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Life Is Strange - Have You Seen the Light?

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Übernatürlich / P18 / Mix
Chloe Price Kate Marsh Mark Jefferson Maxine "Max" Caulfield Rachel Amber Victoria Chase
05.06.2022
29.03.2023
42
286.463
4
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05.06.2022 3.885
 
Kapitel 1 – Kein Trost der Welt

Raymond Wells
Tillamook, Oregon
Freitag, 20. Dezember 2013, 14:38 Uhr

Irgendwie passte all das hier in fast schon zynischer Weise zusammen. Es war neblig, trüb und jetzt setzte sogar noch Regen ein, kurz bevor ich mein Fahrtziel erreichte. Ja, trübe Tage waren es wahrhaftig – oder sollte ich eher Wochen sagen? Wahrscheinlich schon, denn im Augenblick deutete nichts auf eine baldige Besserung hin.
Es war daher schon fast eine Erleichterung, dass heute der letzte Schultag in diesem Jahr war und ich die Schüler um exakt 12 Uhr mittags in die verdienten Weihnachtsferien entlassen konnte. Normalerweise war dies alljährlich ein Ereignis, zu dem sich große Begeisterung und Vorfreude auf dem Campus breitmachten... doch nicht dieses Jahr.
Seit zwölf Jahren war ich jetzt bereits der Direktor der renommierten Blackwell Academy in Arcadia Bay und noch nie war die Lage so schwermütig – noch nie hatte ich derart das Gefühl, dass dieser Lebensabschnitt für mich ein baldiges ungewolltes Ende finden könnte. Immer wieder gab es all die Jahre über Probleme mit der Finanzierung, mit einigen widerspenstigen Schülern oder... ja, auch persönliche Probleme meinerseits spielten dann und wann eine Rolle - dies zu leugnen lag mir fern.
Doch dieses Mal war anders. Es war... aussichtslos, mochte man fast sagen. Keine große geschwollene Ansprache meinerseits zum Ferienbeginn gab es dieses Jahr und die allermeisten Schüler verließen ausdruckslos und phlegmatisch den Unterricht. Konnte man es ihnen verübeln nach allem, was passiert war? Wohl kaum...

Gleich nachdem der Schultag vorüber war hatte ich mich auf einen Besuchstermin vorbereitet, den ich gerne schon vor Wochen abgehalten hätte, doch die schwierige Lage in meiner Schule mit immer wieder neu aufkeimenden Problemen - die alle zweifelsohne aus dem ursprünglichen und wahrhaft bedauerlichen Vorfall resultierten - verhinderten dies. Umso passender war es, dass ich nun ebenjenen jungen Mann zu besuchen gedachte, welcher einen wesentlichen Teil dazu beitrug, dass wir alle an der Fakultät uns in dieser Zwickmühle befanden. Letzten Endes war er es, der den Stein ins Rollen brachte durch das törichte Missgeschick, welches sich Anfang Oktober innerhalb unserer Mauern ereignete.... pah, Missgeschick! Dies war eine infame Untertreibung, denn immerhin kam eine junge Frau ums Leben – erschossen auf der Mädchentoilette.
Kopfschüttelnd und doch begierig, dem jungen Mann, der diese Tat verrichtete, nach über zwei Monaten wieder gegenüberzutreten, fuhr ich schließlich auf den Parkplatz vor, welcher zur Jugendstrafanstalt des Tillamook County gehörte. Hier war jener junge Mann gerade in Untersuchungshaft, erhielt dort aber meines Wissens nach – zumindest seines Vaters Ausführungen zufolge – psychologische Hilfe, die er auch bitter benötigte.
So stieg ich nun aus meinem Auto aus und eilte zum Vordereingang der Anstalt, denn der frostige Regen prasselte nun immer stärker werdend nieder und ich hatte dummerweise meinen Schirm im Büro zurückgelassen. Aber wenn dies heute mein größtes Dilemma sein würde, so konnte ich mich wohl so glücklich schätzen wie schon lange nicht mehr.

Vor der Eingangstür angekommen ergriff ich dem dort postierten Wachmann gegenüber sofort das Wort, um meine Anwesenheit zu erläutern.
„Guten Tag, Officer. Mein Name ist Raymond Wells und ich habe mir einen Termin bei Ihnen eintragen lassen. Ich möchte gerne Mr. Nathan Prescott während seiner Besuchszeit sprechen.“
Der Wachmann, ein Polizist mittleren Ranges, aber schon in einem halbwegs gesetzten Alter, nickte mir zu.
„Sehr wohl, Mr. Wells. Folgen Sie mir bitte.“
Freundlich nickte ich dem Herren zu und folgte ihm ins Innere der Anstalt. Dort schritten wir beide zum Empfangsschalter vor und der Officer sprach zu der Dame, die anhand des Schulterabzeichens wohl ebenfalls einen der mittleren Dienstgrade bekleidete, allerdings noch deutlich jünger war als er:
„Mr. Wells ist hier, um Nathan Prescott zu sehen. Er sagte, er habe einen Termin.“
Die junge Polizistin nickte ihm darauf zu.
„Danke, Jerry. Ich übernehme ab hier“, antwortete sie, worauf sich der Wachmann wieder zum Eingang zurück begab und die Dame sogleich den vor sich liegenden Terminplan überblickte. Dann nickte sie und wandte sich direkt an mich.
„Mr. Wells, um 15 Uhr haben Sie sich eintragen lassen, um Mr. Prescott zu sehen, korrekt?“
Wortlos, aber mit einem aufmerksamen Blick, nickte ich ihr zu, worauf sie fortfuhr:
„Gut, dann folgen Sie mir bitte in den Besucherraum. Dort können Sie sich einen der freien Plätze aussuchen.“

So folgte ich dem Officer nun den Flur entlang und hinter der dritten Tür links befand sich schließlich auch der Besucherraum. Er erinnerte frappierend an jene, die man aus diversen Krimiserien und -filmen kannte: Eine Reihe an Pulten mit Trennwänden zu jeder Seite und eine Panzerglasscheibe in der Mitte, sodass der Inhaftierte auf der gegenüberliegenden Seite keine Angriffe oder dergleichen auf die Besucher verrichten konnte. Ein plumpes Klischee, wenn man so wollte, aber es diente der Sicherheit der Besucher, weswegen diese Vorrichtung nicht von ungefähr kam. Unser ehemaliger Sicherheitschef hätte sich wohl nur allzu gerne auch für unsere Schule dieser Idee bedient, dachte ich leicht wehmütig.
Ich nahm derweil an einem der Pulte Platz und dann wandte sich die junge Polizistin erneut an mich.
„Mr. Prescott wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Möchten Sie in der Zwischenzeit ein Getränk? Kaffee oder vielleicht nur Wasser?“
Schnell nickte ich ihr knapp lächelnd zu.
„Einen Kaffee gerne. Ohne Milch und ohne Zucker. Das wäre sehr freundlich.“
Umgehend begab sich die Dame zur Kaffeemaschine an der Rückwand des Raumes und nur zwei Minuten später wurde mir das Heißgetränk serviert. Ich konnte nicht leugnen, dass ich einen starken Kaffee jetzt gut vertragen konnte.
„Vielen Dank!“, entgegnete ich der Dame, welche ihrerseits nun sprach:
„Ich lasse Sie nun alleine.“

Nachdem die Polizistin den Raum verließ und ich einen Schluck Kaffee zu mir nahm – welcher mir außerordentlich gut tat – musste ich nur noch auf Mr. Prescott warten. Es dauerte vielleicht noch sieben oder acht Minuten, ehe er schlussendlich in Begleitung eines weiteren Polizisten hinter der Panzerglasscheibe den Raum betrat. Dieser Polizist hatte definitiv einen etwas höheren Rang inne und war anhand der kurzen dunkelgrauen Locken schon ein wenig älter, zudem recht untersetzt und er zeigte einen müden Gesichtsausdruck vor.
Mr. Prescott selbst sah sehr blass aus - fast schon fahl - und sein Gang war auch auffallend zögerlich und wackelig. Ihm schien die Zeit hier wohl ordentlich ans Gemüt zu schlagen - dies und sein unzweifelhaft schlechtes Gewissen wegen seiner Missetat.
Wenige Sekunden später setzte sich Mr. Prescott auf die andere Seite des Pultes und legte seine Hände auf den Tisch, welche mit Handschellen gefesselt waren. Er brachte jedoch zunächst kein Wort hervor, sodass ich das Gespräch eröffnete.
„Verzeihen Sie, dass ich Sie erst jetzt besuchen komme, Mr. Prescott. Ihr Vater legte mir nahe, dass ich es schon weit früher tun sollte, doch die momentane Lage an der Schule macht das Terminieren solcher Besuche alles andere als einfach.“
Mr. Prescott blickte nur stur vor sich auf seine gefesselten Hände und traute sich wohl kaum, mir ins Gesicht zu blicken. Er schien wahrlich gebeutelt zu sein von alledem und dies würde seinen wahren Gemütszustand gewiss nicht mal annähernd zutreffend umschreiben. So war ich mir auch sicher, dass die Neuigkeiten, von denen ich ihm berichten wollte, dies kaum ändern würden - eher im Gegenteil. Doch Ehrlichkeit war ein Gut, welches ich stets in Ehren hielt, selbst wenn die Wahrheit schmerzen konnte.
Um ihm die Unsicherheit ein wenig zu nehmen sprach ich nach einer kurzen Pause:
„Sie brauchen in meiner Gegenwart nicht nervös zu sein. Ich bin nicht hier, um Sie für ihre Taten zu schelten, sondern um Sie über die Geschehnisse in Arcadia Bay und an der Blackwell Academy auf dem Laufenden zu halten. Sie sind doch sicher daran interessiert, was in den vergangenen zwei Monaten geschehen ist, oder?“

Endlich hob Mr. Prescott seinen Kopf an und seine Mundwinkel zuckten leicht.
„Diese Unwissenheit macht mich ganz krank. Ich habe gleich zwei Leben auf dem Gewissen, selbst wenn... wenn... ich wollte das alles nicht! Es war Mr. Jefferson, der mich dazu anstiftete.“
Pragmatisch, aber dennoch verständnisvoll, nickte ich ihm zu.
„An Mark Jeffersons Taten tragen Sie zwar eine Mitschuld, aber er hat Sie als seinen Handlanger benutzt, um diese durchführen zu können. Alle Beweise, die inzwischen sichergestellt wurden, weisen ihn ganz klar als den Initiator aus. Deswegen wurde er auch noch vor seiner juristischen Verurteilung in das Hochsicherheitsgefängnis in Hillsboro überführt. Sie hingegen befinden sich lediglich in einer Vollzugsanstalt mit psychologischer Betreuung, wie Sean, Ihr Vater, mich wissen ließ.“

Mr. Prescott nickte langsam, ohne dabei seinen Gesichtsausdruck zu ändern.
„Es hilft mir... ein wenig dabei, mich bei Besinnung zu halten, aber... ich werde diese Bilder nie aus dem Kopf kriegen. Rachel... Chloe... sie sind beide tot! Und all die anderen Mädchen, deren Leben Mr. Jefferson zerstört hat... wie konnte ich nur so dumm sein, all dies mitzumachen? Wie...“
Seine Stimme zitterte bei seinen letzten Worten und ich war mir mangels eigener Erfahrung unsicher, wie ich ihm am besten darauf entgegnen sollte. Immer wieder hatten Schüler bei uns seelische Sorgen gehabt, doch ein schwerer Fall von Psychose, wie er bei Nathan Prescott vorlag, war auch für mich eine Nummer zu groß. So bemühte ich mich fürs Erste um Beschwichtigung in der Hoffnung, dass ihm dies helfen würde.
„Sehen Sie, Mr. Prescott, diese Unwissenheit, von der sie gerade sprachen, möchte ich Ihnen mit meinem Besuch gerne nehmen. Und ferner möchte ich Ihnen versichern, dass ich bereit bin, im bevorstehenden Verfahren gegen Sie und Mark Jefferson eine Aussage zu tätigen. Seien Sie versichert, dass ich zumindest Sie betreffend meine Aussage derart gestalten werde, dass Sie mit einer möglichst milden Strafe davonkommen dürften.“
Abermals blickte mich Mr. Prescott an und kurz sah ich ein wenig Hoffnung in seinen Augen, doch schien er noch immer unsicher zu sein - was nicht überraschte.
„Lassen Sie mich Ihnen derweil von den Ereignissen berichten, die seit Ihrer Inhaftierung vonstatten gingen, damit Sie nicht länger im Dunkeln stehen“, ergänzte ich entschlossen.

Aufgrund seines Status als Inhaftierter war der Informationsfluss, der ihn von außen erreichte, natürlich sehr stark eingeschränkt, weswegen meine folgenden Berichte gewiss allesamt Neuigkeiten für ihn wären. Viele dieser Berichte würde ich unter herkömmlichen Umständen streng vertraulich behandeln, doch die momentanen Sachlage als „herkömmlich“ zu betiteln würde fast schon an Hohn grenzen.
Zudem hat Sean Prescott in einem kürzlichen Telefonat darauf bestanden, dass ich gegenüber seinem Sohn keinerlei Details auslassen solle.
Mr. Prescott lehnte sich nun leicht nach vorne, um meine Stimme so gut es ging durch die winzigen Öffnungen der Glasscheibe vernehmen zu können. Er war offenbar sehr erpicht darauf, meiner Erzählung zu lauschen und so setzte ich an:
„Nachdem Sie im Anschluss an den bedauerlichen Zwischenfall zunächst auf die Polizeiwache von Arcadia Bay überführt wurden, waren natürlich alle Fakultätsmitglieder und Schüler sehr aufgewühlt, denn in meiner Amtszeit - und soweit ich weiß auch in jener all meiner Vorgänger - hatte es noch nie einen Todesfall durch eine Schusswaffe innerhalb unseres Schulgebäudes gegeben. Es war daher schwierig, den Unterricht in seinen normalen Bahnen weiterlaufen zu lassen, zumal der Stundenplan aufgrund der Verhaftung von Mr. Jefferson – woran Sie durch Ihr Geständnis einen großen Anteil trugen – nur schwer aufrecht zu erhalten war. Viele Projekte und Veranstaltungen wurden abgesagt, selbst die Teilnahme unserer Schule am 'Everyday Heroes'-Wettbewerb zogen wir kurzfristig zurück... alles andere wäre auch mit Verlaub eine Farce gewesen.“
Kurz hielt ich inne und sah, wie Mr. Prescott aufmerksam zuhörte und immer mal wieder leicht nickte, aber keinen Kommentar verlauten ließ. So fuhr ich mit meinen Berichten ungehindert fort.
„Durch Ihre Verhaftung hat auch der althergebrachte Vortex-Club an Ansehen gelitten und alle Feierlichkeiten inklusive der Halloweenparty am 31. Oktober wurden ersatzlos gestrichen. Dies hat einige Mitglieder des Clubs dazu bewogen, inoffizielle Partys zu veranstalten oder zu besuchen, die weitaus weniger reguliert waren als jene auf unserem Schulgelände. Miss Victoria Chase wurde dies hierbei zum Verhängnis, denn am Abend des 30. Oktobers hatte sie mit einer handvoll Mitschülern einer solchen inoffiziellen Feierlichkeit in der Innenstadt von Portland beigewohnt, wo sie sich bedauerlicherweise eine Überdosis einer chemischen Droge verabreichte – ob versehentlich oder vorsätzlich ist noch ungeklärt.“

Nach dieser Preisgebung versteinerte sich Mr. Prescotts Gesicht und er lehnte sich wie in Zeitlupe in seinen Stuhl zurück.
„Victoria... nein... nicht Victoria! Oh Gott, sie... sie muss am Boden zerstört gewesen sein, dass ich nicht mehr bei ihr war und... scheiße...“
Mr. Prescott sank förmlich in seinen Stuhl ein und ich konnte sehen, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Es schmerzte auch mich, ihm dies mitzuteilen, doch da ich wusste, dass ihn und Miss Chase eine enge Freundschaft verband, wäre es nicht rechtens, ihm dies vorzuenthalten.
„Zum Glück hatte Miss Chase überlebt, doch befand sie sich über eine Woche lang stationär im Krankenhaus und wurde dann, als weiterer Missbrauch von Rauschgift bei ihr aufgedeckt wurde, in eine Entzugsklinik in Beaverton eingewiesen. Da ich kein enges Familienmitglied von Miss Chase bin habe ich leider keine Kenntnisse über ihr jetziges Befinden.“

Mr. Prescott beruhigte dies jedoch nicht im Geringsten und er wirkte nun gänzlich niedergeschlagen. Natürlich wollte ich ihm eine kurze Auszeit gewähren, um sich wieder zu fangen, während ich geduldig meine Hände auf dem Pult faltete. Etwa eine Minute des Schweigens verging, ehe Mr. Prescott wieder leise das Wort ergriff.
„Was ist mit Kate? Ich meine, sie war auch eines von Jeffersons Opfern und ich habe schamlos mitgespielt... sie abgefüllt und unter Drogen gesetzt und... in die 'Dunkelkammer' geführt... wie verkraftet sie all dies?“
Mir war natürlich bewusst, dass die Frage nach Miss Marsh aufkommen könnte, sodass ich einmal laut aufseufzte und mir meine nun folgenden Worte genau überlegte.
„Miss Marsh... hat eine umfassende psychologische Betreuung erhalten, aber sie schien zumindest nach außen hin im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren stabil zu sein... leider trifft dies nicht auf alle Ihre ehemaligen Mitschüler zu, Mr. Prescott.“
Er riss nun die Augen ein wenig weiter auf und blickte mich fragend an.
„Wie meinen Sie das? Von wem reden Sie da?“
Es war schwierig für mich, über dieses Thema zu sprechen, aber es musste sein, denn auch ich musste für mich Frieden schließen können mit der kürzlichen Vergangenheit. Darüber zu sprechen half mir dabei ein gutes Stück.
„Sie kennen Miss Maxine Caulfield, oder? Sie befand sich ebenfalls auf den Toiletten, als Sie den tödlichen Schuss abgaben.“
Mr. Prescott zögerte kurz, begann dann jedoch hastig zu nicken.
„Ja, ich erinner mich an sie... flüchtig, wir... hatten nicht viel miteinander zu tun...“

Seufzend, aber dennoch in aller Sachlichkeit, führte ich darauf meine Ausführungen fort.
„Miss Caulfields Aussage nach war das Opfer, Chloe Price, einst ihre beste Freundin, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und Sie können sich vorstellen, dass es niemanden kalt lässt, wenn die beste Freundin vor den eigenen Augen zu Tode kommt, gleich welche Ursache dies haben mag. In den Wochen, welche dem Unglücksfall folgten, hatte Miss Caulfield immerzu mit Problemen im Unterricht zu kämpfen, mehr als jeder andere Schüler. Sie... sie wirkte ganz und gar abwesend und die Versuche, das Gespräch mit ihr zu suchen, resultierten stets in nur knappen Äußerungen, ohne dass sie jemanden wirklich an sich heranließ. Ich hatte es versucht, andere Lehrkräfte ebenso und selbst ihre Mitschüler konnten sie nicht dazu bewegen, sich zu öffnen – jene, mit denen sie sich besonders gut verstand, eingeschlossen. All dies gipfelte schließlich in einem Vorfall zu Beginn der Mittagspause am 12. November. Miss Caulfield stand an ihrem Spind und erlitt wie aus heiterem Himmel einen kompletten Nervenzusammenbruch, lag sich krümmend am Boden und weinte heftig. Ich selbst kam zu spät am Schauplatz an um einzugreifen, doch als einer ihrer Mitschüler, Mr. Warren Graham, an sie herantrat um sie zu beruhigen, griff sie reflexartig in ihren offenen Spind und warf ihm gedankenlos ein schweres Lehrbuch an den Kopf, welches ihn am rechten Auge traf und ernsthaft verwundete.“
Ich hörte, wie Mr. Prescott nun laut ausatmete und seine Stirn in seine Hände legte, wobei er seine Ellenbogen auf dem Pult stützte.
„Scheiße... das ist alles so abgefuckt... was hab ich nur angerichtet...“, flüsterte er gerade noch laut genug, als dass ich es wahrnehmen konnte, vor sich hin.
Gerne würde ich Mr. Prescott beschwichtigen, doch ganz logisch betrachtet hatte er damit keinesfalls Unrecht, denn all dies resultierte letztlich aus seinem unbedachten tödlichen Angriff auf Miss Price... von den vorausgehenden Ereignissen Miss Amber und weitere Schülerinnen betreffend, für die sich Mark Jefferson in noch viel größerem Umfang zu verantworten hatte, ganz zu schweigen.

„Mr. Graham befand sich vier Wochen im Krankenhaus, wobei er zweimal am Auge operiert werden musste. Er wird voraussichtlich keine schweren bleibenden körperlichen Schäden davontragen, aber die psychischen Narben verjähren nicht so schnell und das gilt für alle Beteiligten. Miss Caulfield selbst machte sich unmittelbar nach dem Zwischenfall schwere Vorwürfe und beteuerte unter Tränen im anschließenden Gespräch mit mir, dass sie Mr. Graham niemals verletzen wollte und es ihr schrecklich leidtäte. Ich glaubte ihr, doch gemäß dem Schulprotokoll blieb mir gleichwohl keine andere Wahl, als sie für den tätlichen Angriff auf einen Mitschüler mit Verletzungsfolge, auch wenn dieser im Affekt ihres Zusammenbruchs geschah, auf unbestimmte Zeit zu suspendieren. Sie zog daraus noch am selben Tag nach einem Telefonat mit ihren Eltern die Konsequenzen und ließ sich zum 18. November aus der Blackwell Academy exmatrikulieren, um wieder nach Seattle zu ihrer Familie zu ziehen. Das Ganze umschrieb sie mit den kargen, aber durchaus zutreffenden Worten 'Jetzt hält mich nichts mehr hier.' Vielleicht tätigte Miss Caulfield damit wahrlich den richtigen Entschluss, um für sich Seelenfrieden zu finden.“

Gesenkten Hauptes schüttelte Mr. Prescott hierauf den Kopf und sprach zögerlich:
„All diese Leben... das wäre alles nicht passiert, wenn ich mich niemals mit Jefferson zusammengetan hätte. Ich war so dumm... so leichtgläubig... ich wurde nur ausgenutzt und habe dadurch so viele Leben zerstört...“
Ich wusste, dass kein Trost der Welt ihn versöhnlich stimmen konnte, doch blieb ich ruhig und ließ Mr. Prescott einen kurzen Moment der Verarbeitung, ehe ich weitersprach.
„Nur eine Woche später hat Mr. David Madsen, der Ihnen wohlbekannte Sicherheitschef unserer Akademie, seinen Posten gekündigt. Miss Price war seine Stieftochter und die vielen gewaltsamen Ereignisse der vorangegangenen Wochen erinnerten ihn zu sehr an seine militärische Vergangenheit. Sie müssen wissen, dass Mr. Madsen ein Veteran des Irakkriegs von 2003 ist und dieser hat ihn seinerzeit schwer mitgenommen. Kein zweites Mal wollte er, wie er mir gegenüber beteuerte, solche Verluste und Tode durchleben, doch Blackwell glich diesen Herbst wahrlich mehr einem trostlosen Kriegsschauplatz als einer Bildungseinrichtung. Wie es Mr. Madsen und seiner Frau nun ergeht ist mir unbekannt, aber er sprach bei seinem Abschiedsgespräch mit mir davon, aus Arcadia Bay wegziehen zu wollen – weit weg, vielleicht in den Süden nach Kalifornien oder Arizona... ich hoffe, auch er wird all dies verarbeiten können.“
Es herrschte erneut ein kurzer Moment des Schweigens, in welchem ich Mr. Prescott die Möglichkeit bot, sich zu dem gerade Erzählten zu äußern. Als jedoch keine Worte folgten setzte ich dazu an, die verbliebenen Ereignisse zu schildern.

„Durch diese Vorkommnisse zusätzlich seelisch gezeichnet hatte just letzte Woche auch Miss Kate Marsh ihre Exmatrikulation zum zweiten Halbjahr dieses Schuljahres eingereicht, um wieder zu ihrer Familie an die Ostküste zu ziehen. Insgesamt hatten seit Mitte Oktober bereits elf Schüler - davon fünf aus dem Abschlussjahrgang - entweder die Schule verlassen oder den Antrag hierzu offiziell eingereicht. Unsere Flure werden mit jedem neuen Tag leerer und gepaart mit den finanziellen Engpässen, die wir erleiden, sieht es um die Zukunft der Blackwell Academy düster aus. Ihr Vater, Sean Prescott, hat aufgrund der gerichtlichen Verfahren, die ihm im Zusammenspiel mit den Straftaten von Mark Jefferson bevorstehen, sämtliche finanziellen Mittel für unsere Schule zum neuen Jahr eingestellt. Und ohne seine Finanzspritzen wird es, sofern sich kein neuer Investor findet, nur noch wenige Monate dauern, ehe die Blackwell Academy nach mehr als einhundert Jahren ihre Pforten schließen muss... ich bin ganz ehrlich, wenn ich Ihnen sage, dass ich wenig Hoffnung hege, dies abwenden zu können.“

Mr. Prescotts Blick verharrte auf dem Tisch und nur sehr zaghaft brachte er mit schwacher Stimme eine abschließende Bemerkung hervor.
„Tut mir leid... alles tut mir so leid... ich wollte, ich könnte das alles rückgängig machen, einfach alles!“
Auch wenn er dies gerade nicht sehen konnte, so nickte ich ihm dennoch zu und ließ ihm noch ein wenig Zuspruch zukommen.
„Niemand kann die Vergangenheit ändern, Mr. Prescott, aber es liegt an uns, das Beste aus der Gegenwart zu machen, um die Zukunft für uns angenehmer zu gestalten, gleich wie schwer dies uns erscheinen mag. Ich möchte in dem Zusammenhang auch noch einmal kundtun, dass ich Ihnen jedwede Unterstützung bei dem gerichtlichen Strafverfahren im nächsten Jahr zuteil werden lasse. Diesbezüglich werde ich mit Ihrem Vater sicher noch eine Reihe an Gesprächen führen, ehe die Verfahren beginnen. Auch wenn Sie selbst das Gespräch mit mir suchen sollten, zögern Sie nicht und lassen es mich wissen. Mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun.“
Da ich nun alles gesagt hatte, was ich Mr. Prescott mitteilen wollte, erhob ich mich langsam von meinem Stuhl. Dies sorgte auch dafür, dass der junge Mann mir gegenüber den Kopf nochmals anhob und mich teils fragend, teils verunsichert anschaute. Diesen Blick erwiderte ich fest und wollte mich dann auch in aller Form von Mr. Prescott verabschieden.
„Ich wünsche Ihnen derweil alles erdenklich Gute, auf dass Ihnen das Gefühl, nicht länger unwissend zu sein, ein wenig Hoffnung beschert. Wir sehen uns ganz bestimmt in Kürze wieder.“

Ich war nun im Begriff mich umzuwenden, als Mr. Prescott noch einmal das Wort ergriff und mit doch wieder fester Stimme sprach:
„Direktor Wells... ich werde dafür sorgen, dass Mark Jefferson für das, was er getan hat, bezahlt! Wenn dies das Einzige ist, wodurch ich mich wieder reinwaschen kann, dann werde ich das tun.“
Es erfreute mich zu hören, dass Mr. Prescott doch noch einen Sinn in alledem sah und vielleicht hatte mein Besuch ihn ja ein bisschen dazu motiviert, genau diese Sichtweise anzunehmen.
Mit einem knappen Lächeln antwortete ich daher:
„Mr. Presc-- Nathan... ich bin sicher, dass Ihnen das gelingen wird, wenn Sie sich weiterhin so kooperativ mit der Justiz zeigen. Alles Gute!“

So wandte ich mich nun von dem jungen Mann, dessen Leben er sich so wohl nie erhofft hatte, ab und trat aus dem Besucherraum heraus. Vorne beim Empfangsschalter angekommen sprach ich noch einmal kurz mit der Polizistin, welche mich vorhin in den Raum begleitet hatte.
„Mein Gespräch mit Mr. Prescott ist beendet. Ich bedanke mich für alles und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und... natürlich ein frohes Weihnachtsfest.“
Die junge Dame lächelte kurz als Antwort.
„Das wünsche ich Ihnen auch, Mr. Wells. Und grüßen Sie Officer Berry von mir, wenn Sie ihn in Arcadia Bay antreffen.“
Darauf nickte ich ihr knapp zu.
„Werde ich. Einen schönen Tag noch.“
Nun war es für mich aber an der Zeit, zumindest für die nächsten Tage all diese Pflichten und Probleme vorübergehend zur Seite zu schieben und ungeachtet der zahlreichen Schwierigkeiten, in denen unsere Schule und auch ich selbst steckten, endlich mal wieder einen freien Kopf zu bekommen. Die folgenden Wochen würden ohnehin wieder stressig genug werden, daran bestand nicht der geringste Zweifel.
Seufzend trat ich daher aus dem Gebäude in das kalte neblige Dezemberwetter hinaus, um endlich wieder nach Hause zu fahren. Es hatte zwar inzwischen aufgehört zu regnen, aber in etwa einer Stunde würde die Abenddämmerung einsetzen und vor dem Einbruch der Dunkelheit würde ich meine Heimfahrt gerne hinter mich bringen. Dunkle Tage standen uns allen ohnehin bevor...
Und wer weiß, ob ich in einem Jahr überhaupt noch hier in Arcadia Bay sein werde.
Die Stimme tief in meinem Inneren sprach mir zu, dass dies sehr zweifelhaft aussähe.
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