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Die Zeit danach ...

von desii-nhk
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P16 / Het
Mattes Seeler Melanie Hansen
01.09.2022
31.03.2023
50
115.721
28
Alle Kapitel
275 Reviews
Dieses Kapitel
6 Reviews
 
14.03.2023 4.188
 
Hier nun der zweite Teil zur letzten Folge in Staffel 17, so wie ich sie mir vorstelle. Kleine „Warnung“ vorweg: Dies ist das längste und wahrscheinlich emotional brutalste Kapitel der Geschichte.

Ich wünsche uns allen ein grandios-dramatisch-emotionales Staffelfinale (und genügend Taschentücher)! <3



Melanie erschrak, als sie in den Spiegel schaute. Ihr Gesicht war weiß wie eine Wand, ihre Lippen zitterten verdächtig und ihre Augen waren sichtbar gerötet vom vielen Weinen. War dieses Spiegelbild da wirklich sie? Nachdem Jasmin in den Empfangsbereich zu Mattes’ Mutter gegangen war, hatte sie selbst schnell einen der Toilettenräume im EKH aufgesucht.
Weil sie für ein paar Minuten allein sein musste. Weil sie ihr Gesicht von möglichen Blutresten befreien wollte. Und weil sie vor allem die Begegnung mit Dörte Seeler noch einige Minuten hinauszögern wollte. Das Aufeinandertreffen mit der Frau, die eine entscheidende Gemeinsamkeit mit ihr teilte: die Sorge um Mattes. Und die Gefühle, die sie beide – jeweils auf eine andere Art und Weise – für ihn hatten.
Mattes hatte in der Vergangenheit nie viel von seiner Mutter erzählt. Auch in den vergangenen Monaten hatte er das nur selten getan. Und wenn er es doch getan hatte, waren seine Worte nie besonders positiv gewesen. Melanie hatte immer den unterschwelligen Konflikt gespürt, den er mit seiner Mutter hatte. Aber da sie ihre eigene Beziehung zueinander nie eindeutig geklärt hatten, hatte sie ihn auch nicht auf die Beziehung zu seiner Mutter angesprochen.
Und nun musste sie dieser Frau gegenübertreten. Und sich damit der Frage stellen, die Dörte Seeler ganz sicherlich an sie hatte. Und auf deren Antwort sie jedes Recht hatte: Wie konnte das passieren?  Wie war es dazu gekommen? Und warum hatte sie es nicht verhindern können?
Was sollte sie ihr darauf nur antworten? Denn sie wusste, dass diese Fragen unweigerlich kommen würden. Wenn nicht heute, dann irgendwann anders. Und vor allem dann, wenn Mattes … Nein, daran wollte sie gerade nicht denken. Sie musste an ihn glauben. An seine Stärke, an seine Kraft. Und daran, dass er es schaffen würde. Dass er das überleben würde.
Noch einmal atmete sie tief ein und aus, richtete ihre Uniform und ging dann in den Empfangsbereich der Notaufnahme. Sie hoffte, dass sie einigermaßen souverän wirkte. Und dass sie Mattes’ Mutter einigermaßen gefasst gegenübertreten könnte. Aber sie war sich nicht sicher, ob ihr das wirklich gelingen würde. Den Schein zu wahren, nur Mattes’ Kollegin zu sein. Und die wahren Umstände über Mattes’ Unfall nicht so erscheinen zu lassen, als seien sie ihre Schuld.
Dabei war es genau dieses Gefühl, das Melanie neben ihrer unfassbaren Angst und Panik so quälte – und was sie bisher zu verdrängen versucht hatte. Sie fühlte sich schuldig. Denn sie war der Ausgangspunkt für das Unglück gewesen. Nur wegen ihr war Mattes dem Falschparker hinterhergerannt. Nur wegen ihr war er anschließend durch dessen Schlag auf die Straße gefallen. Nur wegen ihr hatte der Lieferwagen ihn sofort danach erfasst. Und nur wegen ihr lag er jetzt hier. Im Koma.
‚Nein, Melanie‘, sprach sie unhörbar zu sich selbst, als sie Meter für Meter der Begegnung näherkam, die sie nicht wollte. Und die sie sich stattdessen unter völlig anderen Umständen gewünscht hätte. Unter schönen Umständen. Wenn Mattes sie seiner Mutter offiziell vorgestellt hätte. Als das, was sie war. Aber was sie wirklich für ihn war, hatten sie erst heute angefangen zu klären. Hatte er ihr heute zum ersten Mal ganz offen gesagt. Bevor …
Nein, sie wollte nicht schon wieder daran denken. An den Moment der Katastrophe. Nicht jetzt. Nicht hier. Nicht in diesem Moment, in dem sie um die Ecke bog – und Dörte Seeler mit entsetztem Gesichtsausdruck vor Jasmin stehen sah.
Melanie zog die Schultern noch einmal nach hinten und richtete sich ein paar Zentimeter weiter auf, um zumindest nach außen hin eine gewisse Größe auszustrahlen – auch wenn sie sich gerade schrecklich klein fühlte. Um dann der Frau gegenüberzutreten, deren Augen sich gerade immer stärker weiteten und in denen die Verzweiflung immer deutlicher erkennbar war.
„Frau Seeler, hallo.“ Fast gleichzeitig drehten Mattes’ Mutter und Jasmin sich aus ihrem Dialog heraus zu ihr herum. „Frau Hansen.“ Noch immer war in Dörte Seelers Augen der Unglaube über das zu erkennen, was sie gerade von Jasmin gehört hatte. „Sie waren dabei? Was ist mit meinem Sohn passiert?“, wandte sie sich direkt an Melanie.
„Ich …“, begann Melanie. „Es gab einen Unfall. Frau Dr. Jonas hat Ihnen ja sicherlich schon grob erzählt, was passiert ist.“ „Jaja, das hat sie. Waren Sie und Mattes im Einsatz?“ Melanie konnte die vielen Fragen im Gesicht von Mattes’ Mutter erkennen. Und wie gerne hätte sie ihr die passenden Antworten darauf gegeben. Die wahren Antworten.
„Ähm, nein. Wir hatten gerade Pause.“ Das war zumindest nicht gelogen. Sie blickte kurz zu Jasmin, obwohl von dieser keinerlei Risiko ausging, den wahren Unfallhergang zu schildern – zumal sie auch noch gar keine Gelegenheit gehabt hatten, darüber zu sprechen. „Der Unfall ist in Ihrer Pause passiert?“ Dörte Seeler sah verwirrt aus. Aber gleichzeitig auch panisch und angsterfüllt. Genauso panisch und angsterfüllt wie sie selbst seit einigen Stunden.
Jasmin schien zu bemerken, dass Melanie sich zunehmend unwohl in ihrer Haut fühlte und Schwierigkeiten hatte, die Fragen ihrer Gesprächspartnerin zu beantworten. „Frau Seeler, Sie wollen Ihren Sohn doch bestimmt sehen, oder?“, griff sie unterstützend ein. Melanie warf ihr dankbar einen kurzen Blick zu.
„Jaja, natürlich.“ Melanie fiel sofort die Verletzlichkeit von Mattes’ Mutter auf. Sie hatte immer ein ganz anderes Bild von ihr gehabt. Mattes hatte sich im Laufe der vielen Jahre nie sonderlich positiv über sie geäußert. Stattdessen hatte er hin und wieder nur angedeutet, die Erwartungen seiner Mutter enttäuscht zu haben – und nicht der Sohn zu sein, den sie sich gewünscht hatte.
Aber gerade wirkte Dörte Seeler ehrlich besorgt und deutlich emotionaler, als Mattes sie in all den Jahren dargestellt hatte. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“ Sie kam plötzlich ins Schwanken und Melanie konnte sie gerade noch am Arm fassen und vor einem Straucheln bewahren. „Frau Seeler, möchten Sie sich mal hinsetzen?“, fragte Jasmin.
„Nein, nein. Ich möchte zu meinem Sohn“, winkte Dörte Seeler ab. „Aber … ich kann das nicht allein.“ Ihr Blick richtete sich auf Melanie. „Würden Sie mitgehen? Bitte. Sie kennen Mattes doch schon so lange.“
Oh nein, nicht das bitte auch noch. Sie hatte sich doch erst vor wenigen Minuten schweren Herzens von Mattes gelöst. Und jetzt sollte sie seinen Anblick erneut ertragen, mit seiner Mutter gemeinsam in sein Krankenzimmer gehen und ihr gleichzeitig vorspielen, dass sie nur seine Kollegin und langjährige Streifenpartnerin war? Was verlangte dieser Tag denn noch alles von ihr ab? Dörte Seeler schien ihr Zögern bemerkt zu haben. „Ich kann mir vorstellen, dass das schwer für Sie ist. Zumal Sie ja auch dabei waren.“
‚Ja, ich war dabei‘, schrie Melanies innere Stimme. ‚Und ich bin schuld!‘, wurde die Stimme in ihr noch lauter. „Natürlich komme ich mit“, hörte sie sich anschließend wie fremdgesteuert sagen. Und im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, was das bedeuten würde. „Frau Dr. Jonas, Notfall“, wurde ihr Gespräch plötzlich von Fraukes rufender Stimme durchbrochen.
Jasmin legte kurz ihre Hände auf Melanies. „Lazar begleitet euch, okay?“ Sie schaute nach vorne, wo der Arzt gerade stand. Dann wandte sie sich an Mattes’ Mutter: „Mein Kollege Dr. Sharif kommt mit. Er ist über alles im Bilde und kann Ihnen genaue Auskunft geben.“ Dörte Seeler nickte nur stumm, während Jasmin sich zum Gehen wandte und wenige Momente später mit Blick auf sie beide ihren Kollegen instruierte.
Als sie zu dritt vor Mattes’ Zimmer angekommen waren, spürte Melanie wieder die gleiche Angst, die sie erst kurz zuvor gespürt hatte, als sie in der gleichen Situation gewesen war. Aber diesmal nicht, weil sie nicht wusste, was sie dort drinnen erwartete. Sondern weil sie nicht wusste, woher sie die Kraft aufbringen sollte, vor Mattes’ Mutter den Schein zu wahren.
Lazar öffnete die Tür und Dörte Seeler stand genau fassungslos da, wie Melanie selbst erst kurze Zeit vorher dort gestanden hatte. Langsam und zögernd ging sie auf Mattes’ Bett zu: „Mein Junge.“ Erschüttert schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und strich ihrem Sohn leicht über den Arm. „Wie steht es um ihn, Dr. Lazar?“, drehte sie sich zu dem Arzt herum. Und mit entschlossener Stimme: „Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.“
‚Nein‘, schrie wieder alles in Melanie. ‚Ich will das nicht hören. Nicht schon wieder.‘ Wobei ihr natürlich klar war, dass Mattes’ Mutter jegliches Recht der Welt hatte zu erfahren, was mit ihrem Sohn war. „Die Verletzungen durch den Unfall sind sehr gravierend. Sein Kopf wurde erheblich verletzt. Daher haben wir ihn nun in ein künstliches Koma versetzt“, erklärte der Oberarzt sachlich. Dörte Seeler schaute betroffen wieder zu ihrem Sohn. „Wie lange wird er in diesem Zustand bleiben? Und wird er wieder aufwachen?“
Melanie schloss die Augen. Sie kannte die Antwort auf diese Fragen bereits. Aber sie wollte sie nicht hören. „Wir wissen es nicht, Frau Seeler“, hörte sie Lazar noch sagen. Das war der Moment, an dem sie nicht mehr konnte. An dem sie es nicht mehr aushielt. Hier zu stehen, Mattes so hilflos dort liegen zu sehen, seine Mutter genauso hilflos neben ihm stehen zu sehen, sich selbst die Schuld für diese ganze Katastrophe zu geben und auch noch so tun zu müssen, als sei Mattes nur ein Kollege.
„Es tut mir leid, Frau Seeler“, meinte sie mit erstickter Stimme und versuchte, sich nichts von ihrer inneren Aufruhr anmerken zu lassen. „Meine Kollegen haben eben schon angerufen und nach mir gefragt. Wir müssen noch einige Formalien klären“, flüchtete sie sich in eine Ausrede, wobei diese nicht wirklich gelogen war. Und dann ergänzte sie noch: „Auch, um den Verantwortlichen für diesen Unfall zu finden.“ Obwohl alles in ihr schrie, dass eigentlich sie die Verantwortliche dafür war. „Ich würde mich daher jetzt kurz verabschieden und ins PK gehen. Ist das für Sie in Ordnung?“
Woher brachte sie eigentlich die Kraft auf, gerade diese Unterhaltung zu führen? Dörte Seeler machte den Eindruck, dass sie gar nicht richtig wahrgenommen hatte, was Melanie da gerade gesagt hatte. „Jaja, natürlich. Gehen Sie nur“, meinte sie fahrig. Melanie blickte sie zweifelnd an. Hatte Mattes’ Mutter den Inhalt ihrer Aussage überhaupt verstanden? „Ich komme später auf jeden Fall noch einmal nach hier“, schob sie daher noch hinterher. Auch das war nicht gelogen. Sie wollte Mattes auf gar keinen Fall allein lassen. Und sie würde so lange wie möglich bei ihm bleiben.
Als sie wenige Minuten später das EKH zum ersten Mal seit Stunden verließ, fing alles an, sich vor ihren Augen zu drehen. Die Umgebung vor und neben ihr verschwamm und sie musste sich an der nächsten Wand neben dem Eingang abstützen, um nicht umzukippen. Zu weich waren ihre Beine. Und zu schwer war die Last, die sie gerade trug.
Verzweifelt schnappte sie nach Luft. Sie wollte nicht ins PK. Aber sie musste. Die mitleidigen Blicke der Kollegen ertragen. Die Fragen nach dem genauen Unfallhergang beantworten. Und bei alledem weiterhin die Rolle von Mattes’ Streifenpartnerin spielen – obwohl sie das Gefühl hatte, dass ihr Herz in den letzten Stunden mehrfach gebrochen war.
Noch einmal atmete sie tief ein und machte sich dann auf den Weg, der ihr gerade wie einer der schwersten ihres Lebens vorkam …

„Melanie.“ Wolle kam direkt auf sie zu und legte ihr den Arm auf die Schulter. Auch Daisy und Kris standen sofort auf und kamen zu ihr. Daisy wirkte so besorgt wie bereits einige Stunden zuvor. „Willst du dich mal setzen?“ Melanie schüttelte nur den Kopf. „Nein, nein, geht schon.“ Währenddessen kam Haller aus seinem Büro. „Wie geht es Mattes?“, stellte er die Frage, die wohl alle gerade hatten. Seine Stimme klang anders als sonst. Freundlicher, ruhiger, mitfühlender.
Melanie atmete tief aus. Es war so schwer, diese Worte auszusprechen. Und sie taten so weh. „Sie haben ihn ins künstliche Koma versetzt.“ Vier betretene Gesichter schauten sie an und auch einige der anderen Kollegen waren stehen geblieben. Der Raum war binnen weniger Sekunden gefüllt von spürbarer Fassungslosigkeit.
„Was heißt das?“, fragte ihr Chef erneut. Ihm war anzusehen, dass auch er gerade Schwierigkeiten hatte, seine Fassung zu wahren. „Sie wissen nicht, ob er wieder aufwacht“, sagte Melanie leise. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, ihre Tränen in diesem Moment zurückzuhalten. Aber sie wollte nicht vor den Kollegen weinen.
Zumal sie als erfahrene Polizistin wusste, dass jetzt auch noch eine andere Sache auf sie zukommen würde. Und dafür brauchte sie einen einigermaßen klaren Kopf. Die Blicke ihrer Kollegen sprachen jedenfalls Bände. Sie merkte, dass keiner von ihnen so richtig wusste, was er sagen sollte.
„Mattes ist ein Kämpfer. Der schafft das“, war es Kris, der als Erster seine Sprache wiedergefunden zu haben schien. Melanie blickte ihn dankbar an und rang sich ein leichtes Lächeln ab. „Das denke ich auch. Und wir alle sind immer für euch da“, bekräftigte nun auch Wolle. ‚Wieso ‚euch‘?‘, dachte Melanie. Hier geht es doch um Mattes. Oder ahnte der Wachhabende vielleicht etwas? Aber selbst wenn, spielte das jetzt auch keine große Rolle mehr. Wie klein ihr plötzlich die Probleme schienen, die in den vergangenen Wochen und Monaten ihr Leben bestimmt hatten.
„Melanie“, kam es nun von Wolf und sie ahnte, was das hieß. „Wir brauchen noch deinen Bericht des Unfallhergangs. Du warst ja direkt dabei. Traust du dir das zu?“ Haller sah sie durchdringend an. „Also, wenn du das jetzt nicht machen willst, dann machst du es morgen. Das wäre kein Problem“, ergänzte er noch.
Am liebsten hätte sie in diesem Moment geschrien, dass sie diesen verdammten Bericht überhaupt nicht schreiben wollte. Und dass sie auch gar nicht wusste, was sie dort hineinschreiben sollte. Stattdessen antwortete sie möglichst emotionslos: „Ja, ich mach das jetzt. Und dann gehe ich wieder zu Mattes ins Krankenhaus.“ Ihr Vorgesetzter nickte. „Gut. Aber wenn es dir zu viel wird, dann verschiebst du das auf morgen. Reicht ja schon, was heute passiert ist.“
Fast schon intuitiv erwartete Melanie, dass er jetzt noch sein übliches „Mann, Mann, Mann“, hinterherschieben würde. Aber nichts dergleichen geschah. Heute war scheinbar alles anders als normalerweise. Aber heute war auch kein normaler Tag.
Sie musste erneut schlucken, ging dann zu ihrem Schreibtisch und schaltete ihren PC an. „Hier, Melanie.“ Daisy war neben sie getreten und stellte ihr ein Glas Wasser auf den Schreibtisch. Als Melanie keine Anstalten machte, dieses zu nehmen, schaute ihre Kollegin sie besorgt an. „Du musst mal was trinken. Es nützt Mattes auch nichts, wenn du noch zusammenklappst.“
Melanie nickte schwach und tat mechanisch das, was Daisy ihr gerade vorgeschlagen hatte. Sie setzte das Glas an ihre Lippen und trank einen Schluck. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie eigentlich war. „Kann ich sonst noch irgendwas für dich tun?“, fragte Daisy. Melanie schüttelte nur stumm den Kopf.
Sie war ihrer jüngeren Kollegin wirklich dankbar für ihre Hilfe, aber bisher kannten sie sich noch gar nicht richtig. Wie sehr hätte sie sich in dieser Situation Franzi an ihrer Seite gewünscht. Wobei diese sicherlich direkt verstanden hätte, was wirklich los war. Und was eigentlich in ihr vorging. „Okay“, unterbrach Daisy ihre Gedanken. „Aber wenn was ist, dann sagst du Bescheid, ja?“, was Melanie wiederum mit einem stillen Nicken quittierte.
Jetzt saß sie vor dieser verdammten Vorlage des Unfallberichtes. Wie oft hatte sie in der Vergangenheit bereits solche Formulare ausgefüllt? Wie viele Unfallberichte hatte sie im Laufe ihrer Zeit als Polizistin schon erstellt? Immer war es ihr mehr oder weniger leichtgefallen. Und jetzt saß sie da und wusste nicht, was sie schreiben sollte.
Denn das innere Dilemma in ihr zerfraß sie fast. Sie hielt sich grundsätzlich immer an Vorschriften und Regeln. Und deswegen musste sie eigentlich den Vorgang wahrheitsgemäß so schildern, wie er nun einmal abgelaufen war. Aber wenn sie das täte, würde Haller Fragen stellen. Warum Mattes dem Typen, wegen dessen Schlag er auf der Straße und letztendlich unter dem Wagen gelandet war, überhaupt hinterhergerannt war? Warum er es nicht einfach bei einer Verwarnung belassen hatte?
Und was sollte sie darauf antworten? Dass Mattes sie hatte verteidigen wollen, weil der Typ sie beleidigt hatte? Dann würde Haller wissen wollen, warum Mattes deswegen so extrem reagiert hatte. Und dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er eins und eins zusammenzählen könnte. Und ihnen beiden absolute Unprofessionalität vorwerfen würde. Berechtigterweise.
Wieder musste Melanie sich zusammenreißen. Sie hatte das Gefühl, dass gerade alle Blicke im PK auf ihr lagen. Auf ihr, der DGL, die erst wenige Stunden zuvor hatte mitansehen müssen, wie ihr langjähriger Partner von einem Auto überfahren wurde und fast gestorben wäre. Und von dem nicht klar war, ob er das überhaupt überleben würde. Leise atmete sie ein und aus und hoffte, dass niemand etwas von dem Konflikt mitbekam, der gerade in ihrem Inneren tobte.
Aber sie konnte das nicht. Sie konnte den Unfallbericht nicht wahrheitsgemäß ausfüllen. Zumal sie eine solche Entscheidung auch nicht einfach über Mattes’ Kopf hinweg treffen wollte. Es ging sie beide etwas an. Und wenn Haller die Wahrheit erfahren würde über sie beide, dann von ihnen beiden. Und nicht nur von ihr. Alles andere wäre unfair.
Daher füllte sie das Formular mit den wichtigsten Fakten aus, ließ aber die Schilderung der Ereignisse vor dem eigentlichen Unfall bewusst sehr vage. So wäre Haller zufrieden und sie erst einmal nicht in der Zwangslage, sich erklären zu müssen. Oder ihre Beziehung zu Mattes offenlegen zu müssen.
Wohl fühlte sie sich dabei nicht, denn dieses Vorgehen entsprach überhaupt nicht ihren eigenen Wertvorstellungen als professionell handelnde Polizistin. Aber professionell war ihr Verhalten schon in den vergangenen Monaten nicht mehr gewesen. Als sie mit jedem Tag ihre Beziehung zu Mattes intensiviert hatte. Als es von einer Affäre zu mehr übergegangen war.
Wieso hatte sie heute morgen in seiner Anwesenheit überhaupt noch von ‚Affäre‘ gesprochen? Es war doch so viel mehr als das. Schon lange. Der Gedanke daran trieb ihr erneut Tränen in die Augen, aber wieder kämpfte sie gegen ihren inneren Drang zu weinen an. Nicht hier. Nicht jetzt. Später.
Sie stand tief durchatmend auf, klopfte an Hallers Tür und wartete sein „Herein“ gar nicht erst ab. „Der Bericht ist fertig“, sagte sie nur und wollte sich schon wieder herumdrehen, als ihr Chef ihr hinterherrief. „Melanie?“ „Ja?“ Sie blieb stehen und schaute ihn abwartend an. Seinen Blick konnte sie nicht wirklich deuten, er wirkte anders als sonst. „Bist du okay?“ Sie nickte und zuckte mit den Schultern. „Soweit man in dieser Situation okay sein kann.“
Haller sagte nichts darauf, sondern schaute sie nur an. „Ich … ich würde dann jetzt wieder ins EKH rüber“, sagte sie nur. Sie wollte einfach nur noch hier raus. Weg von diesen besorgten Blicken. Weg von den mitleidigen Kommentaren. Weg von den vielen Fragen. „Ist gut“, war das Einzige, was Haller noch sagte, bevor sie anschließend ihren PC ausschaltete, sich ihre Jacke nahm und wieder auf den Weg ins Krankenhaus machte.

Als Melanie dort ankam, traf sie im Eingangsbereich auf Dr. Sharif. „Ist Mattes’ Mutter noch da?“, fragte sie ihn ohne Umschweife. „Nein, sie ist vor ein paar Minuten gegangen. Sie wollte ein paar Sachen aus der Wohnung ihres Sohnes holen“, klärte der Arzt sie auf.
Unmerklich zuckte Melanie zusammen. Das wäre eigentlich ihre Aufgabe gewesen. Sie müsste jetzt alles das für Mattes tun, was sie in dieser Situation für ihn tun konnte. Auch wenn es nur absolut banale Dinge waren. Aber sie konnte es nicht. Sie durfte es nicht. Weil sie für alle Außenstehenden lediglich Mattes’ Streifenpartnerin war, die sicherlich keinen Schlüssel zu seiner Wohnung hatte.
Also nickte sie nur kurz. „Ist Jasmin denn noch hier?“ Sie blickte sich suchend um. „Ja, ist sie. Allerdings gerade bei einem anderen Patienten“, erklärte Dr. Lazar. Wieder nickte Melanie. „Ich möchte nochmal zu Mattes.“ Der Arzt blickte sie durchdringend an. Und dann fielen ihr wieder Fraukes Worte ihm gegenüber ein. Dass sie sie eh nicht davon abhalten können würden, bei Mattes zu bleiben. Wie Recht sie doch hatte. „Kommen Sie, ich bringe Sie hin“, sagte Jasmins Kollege nur. Scheinbar hatte er verstanden, dass Melanie sich eh nicht von ihm abwimmeln lassen würde.
Jetzt kannte sie den Weg schon. Und jetzt wusste sie bereits, was sie in Mattes’ Krankenzimmer erwarten würde. „Aber Sie wissen …“ setzte Dr. Sharif an. „ … dass ich nicht solange bleiben kann und er Ruhe braucht. Ja, das weiß ich“, fuhr Melanie ihm ins Wort. Sie wollte jetzt einfach nur in dieses Zimmer. Auch wenn der Anblick, der sich ihr dort drinnen bot, sie wieder innerlich zerreißen würde. Lazar nickte ihr zu, öffnete für sie die Tür und schloss sie hinter ihr.
Jetzt stand sie wieder da. Wie einige Stunden zuvor. Alleine mit Mattes. Und alleine mit all den Gefühlen, die seit einigen Stunden in ihr tobten. Alleine mit ihrer Angst, ihrer Verzweiflung, ihrer Panik. Obwohl er da war.
Langsam ging sie zu seinem Bett und zog den Stuhl heran, auf dem sie bereits vor einigen Stunden gesessen hatte. Wieder ergriff sie vorsichtig seine Hand, so wie sie es bei ihrem ersten Besuch auch schon getan hatte. Und wieder streichelte sie darüber, um ihm zu zeigen, dass sie da war. Ganz langsam, weil er noch immer so zerbrechlich aussah. Und weil seine Haut sich immer noch so kalt anfühlte.
Melanie blickte in Mattes’ Gesicht. Die Spuren des Unfalls waren immer noch unverkennbar. Und die Tatsache, dass derzeit medizinische Geräte sein Leben erhielten, auch. Aber sie versuchte, alles das gerade auszublenden. Den Schlauch an seinem Mund, die Verbände an seinem Kopf, das Piepen der Maschinen. Und sich nur auf ihn zu konzentrieren. Auf ihn, der seit Jahren die wichtigste Stütze in ihrem Leben war. Und der sie in den vergangenen Monaten glücklich gemacht hatte. So unfassbar glücklich.
Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln, während ihr gleichzeitig eine Träne über die Wange lief. Ganz vorsichtig streckte sie ihre andere Hand aus und bewegte sie Zentimeter für Zentimeter zu seinem Gesicht. Als sie die letzten Millimeter Distanz überbrückt hatte, erschrak sie. Die Haut seiner Wangen war genauso kalt wie die seiner Hände. Trotzdem beendete sie die Berührung nicht.
Er musste wissen, dass sie da war. Es irgendwie spüren. Oder zumindest ahnen, dass sie ihn nicht allein ließ. Nicht jetzt. Überhaupt nicht mehr.
Ganz langsam verstärkte sie die Bewegung ihrer Finger auf seiner Wange. Ihr Glück wartete doch noch auf sie. Jetzt, wo sie endlich angefangen hatten, miteinander zu sprechen. Über sich. Und ihre Zukunft zu planen. Das konnte doch nicht vorbei sein. Nicht, bevor es eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Melanie spürte einen salzigen Geschmack auf ihren Lippen und nahm erst jetzt bewusst die Tränen wahr, die nun stärker über ihr Gesicht rannen. Warum hatte sie ihm nie gesagt, wie wichtig er ihr war? Wieso war sie so feige gewesen und hatte ihre Gefühle immer wieder beiseitegeschoben? Weshalb hatte sie sich nicht einfach zu ihm bekannt? Es wäre doch eigentlich alles so einfach gewesen.
Sie blickte nach unten auf ihre Hand, die immer noch auf Mattes’ Hand lag. Was wäre, wenn er nie wieder aufwachen würde? Wenn sie nie wieder die Chance hätte, ihm zu sagen, wie viel er ihr bedeutete? Nun verstärkte sich ihr Schluchzen. Sie hatte so viele Gelegenheiten verpasst. Gelegenheiten, die jetzt vielleicht nie mehr wiederkommen würden.
Langsam richtete sie ihren Kopf wieder auf und schaute ihn an. Ihre rechte Hand lag auf seinen Fingern, ihre linke auf seiner Wange. Es war nur eine minimale Berührung, aber die maximalste, die gerade möglich war. Und gleichzeitig war das hier der schlechteste, aber vielleicht auch beste Moment, ihm das zu sagen, was sie sich in den vergangenen Monaten nicht auszusprechen getraut hatte.
Weil sie es sich selbst nicht hatte eingestehen wolle. Weil sie Angst vor seiner Reaktion gehabt hatte. Und weil immer noch der Hauch eines Zweifels in ihr genagt hatte. Aber jetzt zweifelte sie nicht mehr. Jetzt wusste sie, was sie ihm sagen wollte. Was sie ihm sagen musste. Weil sie es fühlte – mit jeder Faser ihres Herzens. Und weil das hier gerade vielleicht ihre letzte Chance war, dass er es irgendwie hören würde.
Leicht beugte sie sich noch etwas näher zu ihm und verstärkte den Druck auf seiner Hand und seinem Gesicht. „Mattes.“ Ihre Finger streichelten vorsichtig über seine Wangenknochen, „Ich …“ Sie atmete noch einmal hörbar aus und setzte erneut an. „Ich liebe dich.“
Sie hatte es ausgesprochen. Sie hatte es gesagt. Das, was sie ihm schon so lange hätte sagen sollen. Es war wie eine Befreiung, die gleichzeitig alles andere in ihr zusammenstürzen ließ. Und dann konnte sie nicht mehr. Schluchzend sackte sie über Mattes zusammen. Die Tränen liefen ihr die Wangen hinab und bahnten sich ihren Weg auf sein Gesicht, wo sie einige feuchte Spuren hinterließen. Melanie wollte sie noch trocknen, aber dann ging alles ganz schnell.
Die Maschinen fingen in einem immer rascheren Rhythmus an zu piepen. Die Werte auf den Monitoren veränderten sich binnen von Sekunden. Und es dauerte nur wenige Momente, bis Jasmin und Lazar in das Zimmer gestürmt kamen. „Melanie, raus hier“, brüllte jemand, aber sie wusste gar nicht, von wem das kam.
Mit weit aufgerissenen Augen stand sie da. Starrte auf Mattes. Starrte auf die schnellen Bewegungen der beiden Ärzte. Bekam nur noch mit, wie jemand sie aus dem Zimmer zerrte. Schnappte nur noch auf, wie jemand das Wort „kritisch“ sagte. Und dann dauerte es nur noch wenige Momente, bis sich die Tür hinter ihr schloss – und sie hilflos und angsterfüllt einen allerletzten Blick auf Mattes werfen konnte …
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