Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Die Hörner von Abas

von Thrash4K
Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P18 / Gen
Engel & Dämonen
01.06.2022
20.03.2023
35
149.322
1
Alle Kapitel
2 Reviews
Dieses Kapitel
noch keine Reviews
 
07.02.2023 4.488
 
Der Waffenmeister erinnerte sich an die vor Schmerz und Angst verzerrten Gesichter der beiden Schwestern, als wäre es erst gestern passiert.

Aber noch bevor er ihnen begegnete, fristete er ein Leben als Söldner, dessen leerer Magen neben seinem Handbeil sein treuester Begleiter war.
Da die Aufträge in seiner Heimatregion in der Regel den Alteingesessenen zufielen, beschloss er fortzuziehen, um Erfahrung und vor allem Geld zu sammeln. Da kam es ihm gerade recht, dass er nach vielen Tagesmärschen einer Gruppe von Männern begegnete, die augenscheinlich Plünderer waren. Ihre zerfetzten Felljacken, die verfilzten Haare und die schiefen Zähne schrien förmlich: Wir morden, um zu überleben. Der Verdacht erhärtete sich, als sie ihn ohne Vorwarnung angriffen. Ihr Fehler. Die Säcke voll mit Goldmünzen und Proviant wären ihnen sicher gewesen, wenn sie nicht den hungrigen Dain angegriffen hätten.

Dem Ersten warf er schwere Metallnadeln in die Augen, den Zweiten traf er am Kopf mit einem Fläschchen Säure, welches ihm das Augenlicht nahm. Der Dritte lernte, dass Dain ein verborgenes Messer im Ärmel seines lockeren Hemdes hatte, welches sich in seinen Hals bohrte.
Die anderen beiden waren durch die markerschütternden Schreie ihrer Gefährten abgelenkt und noch bevor sie ihre Waffen ziehen konnten, schlug er ihnen mit dem Beil bereits die Kehlköpfe ein. Um Hilfe konnten sie nun nicht mehr rufen und ihre Beute fiel auf den sandigen Feldweg.
Allen, die noch lebten, schlug er mit der Axt in den Nacken, sodass sie es nicht mehr taten und sammelte seine besudelten Wurfgegenstände wieder ein, die er flüchtig mit einem dreckigen Tuch abwischte.
Mit zwei lockeren Griffen reichten seine Hände nach den Beutesäcken, die er sich mit einer Ruhe über die Schultern warf, als wurde er nie angegriffen.
„Gar nicht schlecht für die erste Ausbeute!“, rief er voller Selbstzufriedenheit und setzte seinen Weg in Richtung einer für ihn noch unbekannten Welt fort.

Hinter einigen Bäumen sah er eine Rauchsäule aufsteigen und erhoffte sich gegen Bezahlung eine warme Mahlzeit. Doch die blieb aus. Die Tür zu dem mit Stroh bedeckten Bauernhaus war noch geöffnet. Ein Bauer lag blutüberströmt am Boden und seine Frau entkleidet und zitternd in einer Ecke in einer Blutlache.
Die von Dain erlegten Banditen hatten wohl hier ihre Opfer gefunden. Nur das Ausmaß der Beute stimmte nicht mit dem sozialen Stand der Bauern überein. Vielleicht gab es in der Nähe ja einen Adligen, dessen Gunst er sich sichern konnte, falls dieser noch lebte, so dachte Dain.
Da die Frau nicht ansprechbar war und vermutlich an ihrem Schock und inneren Blutungen starb, ließ er sie zurück und sah sich draußen weiter um, woraufhin er drei weitere Rauchsäulen erspähte.

Nur in einem der Bauernhäuser fand er keine Leichen und wunderte sich, denn auf den Feldern war niemand zu sehen. Da hörte er im Haus leises Kratzen unter sich.
„Ihr könnt rauskommen. Die Räuber habe ich getötet.“
Sie ließen sich Zeit und beobachteten ihn vermutlich durch die Dielen. Dann ging in einer Ecke des Raumes langsam eine Klappe auf. Ein Bauer, seine Frau und zwei kleine Söhne stiegen heraus.
„Clever, das mit dem versteckten Keller. Selbst ich habe ihn nicht gefunden.“
„Was wollt ihr, Herr? Die Banditen haben uns bereits alles genommen“, sprach der hagere Mann und stellte sich schützend vor seine Familie.
„Ich bin Söldner. Vor mir müsst ihr keine Angst haben. Ich habe auf dem Weg hierher einige Räuber getötet. Haben sich hier in der Nähe noch mehr verschanzt? Ich erlege sie euch. Gegen Bezahlung versteht sich. Ein paar einfache Mahlzeiten sind auch in Ordnung. Durch euren Fürsten wurde ich ja bereits ungewollt bezahlt.“
Er hielt den schwereren Beutel wie eine Trophäe vor sich und warf den mit den Lebensmitteln der Familie vor die Füße.
„Kocht mir was. Dann sehen wir weiter.“

Der Mann und die Frau blieben misstrauisch und behielten ihn im Auge, während er am Tisch saß und wartete. Nur die Kinder liefen um ihn herum und fragten ihn Löcher in den Bauch, wo er herkam und ob er denn stark sei.
Wenige Zeit später saßen sie bei heißer Gemüsesuppe gemeinsam um den eisernen Topf in der Mitte des Tisches.

„Wisst ihr, wie viele Angreifer es waren?“, fragte Dain so hastig, dass er sich fast an einem Möhrenstück verschluckte, das er in seiner Eile nicht zerkaut hatte. Bauern waren zwar nicht unbedingt bekannt für piekfeine Tischmanieren, doch fragte sich das Paar wahrscheinlich in diesem Moment, ob sie einen Wilden bei sich zu Hause hatten.
„Wir haben Schreie gehört und sind dann sofort in den Keller geflüchtet.“
„Gut reagiert. Sonst wärt ihr jetzt auch tot.“
Das Paar war sich sicher, dass das ein typischer Söldnerspruch sein musste, denn Mitgefühl drückte er dadurch nicht aus.
„Wir haben Schritte über uns gehört und sie haben uns gesucht, aber nicht gefunden. Vielleicht waren sie ja beim Fürsten, wenn sie so viel Geld bei sich hatten.“
„Ist euch euer Fürst denn wohlgesonnen?“
„Er ist ein überaus gütiger Herr.“
Ein Hauch von Zweifel ließ sich in den Falten auf Dains Stirn ablesen.
„In welcher Richtung liegt denn sein Heim? Sofern es denn noch steht.“
„Ihr folgt einfach dem Weg, den ihr gekommen seid. Sobald ihr die Pappelallee erreicht habt, seid ihr fast da, denn an ihrem Ende steht das Herrenhaus. Ihr könnt es nicht übersehen.“
Da Dain damit alle notwendigen Informationen gesammelt hatte, schlang er für den Rest seines Aufenthalts so viel Suppe hinunter wie nur eben möglich.

Mit einfachen Worten verabschiedete er sich von der Familie, die nun vermutlich wieder dazu überging ihr Feld zu bewirten, während die Angst vor einem weiteren Überfall blieb. Denn etwas erschien Dain seltsam: Wo waren all die Wachleute, wenn der Fürst doch angeblich so fürsorglich war?

Die Felder vor und an der besagten Allee trugen zwar Gemüse und Getreide, wirkten aber so verlassen, als hatten die Räuber tatsächlich alle getötet.
Im Wechsel aus Schatten und verdecktem Sonnenlicht schritt Dain den Weg zwischen den Pappeln entlang und war bereit für jede Art des Überfalls. Aber nichts geschah.
Dann endlich, als er das Herrenhaus erkennen konnte, sah er wieder Menschen. Vor dem Haus standen zwei Männer mit Felljacken, die viel zu zwielichtig für den wunderschönen Vorgarten aussahen. Hinter einem Gebüsch versteckte er sich, um die beiden zu beobachten.
Als plötzlich zwei weitere Männer mit dem verwesenden Leichnam einer gut gekleideten Frau heraustraten, gab es keine Zweifel mehr über den Verbleib des Fürsten und seiner Familie.
Dain kramte in der Weste, die er über seinem Hemd trug und zog einen sandfarbenen Quader mit einer Lunte heraus.
Er wartete bis die Männer zusammen vor den Haustüren standen, zündete die Lunte an und warf den Quader gegen die Tür, sodass die Männer erschraken und ihnen die Zeit genommen wurde, in Sicherheit zu hechten.

Mit einem lauten Knall riss sie die Explosion in Stücke und öffnete gleichermaßen die Tür zum Anwesen.

Dain blieb hinter dem Gebüsch auf der Lauer und zog erneut die Metallnadeln. Zwei weitere Männer, an deren Kleidung er ablesen konnte, dass sie zu den Räubern gehörten, sahen sich das Ausmaß der Zerstörung an, bis sie sich in Bewegung setzten, um die Umgebung zu durchsuchen.
Einer lief um Dains Gebüsch herum. Er hielt zwar eine klobige Keule über dem Kopf, um jederzeit zuschlagen zu können, rechnete aber nicht damit, dass aus dem Gebüsch Nadeln in seine Augen schießen würden.
Den Nadeln folgte die Axt, die die Kehle des Räubers zerschmetterte.
Der andere hörte die Geräusche und eilte herbei. Er fokussierte sich allerdings so stark auf den Körper am Boden, dass er nicht bemerkte, wie Dain um das Gebüsch herumschlich und ihm seine Axt in den Nacken schlug.

Er wartete weitere Momente, doch aus dem Gebäude kam niemand mehr. Aber vielleicht warteten sie auch im Inneren auf ihn.
Da er auch durch die Fenster keine Bewegungen erkennen konnte, schlich er durch das Loch in der Wand hinein. Tatsächlich war dort niemand. Nur der faulige Gestank der Verwesung, der nicht in ein Herrenhaus gehörte. Niemals konnte die Frau, die die Räuber zuvor herausgetragen hatten, allein einen derart stechenden und durchdringenden Geruch produzieren, dass selbst Dains Eingeweide rumorten.
Er griff sich einige Metallkugeln aus seiner Weste und hielt seine Axt bereit. Kleine Stimmen schreiender Kinder erregten seine Aufmerksamkeit. Er folgte ihnen durch die leeren Flure des Anwesens und hörte zusätzlich eine männliche Stimme, die viel zu aggressiv für einen edelmütigen Fürsten war.
Da entdeckte er die Treppe in den Keller. Unten sah er am Ende des Flures einen Mann, dessen Gesicht niederträchtig und wütend aussah.
Dain rannte los, warf dem Mann die Metallkugeln ins Gesicht und schlug ihn dann mit der Axt tot.

Was er in der Zelle entdeckte, verschlug sogar ihm die Sprache. Drei Mädchen unterschiedlichen Alters, aber offensichtlich verwandt, da ihr aller Haar, glatt, schwarz und seidig gepflegt war, hatten ihrem Ende ins Auge gesehen, eine war ihm begegnet.
Die Art und Weise wie das größte Mädchen zugerichtet war, entbehrte aller Vernunft. Selbst für Plünderer und Meuchler wäre das Vorgehen ihr Leben zu nehmen, abscheulich.
Die anderen Mädchen sahen geschunden aus, da ihre Kleidchen nur noch Fetzen waren und sie überall an ihren Körper Wunden und Prellungen von dem harten Boden und vermutlich Schlägen hatten.
So wie sie dort saßen wie verletzte Welpen, erinnerten sie Dain an seine Kindheit, denn er musste ebenfalls ohne Eltern erwachsen werden, noch lange bevor er zu seiner jetzigen, kräftigen Gestalt gelangte.
Sie versuchten wegzulaufen, aber er hielt sie fest und als sie merkten, dass er ihre Wunden behandelte, blieben sie. Die Heilsalbe wirkte zwar nur oberflächlich, doch darunter bewirkte sie auch, dass die Mädchen, dessen Psyche im freien Fall war, aufgefangen wurden, bevor sie in diesem finsteren Loch zugrunde gingen.
Er vermittelte ihnen mit wenigen Worten, dass er sie gerettet hatte. Umso mehr überraschte es ihn als das ältere der beiden Mädchen sich aus seiner Pflege löste, sich vor ihm aufbaute und drei Worte mit einer Vehemenz von sich gab, die Dain mehr überrollte, als es je ein Angreifer mit seinen Waffen getan hatte: „Mach. Mich. Stark.“

Nachdem ihn die Wärme ihren lodernden Augen bis in die Fingerspitzen durchströmt hatte, ließ ein Schauer seine Nackenhaare zu Berge stehen. Er war unfähig, dem kleinen Mädchen zu antworten. Sie hatte ihn mit ihrer ungewöhnlich tiefen Stimme im Moment der Unachtsamkeit erwischt, da er davon ausging, die beiden Mädchen würden ihm weinend in die Arme fallen. So war es immer, wenn er entführte Frauen rettete. Selbst Männer waren durch die Misshandlungen oft seelisch gebrochen. Auch das kleine Mädchen in seinen Armen verklammerte sich in seinem Hemd, als wollte sie nie wieder loslassen.
Einen Moment lang konnte er sich nicht bewegen, schluckte die Starre hinunter und sprach dann mit einer Stimme, die so schwach war, dass er sie nicht für die seine hielt: „Ich … kann es versuchen.“
Der Effekt ihrer Worte verblasste zusehends, sodass Dain wieder zu Sinnen kam. Niemals hatte er in einem kleineren Wesen so viel Macht gespürt, aber er vermutete ihren Ursprung in dem Mord an dem Mädchen, das vermutlich ihre Schwester war.
Die Vereinbarung galt.

Avida, Belea und Dain beerdigten am Tag darauf Cassandra. Einen Sarg konnten sie nicht finden, also suchte Dain die edelsten Tücher, weiß und weich mit Goldrand, zusammen, wusch ihren Körper mit warmem Wasser, was nach Rosen duftete und wischte den Schmutz von ihr, sanft, mit karmesinroten Tüchern. Er versuchte ihren aufgeschnittenen Oberkörper so normal wie möglich aussehen zu lassen, damit die beiden Schwestern Cassandra nicht als entstellte Gestalt in Erinnerung behielten, sondern so, als wäre sie friedlich eingeschlafen.
Er breitete die weißen Tücher auf einer golden schimmernden Matratze aus, bettete sie darauf, wickelte die Tücher um sie, sodass nur noch Gesicht, Hals und Haare herausschauten und steckte die Feder eines Adlers, von denen er immer mehrere bei sich führte, in die Tuchfalte über ihrem Herzen. Auf dass ihr Geist nun ewig frei sein mochte.

Die beiden Schwestern bekamen von der Fürsorge für ihre Schwester nichts mit, da sie noch in ihren Betten lagen. Belea hatte die ganze Nacht über geschrien und geweint, sodass sie erst vor dem Sonnenaufgang in ihrem zerrupften Bett einschlief. Avida hingegen lag wach. In ihr tobte eine Wut, die aus der Sucht nach Vergeltung und dem Wissen bestand, dass diese Sucht niemals erfüllt werden konnte. Sie hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Cassandras Aufgabe fortzuführen, wie hoch auch der Preis sein mochte.
Als das Gras neben dem Vorgarten noch taunass war, hob Dain bereits mit einer rostigen Eisenschaufel das Grab aus. Es war nicht perfekt rechteckig, aber weit genug und etwas über einen Meter tief.
Als er Avida und Belea zu sich holte, damit sie sich verabschieden konnten, erstarrten sie beim Anblick der engelsgleich hergerichteten älteren Schwester, zu der sie immer aufgesehen hatten.
Beleas gerötete Augen hörten gar nicht mehr auf, Tränen zu produzieren und Avida stand nur stumm neben ihr ohne eine Miene zu verziehen. Doch wie tief auch immer der Schmerz in ihr sitzen mochte, so wollte er dennoch hinaus, wie die Tränen, die über ihr emotionsloses Gesicht liefen.
Sie wünschten sich nichts mehr, als dass sie einfach aufwachte und sie umarmte, festhielt und nie wieder losließ.

Dain umfasste Cassandra vorsichtig, hob sie an und trug sie dann in Gefolgschaft der anderen beiden Schwestern nach draußen zum Grab, wo er ebenso sanft ablegte, wie er sie getragen hatte. Er erkannte selbst nicht, dass er versuchte, den beiden Mädchen die Zuneigung zukommen zu lassen, die er nie hatte. Aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er diesen Ort und die Schwestern nicht verlassen konnte, obwohl der Tod allgegenwärtig war und die Zerstörung sichtbar.
„Die Natur nimmt sie zu sich“, waren seine einzigen Worte an Avida und Belea, bevor er das Loch mit Erde füllte, damit Cassandra ihre ewige Ruhe finden konnte.
Er fragte sie, ob sie das Grab mit den weißen Kieseln aus dem Vorgarten einrahmen wollten und sie schienen diesen Vorschlag auch anzunehmen, denn Belea rannte sofort los, während sie sich das Gemisch aus Tränen und Rotz aus dem Gesicht wischte. Auch Avida rannte los, aber in eine andere Richtung.
Die kleinere Schwester kehrte mit Kieseln zurück, die sie in ihrem hochgeschlagenen Rockteil transportierte und dekorierte die Grabstelle, da es das Einzige war, was sie jetzt noch für Cassandra tun konnte. Avida kehrte ohne Kiesel oder sonstigen Schmuck zurück, denn sie hielt in beiden Händen Übungsschwerter, nahm Fahrt auf und rannte mit Gebrüll auf Dain zu, den der Angriff unvorbereitet traf. Im letzten Moment konnte er vor den Klingen zurückweichen, bevor sie sein Bein oder seinen Bauch treffen konnten.

„Hey! Stopp! Das ist jetzt nicht der richtige Moment dafür. Ich bringe dir später so viel bei, wie du aufnehmen kann, aber jetzt nicht!“
Avida ignorierte seine Worte und schlug wieder zu. Der Angriff war keine Gefahr für Dain, da das Element der Überraschung erloschen war, aber er wollte auch nicht ernsthaft gegen ein Kind kämpfen. Belea bekam von alldem nichts mit, da sie in ihrer eigenen Gedankenwelt unter einem schwarzen Schleier gefangen war.
Nach dem dritten Angriff von Avida, die keine Rücksicht, sondern die Zähne zeigte, war Dains Geduld aufgezehrt. Er zog das Handbeil von der Hüfte und schlug ihr die Schwerter aus den Händen. Jetzt stand sie schutzlos da und verlor die Kontrolle über ihre Emotionen.
Sie sackte auf die Knie. Ihr angerissenes Rüschenkleid saugte den Tau und die feuchte Erde auf. Mit ihren Fäusten hämmerte sie immer wieder auf den Rasen ein, dass Dreck und Tau hochspritzten. Ihre Gesichtszüge entgleisten mehr und mehr, bis sie laut und heftig heulte, ihre Finger in den Boden rammte, riss und zerrte, als wollte sie sich neben Cassandra selbst zur Ruhe betten. Jaulen und Zetern veränderten sich zu einem einzelnen, langgezogenen, durchdringenden Schrei, der Trommelfelle entzweireißen konnte.

In den nächsten Tagen lichtete sich der tiefdunkle, schwere Schleier über dem Herrenhaus nicht. Die Lage verschlimmerte sich sogar noch, da Belea aufhörte zu essen. Dain fand sich in dieser Situation unerfahren wieder, weshalb er die Bauern, die er auf dem Weg zum Herrenhaus getroffen hatte, um Hilfe bat.
Es zeigte sich, dass sie gutherzige Menschen waren, die sich bereiterklärten für einige Tage bei Avida und Belea zu verweilen und vor allem Mahlzeiten zuzubereiten. Dains Hoffnung war, dass ihre familiäre Art den Schwestern guttun könnte, aber sie schienen sich nicht um die Eltern zu scheren. Die Söhne hingegen hielten sie auf Trab, denn sie rannten herum und verursachten fremde Unordnung, die Avida und Belea in ihrem Heim nicht duldeten.
Während die Bauern alles daranlegten die Töchter ihres einstigen Fürsten auf den Weg der Besserung zu bringen, erkundete Dain weiterhin das Mysterium um den fauligen Gestank in den Korridoren und durchsuchte noch einmal den Keller.
Hinter einem Bücherregel, welches allein an einer Wand aus Steinen stand, fand er eine Tür, die zu einem versteckten Raum führte, wahrscheinlich ein Versteck für Wertgegenstände.
Sich selbst konnte man darin nicht verstecken, da sich die Tür von innen nicht öffnen ließ. Vielleicht war es auch ein Gefängnis.

Als Dain den Kerzenleuchter in den Raum hielt, stockte sogar ihm der Atem. Mehr als zehn nackte Männer lagen tot auf einem Haufen.
„Was hat das zu bedeuten?“
Die Worte verließen nur langsam seine Lippen, denn er vermutete, dass sie einem Ritual zum Opfer fielen, da sie verschrumpelt und blutleer waren. Vermutlich durch einen Aderlass.
Vor dem Haufen entdeckte er ein Buch, welches äußerlich von Blutflecken bedeckt war, im Inneren aber reinweiß glänzte. Dain nahm es mit und versperrte wieder den Keller, damit sich keine Ratten oder anderes Ungeziefer an dem Aas laben konnten.
Obwohl die Opfer, die ungewöhnliche Art eine der drei Schwestern zu töten und das Buch auf ein Ritual aus den finstersten Begehren eines Menschen hinwiesen, fehlte eine entscheidende Zutat: Die Ritualstätte. Der Keller gab keinen Aufschluss und weder der Vorgarten noch das Herrenhaus oder seine Zimmer boten Anhaltpunkte. Selbst der Mann mit den Beulen an der Hand hatte nichts bei sich, was auf das Ritual verwies. Ob die Beulen selbst ein Teil des Rituals waren, blieb ein Geheimnis.

Die Leichen mussten zwar entsorgt werden, doch Dains Neugierde galt dem Buch. Inmitten des Horrors wirkte es geradezu heilig, so unbefleckt wie sein Inneres war.
Er blätterte durch etliche, kurze Abschnitte und Kurzgeschichten, die scheinbar so etwas wie eine Weltordnung und Verhaltensregeln aufzeigten. Und egal, was der Mensch in ihnen auch tat, er wurde als potentiell böse bezeichnet und hatte nur einen Ausweg: Beten, beten und noch mehr beten.
„Was ist ein Gebet überhaupt?“, fragte Dain nicht nur sich, sondern auch die Bauern. Doch auch die wussten nichts davon, also las er weiter. Ihm wurde klar, dass es sich um eine Art Gedankenwidmung handeln musste, in der man fest an eine ganz bestimmte Person glaubte – und dankbar sollte man auch noch sein.
„Kann man so ein Gebet nicht auch an einen anderen Menschen richten? Das liest sich so, als hätte jemand seine Machtfantasien aufgeschrieben.“
Den Ritualteil verschwieg er den Bauern, da er wollte, dass sie blieben.
Er blätterte und las flüchtig weiter, bis er eine Seite fand, auf der die schwarzen Lettern von Bleistiftgekritzel umgeben war.

Der blinde Bauer

Typhlon verließ wie jeden Morgen seine Strohhütte, in der nur ein Bett aus Heu, ein paar Werkzeuge und ein Schemel standen. Er beschritt den gleichen Trampelpfad wie jeden Tag, kostete die natürliche Luft und blieb am Rande seines einzigen Feldes voller Gemüse stehen. Er beugte sich hinab, um die Erde zwischen seinen Fingern zu spüren, denn er war blind.
Jeden Tag tat er einen Teil seines Essens draußen vor seine Hütte in eine kleine Tonschale, die am nächsten Morgen leer war.
Eines Tages besuchte ihn ein benachbarter Händler und sah dies.
„Wieso werft ihr euer Essen weg, guter Herr?“
Typhlon antwortete nur: „Damit ich sehen kann.“
Der Händler war verärgert: „Ihr seid blind.“
„Und doch kann ich sehen.“
Der Händler war wütend: „Schwindelt mich nicht an.“
Typhlon lachte und sprach: „Vielleicht seid ihr es ja, der blind ist, und nicht ich?“
Der Händler war aufbrausend: „Ihr habt den Verstand verloren.“
„Vielleicht sieht das für euch so aus, aber seit ich dem Herrn Opfer darbringe, bin ich gesund. Der kalte Regen ist nicht mehr kalt, der harte Boden nicht mehr hart und eine magere Ernte immer noch ein Geschenk.“
„Ihr seid nichts als ein Blinder.“„Na, wenn ihr das sagt.“
Der Händler zog von dannen.

Die Neugierde hatte ihn gepackt, also ergriff er sofort kostbare Vasen und Kräuter und bot sie auf einem purpurnen Teppich vor seinem Haus dar.
In der Nacht aber entdeckten Gierige die Schätze und stahlen sie. Nur der Teppich blieb liegen. Der Händler wusste nicht recht, ob er sich besser als zuvor fühlte, denn er vermisste seinen Reichtum. Auch an den folgenden Tagen ließ er kostbare Waren vor seinem Haus liegen, bis nichts mehr übrig war. In der Nacht darauf brachen die Gierigen in sein Haus ein, da er keine Schätze rausgestellt hatte und stachen ihm zur Strafe die Augen aus.

Der Händler kroch mit seiner letzten Kraft den Weg zum Bauern zurück, um ihn bis an sein Lebensende zu verfluchen: „Ihr seid Schuld daran, dass ich im Sterben liege. Verflucht sollt ihr sein!“
„Seid ihr sicher?“, sprach Typhlon zuversichtlich, „Ich gebe dem Herrn einen Teil meiner Nahrung und zugleich einen Teil meines Lebens. Ich glaube. Ihr hingegen habt seelenlose Objekte von euch gegeben, die keinerlei Wert besitzen, weil ihr gierig wart. Ihr seid genauso schlimm wie die, die euch überfallen haben. Ihr glaubt nicht.
Dem Händler schwand die Kraft und er starb, blind und arm. Typhlon hingegen lebte ein langes, gesundes Leben voller Glauben, denn er sah mehr, als alle anderen Lebenden.

Dain klappte das Buch zu, denn er konnte die Krakeleien nicht entziffern und die übrigen Seiten enthielten keine Besonderheiten.
„Also muss der Mann mit der krankhaft aussehenden Hand versucht haben, Opfergaben durchzuführen, weil ihn die Angst vor dem Tod in die Irre geführt hat. Ich werde das den Mädchen vorerst nicht erzählen. Sie haben schon so viel erleiden müssen. In ihrer jetzigen Verfassung kommen sie vielleicht selbst noch auf solch absurde Ideen. Vor allem die Ältere scheint vor nichts mehr zurückzuschrecken.“
„Ich bin bereit!“, rief Avida von der Zimmertür aus, sodass sich Dain erschreckte, das Buch fallen ließ und fast vom Stuhl fiel. Er hoffte, dass sie seine ausgesprochenen Gedanken nicht gehört hatte.
„Bist du dir wirklich sicher? Ich werde dich so hart rannehmen, dass du dir die Zeit in der Zelle zurückwünschst.“
Obwohl es nicht so schien, wählte Dain seine Worte überlegt. Er wünschte sich für die Mädchen keine Zukunft in Kampf und Krieg. Das waren keine Orte für Frauen, das waren keine Orte für Menschen. Seine Worte mussten also so abschreckend wie möglich gewählt werden.
Aber bereits jetzt zeigte sich Avidas Potential als Kriegerin, da sie nicht einmal mit der Wimper zuckte, sondern eines ihrer beiden Schwerter auf Dain richtete: „Kämpf endlich. Bist du ein Söldner oder doch nur ein kleines Mädchen?!“
Er zog sein Handbeil. Es gab Grenzen. Und sie überschritt eine nach der anderen. Ein Überraschungsangriff. Eine Herausforderung zum Duell. Eine Beleidigung. Es war Zeit für eine Lektion.

Draußen schüttete es wie aus Kübeln. Der Rasen war matschig und glitschig. Avida stapfte entschlossen voraus. Ihr Wille war Befehl. Dann drehte sie sich um und stellte sich Dain, der nur darauf wartete, ihr ihre Grenzen aufzuzeigen.
Sie brüllte wie ein Löwe, der seinen rechtmäßigen Platz alleinig durch seine Ausstrahlung beanspruchte und so laut, dass selbst das Regenrauschen durchdrungen wurde. Sie meinte es ernst. Todernst. Stürmte stürmischer als der um sie herum tobende Sturm los, wirbelte mit den Schwertern und versuchte Dain zu treffen.
Er glitt nach links und rechts, wich aus und schlug immer mal wieder ihre Schwerter zur Seite, sodass sie fast umfiel. Sie konnte ihn nicht erreichen, aber irgendetwas stimmte ihn unruhig, denn sie hörte nicht auf.
Ihre Kleider waren durchtränkt und schwer. Dass sie die beiden Schwerter immer noch schwang war ein Wunder. Das musste jetzt schon den ganzen Nachmittag lang gehen und sie brüllte sich immer noch die Seele aus dem Leib. Ihre Füße mussten ebenfalls aufgeweicht und aufgescheuert sein. Schmerzen schien sie jedoch nicht zu spüren.
Sie rutschte aus und fiel. Sie stand auf. Sie wurde zu Boden geschmettert und prellte sich die Schulter. Sie stand auf. Wieder und wieder. Dain verspürte mittlerweile schon Unbehagen. Er hatte sie unzählige Male bezwungen, aber sie gab einfach nicht auf. Schwerwiegende Verletzungen wollte er ihr auch nicht zufügen. Da blieb ihm nur abzuwarten, bis schließlich ihre Muskeln nachgaben, was für seinen Geschmack schon viel zu lange dauerte. Was schlummerte nur für eine monströse Kraft in diesem kleinen Körper, fragte er sich.

Am Abend dann passierte es. Ihre Beine versagten und ihre Arme waren nicht mehr in Lage die Schwerter zu halten. Sie kippte. Aber sie fiel nicht. Sie fing sich mit dem rechten Bein ab und drückte sich wieder hoch.
„Ich. Gebe. Nicht. Auf!“
Der grenzenlose Hass auf ihre eigene Schwäche befeuerte den Zornesmotor ihrer Stärke nur noch mehr.
Allein mit ihrer Körperrotation schwang sie die Schwerter, als wäre sie betrunken. Ihre Füße entglitten ihr und sie klatschte auf das nasse Gras.
„Na endlich, ich dachte schon wir würden morgen noch hier stehen. Wir sollten uns abtrocknen und etwas essen.“
Avida wollte aber nicht hören. Sie wiederholte immer wieder wie verbissen die gleichen Worte.
„Steh auf! Schlag zu! Steh auf! Schlag zu!“
Sie konnte sich nur nicht mehr bewegen und wehren schon gar nicht. Daher packte Dain sie und trug sie nach drinnen, trocknete sie ab und setzte sie in eine geschwungene Holzbadewanne. Das warme Wasser benötigte einige Zeit, aber als er sie endlich damit übergoss, schien sich nicht nur die Verspannung in ihren Muskeln, sondern auch in ihrem Zorn zu lösen. Sie musste oft von ihren Eltern gebadet worden sein, denn sie saß dort wie versteinert. Ihr äußerer Kampf musste in ihr Inneres gewandert sein.

Überraschend war auch, dass sie beim Essen bereits wieder Messer und Gabel halten konnte, wenn auch zittrig. Sie schlang als wollte sie für einen ganzen Trupp essen, als ergriff sie jede Möglichkeit, um an Stärke zu gewinnen. Und wer viel aß, konnte an sehr viel Stärke gelangen.
Die folgenden Tage verliefen ähnlich. Avida kämpfte bis kurz vor der Ohnmacht und teilweise in sie hinein. Wenn wie aufwachte, wollte sie direkt weitermachen, sodass sich Dain fragte, ob sie ihm nicht eher Grenzen aufzeigte, die er noch nicht überwunden hatte.
Aber folgende Wörter brannten sich in sein Gedächtnis, da Avida sie jeden Tag schrie oder brüllte, wie eine Beschwörung an die eigenen Kräfte: „Steh auf! Schlag zu!“

Dain, jetzt Waffenmeister, hallten diese Wörter durch den Kopf. Wo auch immer sie Avida und Belea hingebracht hatten, sie würden kämpfen bis zur letzten Faser und bis zum letzten Tropfen Blut. Er legte die Erinnerungen in seinem Kopf beiseite und konzentrierte sich auf die Situation im Hier und Jetzt.
Die Schwestern brauchten ihn erneut. Er hatte zwar vor versammelter Mannschaft verkündet, dass ein Angriff auf die Gemeinschaft zu riskant sei, doch dieser Entschluss war ins Wanken gekommen und gefallen, als er ihre Vergangenheit noch einmal in Gedanken durchlebt hatte. Er und die Wache hatten einen schweren Schlag erlitten. Viele von ihnen waren gefallen. Innerlich oder durch das Schwert. Doch jetzt war seine Zeit gekommen aufzustehen und zuzuschlagen.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast