens, nur unterbrochen vom monotonen Piepen der Maschinen. Melanie saß links von Mattes, seine Mutter hatte sich ebenfalls einen Stuhl herangezogen und auf seiner rechten Seite platziert. Die Uhr zeigte mittlerweile 8.46 Uhr an.
Plötzlich räusperte Dörte Seeler sich. „Wenn er hier raus ist, dann lebt euer Glück. Egal, mit welchen Konsequenzen.“ Melanie schaute auf und brauchte ein paar Momente, um sich zu sammeln. Was hatte Mattes’ Mutter da gerade gesagt? Oder hatte sie sich verhört? Wieso konnte diese Frau ihre Situation so gut einschätzen? Und warum wusste sie scheinbar ganz genau, was sie seit gestern, und eigentlich schon seit vielen Monaten, so bewegte?
Ihre Worte hallten in Melanies Kopf nach. ‚Wenn er hier raus ist …‘ Aber was wäre, wenn er hier nicht mehr herauskommen würde? Wenn sie ihre einzige Chance auf das Glück, von dem Dörte Seeler gerade sprach, vertan hatten? Nein, sie konnte nicht darüber nachdenken. Sie wollte nicht darüber nachdenken.
Sie konnte einfach nur weiter hoffen, dass Mattes’ instabiler Zustand sich zeitnah verbesserte und er schon bald wieder aufwachte – eine Hoffnung, die sich leider nicht erfüllen sollte …