Die Hörner von Abas
von Thrash4K
Kurzbeschreibung
Nach einer durchzechten Nacht erwacht Isaac in einem schummrigen Gasthaus. Er leidet fortan unter Visionen, in denen sein Leben und das seiner Freunde in Gefahr ist. Schnell wird bekannt, dass er über dämonische Eigenschaften verfügt, was die einfachen Bürger, die in ständiger Angst vor der Finsternis leben, nicht akzeptieren. Vom Licht verstoßen, von der Menschheit gehasst und von der Dunkelheit verzehrt, beginnt seine Reise durch Licht und Schatten.
GeschichteAllgemein / P18 / Gen
Engel & Dämonen
01.06.2022
20.03.2023
35
149.322
1
01.06.2022
3.156
Isaac erhob sich. Seine noch müden Muskeln richteten den unbekleideten, jungen Mann behutsam auf und lösten ihn von dem angenehm weichen Eichenholzbett. Er stand in einem kleinen, dunklen Zimmer und wandte seinen Blick in Richtung der beiden Stoffvorhänge, die einen Schimmer von Sonnenschein erahnen ließen. Behutsam zog er sie auf und belohnte sich mit herrlichem Morgenlicht.
Der im tiefgoldenen Schein gebadete Raum strahlte erfreut und verströmte einen angenehmen Lavendelgeruch, der auch den zu Tode erschöpften Geist zur Lebenslust verführte.
Isaac wich einen Schritt zurück, da der kräftige Schein in seinen stahlblauen Augen zu intensiv wirkte. Zu dem angenehmen Duft gesellte sich ein weiterer strengerer Duft, der ein baldiges Bad ankündigen sollte. Isaac zog sich sein schroffes Leinenhemd über, schlüpfte in seine dunkelbraune Stoffhose und band sich den dicken Ledergürtel um, an dem ein kleines Säckchen klimpernder Münzen befestigt war. In die Gürtelschnalle waren die Buchstaben „IRON“ eingelassen.
Er strich sich durch das nahezu schwarze Haar und sah sich nach seinen Lederschuhen um. Er erinnerte sich, dass sie noch vor der Tür standen, die sich weigerte geöffnet zu werden, da sich die Zagen leicht verzogen hatten. Mit Kraft war das Problem jedoch lösbar.
Als er hinausgehen wollte, stolperte er fast über seine Schuhe, berappelte sich und stieg dann in sie hinein. Das kalte Leder, welches sich an seinen warmen Füße anschmiegte, war ein Genuss.
Durch schmale Korridore, die nur durch kleine Fenster erhellt wurden, schritt Isaac über den federnden und knarrenden Holzboden voran, bis er den Empfangsraum des Gasthauses erreichte. Das schnörkellose Ambiente vermittelte rustikalen Charme und lud eher zum Trinken, Essen und Feiern als auf eine gemütliche Nacht ein.
Angrenzend befand sich ein größerer Raum mit einer Art Bar, auf der zu dieser Tageszeit mehrere Laibe Brot in Körben, Käse und Eier auslagen. Frisches Wasser wurde ebenfalls bereitgestellt und, wenn der entsprechende Betrag bezahlt wurde, sogar Fleisch.
Da er der erste war, nahm er sich einen sättigenden Anteil der gebotenen Speisen und setzte sich an einen kleinen runden Tisch in der Raumecke.
Er beugte sich über sein Essen und verschlang es, merkte dadurch aber wenig davon, dass sich weitere Personen in dem Raum einfanden um zu Speisen. Die herzhaften Aromen des leicht säuerlichen Brotes und des streng riechenden Käses beschäftigen seine Gedanken einfach zu sehr.
An den übrigen Tischen fanden sich kleinere Gruppen junger und älterer Menschen in Arbeits- und Reisekleidung ein, die sich angeregt oder ruhig unterhielten, kleine Scherze machten und manchmal auch nur geradeaus blickten, als wären sie in ihrer Gedankenwelt versunken. Sie betrachteten den jungen Mann kaum, der aß, als hätte er sieben Tage und sieben Nächte gehungert.
Die Geräusche der Speisenden nahmen langsam ab und die aufgekommene Stille gewann Isaacs Aufmerksamkeit, der nun seinen Blick hob.
Die Augen wanderten nach links und rechts und wieder zurück. In dem Speiseraum war es recht dunkel geworden, obwohl draußen die Sonne schien. Er redete sich ein, dass es wohl an seiner Müdigkeit lag, die seine Wahrnehmung trübte.
Als er aufstand um den Speiseraum zu verlassen, knallte die Lehne des Stuhls gegen die Wand, was die Blicke aller kurz auf sich zog.
Verunsichert aber bei Sinnen verließ Isaac den Speiseraum.
“Komm gerne wieder”, sprach vom Empfang her eine junge Magd, deren nussbraune Haare geflochten unter einer kleinen Kappe hervor lugten.
“Hast du auch nichts vergessen?”, fügte sie hinzu.
Isaac tastete einmal oberflächlich sein Hab und Gut ab.
“Danke. Ich habe allerdings nicht viel zu vergessen”, antwortete er, woraufhin ihn die Magd ungläubig ansah.
“Auf Wiedersehen”, sagten sie sich und er verließ das Gasthaus durch die große Vordertür.
Beim Heraustreten blendete ihn die Sonne allerdings so stark, dass er kurz schwankte und sich den rechten Arm vor das Gesicht hielt.
In dem Moment als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnten, verstand sein Verstand zunächst nicht das Bild, das sich vor ihm auftat: Von der grob gepflasterten Straßenkreuzung wenige Meter vor dem Gasthaus erhob sich ein Schwarm aufgeschreckter Krähen gen Himmel, der zerbrochen war, als würde er sich in einem zersplitterten Spiegel reflektieren. Das Sonnenlicht strahlte nur aus den Splittern, nicht aber aus dem Teil, der nicht mehr Himmel war, der nur Schwärze war, wie eine allesverzehrende Leere, als würde man seinen Verstand verlieren, blickte man nur lange genug hinein. Dem jungen Mann rauschten die Sinne und die Sicht verschwamm zunehmend, bis er mit dem Rücken gegen die Tür des Gasthauses schlug. Als seine Sicht wieder aufklarte, merkte er, dass die Magd, die ihn verabschiedet hatte, an seinen Schultern rüttelte und ihm zurief. Einige Passanten warfen ihm skeptische Blicke zu. Vermutlich hielten sie ihn für einen Trinker.
“Hey! Komm endlich zu dir!”
Klare Worte drangen zu Isaac durch, der den Kopf und damit den Restschwindel aus sich herausschüttelte. Seiner Sinne, aber seines Anstandes noch nicht, wieder wahr geworden, zerrte er die junge Magd beiseite, um erneut einen Blick auf den Himmel zu werfen. Doch er sah gewöhnlich aus. Tiefblau und von Wölkchen geziert. Und die Sonne brannte ungewöhnlich unangenehm auf seiner Haut.
Er blickte der Magd, die er noch am Handgelenk festhielt in die Augen und entschuldigte sich in leisem Ton mit einem Hauch von Demut: “Verzeihung”.
Die Magd riss sich los, stieß ihn zur Seite und verschwand mit wütender Miene wieder im Gasthaus. Isaac schloss noch einmal fest die Augen, atmete tief ein, lange aus und öffnete langsam die Augen. Vor ihm bot sich die mehr oder weniger gewohnte Sicht der ausladenden Kreuzung, die sich zu seiner linken in eine lange Kastanienallee wandte, vor ihm einen Marktplatz mit Brunnen bot und zu seiner Rechten in ein Wohnviertel mündete.
Immer mehr Menschen trieb es auf den Markt, sodass aus ein paar vorbeiziehenden Passanten recht schnell ein reges Getümmel wurde, durch das sich Isaac seinen Weg bahnen musste.
"Hey, Isaac! Hier drüben!”, rief eine warme Männerstimme aus der Menge.
Isaac konnte die Richtung nicht genau bestimmen, vertraute aber seinem Instinkt und drehte ein wenig nach Links ab.
“Guten Morgen, Evan”, grüßte Isaac freundlich, als er seinen Freund mit den kurzen, blonden Haaren und den straffen Hosenträgern vor sich sah.
Mit dem linken Arm lehnte dieser gegen eine Mauer aus aufgeschichteten Steinen. Über das kantige Gesicht des ebenfalls jungen Mannes spannte sich ein einfaches Lächeln.
“Wir hatten schon Angst dich überhaupt nicht mehr wiederzufinden. Lilia ist wie wild durch die Gegend gerannt und hat alle möglichen Leute gefragt, ob sie dich vielleicht gesehen haben. Ich habe sie fast noch davon abhalten müssen, durch die Stadttore zu marschieren, um dich im Wald zu suchen.” Isaac strich sich verlegen durch die Haare.
„Mir geht es da auch nicht viel besser. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir viel zu viel Rum in viel zu große Gläser zu füllen.”
„Und dann hast du noch dem halben Dorf deine Liebe gestanden und warst plötzlich verschwunden”, fügte Evan hinzu.
„Dann werde ich mich wohl bei Lilia entschuldigen müssen, dass ich ihr solche Umstände bereitet habe”, sprach Isaac und beobachtete die Umgebung.
„Sie schläft bestimmt noch”, warf Evan ein, „Und ich habe mir auch Sorgen gemacht, du Witzbold. Die Zeiten sind nicht gerade rosig und du weißt ja, was sich mittlerweile alles außerhalb der Mauern tummelt”.
Evans leichtes Lächeln wich einem besorgten Gesichtsausdruck und er verschränkte die Arme vor dem Körper.
“Tut mir leid”, entgegnete Isaac, der sich nun etwas mehr schämte.
In dem Moment als er zu Boden sah, fiel ihm eine kleine pechschwarze, krallenbesetzte Hand ins Auge, die aus der Mauer ragte, an der Evan eben lehnte. Diese bewegte sich gleichmäßig schnell auf Evans Hals zu und niemand sonst schien das zu bemerken.
Dem Arm folgte ein kleiner Körper, aus dem Blut tropfte.
Von dem Anblick zunächst noch gelähmt, stürmte Isaac jetzt auf Evan zu und zog diesen zur Seite. Sie stolperten, fielen in- und aufeinander, verhakten sich und konnten sich aber letztendlich befreien. “Verdammt Isaac, spinnst du?”, rief Evan entsetzt, als er sich aufraffte.
Die umstehenden Menschen wandten ihre skeptischen Blicke von den beiden wieder ab, als sie sahen, dass alles in Ordnung war.
Isaac blieb am Boden und nahm eine sitzende Position ein: “Tut mir leid, mir wurde auf einmal schwindelig.”
Er drehte er seine Augen in die Richtung des seltsamen Ereignisses, doch da war nur die Mauer und keine Spur von etwas Außergewöhnlichem.
Er richtete seine Augen nach oben zu Evan, der ihn verärgert ansah, wandte den Blick wieder ab und erhob sich.
“Nächstes Mal gibt es auf jeden Fall weniger für dich. Wer weiß, was du sonst noch anstellst.”, ermahnte ihn Evan, wobei dieser vermutlich selber wusste, dass es wieder genauso ausgehen würde.
“Sicher, sicher, das kriegen wir schon hin”, bemerkte Isaac und kratzte sich am Kopf, was scharfen Schmerz durch seinen Kopf sendete. Er verzog das Gesicht und tastete vorsichtig die Kopfhaut ab.
An einer Stelle fühlte er eine kleine Beule, auf die er sanft Druck ausübte um den Ursprung des Schmerzes zu bestätigen. Die Bestätigung kam. Er sah sich seine Hand an.
“Immerhin kein Blut, aber den Kopf habe ich mir scheinbar gestoßen”, sprach er und Evan ging sofort darauf ein: “Ja, und das definitiv nicht zum ersten Mal”, und lachte.
Isaac wechselte das Thema und die Stimmung: “Sag, wie läuft es zwischen dir und Lilia?”
Evan zeigte sich sichtbar erheitert: “Wie soll es schon laufen? Wir sind glücklich miteinander und der Segen des Aeon wacht über uns.”
“Glaubst du da wirklich an die Gemeinschaft des Aeon?”, fragte Isaac skeptisch.
Evan haderte kurz, lieferte dann aber die gewünschte Antwort: „Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, aber es war Lilias Herzenswunsch, dass ich ebenfalls Teil der Gemeinschaft werde. Das gute Gefühl, dass vielleicht irgendwo irgendjemand über dich wacht, sehe ich als angenehmen Zusatz.”
Eine kurze Pause entstand, die Isaac durchbrach: “Ist ja schön und gut, aber sollte sie sich dann nicht lieber mehr Gedanken um dich als um mich machen?”
“Das ist schon in Ordnung so”, äußerte Evan vertrauensvoll, „Sie sieht in dir so etwas wie einen kleinen Bruder. Da ist das ganz normal.”
„Was mir nicht unbedingt gefällt”, entgegnete Isaac.
„Nun ja, du bist zwar älter aber auch einen Zentimeter kleiner als sie. Sie ist nun mal eine große Schwester, die keine kleinen Brüder mehr hat und du benimmst dich manchmal nicht so ganz deinem Alter entsprechend. Ich würde mich freuen, wenn du ihr das Gefühl erhältst, eine große Schwester zu sein.”
Isaac seufzte.
“Schon gut. Ich gebe mir Mühe, aber sollten wir sie nicht so langsam abholen?”
Er richtete seinen Blick auf die Allee, deren Kastanien noch keine Früchte, aber ungewöhnlich tiefe Schatten trugen.
Die Sonne hatte sich mittlerweile hinter einer großen Wolke versteckt, sodass die Allee weniger einladend aussah. Evan drehte Isaac an der Schulter herum.
“Wir gehen in die andere Richtung, da Lilia und ich bei ihren Eltern untergekommen sind. Ich bin heute Morgen früher losgezogen, um dich zu finden.”
Zusammen verließen sie den Platz und schlenderten durch das Wohnviertel, welches hauptsächlich aus soliden, Holzhäusern bestand. Bei manchen waren die Fensterläden geöffnet oder es standen kleine Kästen mit Blumen neben den Türen.
Die Straßen wandten sich mal nach links und mal nach rechts und das Pflaster war uneben.
Die Sonne drang zu dieser Tageszeit noch nicht in die Straßen, weshalb sich der unangenehm brennende Effekt für Isaac verminderte.
Die beiden jungen Männer redeten angeregt über unwichtige Dinge, über die junge Männer so reden und erreichten nach einiger Zeit Lilias Elternhaus.
“So, da wären wir. Lass uns reingehen. Ich denke, du bist hier ebenfalls willkommen”, sprach Evan und klopfte an die Tür auf der der Name “Winther” stand.
Niemand antwortete.
Evan klopfte erneut. Wieder gab es keine Antwort.
“Ob die sich noch einmal schlafen gelegt haben?”, fragte sich Isaac laut.
Evan schritt zu einem der Fenster und spähte hindurch: “Nichts zu erkennen durch die Vorhänge. Klopf du bitte noch einmal”.
Isaac schlug nicht sanft mit der Rückseite seiner Hand gegen die robuste Holztür.
„Wenn das keiner gehört hat, weiß ich auch nicht weiter.”
Wieder kam keine Antwort von drinnen, kein Geräusch, keine Regung. Die beiden jungen Männer sahen sich ratlos an, bis Isaac den Knauf in die Hand nahm, ihn drehte und sich die Tür öffnete.
„Seltsam. Ich war mir sicher, dass sie die Tür hinter mir verschlossen haben, als ich das Haus verließ. Vielleicht sind sie ja selbst schon unterwegs.”
Sie sahen sich erneut an, zuckten mit den Schultern und betraten nacheinander das Haus, dessen einziger großer Raum eine Treppe, eine Kochecke und einen Essbereich besaß.
In der linken Ecke neben der Treppe befand sich ein großer Webstuhl. Die Einrichtung ließ sich mit den Worten schlicht und effizient gut beschreiben. Doch das Erste, was Isaac auffiel, war der Geruch der Verwesung, den das Geräusch von herabfallenden Tropfen untermalte.
Er sah sich im Halbdunkel um, konnte aber nichts Genaues erkennen. Die Quelle schien die Kochecke zu sein.
Isaac wollte sich nicht erneut von seinen Sinnen einen Streich spielen lassen, wollte aber auch kein Risiko eingehen, sollte ihn seine Wahrnehmung nicht betrügen.
Zielstrebig schritt er auf die Kochecke zu, beinahe als würde er von etwas angezogen werden. Angezogen von etwas, was ihm Unbehagen bereitete, von dem er sich nicht anziehen lassen wollte. Er erreichte die Ecke und sah zu Boden, erkannte aber nur schwarz. Vorsichtig berührte er die Arbeitsplatte, die sich nass anfühlte.
Als er sich die Hand vor die Augen hielt, sah er wie sie langsam dahinschmolz. Seine Augen weiteten sich und er begann zu zittern. Die schwarze Flüssigkeit fraß sich unaufhaltsam durch seinen Unterarm und gerade als sie den Oberarm erreichte, merkte er, dass sie auch seine Füße verzehrte.
Er verlor den Halt und fiel vornüber in die Flüssigkeit. In diesem Moment berührte etwas kühles, nasses seinen Nacken und er riss die Augen auf, fuchtelte mit den Armen, die sich genau da befanden, wo sie hingehörten. Er drehte sich um.
Die Schwärze war verschwunden, der Raum vom Tageslicht erleuchtet und neben ihm standen Evan und Lilia, die leise lachten.
„Isaac steht heute ein bisschen neben sich”, erklärte Evan.
„Das ist die Strafe für gestern Abend, nächstes Mal wirst du angekettet!”, wies Lilia ihn zurecht.
Isaac sah in Richtung Evan, dann zu Lilia, die noch ihr langes, dunkelbraunes Stoffkleid vom Vortag trug, welches einen angenehmen Kontrast zu den dunkelblonden Haaren und grünlichen Augen bildete. Um ihren Hals hing ein kreisförmiger metallener Anhänger, der Bewies, dass sie Teil der Gemeinschaft Aeons war.
Der kleine Anhänger konnte allerdings nicht von der langen Narbe ablenken, die irgendwo unter ihrem Kleid begann und sich dann bis zur linken Wange hochzog. Doch Lilia versteckte sie nicht, da sie eine Erinnerung an ihre verstorbenen Brüder war.
„Hey, hier spielt die Musik”, rief sie Isaac zu, dessen Gedanken abschweiften, „Wie wäre es mit einer Erklärung?”, fragte sie bestimmend.
„Ich erinnere mich nicht”, sprach Isaac zögerlich.
„Ist vielleicht auch besser so”, fuhr sie fort und boxte ihm in den Bauch, woraufhin sie sich Evan zuwandte und diesen umarmte. Dieser erwiderte in gleichem Maße.
„Ich fürchte mich”, sprach sie zu Evan, der etwa einen Kopf größer war als sie.
„Ich verstehe dich, Lilia”, sprach er ruhig, „Doch wir sind sicher, da uns fähige Männer beschützen. Wir werden die kurze Reise sicher überstehen.”
Lilia legte ihren Kopf auf Evans Brust, schloss die Augen und atmete hörbar aus.
“Und was ist, wenn”, sprach sie und wurde von ihm unterbrochen, “Es wird schon gut gehen. Und wenn wir in der Stadt ankommen, können wir ja gerne die Gräber besuchen, denn sonst plagt dich später dein schlechtes Gewissen.”
„Und das plagt dann später auch Evan”, warf Isaac in den Raum, was Evan überhaupt nicht gefiel. „Hervorragend, dann ziehen wir das schlechte Gewissen eben auf jetzt gleich vor.”
Isaac zuckte mit den Schultern und entgegnete in egalem Ton: „Da wird nichts passieren. Wir lassen uns von dem Kutscher durch den Wald fahren und sind dann schon fast in meiner Heimatstadt angekommen. Ist ja nicht so als würden wir das zum ersten Mal machen.”
Nach ein paar Sekunden des Schweigens fügte er hinzu: “Zudem hat die Kutsche sogar Begleitschutz.”
Lilia löste sich von Evan.
„Gerade das macht mir ja Angst. Der Geleitschutz wäre nicht nötig, wenn es keine Gefahr gäbe.”
Isaac zeigte sich dennoch unbeeindruckt und entgegnete mit einem nüchternen: “Wird schon werden. Wann geht es überhaupt los?”
Da Evan sich in der Pflicht fühlte, die Zügel in die Hand zu nehmen, beantwortete er die Frage: “Zur Mittagszeit müssen wir uns am Dorfplatz einfinden. Dort werden wir dann abgeholt. Wir wollen jetzt aber erstmal eine Mahlzeit zu uns nehmen.”
Isaac schritt zur Haustür: “Dann lasse ich euch beide mal allein. Ich bin noch satt vom Frühstück und brauche vermutlich noch frische Luft. Wir sehen und dann später, ich warte auf euch.”
Evan und Lilia wollten ihn noch aufhalten, doch er hatte das Haus bereits verlassen.
Nach kurzer Bedenkzeit bereiteten sie ein leichtes Mahl zu.
Unterdessen lief Isaac wieder zurück zum Marktplatz, der nicht mehr übermäßig mit Menschen gefüllt war. Die frische Luft tat ihm zwar gut, aber das Sonnenlicht war weiterhin unangenehm.
Am Ziel angekommen suchte er sich eine Bank im Schatten am Rande des Platzes und ließ sich nieder.
Die Menschen in ihren täglichen, automatisierten Abläufen zu beobachten hatte seinen eigenen Reiz. Die meisten liefen zielstrebig von einem Ort zum anderen und schenkten ihrer Umgebung nur wenig Beachtung. Zwischendurch kamen Isaac zwar immer wieder ein paar mit Stöcken spielende Kinder näher, aber diese entfernten sich auch jedes Mal wieder, wenn er sie nur stechend genug anblickte.
So verrann die Zeit, bis die Mittagssonne senkrecht auf den Marktplatz strahlte.
Isaac sah, wie Evan und Lilia um die Ecke bogen und nun an der Kreuzung warteten und sich umschauten. Isaac erhob sich aus dem schattigen Plätzchen, schritt in das Licht und hob seine Hand um das Paar erneut zu grüßen.
Nahezu zeitgleich traf auch die angekündigte Kutsche ein, die mit ihrem tiefschwarzen Farbton und der geschlossenen, runden Form aus der lichten Umgebung herausstach. Der Kutscher beäugte die drei beim Einsteigen, machte aber einen vertrauenswürdigen Eindruck.
Evan half Lilia mit ihrem Kleid in die Kutsche hinein und kurz darauf begann die Fahrt.
Die drei wurden ziemlich stark durchgerüttelt wegen des unebenen Pflasters, was jedoch nach kurzer Zeit aufhörte, da sie das große Tor in der Mauer passierten und das Dorf verließen.
Ab hier schlossen sich zwei bärtige Reiter mit einfacher lederner Rüstung und jeweils einer Lanze der Kutsche an. Sie blickten stumm in Fahrtrichtung.
Ab etwa der Hälfte der Strecke, die über spärlich ausgebaute Waldwege durch den dichten, aber saftig grünen Wald führte, begann die Kutsche deutlich an Fahrt aufzunehmen. Die drei versuchten etwas durch die kleinen Fenster zu erkennen, doch sahen sie nur die Reiter, die ebenfalls beschleunigt hatten, bis sie urplötzlich von einem gewaltigen Stoß erfasst wurden und die Kutsche beinahe kippte.
Da es keine Möglichkeiten gab sich festzuhalten, wurden sie teilweise aufeinander geschmissen. Die Kutsche schlingerte und hielt. Aus dem Nichts zerriss ein markerschütternder Schrei ihr Gehör. Nachdem sie sich wieder orientiert hatten, schoss ein rundes Geschoss durch das Fenster, welches in einem Regen glänzender Scherben splitterte.
Das Geschoss klatschte gegen die Wand und rollte gegen Isaacs Bein. Es war der Kopf eines Reiters.
Der im tiefgoldenen Schein gebadete Raum strahlte erfreut und verströmte einen angenehmen Lavendelgeruch, der auch den zu Tode erschöpften Geist zur Lebenslust verführte.
Isaac wich einen Schritt zurück, da der kräftige Schein in seinen stahlblauen Augen zu intensiv wirkte. Zu dem angenehmen Duft gesellte sich ein weiterer strengerer Duft, der ein baldiges Bad ankündigen sollte. Isaac zog sich sein schroffes Leinenhemd über, schlüpfte in seine dunkelbraune Stoffhose und band sich den dicken Ledergürtel um, an dem ein kleines Säckchen klimpernder Münzen befestigt war. In die Gürtelschnalle waren die Buchstaben „IRON“ eingelassen.
Er strich sich durch das nahezu schwarze Haar und sah sich nach seinen Lederschuhen um. Er erinnerte sich, dass sie noch vor der Tür standen, die sich weigerte geöffnet zu werden, da sich die Zagen leicht verzogen hatten. Mit Kraft war das Problem jedoch lösbar.
Als er hinausgehen wollte, stolperte er fast über seine Schuhe, berappelte sich und stieg dann in sie hinein. Das kalte Leder, welches sich an seinen warmen Füße anschmiegte, war ein Genuss.
Durch schmale Korridore, die nur durch kleine Fenster erhellt wurden, schritt Isaac über den federnden und knarrenden Holzboden voran, bis er den Empfangsraum des Gasthauses erreichte. Das schnörkellose Ambiente vermittelte rustikalen Charme und lud eher zum Trinken, Essen und Feiern als auf eine gemütliche Nacht ein.
Angrenzend befand sich ein größerer Raum mit einer Art Bar, auf der zu dieser Tageszeit mehrere Laibe Brot in Körben, Käse und Eier auslagen. Frisches Wasser wurde ebenfalls bereitgestellt und, wenn der entsprechende Betrag bezahlt wurde, sogar Fleisch.
Da er der erste war, nahm er sich einen sättigenden Anteil der gebotenen Speisen und setzte sich an einen kleinen runden Tisch in der Raumecke.
Er beugte sich über sein Essen und verschlang es, merkte dadurch aber wenig davon, dass sich weitere Personen in dem Raum einfanden um zu Speisen. Die herzhaften Aromen des leicht säuerlichen Brotes und des streng riechenden Käses beschäftigen seine Gedanken einfach zu sehr.
An den übrigen Tischen fanden sich kleinere Gruppen junger und älterer Menschen in Arbeits- und Reisekleidung ein, die sich angeregt oder ruhig unterhielten, kleine Scherze machten und manchmal auch nur geradeaus blickten, als wären sie in ihrer Gedankenwelt versunken. Sie betrachteten den jungen Mann kaum, der aß, als hätte er sieben Tage und sieben Nächte gehungert.
Die Geräusche der Speisenden nahmen langsam ab und die aufgekommene Stille gewann Isaacs Aufmerksamkeit, der nun seinen Blick hob.
Die Augen wanderten nach links und rechts und wieder zurück. In dem Speiseraum war es recht dunkel geworden, obwohl draußen die Sonne schien. Er redete sich ein, dass es wohl an seiner Müdigkeit lag, die seine Wahrnehmung trübte.
Als er aufstand um den Speiseraum zu verlassen, knallte die Lehne des Stuhls gegen die Wand, was die Blicke aller kurz auf sich zog.
Verunsichert aber bei Sinnen verließ Isaac den Speiseraum.
“Komm gerne wieder”, sprach vom Empfang her eine junge Magd, deren nussbraune Haare geflochten unter einer kleinen Kappe hervor lugten.
“Hast du auch nichts vergessen?”, fügte sie hinzu.
Isaac tastete einmal oberflächlich sein Hab und Gut ab.
“Danke. Ich habe allerdings nicht viel zu vergessen”, antwortete er, woraufhin ihn die Magd ungläubig ansah.
“Auf Wiedersehen”, sagten sie sich und er verließ das Gasthaus durch die große Vordertür.
Beim Heraustreten blendete ihn die Sonne allerdings so stark, dass er kurz schwankte und sich den rechten Arm vor das Gesicht hielt.
In dem Moment als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnten, verstand sein Verstand zunächst nicht das Bild, das sich vor ihm auftat: Von der grob gepflasterten Straßenkreuzung wenige Meter vor dem Gasthaus erhob sich ein Schwarm aufgeschreckter Krähen gen Himmel, der zerbrochen war, als würde er sich in einem zersplitterten Spiegel reflektieren. Das Sonnenlicht strahlte nur aus den Splittern, nicht aber aus dem Teil, der nicht mehr Himmel war, der nur Schwärze war, wie eine allesverzehrende Leere, als würde man seinen Verstand verlieren, blickte man nur lange genug hinein. Dem jungen Mann rauschten die Sinne und die Sicht verschwamm zunehmend, bis er mit dem Rücken gegen die Tür des Gasthauses schlug. Als seine Sicht wieder aufklarte, merkte er, dass die Magd, die ihn verabschiedet hatte, an seinen Schultern rüttelte und ihm zurief. Einige Passanten warfen ihm skeptische Blicke zu. Vermutlich hielten sie ihn für einen Trinker.
“Hey! Komm endlich zu dir!”
Klare Worte drangen zu Isaac durch, der den Kopf und damit den Restschwindel aus sich herausschüttelte. Seiner Sinne, aber seines Anstandes noch nicht, wieder wahr geworden, zerrte er die junge Magd beiseite, um erneut einen Blick auf den Himmel zu werfen. Doch er sah gewöhnlich aus. Tiefblau und von Wölkchen geziert. Und die Sonne brannte ungewöhnlich unangenehm auf seiner Haut.
Er blickte der Magd, die er noch am Handgelenk festhielt in die Augen und entschuldigte sich in leisem Ton mit einem Hauch von Demut: “Verzeihung”.
Die Magd riss sich los, stieß ihn zur Seite und verschwand mit wütender Miene wieder im Gasthaus. Isaac schloss noch einmal fest die Augen, atmete tief ein, lange aus und öffnete langsam die Augen. Vor ihm bot sich die mehr oder weniger gewohnte Sicht der ausladenden Kreuzung, die sich zu seiner linken in eine lange Kastanienallee wandte, vor ihm einen Marktplatz mit Brunnen bot und zu seiner Rechten in ein Wohnviertel mündete.
Immer mehr Menschen trieb es auf den Markt, sodass aus ein paar vorbeiziehenden Passanten recht schnell ein reges Getümmel wurde, durch das sich Isaac seinen Weg bahnen musste.
"Hey, Isaac! Hier drüben!”, rief eine warme Männerstimme aus der Menge.
Isaac konnte die Richtung nicht genau bestimmen, vertraute aber seinem Instinkt und drehte ein wenig nach Links ab.
“Guten Morgen, Evan”, grüßte Isaac freundlich, als er seinen Freund mit den kurzen, blonden Haaren und den straffen Hosenträgern vor sich sah.
Mit dem linken Arm lehnte dieser gegen eine Mauer aus aufgeschichteten Steinen. Über das kantige Gesicht des ebenfalls jungen Mannes spannte sich ein einfaches Lächeln.
“Wir hatten schon Angst dich überhaupt nicht mehr wiederzufinden. Lilia ist wie wild durch die Gegend gerannt und hat alle möglichen Leute gefragt, ob sie dich vielleicht gesehen haben. Ich habe sie fast noch davon abhalten müssen, durch die Stadttore zu marschieren, um dich im Wald zu suchen.” Isaac strich sich verlegen durch die Haare.
„Mir geht es da auch nicht viel besser. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass wir viel zu viel Rum in viel zu große Gläser zu füllen.”
„Und dann hast du noch dem halben Dorf deine Liebe gestanden und warst plötzlich verschwunden”, fügte Evan hinzu.
„Dann werde ich mich wohl bei Lilia entschuldigen müssen, dass ich ihr solche Umstände bereitet habe”, sprach Isaac und beobachtete die Umgebung.
„Sie schläft bestimmt noch”, warf Evan ein, „Und ich habe mir auch Sorgen gemacht, du Witzbold. Die Zeiten sind nicht gerade rosig und du weißt ja, was sich mittlerweile alles außerhalb der Mauern tummelt”.
Evans leichtes Lächeln wich einem besorgten Gesichtsausdruck und er verschränkte die Arme vor dem Körper.
“Tut mir leid”, entgegnete Isaac, der sich nun etwas mehr schämte.
In dem Moment als er zu Boden sah, fiel ihm eine kleine pechschwarze, krallenbesetzte Hand ins Auge, die aus der Mauer ragte, an der Evan eben lehnte. Diese bewegte sich gleichmäßig schnell auf Evans Hals zu und niemand sonst schien das zu bemerken.
Dem Arm folgte ein kleiner Körper, aus dem Blut tropfte.
Von dem Anblick zunächst noch gelähmt, stürmte Isaac jetzt auf Evan zu und zog diesen zur Seite. Sie stolperten, fielen in- und aufeinander, verhakten sich und konnten sich aber letztendlich befreien. “Verdammt Isaac, spinnst du?”, rief Evan entsetzt, als er sich aufraffte.
Die umstehenden Menschen wandten ihre skeptischen Blicke von den beiden wieder ab, als sie sahen, dass alles in Ordnung war.
Isaac blieb am Boden und nahm eine sitzende Position ein: “Tut mir leid, mir wurde auf einmal schwindelig.”
Er drehte er seine Augen in die Richtung des seltsamen Ereignisses, doch da war nur die Mauer und keine Spur von etwas Außergewöhnlichem.
Er richtete seine Augen nach oben zu Evan, der ihn verärgert ansah, wandte den Blick wieder ab und erhob sich.
“Nächstes Mal gibt es auf jeden Fall weniger für dich. Wer weiß, was du sonst noch anstellst.”, ermahnte ihn Evan, wobei dieser vermutlich selber wusste, dass es wieder genauso ausgehen würde.
“Sicher, sicher, das kriegen wir schon hin”, bemerkte Isaac und kratzte sich am Kopf, was scharfen Schmerz durch seinen Kopf sendete. Er verzog das Gesicht und tastete vorsichtig die Kopfhaut ab.
An einer Stelle fühlte er eine kleine Beule, auf die er sanft Druck ausübte um den Ursprung des Schmerzes zu bestätigen. Die Bestätigung kam. Er sah sich seine Hand an.
“Immerhin kein Blut, aber den Kopf habe ich mir scheinbar gestoßen”, sprach er und Evan ging sofort darauf ein: “Ja, und das definitiv nicht zum ersten Mal”, und lachte.
Isaac wechselte das Thema und die Stimmung: “Sag, wie läuft es zwischen dir und Lilia?”
Evan zeigte sich sichtbar erheitert: “Wie soll es schon laufen? Wir sind glücklich miteinander und der Segen des Aeon wacht über uns.”
“Glaubst du da wirklich an die Gemeinschaft des Aeon?”, fragte Isaac skeptisch.
Evan haderte kurz, lieferte dann aber die gewünschte Antwort: „Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, aber es war Lilias Herzenswunsch, dass ich ebenfalls Teil der Gemeinschaft werde. Das gute Gefühl, dass vielleicht irgendwo irgendjemand über dich wacht, sehe ich als angenehmen Zusatz.”
Eine kurze Pause entstand, die Isaac durchbrach: “Ist ja schön und gut, aber sollte sie sich dann nicht lieber mehr Gedanken um dich als um mich machen?”
“Das ist schon in Ordnung so”, äußerte Evan vertrauensvoll, „Sie sieht in dir so etwas wie einen kleinen Bruder. Da ist das ganz normal.”
„Was mir nicht unbedingt gefällt”, entgegnete Isaac.
„Nun ja, du bist zwar älter aber auch einen Zentimeter kleiner als sie. Sie ist nun mal eine große Schwester, die keine kleinen Brüder mehr hat und du benimmst dich manchmal nicht so ganz deinem Alter entsprechend. Ich würde mich freuen, wenn du ihr das Gefühl erhältst, eine große Schwester zu sein.”
Isaac seufzte.
“Schon gut. Ich gebe mir Mühe, aber sollten wir sie nicht so langsam abholen?”
Er richtete seinen Blick auf die Allee, deren Kastanien noch keine Früchte, aber ungewöhnlich tiefe Schatten trugen.
Die Sonne hatte sich mittlerweile hinter einer großen Wolke versteckt, sodass die Allee weniger einladend aussah. Evan drehte Isaac an der Schulter herum.
“Wir gehen in die andere Richtung, da Lilia und ich bei ihren Eltern untergekommen sind. Ich bin heute Morgen früher losgezogen, um dich zu finden.”
Zusammen verließen sie den Platz und schlenderten durch das Wohnviertel, welches hauptsächlich aus soliden, Holzhäusern bestand. Bei manchen waren die Fensterläden geöffnet oder es standen kleine Kästen mit Blumen neben den Türen.
Die Straßen wandten sich mal nach links und mal nach rechts und das Pflaster war uneben.
Die Sonne drang zu dieser Tageszeit noch nicht in die Straßen, weshalb sich der unangenehm brennende Effekt für Isaac verminderte.
Die beiden jungen Männer redeten angeregt über unwichtige Dinge, über die junge Männer so reden und erreichten nach einiger Zeit Lilias Elternhaus.
“So, da wären wir. Lass uns reingehen. Ich denke, du bist hier ebenfalls willkommen”, sprach Evan und klopfte an die Tür auf der der Name “Winther” stand.
Niemand antwortete.
Evan klopfte erneut. Wieder gab es keine Antwort.
“Ob die sich noch einmal schlafen gelegt haben?”, fragte sich Isaac laut.
Evan schritt zu einem der Fenster und spähte hindurch: “Nichts zu erkennen durch die Vorhänge. Klopf du bitte noch einmal”.
Isaac schlug nicht sanft mit der Rückseite seiner Hand gegen die robuste Holztür.
„Wenn das keiner gehört hat, weiß ich auch nicht weiter.”
Wieder kam keine Antwort von drinnen, kein Geräusch, keine Regung. Die beiden jungen Männer sahen sich ratlos an, bis Isaac den Knauf in die Hand nahm, ihn drehte und sich die Tür öffnete.
„Seltsam. Ich war mir sicher, dass sie die Tür hinter mir verschlossen haben, als ich das Haus verließ. Vielleicht sind sie ja selbst schon unterwegs.”
Sie sahen sich erneut an, zuckten mit den Schultern und betraten nacheinander das Haus, dessen einziger großer Raum eine Treppe, eine Kochecke und einen Essbereich besaß.
In der linken Ecke neben der Treppe befand sich ein großer Webstuhl. Die Einrichtung ließ sich mit den Worten schlicht und effizient gut beschreiben. Doch das Erste, was Isaac auffiel, war der Geruch der Verwesung, den das Geräusch von herabfallenden Tropfen untermalte.
Er sah sich im Halbdunkel um, konnte aber nichts Genaues erkennen. Die Quelle schien die Kochecke zu sein.
Isaac wollte sich nicht erneut von seinen Sinnen einen Streich spielen lassen, wollte aber auch kein Risiko eingehen, sollte ihn seine Wahrnehmung nicht betrügen.
Zielstrebig schritt er auf die Kochecke zu, beinahe als würde er von etwas angezogen werden. Angezogen von etwas, was ihm Unbehagen bereitete, von dem er sich nicht anziehen lassen wollte. Er erreichte die Ecke und sah zu Boden, erkannte aber nur schwarz. Vorsichtig berührte er die Arbeitsplatte, die sich nass anfühlte.
Als er sich die Hand vor die Augen hielt, sah er wie sie langsam dahinschmolz. Seine Augen weiteten sich und er begann zu zittern. Die schwarze Flüssigkeit fraß sich unaufhaltsam durch seinen Unterarm und gerade als sie den Oberarm erreichte, merkte er, dass sie auch seine Füße verzehrte.
Er verlor den Halt und fiel vornüber in die Flüssigkeit. In diesem Moment berührte etwas kühles, nasses seinen Nacken und er riss die Augen auf, fuchtelte mit den Armen, die sich genau da befanden, wo sie hingehörten. Er drehte sich um.
Die Schwärze war verschwunden, der Raum vom Tageslicht erleuchtet und neben ihm standen Evan und Lilia, die leise lachten.
„Isaac steht heute ein bisschen neben sich”, erklärte Evan.
„Das ist die Strafe für gestern Abend, nächstes Mal wirst du angekettet!”, wies Lilia ihn zurecht.
Isaac sah in Richtung Evan, dann zu Lilia, die noch ihr langes, dunkelbraunes Stoffkleid vom Vortag trug, welches einen angenehmen Kontrast zu den dunkelblonden Haaren und grünlichen Augen bildete. Um ihren Hals hing ein kreisförmiger metallener Anhänger, der Bewies, dass sie Teil der Gemeinschaft Aeons war.
Der kleine Anhänger konnte allerdings nicht von der langen Narbe ablenken, die irgendwo unter ihrem Kleid begann und sich dann bis zur linken Wange hochzog. Doch Lilia versteckte sie nicht, da sie eine Erinnerung an ihre verstorbenen Brüder war.
„Hey, hier spielt die Musik”, rief sie Isaac zu, dessen Gedanken abschweiften, „Wie wäre es mit einer Erklärung?”, fragte sie bestimmend.
„Ich erinnere mich nicht”, sprach Isaac zögerlich.
„Ist vielleicht auch besser so”, fuhr sie fort und boxte ihm in den Bauch, woraufhin sie sich Evan zuwandte und diesen umarmte. Dieser erwiderte in gleichem Maße.
„Ich fürchte mich”, sprach sie zu Evan, der etwa einen Kopf größer war als sie.
„Ich verstehe dich, Lilia”, sprach er ruhig, „Doch wir sind sicher, da uns fähige Männer beschützen. Wir werden die kurze Reise sicher überstehen.”
Lilia legte ihren Kopf auf Evans Brust, schloss die Augen und atmete hörbar aus.
“Und was ist, wenn”, sprach sie und wurde von ihm unterbrochen, “Es wird schon gut gehen. Und wenn wir in der Stadt ankommen, können wir ja gerne die Gräber besuchen, denn sonst plagt dich später dein schlechtes Gewissen.”
„Und das plagt dann später auch Evan”, warf Isaac in den Raum, was Evan überhaupt nicht gefiel. „Hervorragend, dann ziehen wir das schlechte Gewissen eben auf jetzt gleich vor.”
Isaac zuckte mit den Schultern und entgegnete in egalem Ton: „Da wird nichts passieren. Wir lassen uns von dem Kutscher durch den Wald fahren und sind dann schon fast in meiner Heimatstadt angekommen. Ist ja nicht so als würden wir das zum ersten Mal machen.”
Nach ein paar Sekunden des Schweigens fügte er hinzu: “Zudem hat die Kutsche sogar Begleitschutz.”
Lilia löste sich von Evan.
„Gerade das macht mir ja Angst. Der Geleitschutz wäre nicht nötig, wenn es keine Gefahr gäbe.”
Isaac zeigte sich dennoch unbeeindruckt und entgegnete mit einem nüchternen: “Wird schon werden. Wann geht es überhaupt los?”
Da Evan sich in der Pflicht fühlte, die Zügel in die Hand zu nehmen, beantwortete er die Frage: “Zur Mittagszeit müssen wir uns am Dorfplatz einfinden. Dort werden wir dann abgeholt. Wir wollen jetzt aber erstmal eine Mahlzeit zu uns nehmen.”
Isaac schritt zur Haustür: “Dann lasse ich euch beide mal allein. Ich bin noch satt vom Frühstück und brauche vermutlich noch frische Luft. Wir sehen und dann später, ich warte auf euch.”
Evan und Lilia wollten ihn noch aufhalten, doch er hatte das Haus bereits verlassen.
Nach kurzer Bedenkzeit bereiteten sie ein leichtes Mahl zu.
Unterdessen lief Isaac wieder zurück zum Marktplatz, der nicht mehr übermäßig mit Menschen gefüllt war. Die frische Luft tat ihm zwar gut, aber das Sonnenlicht war weiterhin unangenehm.
Am Ziel angekommen suchte er sich eine Bank im Schatten am Rande des Platzes und ließ sich nieder.
Die Menschen in ihren täglichen, automatisierten Abläufen zu beobachten hatte seinen eigenen Reiz. Die meisten liefen zielstrebig von einem Ort zum anderen und schenkten ihrer Umgebung nur wenig Beachtung. Zwischendurch kamen Isaac zwar immer wieder ein paar mit Stöcken spielende Kinder näher, aber diese entfernten sich auch jedes Mal wieder, wenn er sie nur stechend genug anblickte.
So verrann die Zeit, bis die Mittagssonne senkrecht auf den Marktplatz strahlte.
Isaac sah, wie Evan und Lilia um die Ecke bogen und nun an der Kreuzung warteten und sich umschauten. Isaac erhob sich aus dem schattigen Plätzchen, schritt in das Licht und hob seine Hand um das Paar erneut zu grüßen.
Nahezu zeitgleich traf auch die angekündigte Kutsche ein, die mit ihrem tiefschwarzen Farbton und der geschlossenen, runden Form aus der lichten Umgebung herausstach. Der Kutscher beäugte die drei beim Einsteigen, machte aber einen vertrauenswürdigen Eindruck.
Evan half Lilia mit ihrem Kleid in die Kutsche hinein und kurz darauf begann die Fahrt.
Die drei wurden ziemlich stark durchgerüttelt wegen des unebenen Pflasters, was jedoch nach kurzer Zeit aufhörte, da sie das große Tor in der Mauer passierten und das Dorf verließen.
Ab hier schlossen sich zwei bärtige Reiter mit einfacher lederner Rüstung und jeweils einer Lanze der Kutsche an. Sie blickten stumm in Fahrtrichtung.
Ab etwa der Hälfte der Strecke, die über spärlich ausgebaute Waldwege durch den dichten, aber saftig grünen Wald führte, begann die Kutsche deutlich an Fahrt aufzunehmen. Die drei versuchten etwas durch die kleinen Fenster zu erkennen, doch sahen sie nur die Reiter, die ebenfalls beschleunigt hatten, bis sie urplötzlich von einem gewaltigen Stoß erfasst wurden und die Kutsche beinahe kippte.
Da es keine Möglichkeiten gab sich festzuhalten, wurden sie teilweise aufeinander geschmissen. Die Kutsche schlingerte und hielt. Aus dem Nichts zerriss ein markerschütternder Schrei ihr Gehör. Nachdem sie sich wieder orientiert hatten, schoss ein rundes Geschoss durch das Fenster, welches in einem Regen glänzender Scherben splitterte.
Das Geschoss klatschte gegen die Wand und rollte gegen Isaacs Bein. Es war der Kopf eines Reiters.