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Sewing And Cutting

Kurzbeschreibung
GeschichteKrimi, Liebesgeschichte / P16 / Het
Brian May OC (Own Character) Roger Taylor
19.07.2022
31.05.2023
9
39.923
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Dieses Kapitel
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19.07.2022 4.112
 
Hallo!
Inspiriert von der Rhapsody Tour 2022 präsentiere ich euch hier eine Geschichte, die im Jahr 1985 spielt und einerseits reale Fakten rund um die Band verwendet, andererseits aber auch Daten und Fakten beliebig durcheinanderwirft - dafür ist es ja auch Fiktion und keine Biographie!
Es wird hauptsächlich um Brian May und Roger Taylor gehen, ein weiblicher OC darf natürlich auch nicht fehlen, aber es wird fraglos auch viel Freddie geben.

Die Musiker von Queen und auch alle anderen real existierenden Personen gehören sich selbst. Ich verdiene kein Geld mit dieser Geschichte.

Und nun viel Spaß, und über ein - gerne auch kurzes - Feedback, wie sie euch denn  so gefällt, freue ich mich!
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Fast schon gelangweilt ließ Roger sich in den freien Sessel fallen, rutschte so tief darin, dass seine Knie den höchsten Punkt seines Körpers bildeten, und zupfte von Zeit zu Zeit  an den Saiten der Gitarre, die er sich eben im Vorbeigehen geschnappt hatte. Dieses zur Schau gestellte Desinteresse konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dem Disput, den auf den benachbarten Stühlen zwei seiner Bandkollegen ausfochten, aufmerksam lauschte.
„Das ist nicht der Punkt!“, rechtfertigte sich Brian mit etwas erhobener Stimme, was untypisch für den ruhigen Gitarristen war.
„Ach ja, was denn dann?“, konterte John umgehend, wobei er seinen Vorredner deutlich übertönte.
Brian holte Luft und bemühte sich, Ruhe zu bewahren. Es fiel ihm sichtlich schwer, andererseits verabscheute er es, wenn Meinungsverschiedenheiten unsachlich wurden.
„Der Punkt ist, dass ich deine Logik nicht verstehe! Wir können uns nicht da auf die Bühne stellen, vom Weltfrieden singen und dann in einem solchen Konflikt nicht klar Position beziehen! In diesem Land herrscht der Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung! Ich denke, wenn wir schon da sind, sollten wir die Freiheit auch unterstützen, indem wir uns öffentlich auf deren Seite stellen! Und deshalb bin ich dafür, dass wir der Bitte nachkommen, dort auf dieser Kundgebung zu sprechen! Entweder das Komplettpaket oder gar nichts. Aber das, was du hier vorschlägst, Gig ja, Kundgebung nein, das geht in meinen Augen gar nicht!“ Erwartungsvoll sah er den Manager an, in der Hoffnung, von ihm Unterstützung zu erhalten, wenn sich schon Freddie und Roger nicht eindeutig äußerten. Der Manager Jim Beach war es gewesen, der sie wenige Minuten zuvor über das vorliegende Angebot informiert hatte. Ein Konzertveranstalter aus Sierra Leone stellte in Aussicht, ihnen die Erlaubnis für ein Konzert in der Hauptstadt Freetown beschaffen zu können. Doch bat er im Gegenzug darum, dass die Band ein Statement auf einer Kundgebung für die Freiheit am selben Tag abgab.
Jim sagte nichts, suchte nur betreten Freddies Blick.
Dafür verschränkte John die Arme und entgegnete beinahe trotzig:
„Gut, dann eben gar nichts!“
„Hey, komm schon! Was ist denn los mit dir?“, übertönte Brian wütend das nun einsetzende beschwichtigende Stimmengewirr Freddies, Rogers und des Managers.
Die junge rothaarige Frau, die gerade die Reste des Mittagessens vom Lieferservice vom Tisch am anderen Ende des Studios zusammenräumte, fuhr unwillkürlich erschrocken herum, als der Tonfall mit einem Mal derart feindselige Nuancen annahm. Sie arbeitete erst seit einigen Wochen im direkten Umfeld der Band und hatte einen Disput dieses Ausmaßes bisher nicht erlebt. Schnell wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Er hat Angst“, versuchte Roger den aufgebrachten Gitarristen zu beruhigen, wofür er sich in dem Sessel etwas aufsetzte und das Instrument neben sich ablegte.
„Was mit mir los ist?“ Johns gerötetes Gesicht war wutverzerrt. „Das kann ich dir sagen! Was ist, wenn die uns hinterher nicht mehr ausreisen lassen? Das Land steht kurz vor einem Bürgerkrieg oder einem Militäreinsatz gegen die eigenen Leute, falls du es noch nicht bemerkt hast!“
„Oh doch, das habe ich! Deshalb finde …“
„Dann muss ich da nicht auch noch durch ein politisches Minenfeld fahren und mein Gesicht als Zielscheibe hinter einem Rednerpult…“
„Aber hinter ein Mikrofon auf einer Showbühne, da kannst du es positionieren, ja?“, wütete Brian. „Sorry, aber in meinen Augen ist das scheinheilig!“
„Ich habe gerade gesagt, wir sollten es ganz lassen“, brüllte John.  „Hilfsorganisationen aus aller Welt überlegen offen, ihre Leute abzuziehen, aber wir vier Idioten fahren da für ein Konzert hin!“
Roger zählte die Anwesenden mit dem Finger durch.
„Sieben“, sagte er dann. „Sieben Idioten. Jim, Mack und Vic kommen auch mit.“ Es sollte ein Scherz sein, den allerdings außer dem kichernden Freddie niemand zur Kenntnis nahm.
„Weil das unsere Möglichkeit ist, etwas Sinnvolles zur Welt beizutragen!“, rief Brian so aufgebracht, dass seine Locken flogen. Verdammt noch mal, verstanden sie ihn wirklich nicht? „Die Tantiemen aus den Plattenverkäufen gerne einheimsen, aber sich aus den Missständen raushalten, das ist doch…“
„Aber sich einmischen, ohne genau zu wissen, wer wofür steht und mit welchen Mitteln er es zu erreichen gedenkt, das ist dann besser, oder was?“
Die Frau am Esstisch hatte mittlerweile, ohne es zu merken, ihre Arbeit eingestellt und verfolgte den offenen Schlagabtausch ebenso sprachlos wie Jim Beach, der Manager der Band. Dessen Miene drückte aus, dass auch für ihn derartige Szenen nichts Gewohntes waren. Unterdessen versuchten Roger und Freddie vorsichtig, einen Einstieg in den Streit zu finden, fanden jedoch keine Beachtung. John und Brian waren mittlerweile von ihren Stühlen aufgesprungen und pampten sich über den kleinen runden Tisch hinweg weiter an.
„Ich weiß sehr gut, wer in diesem Konflikt wofür steht; ich schaue schließlich…“
„Ach komm, du weißt überhaupt nichts! Du weißt nur das, was die wollen, dass du weißt!“
Zynisch lachte Brian auf.
„Phänomenal! Lass dir diese Pauschalaussage patentieren! Mit der kannst du dich ideal aus allen Problemen der Welt heraushalten!“
Die Stimmen wurden noch lauter, der Ton noch aggressiver.
„Hey“, rief schließlich Freddie laut, breitete  die Arme aus und erhob sich ebenfalls,  „jetzt mal ganz ruhig. Setzt euch hin und seid nett zueinander. Wir finden eine Lösung.“
John und Brian maßen sich mit Blicken und nahmen widerwillig wieder Platz.
Auch Freddie setzte sich wieder.
„Ich denke, wir sollten es nicht machen, wenn einer von uns dabei so starke Sicherheitsbedenken hat.“
Das Gesicht des Managers drückte Widerspruch aus.
„Sicher, aber ihr dürft auch nicht vergessen, wie viele Fans ihr in der Region habt. Das letzte Album hat sich dort…“
„Ich hab doch gesagt, beim Gig bin ich notfalls dabei!“, ereiferte sich John.
Brian, der sich sichtlich noch nicht wieder beruhigt hatte, schnaubte abfällig.
„Lasst“, übertönte Freddie sie alle problemlos, „uns das in aller Ruhe bedenken und dann gemeinsam entscheiden. Der Veranstalter kann bis morgen warten.“
„Habe ich euch gesagt, wie viel er zahlt?“
„Halt die Klappe, Miami!“, kanzelte Roger ihn kurz und bündig ab.
Und Brian unterstützte ihn, indem er rief:
„Es geht hier nicht ums Geld. Es geht um die Menschen! Sie sind in ihrem Prozess schon so weit, und wenn jeder so denkt und sagt, oh, das ist mir zu gefährlich, das mache ich nicht, dann…“
Wieder unterbrach ihn Freddie beschwichtigend.
„Falls wir uns gegen das Konzert und die Kundgebung entscheiden – ich sage nur falls!“, er hatte den Aufruhr in Brians Blick gesehen, „dann heißt das ja nicht, dass wir gar nichts tun können. Lasst uns auch überlegen, wie wir die demokratische Bewegung anderweitig unterstützen können. Mit einer Aktion von hier aus. Oder auch hinterher.“ Er wandte sich an den Gitarristen. „Wir könnten einen Song schreiben, Baby! Ich habe da schon ein paar Ideen im Kopf. Einen Benefizsong. Was hältst du davon?“
Obwohl er gar nicht angesprochen war, antwortete der Manager beflissen und begeistert gleichermaßen und spann den Faden fort.
Brian hingegen erhob sich und entgegnete einsilbig:
„Ja, das… das können wir natürlich in Erwägung ziehen.“  Dann verließ er den Studioraum und aus der Art, wie er die Tür schloss – nicht zuknallte, aber deutlich schloss -, hörten sie heraus, wie genervt er war.
Roger fand als erster die Sprache wieder.
Er schnaufte tief durch, griff nach seiner Zigarettenschachtel auf dem Tisch und zündete sich eine an.
„Puh. Jungs, echt… Kein Grund, sich da so hineinzusteigern! Mir ist es ehrlich gesagt scheißegal, ob wir den Gig machen oder nicht. Ich meine, Bock hab ich schon… Überlegt mal, als erste britische Band überhaupt… Das wär schon geil. Vic?“ Er legte den Kopf in den Nacken und wandte sich an die junge Frau, die ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte und nun aufsah. „Kannst du mir mal den Aschenbecher da bei dir reichen?“
Sie tat wie geheißen, gleichzeitig bemerkte Freddie, dass er bei seiner letzten Zigarette den durchaus vorhandenen Aschenbecher aus Rogers Reichweite gestellt hatte, sodass der Schlagzeuger nun das Gewünschte doppelt vor sich fand.
„Ja, ich sag ja, beim Gig bin ich dabei!“, wiederholte John. „Aber Brian mit seinem naiven…“
„Er ist nicht naiv!“, unterbrach Freddie ihn bestimmt. „Brian weiß genau wie wir alle, dass es gefährlich  ist.  Er kann es nur einfach nicht ertragen, wenn Lebewesen leiden.“
„Außer John“, warf Roger ein, was die Stimmung etwas lockerte.
Sie musste grinsen, als sie mit der Plastiktüte an ihnen vorbei zur Tür ging.
„Ah!“, strahlte Freddie sie an. „Queen Victoria!“ Von der ersten Sekunde an hatte er sie so genannt, weil die historische Kompatibilität ihres Vornamens mit dem Bandnamen seine Liebe fürs Dramatische nahezu aufs Unerträglichste befeuerte. Von aller Welt eigentlich immer nur Vic genannt, ließ sie ihn gewähren, weil sie, wie jeder, der den Sänger kannte, seinem liebenswürdigen Wesen einfach nichts abschlagen konnte.
„Freddie!“, imitierte sie seinen Tonfall.
„Gehst du nach oben?“
Sie nickte.
„Ich wollte den Kram vom Mittagessen wegschmeißen und dann kurz im Hotelzimmer vorbei.“
„Hotel, oh das ist super! Meinst du, du kannst mir etwas aus meinem Zimmer mitbringen? Die Mappe auf dem Sideboard? Es hat auch keine Eile.“ Er warf ihr seine Zimmerkarte zu.
Natürlich konnte sie.
Es war ihr Job, immer alles zu können. Ob es um die Tischreservierung am Abend ging, einen eiligen Brief zu formulieren und zur Post zu bringen, das Mittagessen zu bestellen und  notfalls die richtigen Kräuter zum Nachwürzen parat zu haben oder schnell mal eine Kopfschmerztablette anzureichen, wenn die Nacht davor einfach mal wieder zu lang gewesen war.
„Bis später!“, verließ sie den Raum.

Verbittert ließ Brian die Flipperkugel durch den Flipperautomaten im Vorraum des Studios hüpfen.
Noch immer hatte er sich nicht beruhigt und sein Atem ging schnell.
Die Band und ihre gemeinsame Musik bedeuteten ihm unsagbar viel. Mehr, als er sich manchmal eingestehen mochte. Aber für ihn gehörte dazu mehr, als die Dekadenzen des Showbusiness auszukosten. Mehr als Sex, Drugs and Rock’n’Roll.
Verdammt, verstanden ihn die anderen wirklich nicht oder war ihnen das alles einfach nur völlig egal? Freiheit, Demokratie, körperliche Unversehrtheit… Das war doch nichts, was man einfach so bekam, man musste es sich erkämpfen, immer wieder aufs Neue! Immer wieder nur davon zu reden oder zu singen, wie wichtig Demokratieprozesse in den Schwellenländern für den Weltfrieden waren, sich aber dann aus allem heraushalten zu wollen, erschien ihm einfach nicht richtig. So verhielten sich die vom Establishment, aber keine Rockmusiker.
Er musste an John denken, an das, was er gesagt hatte, an seine Mimik und Gestik dabei, und die Wut kochte erneut in ihm hoch. Wenn irgendein anonymer Einwohner des Landes, ohne Verbindungen ins Ausland und mit wenig Einkommen, wenn der Angst hatte, auf einer Demonstration gesehen zu werden, dort ein paar Worte zu sagen, dann konnte er das verstehen. Der war schneller weggesperrt, als er das Wort Demokratie überhaupt zu Ende sprechen konnte, und niemanden würde es interessieren.
Aber bei ihnen war das doch etwas anderes! Sie waren international bekannt, niemand würde wagen, sie zu inhaftieren oder ihnen die Ausreise zu verweigern, nur wegen ein paar Grußworten auf einer Kundgebung. Oder?
Er schüttelte die Lockenmähne und  malträtierte erneut das Spielgerät. Deshalb merkte er auch nicht, dass er nicht mehr allein im Raum war.
„Hey.“
Er fuhr herum, wandte sich aber, als er sah, dass es nur Vic war, schnell wieder dem Flipper zu.
„Hey“, entgegnete er.
Victoria starrte auf seinen schmalen Rücken, beobachtete seine hektischen Bewegungen. Man brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu erkennen, wie geladen er noch immer war. Für einen Moment erwog sie, wie sie es als Kind perfektioniert hatte, einfach schnell und unauffällig das Weite zu suchen, bevor sie selbst zur Zielscheibe eines Wutausbruches wurde. Doch dann zwang sie sich zur Rationalität. Sie war kein Kind mehr und Brian würde sie nicht angehen.
„Ich fand es gut, was du gesagt hast.“ Ihr Herz klopfte. Aber das hatte heraus gemusst. Es war ihr ein Bedürfnis, es ihn wissen zu lassen.
Er drehte sich nicht um. Nur seine etwas langsameren Bewegungen ließen darauf schließen, dass er ihre Worte gehört hatte.
„Da warst du dann wohl die Einzige“, stieß er bitter hervor.
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er es ja gar nicht sehen konnte.
„Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn… Immer nur weggucken und warten, dass jemand anderes sich traut, ändert nichts. Ich… ich fand es sehr mutig, dass du das gesagt hast. Und zu deiner Meinung stehst, auch wenn du Gegenwind bekommst. Das wollte ich dir nur sagen.“ Mit den letzten Worten war ihre Stimme immer leiser geworden.
Brian drehte sich langsam um. Musterte sie beinahe ungläubig von unten nach oben. Seine Gesichtszüge glätteten sich zu einem kaum merklichen Lächeln.
„Danke.“

„Was verrenkst du dir eigentlich den Hals?“, fragte John verstört den Schlagzeuger, dessen Blick noch immer an der Tür hing.
Roger wandte sich zu ihm, Freddie und Jim Beach, meistens Miami genannt, um.
„Wie alt ist sie eigentlich?“
„Wer?“ Freddie hatte sich erneut ins Texten des Songs vertieft, den sie gerade aufnahmen, und dabei wie üblich Raum und Zeit ausgeblendet.
Roger verdrehte die Augen, was man trotz der Sonnenbrille, die er trug, sehen konnte.
„Her Majesty!“, betonte er überdeutlich.
„Alt genug, dass du dich nicht der Verführung Minderjähriger schuldig machen würdest, wenn es das ist, was du wissen willst.“ Die Stimme des Managers troff nur so vor Süffisanz.
„Echt jetzt?“ Roger schien ehrlich überrascht. „Auf mich wirkt sie eher wie dreizehn.“
„Dann dürften wir sie gar nicht beschäftigen, Rog“, ohne vom Blatt aufzusehen, belehrte Freddie ihn oberlehrerhaft und sang leise Textvarianten vor sich hin, den Bleistift dabei rhythmisch mitschwingend.
„Aber jetzt sagt doch mal selbst!“ Roger sah erwartungsvoll in die Runde.
„Mhm, sieht schon recht jung aus“, stimmte John zu.
„Sie ist 25“, klang der Manager etwas steif.
„Sie sieht aus wie ein zu schnell gewachsener Zwölfjähriger.“
„Rog, sie ist nicht mal eins siebzig groß!“
„Okay! Wie ein zu schnell gewachsener Zwölfjähriger, der nicht gewachsen ist.“
Seine Aussage führte zu Gelächter, welches jedoch merklich abebbte, als sie bemerkten, dass die Tür sich öffnete.
Brian trat ein, griff wortlos seine Gitarre und zog sich in eine Ecke zurück, wo er einige Riffs zu üben begann.
Wieder war es Roger, der als Erster das Gespräch wieder aufgriff. Sinnierend eröffnete er:
„Mich erinnert sie irgendwie an ein Eichhörnchen.“
„Ein Eichhörnchen?“, hakte der Manager ungläubig nach, während Freddie lachend über seinem Papier zusammenbrach und John nur zweifelnd die Brauen zusammenzog. Brian setzte ein Pokerface auf; er beschloss, einfach nichts mitbekommen zu haben.
„Ja!“, rechtfertigte sich der Schlagzeuger. „Vielleicht wegen der Haarfarbe! Und ihrer Rattenschwänzchen.“
„Ich hab noch nie ein Eichhörnchen mit Titten gesehen.“ Zum ersten Mal seit dem Mittagessen mischte sich ihr Tontechniker ins Gespräch. Durch die Scheibe hörten sie ihn nur gedämpft.
„Sie hat ja auch keine Titten!“
Freddie, der sich mittlerweile wieder etwas eingekriegt hatte, belehrte den Drummer: „Nur weil für dich Titten erst ab Körbchengröße Doppel-D anfangen, musst du ihr nicht gleich die Oberweite absprechen. Das Mädchen hat doch eine hübsche Figur.“
„Wenn man’s knabenhaft mag…“ Es war eindeutig, worauf Roger anspielte.
„Eichhörnchen sind schwanzgesteuert“, mischte John sich grinsend ein, wobei seine Zahnlücke sichtbar wurde. „Das trifft ja dann eher auf dich zu als auf sie, Rog.“
Ein genervtes Durchatmen aus der Ecke, in der Brian stand, ließ sie verstummen.
„Können wir jetzt endlich mal weitermachen?“
Wie aufs Stichwort begann Freddie zu intonieren:
One heart, one soul – one squirrel !“

Die Musik dröhnte kratzig aus so schlecht eingestellten Lautsprechern, dass Freddie wahrscheinlich längst empört die Location verlassen hätte, wäre er nicht schon einigermaßen angeheitert gewesen.
Es war viele Stunden später am Tag, die Band hatte die Aufnahmen zu ihrem Song ein gutes Stück vorangetrieben, und Freddie war es gewesen, der sie alle noch in diesen Schwulenclub geschleppt und in seinem Enthusiasmus mal wieder keine Widerrede hatte gelten lassen.
Im Grunde kam der Laden ihren individuellen Bedürfnissen entgegen. Freddies sexuellen Bedürfnissen und dem der anderen Bandmitglieder nach ein wenig Privatsphäre.  Zwar wusste sicher nahezu jeder in dem Laden, wer die vier Typen waren, aber es scherte sich niemand darum. Wahrscheinlich war man in München bezüglich schräger Vögel einfach abgestumpft.
Wie durch ein Wunder hatte es Roger auch hier in einer Gay Bar wieder geschafft, eine Reihe gutaussehender, vollbusiger junger Frauen um sich zu scharen. Er und John, der von Rogers Aufreißerqualitäten profitierte, genossen deren Aufmerksamkeit offensichtlich. Um Freddie tummelten sich schillernde Gestalten jedes Geschlechts. Sein Lachen und seine markante Stimme drangen von Zeit zu Zeit trotz der Geräuschkulisse zu ihm, Brian, herüber, der er ein bisschen abseits an einem Stehtisch stand und sich bei einem Bier mit Tontechniker Mack unterhielt. Auch er war sicher kein Kostverächter. Aber heute Abend hatte er auf den ganzen Rummel einfach keine Lust.
„Wie habt ihr euch jetzt eigentlich entschieden?“, fragte Mack vorsichtig.
„Hm?“ Fragend sah Brian ihn an.
„Wegen des Angebots. Konzert vorbehaltlich Kundgebung.“ Ganz zögernd brachte Mack es hervor, sich offenbar durchaus bewusst, dass er damit auf einen neuralgischen Punkt zielte. „Habt ihr noch mal darüber gesprochen?“
Und tatsächlich schienen sich die Gesichtszüge des Gitarristen kaum merklich zu verhärten.
„Haben wir“, nickte er und rollte die verspannten Schultern ein wenig. „Wir haben gesprochen und demokratisch abgestimmt.“ Geräuschvoll atmete er aus. „Wir machen es nicht.“
„Oh“, wusste Mack nicht so recht, was er sagen sollte. „Das fand Jim sicher nicht so toll.“ Angesichts Brians zynischem Auflachen fügte er noch hinzu: „Und du auch nicht.“
„Jim soll dem Konzertveranstalter vorschlagen, dass wir den Gig machen und auf dem Gig etwas Positives über die Freiheitsbewegung dort sagen.“
„So, wie du das sagst, war das nicht deine Idee.“
„Nein“, schüttelte er entschieden den Kopf. „War es nicht.“
„Hm.“
„Und ich verstehe auch nicht ganz, wo der Unterschied liegt. Ob nun da oder da jemandem übel aufstößt, was wir sagen. Aber egal! Das hat mich nicht zu interessieren. Wir haben ja schließlich demokratisch abgestimmt.“ Er hob seine Bierflasche und trank sie aus.
Da Mack nach wie vor nicht einfiel, was er dazu sagen sollte, ohne sich auf diese oder jene Art in die Nesseln zu setzen, schlief das Gespräch ein.
Brian ließ den Blick schweifen. Bei Freddie und denen, die an seinen Lippen hingen, blieb er hängen. Freddie war einfach immer der Mittelpunkt der Show, auch wenn er es nicht darauf anlegte. Wobei – eigentlich legte er es fast immer darauf an. Brian konnte nicht anders, er lachte leise, als er sah, wie der Sänger einer der Diven um ihn herum deren schwarzen Lippenstift stahl, um zu testen, wie er auf seinem eigenen Mund wirken würde. Das Ganze ging nicht ohne viel Gelächter und Aufhebens vonstatten, erst recht nicht, als Freddie ihr mit den schwarz geschminkten Lippen einen Kussmund auf die Wange drückte.
Sein Blick wanderte weiter und entdeckte noch ein paar andere aus ihrem Team. Phoebe, Freddies persönlicher Assistent, der eigentlich Peter hieß, saß vorne an der Theke und schien sich dort mit einem alten Bekannten zu unterhalten. An einem der kleinen runden Tische erkannte Brian Vic. Bei ihr saß ein junger Mann, der als Praktikant bei der Videoproduktion half, mit der sie regelmäßig zusammenarbeiteten. Er redete ununterbrochen auf Vic ein. Sein weißes Poloshirt und die akkurat geschnittene Kurzhaarfrisur gaben ihm einen sehr spießigen Anstrich, und Vic machte den Eindruck, als sei sie an Freddies Show als Alleinunterhalter deutlich interessierter als an dem Gerede des Jungen. Das konnte aber auch daran liegen, dass sie noch nicht Feierabend hatte. Vielleicht wollte sie einfach nicht verpassen, wenn einer von ihnen einen Auftrag für sie hatte.
Fast hatte Brian Mitleid mit dem Jungen. Selbst aus dieser Entfernung konnte man sehen, dass er Feuer und Flamme für Vic war, die wie immer die hellroten Haare hinter den Ohren zu zwei fingerkurzen Zöpfen gebunden  und sich für den Clubbesuch nicht umgezogen hatte. Sie trug seit dem Morgen das rot-schwarz gestreifte T-Shirt, die schwarzen Röhrenjeans und graue Chucks. Er versuchte sich zu erinnern, ob sie sich schminkte. Aber so genau schaute er sie eigentlich nie an.
Rogers lautes „Oh, komm, geh mir nicht auf den Sack!“ lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihn. Die Beschimpfung richtete sich an ihren breit grinsenden Videoproduzenten Rudi, wenngleich für Außenstehende nicht so ganz klar wurde, womit er ihm auf den Sack ging.
Aus den Augenwinkeln nahm er plötzlich eine Bewegung neben sich wahr und etwas stieß mit einem leisen Klirren gegen die leere Bierflasche, die vor ihm auf dem Tisch stand und die er noch immer festhielt.
Er fuhr herum.
John stellte eine volle Bierflasche vor ihn hin. Mack war verschwunden.
„Hab gesehen, dein Bier ist leer“, sagte er.
Brian wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
„Stimmt“, sagte er nur.
Der Andere nickte und stützte die Unterarme auf den Stehtisch.
„Ich hoffe, das Konzert kommt zustande. Auch, wenn wir nicht zu dieser Kundgebung gehen.“
„Wird sich zeigen.“
„Ja, ich…“ John sah ihn an und sein Lächeln signalisierte Aufrichtigkeit. „Ich fände es nämlich `ne gute Sache, auf dem Konzert etwas zu sagen. Also du. Ich fände es toll, wenn du dort etwas über den Freiheitskampf sagen würdest. Du kannst so was.“
Es war Johns Art zu sagen, dass er es nicht mochte, wenn etwas zwischen ihnen stand. Brian konnte nicht anders, er musste lächeln.
„Ist schon klar. Weil sie mich dann verdreschen und nicht euch!“
„Klar. Warum sonst?“
Sie stießen ihre Bierflaschen zusammen und nahmen beide einen tiefen Schluck. Er schmeckte ungleich besser als die davor.
„Deaky, Brian! Schwingt eure Ärsche hierher!“ Die heisere, angeheiterte Stimme Rogers übertönte Musik und Stimmengewirr. „Diesen ganzen Weibern hier bin ich alleine nicht gewachsen!“
„Hättest zur Vorspeise wohl doch die Austern nehmen sollen“, grinste Brian, als sie bei ihrem Bandkollegen und den ebenfalls nicht mehr ganz nüchternen Frauen angekommen waren. Eine von ihnen sah ihn mit einem Blick an, den sie wohl für verführerisch hielt, auf ihn wirkte sie dadurch eher ein wenig unterbelichtet. Mit starkem bayrischen Einschlag hauchte sie:
„Ich frage mich, ob du in allem, was du tust, so virtuos bist…“
Roger spuckte fast seinen Wodka zurück in das Glas, aus dem er gerade trank, und auch John begann zu prusten.
Er selbst indes erwiderte todernst:
„Oh ja, selbstverständlich. Also, bei den meisten Sachen schon! Gut, beim Spülen vielleicht nicht. Rog, was meinst du? Spüle ich virtuos?“
„Das nicht“, stieg der begeistert ein, „aber du kochst ganz virtuos Kaffee!“
„Genau, der Kaffee! Und mein Tee ist auch virtuos!“
Die Frau, die erwartungsgemäß nicht begriffen hatte, dass sie hochgenommen wurde, lachte albern und brachte ein paar Teesorten ins Spiel.
„Ich muss aufs Klo“, beeilte Brian sich zu sagen.
„Ich auch!“, echote sie prompt.
„Halt, nicht so schnell, hiergeblieben!“ John ließ sich neben sie auf die lederne Sitzecke fallen und legte den Arm um sie. Darin, sich gegenseitig vor nervigen Groupies zu bewahren, waren sie ein eingespieltes Team.
„Ich muss auch pinkeln“, beschloss Roger, stolperte über mehrere Fußpaare, als er seinen Platz verließ, und hängte sich an Brian.
Als sie Freddies Tisch passierten, hörten sie Vics Stimme, die dem Leadsänger und dem Manager gerade mitteilte:
„Ich würde dann jetzt gehen.“
Wie automatisch sah Brian auf die Uhr. Mitternacht. Ende ihrer Arbeitszeit.
„Wie, du willst jetzt gehen?“ Roger packte sie, hinter ihr stehend, an den Schultern, und hüpfte ein paarmal auf und ab. „Jetzt fängt der Spaß doch erst richtig an!“
„Nicht für mich“, sagte sie. „Ich bin müde. Wir sehen uns morgen.“
Jim nickte.
„Ich denke, elf Uhr reicht. Sei um elf im Studio.“
„Okay, danke.“
„Ach komm schon, Darling, sei nicht langweilig. Bleib doch noch ein bisschen!“, schmollte Freddie in kindlicher Manier.
„Nein, ich…“
„Ha!“, rief Roger, als habe er die Erleuchtung. „Wahrscheinlich hat sie Angst, dass  einer der Schwulen hier sie für einen Jungen hält!“ Er erntete das Gelächter der Umstehenden und –sitzenden. Brian hielt den Atem an, obwohl er – automatisch oder wegen der drei Bier, die er mittlerweile intus hatte – auch grinsen musste. Die Anspielung auf ihre zarte Gestalt und den wenig femininen Kleidungsstil war seiner Meinung nach schon grenzwertig und unter der Gürtellinie. Eine derartige Bemerkung konnte man nicht jedem vor dem Latz knallen, und gerade bei einem so zurückhaltenden, stillen Charakter…
Vic bedachte Roger mit einem abfälligen, fast mitleidigen Blick:
„Dürfte dir ja noch nie passiert sein.“
„Woah!“ Freddie war begeistert angesichts so viel Schlagfertigkeit, während es Roger für einen Moment wirklich die Sprache verschlug und Vic nun die Lacher auf ihrer Seite hatte. „Queen Victoria, du bist ein verdammtes Teufelsweib!“
Roger konnte es immer noch nicht glauben.
„Das Rattenschwänzchen muckt auf!“
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