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Die Zeit danach ...

von desii-nhk
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler Melanie Hansen
01.09.2022
28.03.2023
49
109.218
24
Alle Kapitel
262 Reviews
Dieses Kapitel
5 Reviews
 
18.03.2023 3.341
 
So, Ihr Lieben, die meines Erachtens bisher beste Staffel der Hafenkante ist vorbei. Aber meine Geschichte ist es noch nicht.

Die Finalfolge war grandios – ich habe schon wieder geheult wie ein kleines Kind. Kollabiert wäre ich auch fast, als ich plötzlich Sätze aus meiner FF eins zu eins in der Folge gehört habe. Und am Ende haben wir das bekommen, was die meisten von uns ja bereits zu Beginn der Staffel vermutet bzw. befürchtet hatten: einen ganz gemeinen Cliffhanger.

Da ich meine FF aber nicht „unfertig“ im Drama enden lassen will (das stand von Anfang an für mich fest), habe ich mich dazu entschieden, die nächsten (und letzten) Kapitel basierend auf dem zu schreiben, was wir bereits über Staffel 18 wissen. Dieses Kapitel habe ich übrigens *vor* der Finalfolge geschrieben, als ich noch nicht wusste, dass der Kapiteltitel aus Melanies Mund zu hören sein würde. ;)

Ich wünsche euch viel Freude damit!



Nein, das durfte nicht sein. Doch nicht jetzt. Nicht, nachdem sie ihm gerade zum ersten Mal ihre Liebe gestanden hatte. Nicht, nachdem sie keine Chance mehr bekommen hatte, ihre Worte zu wiederholen. Und nicht, nachdem sie nicht sicher sein konnte, ob Mattes sie überhaupt gehört hatte.  Verstanden hatte. Wie gelähmt stand Melanie vor seinem Krankenzimmer.
Aufgrund der geschlossenen Tür konnte sie nichts sehen. Aber etwas hören. Und das, was sie hörte, versetzte sie in Angst. In Panik. Die Stimmen von Jasmin und Lazar klangen zwar professionell, aber dennoch hektisch. Eine verdächtige Unruhe lag in der Luft, die Melanie auch durch die Wände hindurch spürte. Und das unerträglich schnelle Piepen der Maschine war kaum auszuhalten.
Instinktiv hielt sie sich die Ohren zu und ließ sich mit dem Kopf nach vorne gegen die nächste Wand fallen. Das war ein Albtraum, ein absoluter Albtraum, aus dem es gerade kein Entrinnen zu geben schien.
Der Boden unter ihr begann sich zu drehen. Ihr war furchtbar schwindelig und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten wäre sie einfach nur weggerannt. Weit weg. Aber sie konnte Mattes jetzt nicht allein lassen. Und es spielte keine Rolle, was mit ihr war. Jetzt ging es nur um ihn.
„Oh Gott, Melanie, du kippst uns ja schon wieder um“, hörte sie auf einmal die Stimme von Frauke, die fast rannte, um sie im letzten Moment zu stützen. „Ich … mir geht’s gut“, keuchte Melanie, während sie sich gleichzeitig mit ihrer rechten Hand an der Wand abstützte. „Ja, das sehe ich.“ Normalerweise war Fraukes Stimme bei solchen Kommentaren immer trocken und resolut. Aber gerade klang sie anders als sonst. Ruhiger, weicher.
„Komm, du musst dich jetzt wirklich mal hinsetzen. Dr. Jonas und Dr. Sharif tun alles für Mattes“, sah die Krankenschwester sie mitfühlend an und legte ihr vorsichtig den Arm um die Hüfte, um sie zum Gehen zu bewegen. Aber alles in Melanie sträubte sich dagegen, die Stelle zu verlassen, auf der sie gerade stand. Die Stelle, an der sie Mattes am nächsten war. Auch wenn er unglaublich weit entfernt von ihr zu sein schien.
„Und wenn das nicht reicht, was Jasmin und Lazar da machen?“, brach es aus ihr heraus, während sie sich aus Fraukes Arm windete. „Was ist, wenn das nicht reicht, Frauke?“, wiederholte sie noch einmal – diesmal deutlich leiser und tonloser. Sie merkte, dass selbst die erfahrene Krankenschwester in dieser Situation Schwierigkeiten hatte, die passenden Worte zu finden. „Melanie …“, setzte Frauke an. Zum Antworten kam sie aber gar nicht mehr, weil plötzlich die Tür von Mattes’ Krankenzimmer aufging.
Panisch drehte Melanie sich um und versuchte, einen kurzen Blick auf Mattes zu werfen. Aber sie war zu langsam und die Tür bereits wieder verschlossen. „Wie geht’s ihm, Jasmin?“, fragte sie ihre Freundin zum wiederholten Mal an diesem Tag. Wieder klopfte ihr Herz so laut und schnell wie die Male davor. Wieder waren ihre Augen weit aufgerissen. Und wieder hatte sie diese unglaubliche Angst vor dem, was Jasmin ihr antworten würde.
„Es gab Komplikationen.“ Nein. Melanie ließ sich erneut gegen die Wand hinter ihr fallen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gerade der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Wie schon so oft an diesem Tag. „Melanie.“ Jasmin trat vor sie und griff nach ihren Händen. „Wir konnten ihn zum Glück wieder stabilisieren.“
Stabilisieren? Er lebte also noch. Eine leichte Erleichterung machte sich in ihr breit. Aber sie wusste gleichzeitig, dass das ein Trugschluss war. Und dass es für Erleichterung definitiv zu früh war. Und Mattes’ Zustand noch immer viel zu kritisch. „Was heißt das, Jasmin?“ Ihre Stimme war heiser und ihre Wangen erhitzt. Gleichzeitig war ihr fürchterlich kalt und sie merkte, dass es sie fröstelte. „Dass wir weiter abwarten müssen.“ Mitfühlend sah die Oberärztin sie an.
Hektisch schwankten Melanies Blicke zwischen ihr und der Zimmertür hin und her. „Du kannst heute nicht mehr zu ihm, Melanie.“ Es war so, als hätte Jasmin ihre Gedanken erraten. „Er braucht wirklich Ruhe. Und du auch.“ Langsam strich ihre Freundin ihr über den Oberarm.
„Aber ich …“, wollte Melanie ansetzen. „Melanie.“ Jasmins Stimme nahm einen leicht mahnenden Unterton an. „Ich kann verstehen, dass du zu ihm willst. Aber das geht jetzt wirklich nicht. Auch in deinem Interesse.“ Melanie sah sie nur stumm an und nickte.
Und dann fuhr ihr wie aus dem Nichts ein Gedanke durch den Kopf, der ihr furchtbare Angst machte. Und der die Schuldgefühle in ihr noch befeuerte. „Wodurch wurde das eben ausgelöst?“, sie deutete mit ihrem Kopf in die Richtung von Mattes’ Zimmer. „War ich das schuld? Habe ich etwas Falsches zu ihm gesagt? Was ihn vielleicht aufgeregt hat?“ Sie sprach gerade eher zu sich selbst als zu Jasmin.
Ihre Freundin verstärkte den Griff an ihrem Arm. „Ich weiß ja nicht, was du zu ihm gesagt hast, aber solch eine plötzliche Veränderung ist in seinem Zustand nichts Ungewöhnliches.“ Jasmin sah sie ruhig an.
‚Aber ich weiß, was ich zu ihm gesagt habe‘. Der Gedanke an diesen Moment – in dem sie ihm nach über 13 Jahren ihr Innerstes offenbart hatte – ließ Melanie erneut aufschluchzen. Und gleichzeitig dieser kleine Funke Erleichterung darüber, dass Jasmin ihr gerade die Schuld nahm. Es zumindest versuchte. Auch wenn ihre Freundin wahrscheinlich nur ansatzweise erahnen konnte, dass sie sich schuldig fühlte.
„Melanie, ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich mal nach Hause gehen. Sie können gerade nichts für Mattes tun“, kam es nun von Dr. Sharif, der sich bisher nicht in die Unterhaltung eingemischt hatte. Über seine Schultern hinweg warf Melanie noch einmal einen Blick zu Mattes’ Zimmertür. „Lazar hat Recht, Melanie“, schaltete sich nun auch Jasmin wieder ein. „Bitte geh nach Hause. Wenn sich irgendetwas tut, rufe ich dich sofort an.“
Nach Hause? Sie sollte nach Hause gehen? Allein? Wo niemand auf sie wartete? Wo Mattes nicht auf sie wartete? Der Gedanke daran ließ sie fast erstarren. Wie sollte sie das aushalten? In der Dunkelheit? In ihrer Angst? Allein mit ihren Gedanken.
„Aber ich …“, versuchte sie noch, dieser unerträglichen Vorstellung etwas entgegenzusetzen. „Melanie, wirklich. Du musst dich ausruhen. In diesem Zustand nützt du Mattes doch auch nichts.“ Wieder sah Jasmin sie leicht mahnend an. „Willst du irgendwen anrufen, der dich nach Hause fährt? Oder soll Frauke jemanden für dich anrufen? Ich kann es nicht verantworten, dass du in deinem Zustand noch fährst.“ Melanie blickte sie wortlos an. Sie wusste, dass Jasmin es nur gut mit ihr meinte, aber ihre Fragen überforderten sie in diesem Moment.
„Nein, nein“, winkte sie schwach ab. „Ich muss jetzt mal ein bisschen allein sein. Ich nehme mir ein Taxi.“ „Bist du sicher, Melanie? Ich glaube, es wäre besser, wenn du gerade jetzt nicht allein bist.“ Jasmin schaute sie skeptisch an. ‚Ich bin doch sowieso allein‘, war der erste Gedanke, der Melanie durch den Kopf fuhr. ‚Und ich kann niemandem davon erzählen, was wirklich los ist‘, war der zweite.
Aber sie musste sich jetzt zusammenreißen. Denn in einer Sache hatte Jasmin Recht: Sie musste sich ausruhen. Um stark zu sein. Für Mattes. Morgen, übermorgen und wer wusste, wie viele Tage danach noch.
Der Gedanke, jetzt in ihre Wohnung zu fahren und die gespenstische Stille ertragen zu müssen, schnürte ihr allerdings die Luft ab. „Mach dir bitte keine Sorgen, Jasmin. Ich schaffe das schon.“ Woher sie die Kraft nahm, diese Worte noch halbwegs überzeugend zu sagen, wusste sie nicht. Denn sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie das schaffen würde. „Aber du rufst mich sofort an, wenn sich irgendetwas an Mattes’ Zustand ändert?“, vergewisserte sie sich noch einmal bei Jasmin.
„Natürlich mache ich das. Und jetzt komm.“ Die Ärztin wandte sich zum Gehen und zog Melanie leicht mit sich, während Lazar und Frauke ihnen folgten. Noch einmal warf Melanie einen Blick über ihre Schultern zurück. Auf die Tür, hinter der Mattes lag. Ihr Leben. Der Mensch, der alles für sie bedeutete. Und dem sie das vor wenigen Minuten zum ersten und vielleicht letzten Mal gesagt hatte.

Wie sie es geschafft hatte, sich in das von Frauke für sie bestellte Taxi zu setzen und die etwa 15-minütige Fahrt ohne einen weiteren Weinkrampf zu überstehen, wusste Melanie nicht mehr. Wie sie die Treppen zu ihrer Wohnung heraufgekommen war und den Schlüssel in das Schloss gesteckt hatte, auch nicht. Sie wusste nur, dass ihr wahrscheinlich eine der schwersten Nächte ihres Lebens bevorstand – aber nicht, wie sie diese überstehen sollte.
Jasmin hatte wahrscheinlich Recht gehabt, dass es besser für sie wäre, nicht alleine zu sein. Und dass es sinnvoll wäre, jemanden anzurufen, der ihr das Alleinsein nehmen würde. Oder es zumindest ein wenig erträglicher machen würde. Aber wen sollte sie anrufen?
Ihre engste Freundin selbst war im EKH und das war auch der beste Platz, wo sie gerade sein konnte, um sich als Ärztin um Mattes zu kümmern. Ihre Eltern würden sich sicherlich furchtbare Sorgen machen und sie wahrscheinlich eher zusätzlich aufregen als beruhigen. Ihr Bruder war gerade als Lehrer auf einer Klassenfahrt und daher nicht in der Stadt. Franzi wäre sicherlich sofort zu ihr gekommen, hätte aber schnell gemerkt, dass ihre Angst um Mattes nicht nur kollegialer Natur war. Und Nick war zwar der einzige Kollege, der ungewollt von Mattes und ihr wusste und eine Beziehung zwischen Streifenpartnern bereits aus eigener Erfahrung kannte, aber ihr Verhältnis zueinander war distanziert.
Und außerdem … Ja, außerdem würde Nick ihr Vorwürfe machen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er sie mit einem strafenden Blick ansehen würde. Mit einem Blick, der das verraten würde, was sie in all den vergangenen Monaten nicht wirklich hatte hören wollen: Ihr hättet zu Haller gehen müssen. Ihr hättet ihm von euch erzählen müssen. Ihr hättet nicht mehr zusammen auf Streife gehen dürfen. Dann wäre das alles nicht passiert.
Und er hätte Recht gehabt. Mit allem. Nur dass sie das in den vergangenen Monaten immer wieder verdrängt hatte. Aber jetzt konnte sie sich nicht mehr vor der Wahrheit verstecken. Und auch, wenn Nicks Worte gerade nur in ihren Gedanken existierten, trafen sie sie mit voller Wucht.
Kraftlos ließ Melanie sich in ihrer Diele entlang ihrer Wohnungstür zu Boden sinken. Zuerst weinte sie nur lautlos, aber dann wurde ihr Wimmern immer lauter. Sie hatte ihren Kopf zwischen den Händen auf ihren Knien vergraben und ihre Schultern zuckten mit jedem erneuten Weinkrampf, der sie schüttelte.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort so gehockt hatte. Die Jacke immer noch an. Und jetzt fiel ihr zum ersten Mal auf, dass sie auch noch ihre Uniform und Waffe trug. War sie etwa in diesem Zustand Taxi gefahren? Klar, sie hatte ja gar keine Möglichkeit mehr gehabt, ihre Kleidung auf dem PK zu holen und sich umzuziehen. Und als sie dort gewesen war, hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht. Nur ihre Handtasche hatte sie sich noch kurz geschnappt, bevor sie wieder ins EKH gegangen war.
Kraftlos rappelte sie sich irgendwann auf. Im Dunkeln tastete sie sich an der Wand entlang und wäre fast gegen den Türrahmen gelaufen. Sie schwankte in ihre Küche und musste sich an der Arbeitsplatte festhalten. Bereits diese kurze Distanz von nur ein paar Metern war ihr in diesem Moment zu anstrengend. Und was wollte sie eigentlich in ihrer Küche?
Mechanisch nahm sie sich ein Glas aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn der Spüle. Sie trank einige Schlucke und hätte die geschmacklose Flüssigkeit fast wieder ausgespuckt. Ihr Magen rebellierte und ihr war übel.
Hatte sie heute überhaupt schon etwas gegessen bis auf das Gebäck heute morgen? Heute morgen, als die Welt noch in Ordnung war. Als Mattes und sie über die Brücke gegangen waren. Witze machend. Sich küssend. Und das erste Mal Andeutungen über ihre gemeinsame Zukunft aussprechend – ohne zu einer wirklichen Entscheidung darüber gekommen zu sein, weil sie beide mal wieder zu feige gewesen waren.
‚Nein, jetzt nicht schon wieder weinen, Melanie‘, sprach sie sich selbst Mut zu. ‚Du musst klar im Kopf sein, wenn Jasmin anruft.‘ Bei diesem Gedanken fiel ihr ein, dass ihr Handy immer noch in ihrer Handtasche war, die sie beim Hereinkommen völlig achtlos auf den Boden ihrer Diele fallen gelassen hatte. Ganz langsam tastete sie sich zurück in den Flur.
Für einen kurzen Moment hatte sie den Drang, das Licht einzuschalten, um sich besser fortbewegen zu können, obwohl sie sich auch im Dunkeln in ihrer Wohnung zurechtfand. Eigentlich. Aber sie wollte jetzt keine Helligkeit, kein Licht. Sie wollte die Dunkelheit, das Farblose, weil ihr alles andere falsch vorgekommen wäre. Eine Realität vorspielend, die gerade nicht ihre Realität war.
Sie zog das Smartphone aus ihrer Handtasche und hatte fast Angst, auf das Display zu schauen. Denn ein Anruf aus dem EKH könnte entweder Gutes oder Schlechtes bedeuten. Aber ihr Handy war stumm geblieben. Kein Anruf. Nur ein paar neue Nachrichten, die sie gerade noch nicht einmal ansatzweise interessierten.
Unschlüssig blickte sie sich um, obwohl sie die Umrisse ihrer Wohnung im Dunkeln nur schemenhaft erkennen konnte. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie eigentlich war. Und wie ausgelaugt. Mit dem Handy in der Hand tastete sie sich langsam ins Schlafzimmer vor. Sie wusste, dass sie dringend etwas schlafen musste – aber nicht, wie sie das hinkriegen sollte.
Erschöpft setzte Melanie sich auf ihr Bett und schaltete die kleine Nachttischlampe ein. Sie starrte monoton auf den Boden vor sich, die Hände regungslos in ihrem Schoß. War diese kleine Kerbe in ihrem Laminat da schon immer gewesen?
Langsam drehte sie sich herum, um ihre Beine hochzulegen, als ihr Blick auf die andere Seite des Bettes fiel. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Genau dort hatte Mattes vor noch nicht einmal 24 Stunden friedlich gelegen und geschlafen. Und jetzt, gerade einen Tag später, lag er im EKH – in einem künstlichen Schlaf.
Vorsichtig beugte Melanie sich auf die andere Bettseite herüber. Sie griff langsam nach dem Kissen, auf dem Mattes heute Nacht neben ihr gelegen hatte, und zog es Zentimeter für Zentimeter zu sich heran. Sanft strich sie darüber, so als könne sie ihm durch diese Berührung ganz nahe sein. Plötzlich sah sie die winzigen feuchten Flecken auf dem Stoff und fuhr sich intuitiv über die Wangen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie wieder angefangen hatte zu weinen.
Melanie nahm das Kissen in beide Hände und hielt es nah vor ihr Gesicht. So, als könne sie damit die Tränen trocknen, die sie gerade wegen des Mannes weinte, der mit seinem Kopf noch gestern Nacht auf genau diesem Kissen gelegen hatte.
Sie vergrub ihren Kopf darin. Und dann stieg ihr sein Geruch in die Nase. Alles daran roch nach Mattes. Sie atmete tief ein, so als könne sie ihm damit ganz nahe sein. Ihre Schultern bebten erneut verdächtig. Am liebsten hätte sie das Kissen wieder beiseitegelegt, um ihren Schmerz erträglicher zu machen. Um sich selbst von dieser Qual zu befreien. Der Qual, ihn zu riechen, ihn zu spüren, obwohl er gar nicht hier war. Aber dann hätte sie die einzige Verbindung verloren, die sie gerade in diesem Moment zu ihm hatte.
Wieder stiegen vor ihrem inneren Auge die Bilder des Unfalls in ihr auf. Der Moment des Zusammenstoßes. Der Knall des Aufpralls. Das Blut an seinem Kopf. Das Blut an ihren Händen. Die panischen Blicke in der Notaufnahme. Wieso ausgerechnet er? Wieso ausgerechnet jetzt? Und wieso ausgerechnet in dem Moment, der endlich für sie beide Klarheit bringen sollte? Der Moment, in dem er sich zu ihr bekannt hatte wie noch nie zuvor.
Was hatte er kurz vor der Katastrophe alles zu ihr gesagt? Melanie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Es war so, als hätte all das Schlimme des heutigen Tages die schönen Erinnerungen ausgelöscht. Oder sie zumindest in Teilen beiseitegedrängt. Dass sie großartig war, das hatte er ihr gesagt. Und dass es ihm nicht langweilig werden würde mit ihr.
Trotz ihres Schmerzes musste sie müde lächeln. Aber dieses Lächeln verweilte nur kurz, denn ihre Gedanken drifteten wieder ab. Zu der schlimmen Erkenntnis, die sie seit dem allerschlimmsten aller Momente versucht hatte, abzuschütteln: Sie war schuld. Auch wenn jeder andere wahrscheinlich versuchen würde, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Wenn sie nicht vorgeschlagen hätte, eine Dienstpause zu machen, wären sie gar nicht in dieser verdammten Straße gewesen. Wenn sie Mattes wegen ihrer Beziehung nicht unter Druck gesetzt hätte, wäre er nicht mit ihr mitten auf der Straße stehen geblieben. Und wenn Mattes dem Typen nicht wegen dessen Beleidigungen ihr gegenüber hinterhergerannt wäre, läge er jetzt neben ihr – friedlich schlafend so wie letzte Nacht.
Wenn, wenn, wenn … Aber egal, wie sie es drehte und wendete: Sie spielte eine zentrale Rolle bei dieser ganzen Katastrophe. Sie war der Dreh- und Angelpunkt. Wegen ihr lag Mattes jetzt im Krankenhaus und kämpfte um sein Leben. Wegen ihr. Und wegen niemandem sonst.
Mit dem Kissen in ihren Händen ließ Melanie sich seitlich auf ihre Matratze fallen. Sie zog ihre Knie an, krümmte ihren Rücken und drückte das Stück Stoff fest an sich. Zum Weinen hatte sie keine Kraft mehr. Alle Stärke schien aus ihrem Körper verschwunden zu sein. Aufgebraucht innerhalb nur weniger Stunden eines einzigen Tages.
Dabei hatte sie kurze Zeit vor dem Unfall noch gedacht, dass der Tag eigentlich nicht mehr schlimmer werden könne. Wie sehr hatte sie sich da getäuscht. Bitter lachte sie auf.
Wieder kamen die Bilder von den Momenten kurz davor. Von den Momenten, die nur ihnen beiden gehört hatten. Was hatte er ihr vorgeschlagen? Dass sie etwas ändern sollten. Genau. Und jetzt kam auch die Erinnerung an ihr Gefühl wieder. Denn unmerklich war sie bei Mattes’ Äußerung zusammengezuckt. Weil sie für einen winzigen Moment befürchtet hatte, dass Mattes das mit ihr beenden wollte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Das genaue Gegenteil davon wollte er. Und sie hatten keine Möglichkeit mehr gehabt, in Ruhe darüber zu sprechen. Weil sie sich mal wieder selbst im Weg gestanden hatte, obwohl er den Weg für sie in diesem Moment frei gemacht hatte. Weil sie die Freude und das Glück, das sie in diesem Moment gespürt hatte, ihn nicht hatte spüren lassen können. Weil sie ihm nicht das hatte sagen können, was er ihr in diesem Moment gesagt hatte. Sondern erst später, als es vielleicht schon zu spät war.
Stattdessen hatte sie irgendetwas von „Ein Happy End wäre doch schon“ gefaselt. Ohne eindeutig zu werden. Ohne ihm eine Antwort auf seine indirekte Frage zu geben. Ohne ihm zu sagen, dass es eigentlich das war, was sie sich von Herzen wünschte. Der Gedanke daran ließ Melanie zittern. Ihr war kalt, aber sie hatte dennoch nicht die Kraft, ihren Körper kurz anzuheben und die Decke, auf der sie gerade lag, über sich zu ziehen.
„Wieso haben wir uns eigentlich in den letzten Monaten an absoluten Belanglosigkeiten aufgehalten?“, flüsterte sie leise in den noch immer leicht feuchten Stoff des Kissens hinein. Es war so, als würde sie mit Mattes sprechen, auch wenn er gerade einige Kilometer von ihr entfernt war. Denn nun schien ihr diese monatelange Heimlichtuerei absolut belanglos. Und vor allem total sinnlos. Eigentlich hatten sie doch beide gewusst, was sie wollten. Sich.
Melanie merkte, dass sie von Sekunde zu Sekunde müder wurde und ihre Augen immer ein Stück weiter zufielen. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass ihr Handy griffbereit in der Nähe lag, und ließ dann zu, dass ein unruhiger Schlaf sie heimsuchte. Denn sie ahnte, dass sie in den nächsten Tagen stark sein musste. Und diese Ahnung sollte sie nicht täuschen …
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