Für euch da
von Draba
Kurzbeschreibung
Wenn der Blick auf einen gewöhnlichen Kalender einen Strudel der Erinnerungen weckt... -- Ein Beitrag zu dem Projekt "Ein 1. September im Leben von..."
OneshotAllgemein / P12 / Gen
Poppy Pomfrey
03.08.2022
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Nummer 25 – Poppy Pomfrey
Für euch da
Vollkommene Regungslosigkeit. Absolute Ruhe.
Der Anblick verzauberte sie mehr als so manche Magie. Stundenlang konnte sie davorsitzen, wenn ihre Zeit es nur erlaubte, darin versinken, alles andere vergessen. Vollendete Schönheit – und doch nichts weiter als eine einfache Muggel-Fotografie. Inzwischen war es viele Jahre her, dass Albus Dumbledore ihr zum ersten Mal eines dieser großen, flachen Päckchen in die Hand gedrückt hatte. Ein sehr geheimnisvolles Päckchen war es damals noch gewesen, überreicht mit einem Augenzwinkern, ein nicht ganz ernstgemeintes Weihnachtsgeschenk.
„Genau das Richtige für den Krankenflügel, wenn ich mich nicht irre, meine Liebe.“
Seine Worte hatten ihre Neugier nur noch stärker gemacht – und ihre Enttäuschung umso größer, als sie das glitzernde Papier zurückschlug und darunter nichts Aufregenderes zum Vorschein kam als ausgerechnet ein Muggel-Jahreskalender. Die schönsten Landschaften. Starre, bewegungslose Bilder. Orte, an die sie niemals reisen würde. Was sollte sie damit anfangen?
„Nun?“, hatte er erwartungsvoll gefragt, ein Funkeln in den blauen Augen. „Würde er sich nicht ganz hervorragend über den Betten der Genesenden machen? Ist es nicht erstaunlich, welche Talente der Mangel an Magie die Muggel immer wieder hervorbringen lässt? Ein Muggel-Fotograf mit einem guten Blick kann eines seiner regungslosen Bilder mit tausendmal mehr Leben füllen als ein Magier ein Bild voller Bewegungen.“
Der Zauber der Regungslosigkeit – sie hatte ihre Zeit gebraucht, bis sie ihn erkannte. Dann aber hatte er sie gepackt. Albus hatte wieder einmal genau das richtige Gespür gehabt. Der Kalender mit seinen unbeweglichen Bildern passte perfekt in den Krankenflügel. Ruhe und Entspannung – genau das, was ihre jungen Patienten brauchten. So war aus einem Scherz schnell eine wunderschöne Tradition geworden. Jedes Weihnachten schenkte Albus ihr einen Kalender für das neue Jahr, der als einziger Schmuck seinen Platz im Krankenzimmer fand.
Jedes Weihnachten – bis auf das letzte. Selbst jetzt, über ein Jahr danach, schnürte der Gedanke an Albus‘ Tod ihr die Kehle zu. Er war nicht mehr da und sie konnte es noch immer nicht glauben. Hogwarts ohne Albus – wie sollte das funktionieren? Wie hatte es in den letzten Monaten funktioniert? Er musste es geahnt haben. Musste Vorbereitungen getroffen haben. Sogar an die unbedeutendste Kleinigkeit hatte er gedacht – ihr Weihnachtsgeschenk. Pünktlich am Weihnachtsmorgen hatte es auf ihrem Nachttisch gelegen. Sie hatte sich nicht länger bemüht, ihre Tränen zurückzuhalten, als sie das Geschenk in den Händen gehalten hatte. Oh, Albus!
Auch jetzt füllten ihre Augen sich mit Tränen, während sie vor dem Kalender stand. Vorsichtig schlug Poppy das Blatt um und ihre Finger strichen über die glatte Seite, die den Beginn des neuen Monats verkündete. Der erste September 1998. Das erste Schuljahr nach der Schlacht von Hogwarts. Der Beginn einer neuen Zeit.
Poppy hatte den ersten Schultag immer geliebt. Die festliche Stimmung in der Großen Halle. Die gespannte Erwartung in den Gesichtern der Neuen. Schülerinnen und Schüler, deren Gesundheit und Wohlergehen ihr anvertraut waren. Doch nie zuvor hatte ein Schuljahr mit so viel Zuversicht und so viel Schmerz zugleich begonnen. Der grausame Unterdrücker war besiegt und vernichtet, ein für alle Mal. Dennoch erschien der Preis ihr unerträglich hoch. Niemals würden die Bilder der Toten und Verletzten aus ihrer Erinnerung verschwinden. Sie mitten drin, nach außen so ruhig wie nur möglich, von einem zum anderen eilend, Salben, Heilzauber und Zuspruch verteilend, tief im Innern erfüllt von Panik und Entsetzen. Wie vielen hatte sie nicht mehr helfen können! Jeder einzelne Tod war einer zu viel. Und doch würde sie niemals aufhören, für jene da zu sein, die sie brauchten. Das hatte sie sich einst geschworen.
Poppy hatte schon früh gewusst, dass es ihre Bestimmung war, Heilerin zu werden. Es war ihr wie ein gutes Omen erschienen, dass ihre Ausbildung an einem ersten September begann, genau wie all die Jahre zuvor ihre Zeit in Hogwarts. Sie hatte sich gegen den üblichen Weg entschieden, eine Ausbildung im St. Mungos. Viel lieber wollte sie bei dem bedeutendsten Heiler ihrer Zeit in die Lehre gehen – Monsieur Bonheur, dem großen französischen Meister der Heilkunst.
So landete sie am ersten September 1965, ausgestattet mit nichts weiter als einer kleinen Reisetasche und einem großen Klumpen Aufregung, in einem winzigen magischen Ort in Ille-et-Vilaine, der auf keiner Muggel-Karte verzeichnet war. Empfangen wurde sie von der warmen Luft des Atlantik und dem umwerfendsten Lächeln, das sie jemals gesehen hatte. Fernand Bonheur, der Sohn ihres Meisters, der gemeinsam mit ihr bei seinem Vater in die Lehre gehen würde, war zu ihrer Begrüßung gekommen. Im Laufe der nächsten Jahre zeigte er ihr nicht nur den Ort und die Wunder des Meeres, sondern auch so manches Geheimnis im verwinkelten Keller unter dem Haus seines Vaters.
Gemeinsam erforschten Poppy und Fernand die heilende Wirkung von Skorpionstaub, erprobten den schmerzlindernden Effekt von Nieswurzblättern und Beinwell am eigenen Leib und quälten sich tage- und nächtelang mit der Zubereitung verschiedenster Heiltränke. Monsieur Bonheur war ein anspruchsvoller Lehrmeister, doch an Fernands Seite vergingen die Jahre der Ausbildung wie im Fluge – viel zu schnell waren sie vorbei.
„Das muss für uns nicht Abschied bedeuten, Poppy. Unsere Zeit fängt jetzt erst an!“
Noch immer hörte sie den Klang seiner Stimme in ihren Gedanken. Niemand hatte sie jemals so angesehen wie Fernand. Niemanden hatte sie jemals so geliebt.
„Lass uns gemeinsam weiterforschen. Lass uns durch die Welt reisen. Neue Abenteuer finden. Komm mit mir!“
Ihr Herz wollte ihm folgen. Doch sie konnte nicht. Schon viel zu lange war sie aus Großbritannien fort gewesen. Sie spürte, dass ihr Platz in Hogwarts war. Albus hatte ihr geschrieben, dass er auf der Suche nach einer neuen Heilerin war. Es war, als würde die Stimme des Schicksals sie zurückrufen.
„Ich kann nicht mit dir gehen, Fernand.“
Poppys Gedanken sprangen durch die Zeit. Der erste September 1968. Nach Hause kommen. Nichts anderes war es, endlich wieder durch die Tore von Hogwarts zu schreiten. Auch wenn der Abschied von Fernand ihr unendlich schwergefallen war. Er hatte sich bemüht, doch er hatte ihre Entscheidung nicht wirklich verstehen können.
„Was zieht dich ausgerechnet dorthin, Poppy, wenn du die ganze Welt bereisen könntest? Du verzichtest freiwillig auf die unerforschten Wunder der Magie, um an deine Schule zurückzukehren? Dort wirst du kaum etwas anderes heilen dürfen als Verbrennungen durch explodierte Kessel, fehlgeleitete Abwehrzauber oder wenn es hochkommt mal eine missglückte Verwandlung oder abgesplinterte Zehen!“
Tatsächlich hatte ihre Arbeit in den ersten Jahren aus nicht viel anderem als diesen Dingen bestanden. Doch das sollte sich nur zu bald ändern.
Wieder sprangen ihre Gedanken ein paar Jahre weiter. Der erste September 1971. Von einer seltsamen Aufregung getrieben wanderten ihre Augen durch die Große Halle und blieben schließlich an einem sandbraunen Haarschopf hängen. Das war er also! Der Junge, auf den sie in diesem Schuljahr ein ganz besonderes Augenmerk haben sollte. Beim Blick in sein Gesicht zog sich ihr schmerzhaft das Herz zusammen. Dieses kleine blasse Gesicht war viel zu ernst für einen elfjährigen Jungen! Eine tiefe Müdigkeit lag in seinen Augen. Doch trotz allem strahlte er an diesem Abend voller gespannter Erwartung. Er war glücklich, hier zu sein, das erkannte Poppy sofort. Aber zugleich auch voller Angst, wie er die nächsten Monate an diesem Ort überstehen sollte. Denn der Junge hatte ein Geheimnis. Ein düsteres, qualvolles, kräftezehrendes und gefährliches Geheimnis. Und einen Namen, als hätte man es geradezu darauf angelegt, sein Schicksal herauszufordern: Remus Lupin.
Nur Albus wusste über sein Geheimnis Bescheid – und Poppy. Sie als einzige hatte der Schulleiter eingeweiht, schon vor Wochen war er zu ihr gekommen, um sie auf das vorzubereiten, was sie erwartete. Obwohl man auf so etwas niemals wirklich vorbereitet sein konnte. Dem Jungen bleib nicht einmal eine Woche, ehe es zum ersten Mal so weit war.
„Guten Abend, Madam Pomfrey.“
Niemals würde sie den Klang seiner Stimme vergessen, als er zum ersten Mal vor dem Eingang zum Krankflügel stand. So zart. Zerbrechlich. Doch gleichzeitig so warm und herzlich, während seine hellbraunen Augen so vertrauensvoll zu ihr aufblickten, dass sie es nicht schaffte, das Beben ihrer Lippen zu verbergen, als sie versuchte, ihm zuzulächeln.
„Bist du bereit, Remus?“
„Ja, Madam.“
Was für eine Frage! Als hätte er eine Wahl… Noch nie hatte sie sich einem ihrer Patienten gegenüber so unsicher gefühlt. So unzureichend. Sie konnte ihn nur begleiten. Mehr konnte sie nicht tun.
Poppy führte Remus hinaus auf die Schlossgründe, über die Ländereien, hin zu jener verfallen anmutenden Hütte, die Albus für ihn vorbereitet hatte. Zahlreiche Schutzbanne verhinderten, dass er hinaus oder jemand zu ihm hineingelangen konnte. Angeblich verhinderten sie auch, dass ihm in der Hütte etwas geschehen konnte. Poppy hoffte, dass das stimmte.
Es gab nur einen Weg, um die Hütte zu betreten. Durch einen Tunnel, dessen Eingang durch die magische Weide gesichert wurde, die ausschließlich zu diesem Zweck gepflanzt worden war. Die Weide mit ihren mächtigen knorrigen Ästen, deren Enden zu gewaltigen Knüppeln verdickt waren, musste bereits uralt sein. Sobald ihr jemand zu nahe kam begann sie, mit einer unerschöpflichen Gewalt um sich zu schlagen. So würde sie jeden Eindringling schmerzhaft und unerbittlich vertreiben – solange man nicht den richtigen Zauberspruch kannte oder wusste, an welcher Stelle man ihren Stamm berühren musste, um sie für kurze Zeit erstarren zu lassen. Poppy wusste beides. Sie erklärte es Remus, ehe sie ihn hinab in den Tunnel führte.
Unten war es kalt und dunkel. Poppy schauderte bei dem Gedanken, von nichts als Erde umgeben zu sein. Ein modriger Geruch schlug ihnen entgegen und immer wieder streiften herabhängende Wurzeln über ihre Gesichter. Es kam Poppy schrecklich entwürdigend vor, dass der Junge zu allem, was er ohnehin schon durchmachen musste, nun auch noch gezwungen war, sich durch einen solchen Tunnel zu quälen. Doch Remus folgte ihr ohne ein einziges Wort der Klage. Er schien jedes noch so kleine Detail aufmerksam in sich aufzusaugen. Fast schämte Poppy sich, ihn in die spärlich eingerichtete Hütte zu führen. Es gab einen Tisch, einen Stuhl ein Bett mit mehreren Decken, sonst nichts. Auch hier war es stockdunkel. Tür und Fenster waren vernagelt und Poppy wusste, dass es selbst unter größter Kraftanstrengung unmöglich wäre, die Bretter zu entfernen.
„Da wären wir“, murmelte sie. „Brauchst du noch etwas, Remus?“
„Nein, vielen Dank.“
Im Schein ihres Zauberstabs hängte er seinen Umhang über die Stuhllehne und setzte sich, die Hände im Schoß gefaltet, das Unausweichliche mit ernster Miene erwartend. Poppy stand noch unschlüssig herum, als sich seine großen Augen wieder auf sie richteten.
„Madam Pomfrey?“
„Ja, Remus?“
„Können Sie noch einen Augenblick hierbleiben?“
„Aber ja!“
Wenn er Gesellschaft wollte, war wenigstens das etwas, was sie ihm geben konnte. In Ermangelung eines anderen Platzes setzte sie sich neben ihm auf den Tisch.
„Ich habe den anderen gesagt, ich hätte Heimweh“, erzählte er leise. „Aber das stimmt nicht. Es ist so wunderschön hier. In Hogwarts, meine ich. Und diese Hütte – ich glaube nicht, dass ich hier großen Schaden anrichten kann. Hier brauche ich endlich keine Angst mehr zu haben, dass ich Mum und Dad etwas antue oder dass ich sonst jemanden verletze.“
„Oh, Remus!“ Ausgerechnet das war es, was dieser kleine Junge am meisten fürchtete! „Du musst doch nicht-“
In diesem Augenblick durchfuhr ein Zittern seinen schmalen Körper. Seine Augen weiteten sich in Entsetzen.
„Sie müssen gehen, Madam Pomfrey!“, stieß er hervor. „Es geht los!“
Poppy war vom Tisch aufgesprungen, doch nun verharrte sie reglos an seiner Seite. Wie konnte sie ihn jetzt allein lassen!
„Remus! Soll ich nicht wenigstens für den Anfang-“
„Nein!“ Seine Stimme schrie es fast. „Sie dürfen nicht länger hierbleiben! Es ist zu gefährlich! Ich verliere die Kontrolle! Ich würde einfach… einfach über Sie herfallen!“
Das Entsetzen in seinem Gesicht mischte sich mit etwas anderem und es zerriss Poppy das Herz, als sie erkannte, was es war. Abscheu! Dieser wunderbare kleine Junge verabscheute sich selbst für das, was gegen seinen Willen aus ihm hervorbrach. Sie wollte ihn in ihre Arme schließen, ihn festhalten und nie wieder loslassen, ihm Trost spenden und Kraft. Aber sie wusste, dass sie ihm damit mehr schaden würde als helfen. Sie musste tun, was er sagte. Bevor sie sich umwandte, blickte sie ihm noch einmal in die Augen.
„Ich werde morgen früh wieder hier sein. Alles Gute, Remus!“
Er nickte nur, die Hände nun nicht mehr bloß gefaltet, sondern ineinander verkrampft, als könnte er so das Monster noch etwas länger zurückhalten.
„Passen Sie auf sich auf, Madam Pomfrey!“, hörte sie noch einmal seine leise Stimme, ehe sie in den Tunnel hinabstieg.
Poppy musste sich zwingen, ein lautes Schluchzen zurückzuhalten. Kleiner, tapferer Remus! Das waren Worte, die sie zu ihm hätte sagen sollen!
Als sie unter der Peitschenden Weide hinaus ins Freie trat, richtete sich ihr Blick unwillkürlich auf den Himmel. Gerade zogen sich die Wolken ein wenig auseinander und der kreisrunde Mond strahlte mit seinem höhnischen Gesicht zwischen ihnen hervor. Keinen Wimpernschlag später zerriss ein langgezogenes Heulen die nächtliche Stille. Ein Schrei, erfüllt von unendlichem Schmerz und tiefster Verzweiflung. Heiße Tränen brannten in Poppys Augen, als sie auf das Schloss zueilte, fort von der Klage des Werwolfs. War sie nicht Heilerin geworden, um zu heilen? Doch hier konnte sie nichts tun. Nicht helfen. Allenfalls ein wenig Linderung verschaffen. Viel zu wenig.
Wie so oft schob sich die Erinnerung an Fernand in ihre Gedanken. Dies wäre ein Fall nach seinem Geschmack. Spannend genug, um sein Interesse zu wecken, ihm mehr zu entlocken als ein müdes Lächeln. Wenn sie ihm von diesem Schüler berichtete, würde er vielleicht doch einmal ein wenig mehr Verständnis dafür zeigen, wie spannend und aufregend ihre Arbeit in der Schule war und dass man dafür nicht zwangsläufig in ferne Länder reisen musste wie nach Ceylon, wohin es ihn letztendlich verschlagen hatte und wo es von gefährlichem Getier nur so wimmelte. Land-Blutegel, die seinen Briefen zufolge überall auf der Insel auf dem Boden herumkrochen und sich sogar im Sprung von den Bäumen katapultierten, um ihre Beute zu befallen, Brillenschlangen, von deren lebensgefährlichem Gift man sich zugleich heilende Kräfte versprach, oder riesenhafte und hochgiftige Skorpione und Tausendfüßler.
Aber sie würde ihm niemals von Remus berichten. Es ging nicht nur um den Eid, den sie geschworen hatte. Es ging vor allem darum, den Jungen zu schützen. Wenn die Welt da draußen erst erfuhr, was er war, würde sie nicht mehr den wunderbaren Jungen in ihm sehen, sondern nur noch Hass und Verachtung für ihn übrig haben. Selbst in Hogwarts wäre er davor nicht sicher. Nein, niemals, niemals, niemals würde Poppy über Remus‘ Geheimnis sprechen.
Die Zeit verging und jedes neue Jahr brachte neue Schülerinnen und Schüler nach Hogwarts. Remus fand Freunde. Nach wie vor begleitete Poppy ihn an jedem Vollmondabend in die verfallene Hütte und noch immer konnte sie nichts weiter tun, als am nächsten Morgen die Verletzungen zu behandeln, die er sich in den schlimmsten dieser Nächte selbst zufügte. Doch als er älter wurde, schienen die Nächte als Wolf für ihn erträglicher zu werden. Seine Freunde mussten irgendeinen Weg gefunden haben, um ihm seinen Fluch zu erleichtern. Sie hatten vollbracht, was ihr als Heilerin nicht gelungen war. Doch Poppy fragte nicht nach. Manchmal war es besser, wenn Geheimnisse geheim blieben. Schließlich machten Remus und die anderen ihren Abschluss und Hogwarts entließ sie in die magische Welt und den schrecklichen Krieg, der in ihr tobte.
Wieder machten Poppys Gedanken einen Sprung. Der erste September 1991. Sie war fast so aufgeregt wie an jenem Abend vor zwanzig Jahren, als Remus eingeschult wurde. Heute – endlich – würde sie IHN mit eigenen Augen sehen! Sie machte ebenso wenig einen Hehl aus ihrer Aufregung wie die meisten der Lehrer. Endlich kam ER nach Hogwarts! Der einzige Mensch, der jemals einen Todesfluch überlebt und – als wäre das noch nicht Wunder genug – damit im Handumdrehen als gerade mal einjähriges Baby den furchtbarsten dunklen Magier seit Grindelwald ins Nirgendwo vertrieben, den Krieg beendet und die Welt von einem grausamen Tyrannen befreit hatte. Der Junge, der lebte – Harry Potter. Doch er war mehr als nur das. Harry war auch der Sohn eines der besten Freunde, die Remus in Hogwarts gehabt hatte – und der den Versuch, seine Frau und seinen Sohn zu beschützen, mit dem Leben hatte bezahlen müssen.
Poppy seufzte, während der Anblick des Kalenderblatts mit den Bildern der Vergangenheit verschwamm. Wie oft hatte Harry sich während seiner Zeit in Hogwarts in Gefahr gebracht! Wie oft hatte er bei ihr im Krankenflügel gelegen! Gleich in seinem ersten Schuljahr hatte der, dessen Name nicht genannt werden durfte, es geschafft, sich in Hogwarts einzuschleichen. Dafür hatte er ausgerechnet von dem damaligen Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste Besitz ergriffen und in dessen Gestalt am Ende des Schuljahres versucht, Harry zu ermorden. Hätte sie etwas merken müssen? Hätte Quirrels seltsamer Geruch sie als erfahrene Heilerin nicht misstrauisch machen müssen? Aber nicht einmal Albus hatte etwas bemerkt!
Noch immer sah sie den kleinen Harry vor sich, wie er mit zerwuschelten Haaren und großen grünen Augen aus seinen schneeweißen Kissen zu ihr aufblickte und nach all den nur um Haaresbreite überstandenen Gefahren an nichts anderes denken konnte als daran, seine Freunde möglichst schnell wiederzusehen und zum Schuljahresabschlussfest in die Große Halle zu gehen. Sie hätte ihn viel lieber noch ein paar Tage länger unter ihrer Aufsicht behalten, aber was hatte sie für eine Wahl, wenn Albus es erlaubte…
Wie oft hatte sie in diesen Jahren auf Albus geschimpft! In ihren Augen war er viel zu häufig viel zu leichtsinnig gewesen. Wie konnte er es zulassen, dass ein unfähiger Lehrer Harry sämtliche Knochen aus dem Arm hexte – ja, wie konnte er so jemanden überhaupt an der Schule unterrichten lassen? Wie konnte er Schüler gegen Drachen kämpfen lassen – und als ob das noch nicht genug wäre, nicht bloß gegen Drachen, nein, gegen brütende Drachenweibchen? Selbst wenn es sich um das Trimagische Turnier handelte, das war eindeutig fahrlässig! Und wie im Namen Merlins konnte Albus es zulassen, dass Harry Potter an diesem Turnier teilnahm, obwohl er dafür noch viel zu jung war? Wenn er angeblich so mächtig und einflussreich war, warum hatte er diese Dinge dann nicht verhindern können?
Poppy erschrak über sich selbst, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade dachte. Nein, sie tat Albus Unrecht. Wie hätte er wissen können, dass all diese Dinge zusammenhingen? Er hätte es nicht zugelassen, wenn er es geahnt hätte… Er hätte nicht zugelassen, dass Du-weißt-schon-wer zurückkehrte. Er hätte nicht zugelassen, dass er selbst sein Leben lassen musste…
Doch der, dessen Name nicht genannt werden durfte, hatte Harry wieder und wieder verfolgt und dabei die schrecklichsten Dinge geschehen lassen. Nie hätte Poppy sich träumen lassen, dass ihre Betten sich einmal mit den Körpern versteinerter Schüler füllen würden. Noch heute erfüllte der Gedanke sie mit kaltem Grausen. Selbst Fernand hätte so etwas nicht mehr als Abenteuer angesehen. Doch es war nicht mehr dazu gekommen, dass sie ihm davon berichten konnte, denn ausgerechnet in jenen grauenvollen Tagen erreichten sie beunruhigende Nachrichten aus Sri Lanka, wie die Insel, auf der er lebte, mittlerweile hieß.
Liebste Poppy, hatte er geschrieben und allein der Anblick seiner Schrift, die sonst so schwungvoll war und jetzt kraftlos und zittrig wirkte, erfüllte sie mit der schlimmsten Ahnung. Bestimmt erinnerst du dich an die springenden Blutegel, von denen es hier überall wimmelt. Endlich ist es uns gelungen, in einer Höhle auch einige magische Exemplare aufzuspüren! Doch dabei wurde ich angefallen und mehrfach gebissen. Sie haben ein unbekanntes Gift in meinen Körper injiziert. Bisher ist es uns noch nicht gelungen, herauszufinden, wie man dieses Gift neutralisiert. Die Verfallserscheinungen sind äußerst interessant und wir dokumentieren jede Veränderung. Ich bin zuversichtlich, dass es uns noch rechtzeitig gelingen wird, es aufzuhalten. Falls nicht – nun, dann habe ich nur zwei Wünsche. Erstens, dass die Erkenntnisse, die meine Erkrankung bringt, anderen helfen kann. Und zweitens, dass du mich nicht vergisst. In Liebe – Fernand
Mitten im Krankenflügel hatte Poppy geschrien und getobt. Das einzige Mal, dass sie an diesem Ort dermaßen die Beherrschung verloren hatte. Es war ihr gleichgültig, ob ihre versteinerten Patienten sie hören konnten.
Oh, Fernand! Wie kannst du nur! Äußerst interessant – du verfluchter Idiot! Warum hast du nicht besser auf dich achtgegeben? Du darfst nicht sterben! Nein, nein, nein, du darfst einfach nicht!
Einen verzweifelten Brief nach dem anderen hatte sie nach Sri Lanka geschickt. Doch von Fernand war keine Antwort gekommen. Tagelang nicht. Wochenlang nicht. Dann schrieb ihr einer seiner Mitarbeiter, dass Fernand seiner unbekannten Vergiftung erlegen war. Kurz darauf kam auch ein Brief von Monsieur Bonheur, der sie zu Fernands Trauerfeier nach Frankreich einlud. Doch Poppy verwarf den Gedanken, dorthin zu reisen, noch eher er richtig Gestalt annahm. Der Krankenflügel war voller Patienten und der Alraunentrank beinahe einsatzbereit. Vier versteinerte Schüler, eine versteinerte Katze und sogar ein versteinerter Geist warteten auf Erlösung. Hogwarts brauchte sie.
Wieder veränderte sich das Bild ihrer Erinnerung und wieder sah Poppy die Toten und Verletzten aus dem letzten Schuljahr vor sich. Sie alle hatten für Hogwarts gekämpft. Remus Lupin war zurückgekehrt – und gestorben, Hand in Hand mit seiner jungen Frau. Der kleine Colin Creevey war gestorben, den sie damals von der Versteinerung erlöst hatte. Fred Weasley war gestorben, ein letztes Lachen noch auf den Lippen. Vincent Crabbe war gestorben, und auch wenn er für die falsche Seite gekämpft hatte, genauso beklagenswert wie alle anderen. Severus Snape war gestorben, bis zuletzt in dem Versuch, Harry Potter zu schützen.
Jeder Tod war einer zu viel. Doch es war vorüber. Der erste September 1998. Beginn einer neuen Zeit. Poppy wischte sich die Tränen aus den Augen und warf noch einen letzten Blick auf den Kalender, ehe sie sich bereit machte, hinunter in die Große Halle zu gehen.
Hogwarts hatte all diese Stürme überdauert. Letztendlich hatte die Dunkelheit der Schule nichts anhaben können. Heute Abend würde eine neue Generation von Schülerinnen und Schülern unter den schwebenden Kerzen sitzen, die Augen voller gespannter Erwartung auf den sprechenden Hut gerichtet. Und Poppy würde auch weiterhin für sie da sein. Bereit, Verbrennungen durch explodierte Kessel zu heilen, fehlgeleitete Abwehrzauber oder wenn es hochkam auch mal eine missglückte Verwandlung oder abgesplinterte Zehen.
In Gedanken sah sie Fernands lächelndes Gesicht vor sich. Siehst du, mein Liebster? Mehr Abenteuer als das wünsche ich mir gar nicht.
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Dieser Oneshot wurde von MondNiffler wunderbar stimmungsvoll vertont. Hier könnt ihr euch die Lesung anhören! :-)