Die Hörner von Abas
von Thrash4K
Kurzbeschreibung
Nach einer durchzechten Nacht erwacht Isaac in einem schummrigen Gasthaus. Er leidet fortan unter Visionen, in denen sein Leben und das seiner Freunde in Gefahr ist. Schnell wird bekannt, dass er über dämonische Eigenschaften verfügt, was die einfachen Bürger, die in ständiger Angst vor der Finsternis leben, nicht akzeptieren. Vom Licht verstoßen, von der Menschheit gehasst und von der Dunkelheit verzehrt, beginnt seine Reise durch Licht und Schatten.
GeschichteAllgemein / P18 / Gen
Engel & Dämonen
01.06.2022
20.03.2023
35
149.322
1
Alle Kapitel
2 Reviews
2 Reviews
Dieses Kapitel
noch keine Reviews
noch keine Reviews
21.01.2023
4.029
„Vielleicht“, so dachte sich Isaac in seinem knarzenden Krankenbett, „gebe ich meinem Leben doch noch eine Chance.“
Er zog die Decke, die einen Hauch von Nelke verströmte, mit seinem verbundenen, rechten Arm beiseite.
„Ah, endlich frische Luft an meiner Haut. Wenn man die ganze Zeit nur im Bett verbringt, wird es einfach nur unerträglich warm.“
Wie eine Raupe zog er sich zusammen und richtete sich mithilfe seiner Bauchmuskeln auf.
„Und ungemütlich wird es irgendwann auch. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich noch hinlegen soll, ohne dass irgendetwas schmerzt.“
Steif beugte er seinen Körper in alle erdenklichen Richtungen.
„Was also soll ich tun? Eine Zukunft, in der ich als Stadtwache auf Evan und Lilia aufpasse, kann ich wohl vergessen. Obwohl. Da fällt mir etwas ein. Was ist überhaupt mit ihnen passiert? Der Stadtrat hatte ja seinen Plan erklärt, aber irgendwie kann ich noch nicht glauben, dass irgendetwas daran funktioniert. Außer meiner Rettung vielleicht. Die ist fürs erste vorbei.“
Isaac ließ sich zurück auf die weiche Matratze fallen.
„Was Belea wohl gerade macht? Sicherlich macht sie irgendjemanden fertig, der in Ungnade gefallen ist. Irgendwie vermisse ich das ja. Die Zeit dort war zwar nur kurz, aber auch verdammt intensiv. Wenn ich so zurückdenke, dann war es vielleicht sogar am besten so, wie es gelaufen ist. Das Horn hätte sicherlich irgendwann jemand bemerkt und es scheint ja auch irgendwie größer zu werden.“
Isaac tastete sich mit den Fingerspitzen, die aus dem Verband lugten, an die Stelle heran, an dem das Horn aus seinem Kopf wuchs.
„Genau wie ich erwartet habe. Ohne meine Aufgabe als Wache wäre das mit dem Auge zwar nie passiert, aber früher oder später hätten sie es ja doch herausgefunden. Vielleicht wäre ich ohne die einfache Ausbildung im Kampf schon tot.“
Isaac wühlte in seinem Bett, richtete sich dann doch wieder auf, um seinen Blick über seine Beine schweifen zu lassen.
„Wenn ich wenigstens noch beide Füße hätte, dann könnte ich besser beurteilen, ob ich tatsächlich wieder wachse. Irgendwie fühle ich mich in letzter Zeit so … lang. Jedenfalls kann ich mir immer noch nicht vorstellen wirklich ein Dämon zu sein, obwohl Aeons Fanatiker da anderer Meinung sind. Die Dämonen, die ich bisher getroffen habe, waren bis auf eine Ausnahme nur groteske Missgestalten aus Schatten und Fleisch, mit Fähigkeiten die sonst nur in Albträumen vorkommen. Ich dagegen kann gar nichts. Abgesehen von meiner neuen, impulsiven Ader, ist doch nichts anders an mir. Da sind die Fähigkeiten, die durch die Gebete an Aeon ausgelöst werden, wesentlich seltsamer. Vielleicht unterscheiden sie sich ja gar nicht so sehr von den dämonischen Fähigkeiten. Dass der Kutscher-Dämon mich nicht als einen der ihren sieht, kommt ja auch noch dazu. Aber ihn für meine Unschuld einstehen zu lassen, ist unmöglich.“
Isaac setzte sich auf die Bettkante und berührte mit seinem nackten Fuß den kalten Holzboden.
„Macht es überhaupt noch einen Unterschied, ob ich jetzt auch noch krank werde?“
Mit einem unvorsichtigen Ruck, der seinen gesamten Körper ächzen ließ, richtete er sich auf. Das Erlebnis, wieder zu stehen, war mäßig erheiternd, da er schwankte. Doch dann durchdrang ihn etwas vollkommen Unerwartetes.
Flötenklang, fein und vergnügt, tänzelte hüpfend durch den Raum, tippte bei jedem Ton seine Ohren an.
Isaac sah sich um, aber außer den weißen Laken, die die Schlafbereiche trennten, konnte er nichts erkennen. Die Melodie musste vom Obergeschoss her nach unten dringen. Nach den einstimmenden Tönen, schien nun die eigentliche Geschichte des Lieds zu folgen. Denn sie begann geheimnisvoll, aber immer noch verspielt, als erkundeten Kinder einen lichtdurchfluteten Wald, der auch bunte Sträucher und Blumen hütete. Jeder ihrer kleinen Schritte hatte einen eigenen Ton und trug die Begeisterung, die nur Kinderaugen bei der Schatzsuche innewohnte. Doch dann brach die Melodie aus sich selbst hervor. Die Töne wurden länger und die Übergänge verschwammen. Isaac stellte sich vor, dass sich der Wald zurückzog, um eine einzelne Lichtung tanzender Blumen zu offenbaren.
Was er jedoch nicht bemerkte, war, dass die Melodie all seine negativen Gefühle, den Hass und seine Angst forttrug, wie eine Wolke, die sanft vom Wind geleitet wurde.
„Wer mag wohl in der Lage sein, so vergnügt und voller Lebensfreude zu verspielen? Ich bin mir sicher, dass es nach einer Flöte klingt, aber sie muss sehr klein sein, so hoch wie sie klingt.“
Der Flötenklang verlangsamte sich, als wäre der Abend über den fröhlichen Wald hereingebrochen und verabschiedete sich mit ein paar kurzen, pfiffigen Tönen von den Zuhörern. Dann herrschte Stille.
Der Klang hatte ihn magisch angezogen, da er sich selbst nur noch ein heiteres Leben wünschte. Nun, wer tat das nicht? Aber Isaac hatte auch viel durchstehen müssen und zahlte mit Verstand, Geist und Fleisch.
„Vielleicht suche ich den Ursprung des Klangs und bedanke mich für das aufbauende Gefühl.“
Eher schlecht als recht navigierte er zwischen den Gängen aus Laken hindurch, erreichte die Tür und schritt hindurch, nur um drei weitere Türen zu finden. Die eine führte nach draußen, die andere in das Behandlungszimmer und dann gab es da noch eine weitere, die dank ihrer Farbe kaum von der beigen Wand zu unterscheiden war. Hinter ihr musste die Treppe zum Obergeschoss liegen, die zudem zu den privaten Räumen des Hauses führte.
Ohne über Konsequenzen nachzudenken öffnete Isaac die Tür und fand sich vor einer hohen Treppe wieder. Die Schmerzen beim Emporsteigen waren jetzt zweitrangig, denn die zauberhafte Melodie war erneut zu hören und beherrschte Isaacs Gedanken.
„Es wird lauter und klingt jetzt noch fröhlicher. Ob die Person wohl noch übt?“
Oben angekommen führten drei Türen in vermutlich unterschiedliche Zimmer. Der kleine quadratische Flur war jedoch kaum erhellt, da nur in Isaacs Rücken ein kleines Fenster Licht spendete.
Instinktiv griff er nach dem Türknauf, hinter dem das Geräusch am lautesten war.
In der Mitte des Zimmers wippte Gwen leichtfüßig von einem Bein zum anderen. Statt ihrer üblichen Kleidung trug sie nun ein dunkelbraun und weiß gestreiftes Kleid, welches locker mit ihren Schritten flog. Ihre Augen waren sanft verschlossen, da sie sich vollends auf die kleine, runde Flöte aus Ton an ihrem Mund konzentrierte.
Als Isaac eine der Dielen betrat und das Ächzen des Holzes in die Melodie eindrang, schreckte sie hoch.
„Was machst du hier?“
Isaac starrte sie an. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er dieses Zimmer nicht ungefragt betreten durfte. Da seine Antwort ausblieb, kam Gwen auf ihn zu, um ihn hinauszubefördern.
„Warte bitte. Ich wollte mich nur bedanken.“
„Bedanken?“, erwiderte sie, während sie ihren Druck auf Isaac verringerte.
„Ja, genau. Ich habe dein Flötenspiel gehört und konnte nicht anders, als dem Klang zu folgen.“
„Ja, ja, schon gut“, es schien ihr peinlich, da sie versuchte ihr Gesicht zu verbergen, „Ich übe noch. Und jetzt zurück ins Bett mit dir. Du bist noch lange nicht genesen.“
„Nein wirklich. Ich meine das ernst. Deine Melodie hat mich wirklich aufgebaut. Die letzten Tage waren so grauenhaft, dass sie mir wie ein schlimmer Albtraum immer in Gedanken bleiben. Aber durch die Musik fühle ich mich davon befreit.“
Da ihre Kraft schwand und damit auch der Wille, Isaac aus dem Zimmer hinauszubefördern, ließ sie ab und setzte sich auf ein graues Stoffsofa, welches bis auf alte Schränke, das einzige Möbel war. Einige Risse im Stoff zeigten, dass es alt war.
„Na gut. Du bist es mittlerweile vermutlich leid zu liegen. Ich erlaube dir, dich einen Moment zu mir zu setzen. Aber danach gehst du wieder zurück. Und in Zukunft keine unangekündigten Besuche mehr. Verstanden?“
„Jawohl“, antworte er wie ein Soldat. Oder Hund. Dann ließ er sich neben Gwen auf das Sofa nieder und versank darin, da es überaus weich war.
„Dieses kurze Stück, was du gehört hast, ist schon sehr alt. Ich habe es von meiner Großmutter gelernt, aber sie lebt leider nicht mehr. Ich denke zwar jedes Mal an sie, wenn ich es spiele, aber das ist nicht der eigentliche Grund.“
Isaac nickte nur, um seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren.
„Ich möchte gerne die Lebensfreude mit den Kranken und Verwundeten teilen, die sie damals mit mir geteilt hat und noch teilt. Wenn auch nicht direkt. Wenn man all diese armen Menschen sieht, dann möchte man ihnen doch etwas Gutes tun. Denkst du nicht auch so?“
Der Glanz in ihren blauen Augen richtete sich ebenso erwartungsvoll an Isaac wie ihre Worte und lösten in ihm ein Gefühl aus, was er lange nicht mehr so klar gespürt hatte, wie jetzt: Hoffnung.
Ihm wurde bewusst, dass andere Möglichkeiten existierten, als jemanden mit Waffengewalt zu beschützen: Eine Vielzahl von Wegen, die seine Gedanken bisher nicht erfasst hatten, da er sich immer nur nach der Situation gerichtet hatte.
„Vielleicht sollte ich mich auch der Musik widmen. Weder die Gebete an Aeon und die Stärkung auf dem Schlachtfeld, noch der Gedanke, andere zu töten, um Evan und Lilia zu beschützen, haben mir bisher ein so schönes Gefühl beschert. Was habe ich eigentlich die ganze Zeit über getrieben? Ich hätte mir mehr Gedanken machen müssen. Nein. Ich habe mir Gedanken gemacht. Ohne die Wache wäre ich jetzt nicht mehr. Vielleicht muss ich auch einfach nur nach vorne schauen. Andererseits hatte ich in meinem Leben noch nie ein Instrument in der Hand, um es zu spielen. Vermutlich wäre meine Musik anfangs nur belangloser Krach.“
„Isaac?“, fragte Gwen und legte ihre linke Hand auf seine Schulter, „hörst du mir überhaupt zu?“
„Oh, tut mir leid. Ich habe nur über deine Worte nachgedacht und stimme dir zu. Vor einiger Zeit wurden meine Freunde angegriffen und fast getötet. Das war zwar nicht die einzige Situation, aber ich habe mir geschworen, sie mit meinem Leben zu beschützen. Es ist zwar nicht dasselbe, aber ähnlich genug, dass ich dein Bestreben nachvollziehen kann.“
„Das klingt heroisch“, sie entfernte ihre Hand wieder von seiner Schulter, „aber pass bitte auf, dass du nicht noch mehr von deinem Körper verlierst. Du hast nur diesen einen.“
„Werde ich“, antwortete er oberflächlich, da sein Interesse bereits etwas anderem galt, „Bringst du es mir bei, dieses Flötenstück?“
Isaac erwartete, dass sie sich für eine Antwort Zeit nehmen würde, um abzuwägen, ihn als Schüler zu nehmen, doch die Antwort kam direkt: „Nein.“
Die Hoffnung, die in ihm aufstrahlte, dämpfte sich. Was konnte dafür sorgen, dass sie seinen Wunsch ohne mit der Wimper zu zucken niederstreckte?
„Ich würde es dir beibringen. Aber du benötigst dafür zwei Hände. Tut mir leid. Wenn du dich wirklich für Musik interessierst, musst du dir wohl ein anderes Instrument suchen.
„Dagegen kann ich wohl wirklich nichts ausrichten. Es liegt gar nicht an mir, sondern an meinem Körper.“
„Darf ich denn wenigstens den Namen des Lieds erfahren?“
„Hm. Das ist eine gute Frage. Meine Großmutter hat es immer nur als kleines Menuett bezeichnet. Man kann dazu sogar tanzen.“
Bevor Isaac nachhaken konnte, sprang Gwen vom Sofa auf.
„Jetzt musst du aber wieder zurück ins Bett. Je mehr du dich ausruhst, desto schneller heilen deine Verletzungen.“
Wie befohlen erhob sich Isaac und ließ sich von Gwen stützen.
„Ihr großen Kerle seid immer so schwer.“
„Was soll ich denn bitte daran ändern? Mir noch mehr abhacken?“
„Nimm das doch nicht so ernst. Ich dachte du hättest Humor.“
„Habe ich doch. Du hast meinen Witz ja nicht verstanden.“
Er zwinkerte ihr zu.
„Das ist mir zu makaber. Wir sind hier immerhin im Ärztehaus.“
„Heißt es eigentlich auch dann Ärztehaus, wenn es nur einen Arzt gibt?“
„Du stellst vielleicht Fragen.“
Den Rückweg absolvierten sie schmunzelnd, aber still.
Erst als sie ihn dem Bett zurückgab, äußerte sie noch ein paar erbauliche Worte an Isaac: „Du bist auf einem guten Weg, Isaac. Ich habe schon so viele Männer behandelt, die ihre Arme und Beine verloren hatten, aber noch viel mehr hatten sie ihren Willen zu leben verloren. Du dagegen bist anders. Lass dir das nicht nehmen.“
„Mein Auge hat sie nicht erwähnt. Was ihr Evan und Lilia wohl darüber verraten haben? Die Augenklappe scheint ja ihren Dienst zu tun, obwohl sie nicht sonderlich bequem sitzt.“
Isaac ließ sich zurück unter seine Bettdecke gleiten, die ihn in eine angenehme Kälte schloss, da sie durch seine Abwesenheit heruntergekühlt war.
„Warte bitte einen Moment.“
„Worauf soll ich warten?“, fragte er, da war Gwen schon fast hinter den Laken verschwunden.
„Du riechst. Ich hole Waschzeug. Auf dem Weg der Erholung sollst du uns ja nicht auch noch krank werden.“
Die Laken, hinter denen sie verschwunden war, wurden kurz darauf erneut zur Seite gezogen. Doch diesmal war es nicht Gwen, sondern Evan und Lilia.
Zum Gruß hob Evan lässig die Hand. Lilia hingegen stürmte hechtartig auf Isaac zu.
„Schau, schau, wir haben dir etwas mitgebracht.“
Aus einem hellen Stoffbeutel zog Lilia einen kleinen, bemützten Fischer aus Holz, der in seinen Händen eine Angelrute hielt, an der ein blauer Fisch hing. Das besondere an dem Fisch war, dass er genau eine schillernde Regenbogenschuppe hatte.
„Wir haben uns gedacht, dass es für dich hier ziemlich einsam sein muss, daher wollten wir dir eine Kleinigkeit schenken. Sieht er mit seinem sturen Gesicht nicht ein bisschen wie Evan aus?“
Isaac sah sich den Holzmann an und blickte dann zu Evan.
„Der Vergleich ist vielleicht etwas gewagt. Und bist du dir sicher, dass ich hier neben deinem Evan schlafen soll?“
„Wenn es dir nicht gefällt, nehme ich es halt wieder mit. Ob hölzerner oder echter Evan, ich schlafe mit-“
„Lilia!“, fuhr Evan dazwischen, „Was ist denn heute nur los mit dir? Du bist ja wie ausgewechselt.“
„Ist das denn so schlimm?“
Dann begann sie, nach etwas in den Taschen ihres Kleides zu suchen, wurde aber offenbar nicht fündig.
„Hast du den Anhänger gesehen, Evan? Ich hatte ihn doch vorhin noch in der Hand.“
„Wozu brauchst du ihn denn? Wir sind doch hier in Sicherheit.“
„Ach, nur so. Ich sollte auf ihn aufpassen, damit er nicht in die falschen Hände gerät.“
„Zu gegebener Zeit finden wir ihn sicherlich wieder. Ich möchte jetzt viel lieber von Isaac wissen, wie es ihm geht und ob ihm etwas fehlt.“
„Ne, mir geht’s gut“, erzählte er, spürte aber auch die Blicke seiner Freunde, die alles andere als überzeugt wirkten.
„Nein, wirklich. Vielleicht sieht man mir das nicht an, aber heute war ein guter Tag. Wenn jeder Tag so wäre wie heute, dann würde ich bald vielleicht nicht einmal mehr meinen Arm und meinen Fuß vermissen.“
Obwohl Isaac fast vergnügt mit den Stümpfen Kreise in die Luft zeichnete, wirkten Evan und Lilia immer noch nicht überzeugt und Lilia offenbarte dies zuerst: „Du kannst mit uns darüber reden, wenn es dir schlecht geht. Evan und ich sind doch für dich da.“
„Ja, das weiß ich doch“, Trotz lag in seiner Stimme, „Aber ich meinte das schon ernst.“
„Ist schon gut“, warf Evan ein, „bedränge ihn nicht zu sehr, Lilia. Aber ich würde schon gerne wissen, was dir Gutes widerfahren ist.“
Einen Moment lang überlegte Isaac, wie er den beiden wohl am besten von seinem neuen Lebensmut erzählen sollte.
„Ich hatte einen Sinneswandel. Die letzten Tage fühlten sich einfach nur noch wie eine Sackgasse an, aber jetzt haben sich neue Pfade aufgetan.“
Evan zog sein Gesicht zusammen.
„Die da wären?“
„Weiß ich noch nicht. Aber allein die Existenz neuer Möglichkeiten hat mir neuen Mut verliehen.“
Bis vor Kurzem wollte Evan Isaac noch auf die Bedrohung durch die Silberritter hinweisen, die anscheinend auch in dieser Stadt lauerten. Doch er konnte nicht. Die innere Barriere, die verhinderte, dass er den Moment des Glücks seines geschätzten Freundes zerstörte, war zu stark. Stattdessen wechselte er abrupt das Thema.
„Wirst du hier überhaupt satt?“
„Ja, schon“, antwortete Isaac irritiert von Evans Hakenschlag, „Gwen macht sehr viel Gemüse und vor allem Fisch. Ich kann mich da also glücklich schätzen. Vielleicht bleibe ich auch einfach hier.“
„Ach, Isaac. Du bist manchmal echt zu optimistisch.“
„Wer weiß. Vielleicht hält mich auch genau diese Einstellung bei Verstand.“
Auf diese Worte folgte nichts als Stille, denn sie alle wollten die Ereignisse vergessen, die sie letztendlich hierhergeführt hatte. Doch klammerten sich die Erinnerungen an ihnen fest und zogen sie bleischwer in die Tiefe.
Plötzlich spürte Evan etwas in seinem Rücken, sodass er zusammenzuckte.
„Die Besuchszeit ist vorbei.“
Hinter Evan tauchte Gwen auf, die einen Eimer dampfenden Wassers in ihrer linken Hand, ein paar Handtücher auf ihren Schultern und ein Stück Seife in ihrer rechten Hand trug.
„Aber ihr könnt morgen gerne wieder vorbeischauen.“
„In Ordnung“, antwortete Lilia, „und vielen Dank, dass du dich so gut um Isaac kümmerst.“
Die beiden verließen das Ärztehaus und kehrten in ihr Zimmer im Gasthaus zurück.
Unter dem Vorwand, noch etwas über das Frühstück fragen zu wollen, stahl sich Evan am frühen Abend zur Rezeption. Dort angekommen fragte er allerdings nicht nach dem Essen, sondern nach einem Boten, der seine Eltern und Mitarbeiter darüber informieren sollte, dass es ihm gut geht, er aber nicht so bald wiederkehren könne und einen Teil seines Geldes benötige. Evan war sich sicher, dass ihm seine Eltern so sehr vertrauten, dass sie seinen Wunsch nicht ignorieren würden. Um die Echtheit dieser Nachricht prüfen zu können, übergab Evan zusätzlich einen kleinen Lederbeutel ohne Inhalt, der aber eine Besonderheit hatte, die nur seine Eltern kannten, denn in das innere war sein Name eingestanzt.
Der nächste Tag startete für Evan und Lilia sonnig und angenehm frisch, doch das gleiche konnte die Stadtwache in Velbasil nicht von sich behaupten.
„Der Waffenmeister! Wo ist der Waffenmeister?“, rief eine der Wachen panisch, während sie zwischen den hohen Lagerregalen umherlief.
„Nicht so laut“, ertönte die Stimme des Waffenmeisters vom Fußboden aus, da er auf alten Kartoffelsäcken ruhte.
„Was ist so wichtig, dass du unser Versteck dafür riskierst?“
„Verzeihung!“, rief der Soldat und merkte selbst, dass er noch immer laut war, „Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich muss etwas Dringendes melden: Offizier Brock und ihre Schwester sind verschwunden.“
Die Augen des Waffenmeisters weiteten sich, da er ahnte, was sie wahrscheinlich vorhatten.
„Was bedeutet verschwunden? Sie verschwinden doch nicht einfach so. Wer hat Wachdienst?“
„Ich. Ich habe Wachdienst. Verschwunden war auch nicht ganz richtig. Sie sind gegangen.“
„Dann erzähl mir mal, warum du sie nicht aufgehalten hast.“
„Ich habe es ja versucht. Aber… Aber ich konnte ihnen nicht standhalten. Bei jedem Schritt den sie auf mich zugegangen sind, musste ich mir vorstellen, wie sie mich zerhacken, wenn ich nicht aus dem Weg gehe.“
„Und warum denkst du sollten sie das auch tun? Sie würden niemals einen von uns töten. Dass sie so eine Ausstrahlung haben, habe ich selbst auch schon erlebt. Irgendetwas muss vorgefallen sein. Also was ist passiert?“
Die Wache überlegte lang, da sie mit der Situation überfordert war.
„Ich habe vom Informanten erfahren, dass die Gemeinschaft die Waisenhäuser nach Gläubigen abgrast. Sie wollen wohl dafür sorgen, dass der Nachwuchs ihren Glauben annimmt.“
Die Worte der Wache reichten dem Waffenmeister aus, denn er wusste jetzt, was zu tun war. Und er wirkte nicht glücklich.
„Dann verstehe ich ihre Reaktion, aber das ändert nichts daran, dass sie waghalsig und unüberlegt ist.“
Der Waffenmeister sah sich um, als suchte er etwas.
„Ulf? Wo bist du?“
Hinter einer der unzähligen Lagerkisten schnellte Ulfs bärtiges Gesicht hervor, was zauseliger denn je aussah.
„Was gibt’s denn?“
„Avida und Belea sind auf eigene Faust losgezogen. Ich werde schauen, wie ich ihnen helfen kann, denn wenn wir alle durch die Stadt streifen, erregt das zu viel Aufmerksamkeit. Du hast das Kommando.“
Ulf richtete sich gänzlich auf und machte sich kerzengerade.
„Verstanden! Ich werde überlegt führen.“
„Und verratet euch nicht durch eure Lautstärke.“
Der Waffenmeister zog also los, bis an das Ende des Lagerhauses, vorbei an Kisten mit Handelswaren, die durch ihre aufgekommene Wertlosigkeit in Vergessenheit geraten waren. Eine Holztür führte in die Freiheit, doch bot sich kein idyllisches Bild, denn sie führte auf eine finstere Sackgasse im Stadtsüden.
Die Sonne blendete nicht, als er ins Freie trat, da die Gebäude ringsherum in die Höhe ragten und die warmen Strahlen schluckten.
Dain war zielstrebig, denn er wusste genau, wohin die beiden Schwestern unterwegs waren, da er sie, als sie noch klein waren, selbst dorthin gebracht hatte.
Der Waffenmeister war bekannt in der Stadt und sein klotziger Körper fiel auf, daher war sein Plan, sich unter einer Wanderkutte zu verstecken, riskant. Dass er überhaupt die Möglichkeit hatte sich zu verschleiern, verdankte er dem Informanten, da dieser die Mäntel vorbeigebracht hatte. Der Stoff war zwar rau, muffig und wirkte ärmlich, erfüllte aber seinen Zweck.
Der Weg zum Waisenhaus war glücklicherweise kurz, da es am nördlichen Rand des Armenviertels lag. Da die Bürger mit gesenkten Häuptern durch die einst lebendigen Straßen schlurften, erreichte Dain das dreistöckige Gebäude unerkannt.
Ohne Vorgarten stand es direkt an der Straße, seitlich eingeschlossen von weiteren Häusern, die zusammen eine Reihe bildeten.
Der Waffenmeister bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn es war ungewöhnlich still. Selbst aus dem Garten hinter dem Waisenhaus, in dem zu dieser Zeit die Kinder tobten, konnte man nichts vernehmen.
Als sich Dain der Eingangstür aus dunklem Holz näherte, die mit der Fassade farblich verschwamm, erkannte er, dass die Tür weder verschlossen noch gänzlich geschlossen war.
Mit kurzen Blicken vergewisserte er sich, dass niemand zusah oder ihn unmittelbar hören konnte. Falls Feinde im Inneren lauerten, konnten sie ihn am Eingang nur an bestimmten Positionen überraschen: Hinter der Tür und im Gang. Da es für Verhandlungen wahrscheinlich schon zu spät war trat er die Tür auf, dass es krachte. Wenn jetzt niemand reagierte, dann war das Heim tatsächlich verlassen oder auf ihn warteten tiefer im Gebäude professionelle Attentäter.
Von der der Hüfte her zog er ein Kurzschwert, das in seinen groben Händen wie ein Spielzeug wirkte und betrat das das Heim.
An die Dunkelheit des Korridors, der bis unter das Dach reichte, gewöhnten sich seine Augen schnell. Doch welches Zimmer sollte er zuerst untersuchen?
Zu seiner Linken befand sich hinter einer weiteren Tür die große Küche, angrenzend daran der Speisesaal, der von der Größe her irgendwo zwischen Saal und Zimmer lag.
Zu seiner Rechten befanden sich Arbeitszimmer und Schlafgemach der Heimmutter. Würde man den langen Flur weiterentlanglaufen, dann befanden sich die Arbeiterunterkünfte und Stauräume ebenfalls auf dieser Seite des Hauses.
Er konnte aber auch die Treppen in das erste und zweite Obergeschoss emporsteigen, die jeweils einen Rundgang um den hohen Korridor bildeten und nur mit einem einfachen Geländer abgesichert waren. Von dort aus führten zahlreiche Türen in die Waisenzimmer.
Als letzte Möglichkeit blieb der Garten, der sich hinter der Tür am Ende des Korridors befand.
Da seine Priorität zunächst daraus bestand Informationen zu sammeln, da er keine Anzeichen eines Kampfes vorfand, drückte er die Tür zu seiner Rechten auf. Denn vielleicht war das alles nur ein Missverständnis und die Heimmutter war dort anzutreffen.
Die Tür stieß Dain in der Geschwindigkeit auf, in der sie nicht knarzte, aber auch nicht gegen die Wand schlug.
Mit erhobenem Schwert trat er ein. Doch nur ein verlassener Schreibtisch mit unvollständig ausgefüllten Zetteln und volle Bücherregale empfingen ihn.
Er wendete und öffnete die gegenüberliegende Tür. Doch selbst die Küche war verlassen und kalt.
Nichts von alldem ergab Sinn. Hier gab es keinen Kampf und von Avida und Belea fehlte jede Spur.
In den übrigen Zimmern vermutete der Waffenmeister keine Menschen, also eilte er direkt in den Garten und wurde, nachdem er mit Bedacht die Tür öffnete, fündig. Aber er hatte sich ein anderes Bild vor seinen Augen erhofft, denn normalerweise glitzerte der Morgentau noch auf den bunt blühenden Blumen, doch jetzt waren sie überzogen mit Blut.
Körperteile in silbernen und blassgoldenen Rüstungsteilen lagen verstreut auf der Wiese und unter den niedrig gewachsenen Bäumen. Da der Garten von Mauern umgeben war, hatte das Gemetzel vermutlich kaum einer mitbekommen.
Unter all den Leichenteilen befand sich erneut kein Hinweis auf die Schwestern. Nicht ein Kind, nicht ein Bediensteter wurden getötet, aber die Ritter hatten einen Preis für ihr Vorhaben bezahlen müssen.
Für die Waffenmeister war Avidas Handschrift aus dem Blutbad mehr als deutlich herauszulesen, aber ihr Verbleib war ihm schleierhaft.
Doch je länger er überlegte, desto besser fügten sich die Teile und die Fetzen zusammen: Die offene Tür, das verlassene Heim, das Gemetzel im Garten und die Abwesenheit aller Beteiligten, die nicht tot waren.
Nach dem Kampf oder währenddessen musste die Gemeinschaft es irgendwie geschafft haben, Kinder als Geiseln zu nehmen, um Avida und Belea zu lähmen. Wahrscheinlich wurden sie danach mitgenommen, um sie im schlimmsten Fall zu foltern und Informationen zum Aufenthaltsort der Wachen aus ihnen herauszuquetschen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit erschauderte Dain.
Wiederholte sich gerade das Schicksal der Geschwister?
Er zog die Decke, die einen Hauch von Nelke verströmte, mit seinem verbundenen, rechten Arm beiseite.
„Ah, endlich frische Luft an meiner Haut. Wenn man die ganze Zeit nur im Bett verbringt, wird es einfach nur unerträglich warm.“
Wie eine Raupe zog er sich zusammen und richtete sich mithilfe seiner Bauchmuskeln auf.
„Und ungemütlich wird es irgendwann auch. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich noch hinlegen soll, ohne dass irgendetwas schmerzt.“
Steif beugte er seinen Körper in alle erdenklichen Richtungen.
„Was also soll ich tun? Eine Zukunft, in der ich als Stadtwache auf Evan und Lilia aufpasse, kann ich wohl vergessen. Obwohl. Da fällt mir etwas ein. Was ist überhaupt mit ihnen passiert? Der Stadtrat hatte ja seinen Plan erklärt, aber irgendwie kann ich noch nicht glauben, dass irgendetwas daran funktioniert. Außer meiner Rettung vielleicht. Die ist fürs erste vorbei.“
Isaac ließ sich zurück auf die weiche Matratze fallen.
„Was Belea wohl gerade macht? Sicherlich macht sie irgendjemanden fertig, der in Ungnade gefallen ist. Irgendwie vermisse ich das ja. Die Zeit dort war zwar nur kurz, aber auch verdammt intensiv. Wenn ich so zurückdenke, dann war es vielleicht sogar am besten so, wie es gelaufen ist. Das Horn hätte sicherlich irgendwann jemand bemerkt und es scheint ja auch irgendwie größer zu werden.“
Isaac tastete sich mit den Fingerspitzen, die aus dem Verband lugten, an die Stelle heran, an dem das Horn aus seinem Kopf wuchs.
„Genau wie ich erwartet habe. Ohne meine Aufgabe als Wache wäre das mit dem Auge zwar nie passiert, aber früher oder später hätten sie es ja doch herausgefunden. Vielleicht wäre ich ohne die einfache Ausbildung im Kampf schon tot.“
Isaac wühlte in seinem Bett, richtete sich dann doch wieder auf, um seinen Blick über seine Beine schweifen zu lassen.
„Wenn ich wenigstens noch beide Füße hätte, dann könnte ich besser beurteilen, ob ich tatsächlich wieder wachse. Irgendwie fühle ich mich in letzter Zeit so … lang. Jedenfalls kann ich mir immer noch nicht vorstellen wirklich ein Dämon zu sein, obwohl Aeons Fanatiker da anderer Meinung sind. Die Dämonen, die ich bisher getroffen habe, waren bis auf eine Ausnahme nur groteske Missgestalten aus Schatten und Fleisch, mit Fähigkeiten die sonst nur in Albträumen vorkommen. Ich dagegen kann gar nichts. Abgesehen von meiner neuen, impulsiven Ader, ist doch nichts anders an mir. Da sind die Fähigkeiten, die durch die Gebete an Aeon ausgelöst werden, wesentlich seltsamer. Vielleicht unterscheiden sie sich ja gar nicht so sehr von den dämonischen Fähigkeiten. Dass der Kutscher-Dämon mich nicht als einen der ihren sieht, kommt ja auch noch dazu. Aber ihn für meine Unschuld einstehen zu lassen, ist unmöglich.“
Isaac setzte sich auf die Bettkante und berührte mit seinem nackten Fuß den kalten Holzboden.
„Macht es überhaupt noch einen Unterschied, ob ich jetzt auch noch krank werde?“
Mit einem unvorsichtigen Ruck, der seinen gesamten Körper ächzen ließ, richtete er sich auf. Das Erlebnis, wieder zu stehen, war mäßig erheiternd, da er schwankte. Doch dann durchdrang ihn etwas vollkommen Unerwartetes.
Flötenklang, fein und vergnügt, tänzelte hüpfend durch den Raum, tippte bei jedem Ton seine Ohren an.
Isaac sah sich um, aber außer den weißen Laken, die die Schlafbereiche trennten, konnte er nichts erkennen. Die Melodie musste vom Obergeschoss her nach unten dringen. Nach den einstimmenden Tönen, schien nun die eigentliche Geschichte des Lieds zu folgen. Denn sie begann geheimnisvoll, aber immer noch verspielt, als erkundeten Kinder einen lichtdurchfluteten Wald, der auch bunte Sträucher und Blumen hütete. Jeder ihrer kleinen Schritte hatte einen eigenen Ton und trug die Begeisterung, die nur Kinderaugen bei der Schatzsuche innewohnte. Doch dann brach die Melodie aus sich selbst hervor. Die Töne wurden länger und die Übergänge verschwammen. Isaac stellte sich vor, dass sich der Wald zurückzog, um eine einzelne Lichtung tanzender Blumen zu offenbaren.
Was er jedoch nicht bemerkte, war, dass die Melodie all seine negativen Gefühle, den Hass und seine Angst forttrug, wie eine Wolke, die sanft vom Wind geleitet wurde.
„Wer mag wohl in der Lage sein, so vergnügt und voller Lebensfreude zu verspielen? Ich bin mir sicher, dass es nach einer Flöte klingt, aber sie muss sehr klein sein, so hoch wie sie klingt.“
Der Flötenklang verlangsamte sich, als wäre der Abend über den fröhlichen Wald hereingebrochen und verabschiedete sich mit ein paar kurzen, pfiffigen Tönen von den Zuhörern. Dann herrschte Stille.
Der Klang hatte ihn magisch angezogen, da er sich selbst nur noch ein heiteres Leben wünschte. Nun, wer tat das nicht? Aber Isaac hatte auch viel durchstehen müssen und zahlte mit Verstand, Geist und Fleisch.
„Vielleicht suche ich den Ursprung des Klangs und bedanke mich für das aufbauende Gefühl.“
Eher schlecht als recht navigierte er zwischen den Gängen aus Laken hindurch, erreichte die Tür und schritt hindurch, nur um drei weitere Türen zu finden. Die eine führte nach draußen, die andere in das Behandlungszimmer und dann gab es da noch eine weitere, die dank ihrer Farbe kaum von der beigen Wand zu unterscheiden war. Hinter ihr musste die Treppe zum Obergeschoss liegen, die zudem zu den privaten Räumen des Hauses führte.
Ohne über Konsequenzen nachzudenken öffnete Isaac die Tür und fand sich vor einer hohen Treppe wieder. Die Schmerzen beim Emporsteigen waren jetzt zweitrangig, denn die zauberhafte Melodie war erneut zu hören und beherrschte Isaacs Gedanken.
„Es wird lauter und klingt jetzt noch fröhlicher. Ob die Person wohl noch übt?“
Oben angekommen führten drei Türen in vermutlich unterschiedliche Zimmer. Der kleine quadratische Flur war jedoch kaum erhellt, da nur in Isaacs Rücken ein kleines Fenster Licht spendete.
Instinktiv griff er nach dem Türknauf, hinter dem das Geräusch am lautesten war.
In der Mitte des Zimmers wippte Gwen leichtfüßig von einem Bein zum anderen. Statt ihrer üblichen Kleidung trug sie nun ein dunkelbraun und weiß gestreiftes Kleid, welches locker mit ihren Schritten flog. Ihre Augen waren sanft verschlossen, da sie sich vollends auf die kleine, runde Flöte aus Ton an ihrem Mund konzentrierte.
Als Isaac eine der Dielen betrat und das Ächzen des Holzes in die Melodie eindrang, schreckte sie hoch.
„Was machst du hier?“
Isaac starrte sie an. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass er dieses Zimmer nicht ungefragt betreten durfte. Da seine Antwort ausblieb, kam Gwen auf ihn zu, um ihn hinauszubefördern.
„Warte bitte. Ich wollte mich nur bedanken.“
„Bedanken?“, erwiderte sie, während sie ihren Druck auf Isaac verringerte.
„Ja, genau. Ich habe dein Flötenspiel gehört und konnte nicht anders, als dem Klang zu folgen.“
„Ja, ja, schon gut“, es schien ihr peinlich, da sie versuchte ihr Gesicht zu verbergen, „Ich übe noch. Und jetzt zurück ins Bett mit dir. Du bist noch lange nicht genesen.“
„Nein wirklich. Ich meine das ernst. Deine Melodie hat mich wirklich aufgebaut. Die letzten Tage waren so grauenhaft, dass sie mir wie ein schlimmer Albtraum immer in Gedanken bleiben. Aber durch die Musik fühle ich mich davon befreit.“
Da ihre Kraft schwand und damit auch der Wille, Isaac aus dem Zimmer hinauszubefördern, ließ sie ab und setzte sich auf ein graues Stoffsofa, welches bis auf alte Schränke, das einzige Möbel war. Einige Risse im Stoff zeigten, dass es alt war.
„Na gut. Du bist es mittlerweile vermutlich leid zu liegen. Ich erlaube dir, dich einen Moment zu mir zu setzen. Aber danach gehst du wieder zurück. Und in Zukunft keine unangekündigten Besuche mehr. Verstanden?“
„Jawohl“, antworte er wie ein Soldat. Oder Hund. Dann ließ er sich neben Gwen auf das Sofa nieder und versank darin, da es überaus weich war.
„Dieses kurze Stück, was du gehört hast, ist schon sehr alt. Ich habe es von meiner Großmutter gelernt, aber sie lebt leider nicht mehr. Ich denke zwar jedes Mal an sie, wenn ich es spiele, aber das ist nicht der eigentliche Grund.“
Isaac nickte nur, um seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren.
„Ich möchte gerne die Lebensfreude mit den Kranken und Verwundeten teilen, die sie damals mit mir geteilt hat und noch teilt. Wenn auch nicht direkt. Wenn man all diese armen Menschen sieht, dann möchte man ihnen doch etwas Gutes tun. Denkst du nicht auch so?“
Der Glanz in ihren blauen Augen richtete sich ebenso erwartungsvoll an Isaac wie ihre Worte und lösten in ihm ein Gefühl aus, was er lange nicht mehr so klar gespürt hatte, wie jetzt: Hoffnung.
Ihm wurde bewusst, dass andere Möglichkeiten existierten, als jemanden mit Waffengewalt zu beschützen: Eine Vielzahl von Wegen, die seine Gedanken bisher nicht erfasst hatten, da er sich immer nur nach der Situation gerichtet hatte.
„Vielleicht sollte ich mich auch der Musik widmen. Weder die Gebete an Aeon und die Stärkung auf dem Schlachtfeld, noch der Gedanke, andere zu töten, um Evan und Lilia zu beschützen, haben mir bisher ein so schönes Gefühl beschert. Was habe ich eigentlich die ganze Zeit über getrieben? Ich hätte mir mehr Gedanken machen müssen. Nein. Ich habe mir Gedanken gemacht. Ohne die Wache wäre ich jetzt nicht mehr. Vielleicht muss ich auch einfach nur nach vorne schauen. Andererseits hatte ich in meinem Leben noch nie ein Instrument in der Hand, um es zu spielen. Vermutlich wäre meine Musik anfangs nur belangloser Krach.“
„Isaac?“, fragte Gwen und legte ihre linke Hand auf seine Schulter, „hörst du mir überhaupt zu?“
„Oh, tut mir leid. Ich habe nur über deine Worte nachgedacht und stimme dir zu. Vor einiger Zeit wurden meine Freunde angegriffen und fast getötet. Das war zwar nicht die einzige Situation, aber ich habe mir geschworen, sie mit meinem Leben zu beschützen. Es ist zwar nicht dasselbe, aber ähnlich genug, dass ich dein Bestreben nachvollziehen kann.“
„Das klingt heroisch“, sie entfernte ihre Hand wieder von seiner Schulter, „aber pass bitte auf, dass du nicht noch mehr von deinem Körper verlierst. Du hast nur diesen einen.“
„Werde ich“, antwortete er oberflächlich, da sein Interesse bereits etwas anderem galt, „Bringst du es mir bei, dieses Flötenstück?“
Isaac erwartete, dass sie sich für eine Antwort Zeit nehmen würde, um abzuwägen, ihn als Schüler zu nehmen, doch die Antwort kam direkt: „Nein.“
Die Hoffnung, die in ihm aufstrahlte, dämpfte sich. Was konnte dafür sorgen, dass sie seinen Wunsch ohne mit der Wimper zu zucken niederstreckte?
„Ich würde es dir beibringen. Aber du benötigst dafür zwei Hände. Tut mir leid. Wenn du dich wirklich für Musik interessierst, musst du dir wohl ein anderes Instrument suchen.
„Dagegen kann ich wohl wirklich nichts ausrichten. Es liegt gar nicht an mir, sondern an meinem Körper.“
„Darf ich denn wenigstens den Namen des Lieds erfahren?“
„Hm. Das ist eine gute Frage. Meine Großmutter hat es immer nur als kleines Menuett bezeichnet. Man kann dazu sogar tanzen.“
Bevor Isaac nachhaken konnte, sprang Gwen vom Sofa auf.
„Jetzt musst du aber wieder zurück ins Bett. Je mehr du dich ausruhst, desto schneller heilen deine Verletzungen.“
Wie befohlen erhob sich Isaac und ließ sich von Gwen stützen.
„Ihr großen Kerle seid immer so schwer.“
„Was soll ich denn bitte daran ändern? Mir noch mehr abhacken?“
„Nimm das doch nicht so ernst. Ich dachte du hättest Humor.“
„Habe ich doch. Du hast meinen Witz ja nicht verstanden.“
Er zwinkerte ihr zu.
„Das ist mir zu makaber. Wir sind hier immerhin im Ärztehaus.“
„Heißt es eigentlich auch dann Ärztehaus, wenn es nur einen Arzt gibt?“
„Du stellst vielleicht Fragen.“
Den Rückweg absolvierten sie schmunzelnd, aber still.
Erst als sie ihn dem Bett zurückgab, äußerte sie noch ein paar erbauliche Worte an Isaac: „Du bist auf einem guten Weg, Isaac. Ich habe schon so viele Männer behandelt, die ihre Arme und Beine verloren hatten, aber noch viel mehr hatten sie ihren Willen zu leben verloren. Du dagegen bist anders. Lass dir das nicht nehmen.“
„Mein Auge hat sie nicht erwähnt. Was ihr Evan und Lilia wohl darüber verraten haben? Die Augenklappe scheint ja ihren Dienst zu tun, obwohl sie nicht sonderlich bequem sitzt.“
Isaac ließ sich zurück unter seine Bettdecke gleiten, die ihn in eine angenehme Kälte schloss, da sie durch seine Abwesenheit heruntergekühlt war.
„Warte bitte einen Moment.“
„Worauf soll ich warten?“, fragte er, da war Gwen schon fast hinter den Laken verschwunden.
„Du riechst. Ich hole Waschzeug. Auf dem Weg der Erholung sollst du uns ja nicht auch noch krank werden.“
Die Laken, hinter denen sie verschwunden war, wurden kurz darauf erneut zur Seite gezogen. Doch diesmal war es nicht Gwen, sondern Evan und Lilia.
Zum Gruß hob Evan lässig die Hand. Lilia hingegen stürmte hechtartig auf Isaac zu.
„Schau, schau, wir haben dir etwas mitgebracht.“
Aus einem hellen Stoffbeutel zog Lilia einen kleinen, bemützten Fischer aus Holz, der in seinen Händen eine Angelrute hielt, an der ein blauer Fisch hing. Das besondere an dem Fisch war, dass er genau eine schillernde Regenbogenschuppe hatte.
„Wir haben uns gedacht, dass es für dich hier ziemlich einsam sein muss, daher wollten wir dir eine Kleinigkeit schenken. Sieht er mit seinem sturen Gesicht nicht ein bisschen wie Evan aus?“
Isaac sah sich den Holzmann an und blickte dann zu Evan.
„Der Vergleich ist vielleicht etwas gewagt. Und bist du dir sicher, dass ich hier neben deinem Evan schlafen soll?“
„Wenn es dir nicht gefällt, nehme ich es halt wieder mit. Ob hölzerner oder echter Evan, ich schlafe mit-“
„Lilia!“, fuhr Evan dazwischen, „Was ist denn heute nur los mit dir? Du bist ja wie ausgewechselt.“
„Ist das denn so schlimm?“
Dann begann sie, nach etwas in den Taschen ihres Kleides zu suchen, wurde aber offenbar nicht fündig.
„Hast du den Anhänger gesehen, Evan? Ich hatte ihn doch vorhin noch in der Hand.“
„Wozu brauchst du ihn denn? Wir sind doch hier in Sicherheit.“
„Ach, nur so. Ich sollte auf ihn aufpassen, damit er nicht in die falschen Hände gerät.“
„Zu gegebener Zeit finden wir ihn sicherlich wieder. Ich möchte jetzt viel lieber von Isaac wissen, wie es ihm geht und ob ihm etwas fehlt.“
„Ne, mir geht’s gut“, erzählte er, spürte aber auch die Blicke seiner Freunde, die alles andere als überzeugt wirkten.
„Nein, wirklich. Vielleicht sieht man mir das nicht an, aber heute war ein guter Tag. Wenn jeder Tag so wäre wie heute, dann würde ich bald vielleicht nicht einmal mehr meinen Arm und meinen Fuß vermissen.“
Obwohl Isaac fast vergnügt mit den Stümpfen Kreise in die Luft zeichnete, wirkten Evan und Lilia immer noch nicht überzeugt und Lilia offenbarte dies zuerst: „Du kannst mit uns darüber reden, wenn es dir schlecht geht. Evan und ich sind doch für dich da.“
„Ja, das weiß ich doch“, Trotz lag in seiner Stimme, „Aber ich meinte das schon ernst.“
„Ist schon gut“, warf Evan ein, „bedränge ihn nicht zu sehr, Lilia. Aber ich würde schon gerne wissen, was dir Gutes widerfahren ist.“
Einen Moment lang überlegte Isaac, wie er den beiden wohl am besten von seinem neuen Lebensmut erzählen sollte.
„Ich hatte einen Sinneswandel. Die letzten Tage fühlten sich einfach nur noch wie eine Sackgasse an, aber jetzt haben sich neue Pfade aufgetan.“
Evan zog sein Gesicht zusammen.
„Die da wären?“
„Weiß ich noch nicht. Aber allein die Existenz neuer Möglichkeiten hat mir neuen Mut verliehen.“
Bis vor Kurzem wollte Evan Isaac noch auf die Bedrohung durch die Silberritter hinweisen, die anscheinend auch in dieser Stadt lauerten. Doch er konnte nicht. Die innere Barriere, die verhinderte, dass er den Moment des Glücks seines geschätzten Freundes zerstörte, war zu stark. Stattdessen wechselte er abrupt das Thema.
„Wirst du hier überhaupt satt?“
„Ja, schon“, antwortete Isaac irritiert von Evans Hakenschlag, „Gwen macht sehr viel Gemüse und vor allem Fisch. Ich kann mich da also glücklich schätzen. Vielleicht bleibe ich auch einfach hier.“
„Ach, Isaac. Du bist manchmal echt zu optimistisch.“
„Wer weiß. Vielleicht hält mich auch genau diese Einstellung bei Verstand.“
Auf diese Worte folgte nichts als Stille, denn sie alle wollten die Ereignisse vergessen, die sie letztendlich hierhergeführt hatte. Doch klammerten sich die Erinnerungen an ihnen fest und zogen sie bleischwer in die Tiefe.
Plötzlich spürte Evan etwas in seinem Rücken, sodass er zusammenzuckte.
„Die Besuchszeit ist vorbei.“
Hinter Evan tauchte Gwen auf, die einen Eimer dampfenden Wassers in ihrer linken Hand, ein paar Handtücher auf ihren Schultern und ein Stück Seife in ihrer rechten Hand trug.
„Aber ihr könnt morgen gerne wieder vorbeischauen.“
„In Ordnung“, antwortete Lilia, „und vielen Dank, dass du dich so gut um Isaac kümmerst.“
Die beiden verließen das Ärztehaus und kehrten in ihr Zimmer im Gasthaus zurück.
Unter dem Vorwand, noch etwas über das Frühstück fragen zu wollen, stahl sich Evan am frühen Abend zur Rezeption. Dort angekommen fragte er allerdings nicht nach dem Essen, sondern nach einem Boten, der seine Eltern und Mitarbeiter darüber informieren sollte, dass es ihm gut geht, er aber nicht so bald wiederkehren könne und einen Teil seines Geldes benötige. Evan war sich sicher, dass ihm seine Eltern so sehr vertrauten, dass sie seinen Wunsch nicht ignorieren würden. Um die Echtheit dieser Nachricht prüfen zu können, übergab Evan zusätzlich einen kleinen Lederbeutel ohne Inhalt, der aber eine Besonderheit hatte, die nur seine Eltern kannten, denn in das innere war sein Name eingestanzt.
Der nächste Tag startete für Evan und Lilia sonnig und angenehm frisch, doch das gleiche konnte die Stadtwache in Velbasil nicht von sich behaupten.
„Der Waffenmeister! Wo ist der Waffenmeister?“, rief eine der Wachen panisch, während sie zwischen den hohen Lagerregalen umherlief.
„Nicht so laut“, ertönte die Stimme des Waffenmeisters vom Fußboden aus, da er auf alten Kartoffelsäcken ruhte.
„Was ist so wichtig, dass du unser Versteck dafür riskierst?“
„Verzeihung!“, rief der Soldat und merkte selbst, dass er noch immer laut war, „Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich muss etwas Dringendes melden: Offizier Brock und ihre Schwester sind verschwunden.“
Die Augen des Waffenmeisters weiteten sich, da er ahnte, was sie wahrscheinlich vorhatten.
„Was bedeutet verschwunden? Sie verschwinden doch nicht einfach so. Wer hat Wachdienst?“
„Ich. Ich habe Wachdienst. Verschwunden war auch nicht ganz richtig. Sie sind gegangen.“
„Dann erzähl mir mal, warum du sie nicht aufgehalten hast.“
„Ich habe es ja versucht. Aber… Aber ich konnte ihnen nicht standhalten. Bei jedem Schritt den sie auf mich zugegangen sind, musste ich mir vorstellen, wie sie mich zerhacken, wenn ich nicht aus dem Weg gehe.“
„Und warum denkst du sollten sie das auch tun? Sie würden niemals einen von uns töten. Dass sie so eine Ausstrahlung haben, habe ich selbst auch schon erlebt. Irgendetwas muss vorgefallen sein. Also was ist passiert?“
Die Wache überlegte lang, da sie mit der Situation überfordert war.
„Ich habe vom Informanten erfahren, dass die Gemeinschaft die Waisenhäuser nach Gläubigen abgrast. Sie wollen wohl dafür sorgen, dass der Nachwuchs ihren Glauben annimmt.“
Die Worte der Wache reichten dem Waffenmeister aus, denn er wusste jetzt, was zu tun war. Und er wirkte nicht glücklich.
„Dann verstehe ich ihre Reaktion, aber das ändert nichts daran, dass sie waghalsig und unüberlegt ist.“
Der Waffenmeister sah sich um, als suchte er etwas.
„Ulf? Wo bist du?“
Hinter einer der unzähligen Lagerkisten schnellte Ulfs bärtiges Gesicht hervor, was zauseliger denn je aussah.
„Was gibt’s denn?“
„Avida und Belea sind auf eigene Faust losgezogen. Ich werde schauen, wie ich ihnen helfen kann, denn wenn wir alle durch die Stadt streifen, erregt das zu viel Aufmerksamkeit. Du hast das Kommando.“
Ulf richtete sich gänzlich auf und machte sich kerzengerade.
„Verstanden! Ich werde überlegt führen.“
„Und verratet euch nicht durch eure Lautstärke.“
Der Waffenmeister zog also los, bis an das Ende des Lagerhauses, vorbei an Kisten mit Handelswaren, die durch ihre aufgekommene Wertlosigkeit in Vergessenheit geraten waren. Eine Holztür führte in die Freiheit, doch bot sich kein idyllisches Bild, denn sie führte auf eine finstere Sackgasse im Stadtsüden.
Die Sonne blendete nicht, als er ins Freie trat, da die Gebäude ringsherum in die Höhe ragten und die warmen Strahlen schluckten.
Dain war zielstrebig, denn er wusste genau, wohin die beiden Schwestern unterwegs waren, da er sie, als sie noch klein waren, selbst dorthin gebracht hatte.
Der Waffenmeister war bekannt in der Stadt und sein klotziger Körper fiel auf, daher war sein Plan, sich unter einer Wanderkutte zu verstecken, riskant. Dass er überhaupt die Möglichkeit hatte sich zu verschleiern, verdankte er dem Informanten, da dieser die Mäntel vorbeigebracht hatte. Der Stoff war zwar rau, muffig und wirkte ärmlich, erfüllte aber seinen Zweck.
Der Weg zum Waisenhaus war glücklicherweise kurz, da es am nördlichen Rand des Armenviertels lag. Da die Bürger mit gesenkten Häuptern durch die einst lebendigen Straßen schlurften, erreichte Dain das dreistöckige Gebäude unerkannt.
Ohne Vorgarten stand es direkt an der Straße, seitlich eingeschlossen von weiteren Häusern, die zusammen eine Reihe bildeten.
Der Waffenmeister bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn es war ungewöhnlich still. Selbst aus dem Garten hinter dem Waisenhaus, in dem zu dieser Zeit die Kinder tobten, konnte man nichts vernehmen.
Als sich Dain der Eingangstür aus dunklem Holz näherte, die mit der Fassade farblich verschwamm, erkannte er, dass die Tür weder verschlossen noch gänzlich geschlossen war.
Mit kurzen Blicken vergewisserte er sich, dass niemand zusah oder ihn unmittelbar hören konnte. Falls Feinde im Inneren lauerten, konnten sie ihn am Eingang nur an bestimmten Positionen überraschen: Hinter der Tür und im Gang. Da es für Verhandlungen wahrscheinlich schon zu spät war trat er die Tür auf, dass es krachte. Wenn jetzt niemand reagierte, dann war das Heim tatsächlich verlassen oder auf ihn warteten tiefer im Gebäude professionelle Attentäter.
Von der der Hüfte her zog er ein Kurzschwert, das in seinen groben Händen wie ein Spielzeug wirkte und betrat das das Heim.
An die Dunkelheit des Korridors, der bis unter das Dach reichte, gewöhnten sich seine Augen schnell. Doch welches Zimmer sollte er zuerst untersuchen?
Zu seiner Linken befand sich hinter einer weiteren Tür die große Küche, angrenzend daran der Speisesaal, der von der Größe her irgendwo zwischen Saal und Zimmer lag.
Zu seiner Rechten befanden sich Arbeitszimmer und Schlafgemach der Heimmutter. Würde man den langen Flur weiterentlanglaufen, dann befanden sich die Arbeiterunterkünfte und Stauräume ebenfalls auf dieser Seite des Hauses.
Er konnte aber auch die Treppen in das erste und zweite Obergeschoss emporsteigen, die jeweils einen Rundgang um den hohen Korridor bildeten und nur mit einem einfachen Geländer abgesichert waren. Von dort aus führten zahlreiche Türen in die Waisenzimmer.
Als letzte Möglichkeit blieb der Garten, der sich hinter der Tür am Ende des Korridors befand.
Da seine Priorität zunächst daraus bestand Informationen zu sammeln, da er keine Anzeichen eines Kampfes vorfand, drückte er die Tür zu seiner Rechten auf. Denn vielleicht war das alles nur ein Missverständnis und die Heimmutter war dort anzutreffen.
Die Tür stieß Dain in der Geschwindigkeit auf, in der sie nicht knarzte, aber auch nicht gegen die Wand schlug.
Mit erhobenem Schwert trat er ein. Doch nur ein verlassener Schreibtisch mit unvollständig ausgefüllten Zetteln und volle Bücherregale empfingen ihn.
Er wendete und öffnete die gegenüberliegende Tür. Doch selbst die Küche war verlassen und kalt.
Nichts von alldem ergab Sinn. Hier gab es keinen Kampf und von Avida und Belea fehlte jede Spur.
In den übrigen Zimmern vermutete der Waffenmeister keine Menschen, also eilte er direkt in den Garten und wurde, nachdem er mit Bedacht die Tür öffnete, fündig. Aber er hatte sich ein anderes Bild vor seinen Augen erhofft, denn normalerweise glitzerte der Morgentau noch auf den bunt blühenden Blumen, doch jetzt waren sie überzogen mit Blut.
Körperteile in silbernen und blassgoldenen Rüstungsteilen lagen verstreut auf der Wiese und unter den niedrig gewachsenen Bäumen. Da der Garten von Mauern umgeben war, hatte das Gemetzel vermutlich kaum einer mitbekommen.
Unter all den Leichenteilen befand sich erneut kein Hinweis auf die Schwestern. Nicht ein Kind, nicht ein Bediensteter wurden getötet, aber die Ritter hatten einen Preis für ihr Vorhaben bezahlen müssen.
Für die Waffenmeister war Avidas Handschrift aus dem Blutbad mehr als deutlich herauszulesen, aber ihr Verbleib war ihm schleierhaft.
Doch je länger er überlegte, desto besser fügten sich die Teile und die Fetzen zusammen: Die offene Tür, das verlassene Heim, das Gemetzel im Garten und die Abwesenheit aller Beteiligten, die nicht tot waren.
Nach dem Kampf oder währenddessen musste die Gemeinschaft es irgendwie geschafft haben, Kinder als Geiseln zu nehmen, um Avida und Belea zu lähmen. Wahrscheinlich wurden sie danach mitgenommen, um sie im schlimmsten Fall zu foltern und Informationen zum Aufenthaltsort der Wachen aus ihnen herauszuquetschen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit erschauderte Dain.
Wiederholte sich gerade das Schicksal der Geschwister?