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Tempus Gratiae

Kurzbeschreibung
KurzgeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / Het
Hermine Granger OC (Own Character) Severus Snape
11.05.2022
23.05.2022
4
25.348
159
Alle Kapitel
50 Reviews
Dieses Kapitel
5 Reviews
 
18.05.2022 9.754
 
Hallo, ihr Lieben!
Heute wechseln wir nicht nur die Perspektive, es gibt auch ein besonders langes Kapitel. ^^
Danke für die Reviews zum letzten und viel Spaß mit diesem! :)

- - -
Part II – Severus
- - -

 Das Klopfen an seiner Tür war so lästig wie das Surren einer Mücke kurz vor dem Einschlafen. Severus starrte das dunkle Holz an, als könne sein Blick es beenden. Dabei presste er seine Fingernägel so fest in die Lehnen seines Sessels, dass er den alten Stoff knacken hörte.

 Er wusste, wer auf der anderen Seite der Tür stand. Es war Dumbledore. Dumbledore, dessen Büro er vorhin türenschlagend verlassen hatte, weil der sich mal wieder in Schweigen gehüllt hatte. Dumbledore, der trotzdem ein weiteres Versprechen von ihm hatte hören wollen. Dumbledore, der der letzte Mensch war, mit dem Severus gerade reden wollte.

 Etwa fünf Minuten lang versuchte er es. Und erstaunlicherweise griff er nicht auf Magie zurück, um seinen Willen zu bekommen. Stattdessen gab er irgendwann auf und Severus' Finger entspannten sich.

 Er hielt die Luft an und schloss für einen Moment die Augen. Ungewollt erhob sich ihr Gespräch wieder aus seiner Erinnerung. „Versprich mir, dass du es tun wirst, Severus! Wenn die Zeit gekommen ist, dann musst du es tun!“ In seinem Magen kribbelte es, wenn er nur an das dachte, was Dumbledore, was seine beiden Herren von ihm erwarteten. Er stellte sich vor – rein hypothetisch –, wie er den Zauberstab gegen den Schulleiter erhob.

 Und lachte kehlig auf. Allein die Vorstellung war so irre, dass er darüber den Verstand verlieren könnte.

 Nicht, dass das nicht ohnehin schon beinahe passierte. Jedes Mal, wenn er so tat, als wäre alles normal. Wenn er unterrichtete, bei den Mahlzeiten neben seinen Kollegen saß, mit ihnen redete, im Lehrerzimmer seinen Kaffee mit ihnen trank, auf Konferenzen Pläne für das nächste Schuljahr diskutierte und dabei beinahe vergaß, dass der einzige relevante Plan für das nächste Schuljahr Dumbledores Tod und sein eigener Aufstieg zum Schulleiter war.

 Wenn er Dumbledores schwarze Hand gerade nicht sah, fühlte es sich an, als wäre es ein schlechter Traum gewesen.

 Und dann gab es Tage wie heute, an denen er an nichts anderes denken konnte. An denen er alles gegeben hätte, um … um nur mit einem Menschen sprechen zu können, der nicht das von ihm erwartete. Der ihm genug vertraute, um ihm zu sagen, was im Hintergrund passierte. Wozu er das alles tun sollte. Aber niemand außer Dumbledore könnte das tun. Und der war der letzte Mensch, mit dem er gerade reden wollte.

 Kurze Zeit später erhob Severus sich und griff nach seinem Reiseumhang. Kurzentschlossen. Unüberlegt. Spontan. Es war spät am Abend, die Sperrstunde längst überschritten. Das Schloss war so ruhig, dass es einem Kloster glich. Oder einer Kirche. Die Portraitbewohner hatten sich zum Schlafen hinter ihre Rahmen zurückgezogen, die Rüstungen schwiegen, Peeves war schlau genug, nicht Severus' Weg zu kreuzen.

 Das Summen in seinen Adern wurde etwas besser, als er die Treppen des Schlossportals hinablief und die Luft des aufziehenden Sommers an seinem Gesicht entlangstrich. Severus schritt am Schwarzen See vorbei, dessen Oberfläche sich kräuselte, als würden viele unsichtbare Fäden das Wasser in die Höhe zupfen. Es wisperte und raschelte im Schilf und in der Mitte des Sees – schemenhaft erkennbar gegen das spärliche Licht des Mondes – regten sich die Tentakel des Kraken.

 Bald kam die Grenze des Schlossgeländes in Sicht und Severus zückte seinen Zauberstab schon Meter, bevor er sie erreicht hatte. Mit verbissenem Gesichtsausdruck öffnete er einen Spalt in den Schutzbannen und verließ das Gelände. Hogwarts war wie ein Hochsicherheitstrakt und dennoch … die Todesser würden das Schloss letztendlich stürmen. Er warf einen kurzen Blick zurück, bevor er disapparierte.

 Doll war ein Stück Erde, das einen Großteil des Fortschritts verpasst hatte. Wäre das möglich, die Bewohner würden abends um acht wohl die wenigen Bordsteine hochklappen, die es hier gab. Niemand geriet ihm in die Quere und er musste weder auf sein Aussehen noch auf die Macht seines Zauberstabes Rücksicht nehmen. Der Klang seiner Schritte auf dem Weg zerriss die Stille und brachte die Grillen zum Schweigen. Ein feiner Nieselregen setzte ein, er schlug den Kragen seines Umhanges hoch.

 Dann tauchte die Kirche vor ihm auf. Ein großer schwarzer Schatten, der auf einem Hügel am Rande des Dorfes thronte. Severus erinnerte sich an das dumpfe Schlagen der Turmuhr, das in seinem Körper vibriert hatte wie ein Frösteln im Winter.

 „Das ist die Stimme des Herrn!“, hatte seine Großmutter gesagt und ihn mit seinen fünf Jahren weiter vorangetrieben. Und obwohl Severus schon damals von seiner magischen Natur gewusst hatte, hatte er diesen Herrn gefürchtet.

 Jetzt sehnte er sich plötzlich nach ihm. Nach einem Herrn, der keinen Mord von ihm verlangte. Zu dem er sich wenden konnte, ohne die eine oder andere Maske zu tragen. Der ihm – wenn er den Worten seiner Großmutter vertrauen konnte – immer zuhören würde, egal, worum es ging.

 Severus war beileibe kein religiöser Mensch, aber er war ein verzweifelter Mensch und als er das letzte Mal hier gewesen war, war das noch anders gewesen. An diesem Abend, an dem es niemanden gab, dem er sich anvertrauen konnte, hoffte er vielleicht, etwas von seiner alten Überzeugung in dieser alten Kirche seiner Kindheit wiederzufinden.

 Inzwischen jedoch hatten die Bewohner von Doll offenbar einen anderen Weg zum Herrn gefunden, denn schon aus einigen Meter Entfernung konnte er sehen, dass ein großes Warnschild an der Tür der Kirche hing. Einsturzgefahr, stand darauf. Und es sah alles andere als neu aus. Er runzelte die Stirn. Warum nagelte man nur ein Schild an ein offenbar einsturzgefährdetes Gebäude, anstatt es abzureißen?

 Dann spürte er die Magie. Sie sickerte aus jeder Ritze des Gemäuers. „Was zum Teufel …“, murmelte er und trat vorsichtig näher.

 Mit geschlossenen Augen legte er seine Hand flach auf den Stein. Da war es wieder, das Vibrieren. Dieses Mal ganz ohne die Glocke, doch es fühlte sich an, als würde es jedes Molekül in seinem Körper durchschütteln. Er holte tief Luft.

 Als Severus seine Hand zurückzog, ließ er seinen Zauberstab hineingleiten und entriegelte die alten Flügeltüren. Das Schloss öffnete sich knarzend und ohne länger zu überlegen, zog er an dem alten eisernen Ring, bis die verrosteten Scharniere quietschten. Mit einem weiteren Wink seines Zauberstabes sandte Severus ein paar Lichter ins Innere der Kirche und prompt offenbarte sich ihm die Quelle der Magie.

 Ein schimmerndes Oval auf der Höhe des Altars. Er neigte den Kopf nach links, dann nach rechts, verengte die Augen und ging langsam durch das Kirchenschiff darauf zu. Die Bänke standen so ordentlich rechts und links von ihm, als würde hier gleich ein Gottesdienst stattfinden. Nur die dünne Staubschicht, die alles bedeckte, erinnerte daran, dass schon seit geraumer Zeit niemand mehr hier gewesen war.

 Erst als er den Gang schon etwa zur Hälfte durchschritten hatte, begriff er, was das war, und er blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte darüber gelesen. In seiner Jugend. Bevor er zu den Todessern gegangen war und sein Leben gegen die Wand gefahren hatte. Risse in der Zeit. Er hielt die Luft an, den Blick starr auf das schimmernde Oval gerichtet. Konnte das wirklich sein?

 Langsam setzte er sich schließlich wieder in Bewegung und beobachtete das Zeitportal, das sich in diesem verschlafenen Dörfchen mitten im Nirgendwo geöffnet hatte, weil im Laufe der Zeit zwei so mächtige magische Ereignisse stattfanden, dass die Zeitlinie sich durch sie überkreuzt hatte. Er hatte so etwas noch nie gesehen, hatte auch nicht geglaubt, dass es jemals dazu kommen würde. Dafür passierte es viel zu selten. Soweit er wusste, hatte es, seitdem der Mensch fähig war, Dinge aufzuschreiben und für die Nachwelt zu konservieren, nur zwei weitere Zeitrisse gegeben.

 Dass es diesen gab, bedeutete, dass innerhalb der nächsten Zeit etwas Großes passieren würde, denn in der näheren Vergangenheit hatte es kein ausreichend mächtiges magisches Ereignis gegeben. Und da Zeitrisse sich für gewöhnlich um einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte über das Ereignis selbst hinweg erstreckten (sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft), war die Existenz dieses Risses wie eine nonverbale Prophezeiung. Etwas Großes würde passieren. Die Frage war, ob dieses große Ereignis Dumbledores Tod war … oder der des Dunklen Lords.

 Oder beide.

 Er schob den Gedanken, der ihm den Brustkorb zuschnürte, von sich und blieb etwa einen Meter vor dem schimmernden Riss stehen, holte tief Luft. Die Magie, die dabei durch seine Lungen strömte, ließ seinen ganzen Körper kribbeln. Was auch immer aus diesem Krieg wurde, es würde also tatsächlich genug Magie freisetzen, um eine Schleife in der Zeit zu bilden. Und das an genau diesem Ort. In einer gottverdammten Kirche in einem gottverdammten Dorf irgendwo in Schottland. Severus schnaubte.

 Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es hinter ihm krachte. Er wirbelte herum und versuchte, in der Dunkelheit der Kirche zu erkennen, was geschehen war. Nachdem er die ganze Zeit in das flirrende Licht des Risses gestarrt hatte, tanzten weiße Punkte vor seinen Augen.

 Dem Krachen folgte ein lautes Knirschen und der Geruch von trockenem Staub stieg ihm in die Nase. Severus hob er den Blick zur bemalten Decke der Kirche, genau in dem Moment, in dem ein riesiges Stück des Daches sich löste und auf ihn herunterfiel.

- - -

 Etwas quietschte direkt neben seinem Ohr. Einmal. Zweimal. Dann wurde es ruhig.

 Bis es unvermittelt so laut und in einer so hohen Frequenz kreischte, dass Severus in die Höhe schoss. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein Vogel erschrocken in die Luft flatterte und zwischen den wogenden Baumkronen verschwand.

 „Was zum Teufel …“, murmelte er wieder und runzelte die Stirn. Erst als eine warme Windböe ihm die Haare ins Gesicht wehte und das Rauschen der Bäume lauter wurde, begriff er, was seine Augen sahen. Wald. Sehr viel Wald.

 In der Kirche in Doll hatte es definitiv keinen Wald gegeben.

 Innerhalb einer Sekunde stand er auf den Beinen und hatte seinen Zauberstab wieder in der Hand. Er drehte sich einmal um sich selbst und stoppte erst, als er den flimmernden Riss in der Zeit direkt vor sich sah.

 Er musste hindurch gestolpert sein, als er dem Dach der tatsächlich einsturzgefährdeten Kirche entkommen wollte. Und der Riss hatte ihn direkt in ein grünes Paradies geführt.

 Severus schluckte schwer und da ihm gerade von keiner Seite Gefahr zu drohen schien – von frechen Vögeln einmal abgesehen –, entspannte er sich ein wenig und legte den Kopf in den Nacken.

 Gab es in seiner Zeit irgendwo in Großbritannien noch einen Wald, der so dichte Baumkronen hatte wie dieser? So kräftig belaubt, dass kein einziger Sonnenstrahl bis auf den Boden vordrang? Er glaubte es nicht. Severus schloss die Augen und atmete tief durch.

 Dann sah er zurück zum Riss. Er sollte zurückkehren. Sofort. Er gehörte nicht hierher und er hatte eine Aufgabe zu erfüllen auf der anderen Seite des Risses. Schon jetzt musste er darauf hoffen, wenigstens annähernd in die gleiche Zeit zurückzukehren, aus der er gekommen war, denn Zeitrisse waren Chaos und folgten keiner einzigen der üblichen Regeln. Es war durchaus möglich, dass er zwanzig Jahre früher wieder zurückkehren wurde, als er gegangen war. Oder später. Nicht auszudenken, was dort passierte, wenn der Dunkle Lord glaubte, Severus hätte ihn betrogen.

 Doch er tat es nicht. Anstatt einen Schritt nach vorne zu tun, durch den Riss hindurch, tat er einen zurück. Dann noch einen. Und noch einen.

 Wenn er ohnehin schon hoffen musste, an den richtigen Punkt in der Zeit zurückzukehren, konnte er auch noch bleiben. Nur für eine Weile …

- - -

 Sobald der Riss aus Severus' Blick verschwunden war, kümmerte er sich um seine Kleidung. Er wusste nicht, in welcher Zeit er gelandet war, doch die Flora, die ihn umgab, ließ vermuten, dass er in die Vergangenheit gereist war. Also verwandelte er seinen Umhang in eine schlichte Jacke, verzichtete schweren Herzens auf das tiefe Schwarz und machte aus dem robusten, fein gewebten Baumwollstoff ein lockeres Leinen. Mit gerunzelter Stirn sah er schließlich an sich herab. Es würde wohl reichen, damit er nicht sofort auffiel. Dass er sich in seiner neuen Aufmachung wohlfühlte, konnte er allerdings nicht behaupten.

 Trotzdem lief er weiter. Von der Stelle aus, an der der Zeitriss war, gab es nur einen Pfad und Severus folgte ihm. Der Wald um ihn herum war so dicht, der Boden so uneben und alles so zugewuchert mit Büschen, dass er auch nichts anderes hätte tun können. Es war eine Wand aus Grün, die ihn umgab, etwas, das er in seiner Zeit vermutlich außerhalb der tiefsten Regenwälder nirgendwo mehr finden würde.

 Davon abgesehen stieß er auf Pflanzen, die in seiner Zeit schon längst ausgestorben oder so selten waren, dass man horrende Preise dafür zahlen musste. Hier standen sie dicht an dicht, auf Gebieten so groß wie der Schwarze See.

 Er war etwa eine halbe Stunde lang unterwegs gewesen, als der Wald um den Pfad herum etwas lichter wurde. Die Bäume standen weit genug voneinander entfernt, dass er mehr als die nächsten paar Meter sehen konnte, und es gab kleine Inseln aus Sonnenlicht, in denen Waldveilchen ihre violetten Blüten in die Höhe reckten. Und schließlich, jenseits einer besonders großen Lichtung direkt vor ihm, schmiegte sich ein kleines Haus zwischen gewaltige Baumstämme.

 Severus blieb stehen. Mehrere Minuten lang ließ er die klare Luft durch seine Lungen strömen und nahm sich die Zeit nachzudenken. Die zwei Optionen, die er hatte, spielten Ping-Pong zwischen seinen Ohren. Gehen oder bleiben. Bleiben oder gehen.

 Bevor er sich entschieden hatte, trat eine Frau aus der Hütte. Sie trug einen Weidenkorb unter dem Arm, in dem sich naturfarbener Stoff häufte, und ging damit zu einer Baumgruppe, zwischen deren Stämmen dünne Seile gespannt waren. Behände warf sie die Kleidungsstücke über die Leinen, während ihr Rock im Wind flatterte.

 Severus verengte seine Augen und beobachtete sie, ließ seinen Blick über ihre lockigen braunen Haare, den schmalen Rücken und ihre schlanken Arme wandern. Überlegte, ob er es wagen sollte, zu ihr zu gehen. Ob es wirklich schlau war, in dieser Zeit Kontakt zu jemandem aufzunehmen. Er musste vorsichtig sein.

 Seine Überlegungen rissen jedoch abrupt ab, als die Frau sich umdrehte und er sie erkannte! Er holte scharf Luft und trat einen Schritt zurück. Ein Ast zerbarst laut knackend unter seinem rechten Fuß und die Frau hob den Blick, entdeckte ihn sofort.

 Sie lächelte. „Ich habe Sie schon erwartet“, sagte Hermine Granger und stemmte die Hände in die Hüften.

- - -

 „Miss Granger?“, fragte er perplex.

 „Genau die“, bestätigte sie mit einem Nicken.

 Er verengte die Augen, griff seinen Zauberstab fester. „Beweisen Sie es!“, zischte er.

 Sie schmunzelte. „In meinem zweiten Schuljahr habe ich mich durch einen Fehler bei der Anwendung des Vielsafttrankes in eine Katze verwandelt und Sie haben die Tränke gebraut, durch die ich meinen Schwanz und die Schnurrhaare wieder losgeworden bin. Sie haben die Tränke anstatt mit schwarzer Tinte mit roter Tinte beschriftet, um mich jeden Tag aufs Neue daran zu erinnern, was für einen gewaltigen Fehler ich begangen habe.“

 Richtig, das hatte er getan. Und sie hatte es verdient gehabt. Trotzdem musterte er sie noch einen weiteren Moment lang, ehe er fragte: „Was zum Teufel tun Sie hier?“ Es klang dabei nicht annähernd so kühl, wie er sich das vorgestellt hatte. Dafür war er zu abgelenkt von ihrem Anblick. Granger war älter geworden. Mindestens Mitte zwanzig. Aber es war unverkennbar sie – und dieses Mal offenbar ohne Vielsafttrank. Je länger er sie ansah, desto weniger hätte es ihn überrascht, wenn sie im nächsten Moment ein Pergament und eine Feder aus einer Tasche gezogen und sich Notizen gemacht hätte.

 Aber sie machte sich keine Notizen. Nur ihr Lächeln wurde breiter, während sie ihre Hände sinken ließ. „Ich habe hier ein paar Dinge zu erledigen. Und Sie? Was führt Sie hierher?“

 „Das geht Sie nichts an. Wie sind Sie hierher gekommen?“

 „Ich nehme an, auf demselben Weg, den auch Sie genommen haben.“

 „Woher wussten Sie davon?“

 „Das ist nicht wichtig, Sir. Es würde mich mehr interessieren, ob Sie planen, für länger zu bleiben. Denn dann würde ich Ihnen mein Gästezimmer anbieten. Es ist zwar mehr eine Kammer, aber Sie wissen schon, was ich meine.“ Sie nickte zum Haus, das irgendwie zu perfekt aussah für eine Zeit wie diese – auch wenn er immer noch nicht wusste, welche Zeit das eigentlich war. Trotzdem hatte er keinen Zweifel daran, dass es magisch errichtet worden war.

 „Halten Sie es nicht für riskant, ein solches Haus in einer Zeit wie dieser zu erschaffen?“, fragte er daher.

 Sie lachte leise. „Halten Sie es nicht für möglich, dass ich meinen Zauberstab zu benutzen weiß?“

 Severus stieß ein unbestimmtes Brummen aus, während er versuchte, ihr keine Punkte abzuziehen. Sie so zu sehen, erwachsen, reif, selbstbewusst, war so verwirrend wie mit der nicht-dominanten Hand zu schreiben. Es legte sein Hirn in ähnliche Schleifen wie die Zeitlinie.

 Und sie hatte ihm immer noch nicht gesagt, wie sie den Zeitriss gefunden hatte oder was sie hier tat.

 „Nun, planen Sie zu bleiben?“, hakte sie in diesem Moment nach und er hasste das Vergnügen, das in ihren braunen Augen glitzerte. Was fiel ihr eigentlich ein, ihn so anzusehen? Ihn!

 „Ich sollte gar nicht hier sein“, murmelte er und drehte ein wenig den Kopf auf dem Hals, als könnte das das unangenehme Prickeln vertreiben, das in seinem Nacken saß.

 „Und doch sind Sie es …“ Sie legte den Kopf zur Seite.

 Er runzelte die Stirn. „Sie wissen es“, stellte er fest. Sie war älter, sie musste es wissen.

 „Was weiß ich?“

 Alles. Sie musste alles wissen. „Ob ich bleibe oder nicht“, war jedoch das Einzige, was er sagte. Nicht Wie der Krieg ausgeht. Oder Dass ich Dumbledore umbringen soll. Oder Ob alles so läuft, wie es geplant war, oder ob ich … einfach nicht zurückgehe. Er sprach nichts davon aus. Nicht ein Wort.

 Sie nickte bedächtig. „Ja, ich weiß es.“

 „Warum fragen Sie dann?“

 Granger zuckte mit einer Schulter. „Es erschien mir höflich.“ Ein paar Sekunden lang beobachtete sie ihn, wartete vielleicht auf eine Antwort, aber er schwieg. Dann deutete sie auf das Haus. „Gehen Sie doch schon mal hinein, ich hänge nur kurz die Wäsche fertig auf.“ Sie wandte ihm wieder den Rücken zu und während er noch den ungewohnten Anblick ihres zeitgemäßen Kleidungsstils in sich aufnahm, warf sie schon ein Leibchen über eine der Leinen.

 Das Innere ihres Domizils verströmte einen ähnlich magischen Flair wie das Äußere. Die Möbel waren sauber gearbeitet, die Schränke mit filigranen Schnitzereien verziert, auf dem Holzboden lagen mehrere Webteppiche und vor den Fenstern hingen bunte Gardinen. Was es allerdings nicht gab, war eine strenge Raumtrennung. Die Küche zu seiner Linken ging nahtlos über in einen Essbereich, der nur durch ein Bücherregal von einem Wohnzimmer mit Kamin getrennt war. Anscheinend war nur das Schlafzimmer separiert, denn es führte eine schmale Wendeltreppe hinauf unter das Dach.

 Severus durchquerte den Wohnraum und trat an eines der Fenster. Das Glas war klar und sauber gearbeitet; selbst Hogwarts' Fenster waren unebener und verschleierten den Blick, wenn man hinaussah. Granger wusste ihren Zauberstab besser sehr gut zu nutzen, denn wenn das jemand sah, der nichts von Zeitreisen wusste, würde sie einiges zu erklären haben.

 Während er auf sie wartete, schlich sich einmal mehr die Absurdität dieser Situation an ihn heran und das kalte Prickeln in seinem Nacken ließ sein Herz schneller schlagen. Was zum Teufel tat er hier eigentlich? Sie steckten mitten in einem merlinverdammten Krieg und er sprang durch die Zeit, wahrscheinlich mehrere Jahrhunderte weit, nur um seiner ehemaligen und plötzlich sehr erwachsenen Schülerin zu begegnen? Hermine Granger, ausgerechnet! Das konnte sich keiner ausdenken … Und was würde er nun tun? Sich wirklich bei ihr einquartieren, anstatt zu tun, was er zu tun versprochen hatte? Das hier könnte alles ruinieren! Wie hatte er nur …

 „Haben Sie sich schon nach der Gästekammer umgesehen?“, durchbrach Granger seine rasenden Gedanken.

 Er wandte sich zu ihr um. „Nein“, sagte er, „das wird nicht nötig sein.“ Mit großen Schritten ging er auf sie zu und weil sie noch immer in der Tür stand und ihm den Weg versperrte, sagte er: „Ich werde wieder zurückkehren.“

 Sie zog überrascht ihre Augenbrauen in die Stirn. „Tatsächlich?“

 „Ja. Gehen Sie mir aus dem Weg, Miss Granger.“

 Aber sie schmunzelte nur. „Wollen Sie sich die Hexenverbrennung wirklich entgehen lassen?“

 Was eine so sonderbare Frage war, dass Severus doch stutzte. „Hexenverbrennung?“

- - -

 Aber sie sagte ihm nichts Weiteres über die Hexenverbrennung, vor allem nicht, warum sie sich so sehr darauf zu freuen schien. Stattdessen drängte sie ihn dazu, sich zu setzen, und kochte Tee, bevor sie sich zu ihm an den Tisch setzte.

 „Wo ist eigentlich Ihr Mann?“, erkundigte sich Severus, während er die Tasse vor sich skeptisch beäugte. Er hielt im Allgemeinen nicht viel von Tee. Trank ihn generell nur, wenn Pomona ihn zubereitet hatte. Es stand also außer Frage, dass ihm Grangers Variante schmecken würde. Vielleicht sollte er sie um Wasser bitten.

 „Welcher Mann?“, riss ihre Gegenfrage ihn aus seinen Überlegungen und als er den Blick hob, sah er, dass sie die Stirn gerunzelt hatte.

 „Der Mann, von dem Sie sich diesen Ring an den Finger haben stecken lassen“, präzisierte er und nickte zu ihrer linken Hand.

 „Ah, der Ring.“ Sie trank einen Schluck von ihrem Tee. „Das ist kein Ehering. Auch wenn es hilfreich ist, dass alle das glauben …“

 Severus schnaubte leise. „Ich wette, das ist es.“

 Sie quittierte das mit einem geheimnisvollen Lächeln.

 „Sie leben also hier?“

 „Offensichtlich“, entgegnete sie, aber mehr sagte sie nicht.

 „Warum?“

 „Warum was?“

 „Warum leben Sie hier, Miss Granger? In dieser Zeit. Hat Ihnen die Ihre nicht genug bieten können?“

 Sie atmete langsam aus. „Doch, das hat sie“, sagte sie schließlich. „Aber wie ich bereits sagte: Ich habe hier etwas zu erledigen.“

 „Mit mir“, ergänzte er, denn das war es, was sie gesagt hatte: Ich habe Sie schon erwartet.

 „Ja“, gab sie zu.

 Er verengte die Augen. „Und Sie werden mir nicht sagen, was genau das ist.“

 Granger neigte wieder den Kopf. „Muss ich das denn?“

 Severus wandte den Blick ab. Er hasste es, dass sie alles wusste. Ja, er hatte sich in einem Moment der Schwäche jemanden gewünscht, mit dem er über das, was Dumbledore und der Dunkle Lord von ihm verlangten, reden konnte. Der ihm von dem großen Ganzen erzählen und ihm einen guten Grund für alles, was er tat, nennen konnte. Aber dabei hatte er nicht an Hermine Granger gedacht! „Woher wussten Sie, dass ich herkommen würde?“

 Sie zog die Augenbrauen hoch.

 Und als sie nicht antwortete, kräuselte er die Oberlippe. „Sagen Sie mir dann wenigstens, womit Sie hier Ihre Zeit verbringen? Ich hoffe doch nicht nur mit Wäschewaschen.“

 „Nicht nur, nein. Ich verdiene mein Geld als Heilerin. Und in der restlichen Zeit bin ich … anderweitig beschäftigt.“

 „Womit?“

 Sie schürzte die Lippen. „Experimente.“

 Severus runzelte die Stirn. „Was für Experimente?“

 Sie bedachte ihn mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck, doch als das seinem forschenden Blick keinen Abbruch tat, ruckte sie mit dem Kopf zu seiner nach wie vor unberührten Tasse. „Zum Beispiel gute Teerezepturen. Sie sollten es darauf ankommen lassen, Sir.“ Dann stand sie auf und stieg die Treppe ins Dachgeschoss hinauf.

 Severus sah ihr hinterher. Erst als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, beugte er sich über die Tasse und inhalierte den Geruch, der von ihrem Tee aufstieg. Durchaus angenehm. Erinnerte tatsächlich an Pomonas Aufgüsse.

 Als würde er einen suspekten Trank untersuchen, nahm er die Tasse hoch und führte sie an seine Lippen. Er nippte daran und wartete, bis der Geschmack sich auf seiner Zunge entfaltete. Dann riss er die Augen auf und sah sich nach ihr um. „Ich erwarte Antworten!“, rief er.

 Denn das war Pomonas Tee.

- - -

 Aber Granger gab ihm auch dieses Mal keine Antworten. „Sie sind noch nicht soweit“, sagte sie nur, während sie sein Bett bezog, und weil sein finsterer Blick aus ihm unerfindlichen Gründen nicht mehr funktionierte, um sie umzustimmen, kehrte er ins Untergeschoss zurück und sah sich um.

 Dabei entdeckte er eine Tür, die vom Wohnzimmer aus abging. Sie lag direkt neben dem Kamin, etwas verborgen in den Schatten, weswegen sie ihm vorher noch nicht aufgefallen war. Severus schürzte die Lippen, als er die Banne spürte, mit denen sie belegt war. Er sah sich um. Und weil er immer noch allein hier unten war und Granger ihn frustrierte, ließ er seinen Zauberstab in die Hand gleiten und machte sich daran, die Banne aufzuheben.

 Sie wusste tatsächlich, wie sie ihren Zauberstab zu benutzen hatte; er brauchte länger als erwartet, um die Banne zu durchbrechen. Aber schlussendlich klickte es und die Tür schwang auf.

 Severus steckte den Kopf hindurch und als an den Wänden Lichter zum Leben erwachten, schnaubte er leise. Es war ein Labor. Sie hatte das mit den Experimenten also wirklich ernst gemeint.

 Neugierig ging er auf den Kessel zu, der in der Mitte des Raumes auf einem Tisch über einem kleinen Feuer hing. Mit gerunzelter Stirn spähte er hinein und roch an den Dämpfen, die daraus aufstiegen. „Vielsafttrank?“, murmelte er schließlich. Was spielte sie für ein verdammtes Spiel?

 „Was tun Sie hier?“

 Grangers scharfe Stimme ließ ihn aufsehen. „Ich schaue mich um“, antwortete er und zog die Augenbrauen hoch, musterte sie erneut misstrauisch. Vielleicht führte sie ihn doch hinters Licht. Vielleicht war er drauf und dran, in eine Falle zu tappen …

 Er richtete in einer schnellen Bewegung seinen Zauberstab auf sie, wirkte einen nonverbalen Stupor, aber sie war schneller; er prallte an ihrem Protego ab und Severus musste sich davor ducken. „Hören Sie auf damit!“, rief sie laut. „Der Trank ist nicht für mich!“

 Severus stierte sie finster an. „Wozu brauen Sie ihn dann?“

 Sie hob ihr Kinn ein Stück. „Bleiben Sie und finden Sie es heraus“, sagte sie dann, klang dabei äußerst kurz angebunden, und wandte sich tatsächlich um, ohne sich vor weiteren Angriffen seinerseits zu schützen. Im Gehen fügte sie noch hinzu: „Und errichten Sie die Banne wieder, bevor Sie das Labor verlassen! Ich will morgen keine Tiere darin finden!“

 Er runzelte die Stirn. „Was für Tiere, glauben Sie, können sich denn Zutritt in einen fensterlosen Raum verschaffen?“, rief er ihr hinterher, umrundete den Labortisch und ging zur Tür. Sie stand in der Kochecke und nahm ein Brett und ein definitiv modernes Messer aus einer Schublade.

 Auf seine Frage hin hielt sie inne und sah sich am Bücherregal vorbei nach ihm um. „Ich weiß nicht“, sagte sie verstimmt, „eine Hirschkuh vielleicht?“

 Ihre Worte ließen ihn abrupt stehenbleiben. Severus starrte sie mehrere Sekunden lang an und versuchte herauszufinden, ob es Zufall war oder ob … ob sie auch das wusste. Und wenn ja, woher? Woher konnte sie …

 „Tut mir leid“, murmelte sie, „ich hätte das nicht sagen sollen.“ Sie wandte sich wieder der Arbeitsplatte zu und band sich die Haare zurück.

 „Woher wissen Sie das?“, fragte Severus und ging zu ihr.

 „Vergessen Sie es, ich hätte das wirklich nicht sagen sollen.“

 „Sie haben es aber gesagt!“ Er packte sie am Arm und drehte sie herum. Sie holte scharf Luft. „Woher wissen Sie das, Miss Granger?“

 Sie schluckte, ihr Blick sprang zwischen seinen Augen hin und her. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

 Er knurrte leise und ließ sie los, trat rasch einen Schritt zurück, weil ihm mit einem Male sehr bewusst wurde, wie nahe er ihr gekommen war. Ungebührlich nahe. „Ich habe genug von Ihren Spielchen“, beschloss er dann.

 „Was soll das heißen?“

 „Das heißt, dass ich gehe! Ich sollte ohnehin nicht hier sein. Wie Sie ja selbst wissen, habe ich eine Aufgabe zu erledigen.“ Er wandte sich ab, bevor er ihre Reaktion darauf sehen konnte. Er wollte es nicht wissen, falls er es nicht schaffte. Er wollte es nicht wissen, weil das nicht zur Debatte stand. Er musste es schaffen und die Tür des viel zu perfekten Holzhauses knallte laut gegen die Wand, als er sie aufriss und nach draußen stürmte.

 „Professor Snape!“, rief Granger hinter ihm her, aber er hörte nicht auf sie. Blieb nicht stehen, sah sich nicht nach ihr um. Das alles war Irrsinn und er musste zurück. So schnell wie möglich!

- - -

 Trotzdem apparierte er nicht, sondern lief wieder den einzigen Pfad hinunter, den es zwischen dem Riss und Grangers Haus gab. Denn natürlich hatte sie sicherstellen müssen, dass er ihr begegnete, sobald er hier ankam. Severus schnaubte abfällig. Sie war genauso wie Dumbledore. Auch sie könnte ihm einiges erzählen und tat es nicht. Warum glaubten eigentlich alle, dass sie ihn spielen konnten wie eine verdammte Marionette? Warum glaubten alle, dass er es einfach akzeptieren würde, nur das zu wissen, was notwendig war? Und warum glaubten alle, dass sie entscheiden könnten, was notwendig war und was nicht?

 Merlin, er hätte schreien können! Nicht mal ein Zeitsprung dieses Ausmaßes reichte, um einen Menschen zu finden, der ihn nicht gängelte! Dann konnte er auch zurückkehren und weiter nach Dumbledores Pfeife tanzen.

 Und dennoch … Als er den Riss in der Zeit erreicht hatte, blieb er verschwitzt und schwer atmend davor stehen, anstatt hindurchzugehen. Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte die flimmernde Oberfläche an. Sein Kopf war leer, kein einziger Gedanke kreuzte seinen Verstand, gerade so, als seien sie nach Jahren des Grübelns müde geworden und hätten sich endlich zur Ruhe gelegt.

 Severus lachte freudlos, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Eine warme Brise wehte ihm die Haare aus dem Gesicht und trieb den Geruch von Blüten und einem nahenden Schauer in seine Nase. Das Blattwerk rauschte wie die Wellen an der Küste Nordenglands.

 Doch als neben ihm ein Ast knackte, riss er die Augen auf und wirbelte herum. Der Stupor steckte quasi schon in seinem Zauberstab, als er Granger erkannte, und es kostete ihn einige Mühe, den Fluch zu stoppen – nicht dass das nötig gewesen wäre. „Was wollen Sie?“, fragte er düster und ließ den Zauberstab sinken.

 „Sie aufhalten.“

 „Warum? Ich kann nicht hierbleiben.“

 „Nicht für immer, nein. Aber … noch eine Weile.“

 Severus rieb sich die Augen. „Wofür?“, fragte er mit belegter Stimme. „Wofür sollte ich noch länger hierbleiben, wenn ich doch ohnehin zurückkehren muss?“ Erst als er sie wieder ansah, erinnerte er sich daran, mit wem er gerade sprach und dass er sich dafür schämen sollte, sich einer Schülerin gegenüber so zu vergessen. Er straffte seine Haltung.

 „Vertrauen Sie mir, Sir“, entgegnete Granger mit warmer Stimme. „Geben Sie mir eine Chance.“

 Er starrte sie lange an. Und zu seiner Überraschung spürte er sich erst nicken, bevor er eine Bedingung stellte: „Nur wenn Sie mir endlich meine Fragen beantworten.“

 „Zum richtigen Zeitpunkt werde ich das tun.“

 „Und wann ist der richtige Zeitpunkt?“

 Sie lächelte flüchtig. „Sie werden es sehen.“

 Aber damit gab er sich nicht zufrieden. „Woher wissen Sie, wann der richtige Zeitpunkt ist?“

 Granger holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, so als würde sie abwägen, ob sie es ihm sagen konnte oder nicht. Sie schien sich für Letzteres zu entscheiden, denn sie sagte wieder: „Vertrauen Sie mir. Bitte.“

 Severus rümpfte die Nase. „Vertrauen …“, murmelte er abfällig. Wie er es hasste!

 Sie senkte den Blick. „Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen.“

 „Aber?“, hakte er nach, als sie nicht weitersprach.

 „Nichts aber“, sagte sie mit einem Kopfschütteln. „Ich verlange viel von Ihnen und ich hoffe, dass Sie es mir geben können.“

 Severus sah weg und sein Blick fiel wieder auf den Zeitriss. Seine Nackenhaare stellten sich auf bei der Vorstellung, jetzt hindurchzugehen. Hatte er wirklich etwas zu verlieren, wenn er noch blieb? Granger – und inzwischen zweifelte er nicht mehr daran, dass sie es wirklich war – wusste offensichtlich einiges, das er nicht wusste. Und sie würde es nicht riskieren, den Dunklen Lord gewinnen zu lassen. Wenn sie sagte, dass er noch bleiben sollte, dann … konnte er ihr wohl vertrauen. „Also gut“, murmelte er leise.

 „Gut“, atmete sie auf. „Wollen Sie zurück laufen oder apparieren?“

 „Laufen“, sagte er und als sie bereits nickte und sich dem Pfad zuwandte, fügte er hinzu: „Allein.“

 Sie stockte und musterte ihn ein paar Sekunden lang. Dann schien sie zu begreifen, dass sie kein Vertrauen von ihm verlangen konnte, ohne ihm denselben Gefallen zu tun, und nickte. „Okay. Bis später.“ Im nächsten Moment war sie verschwunden. Severus seufzte schwer und rieb seine flachen Hände über das Gesicht, bevor er sich langsam auf den Rückweg machte.

- - -

 Am nächsten Morgen klopfte es laut an der Haustür und Severus schrak in die Höhe – um sich den Kopf an einem Dachbalken zu stoßen. Hart. Mit einem derben Fluch auf den Lippen rieb er sich die Stirn, duckte sich tiefer als nötig unter dem Balken hinweg und stellte die Beine auf den Boden.

 Wer zum Teufel kam Granger so früh besuchen, dass nicht einmal er schon aufgestanden war?

 Doch als er zehn Minuten später nach unten ging – mit finsterer, sehr finsterer Miene – musste er feststellen, dass seine innere Uhr möglicherweise nicht ganz nach der hiesigen Zeit tickte. Granger war ebenfalls munter und wirkte ganz und gar nicht so, als wäre sie unfreiwillig aus dem Schlaf gerissen worden.

 „Guten Morgen, Sir“, begrüßte sie ihn und lächelte.

 Er knurrte zur Antwort.

 „Oh, ist er das?“

 Diese neugierige Frage brachte ihn dazu, sich nach dem Gast umzusehen. Er entdeckte eine junge Frau mit roten Haaren, die sie zu zwei Zöpfen geflochten und an ihrem Kopf aufgedreht hatte. „Ist er was?“, fragte er.

 „Ja, das ist er“, antwortete Granger, ohne auf seinen Einwand zu achten.

 Die braunen Augen der fremden Frau wurden größer, während sie ihre Lippen zu einem stummen O formte. Dann setzte sie eine Schildkröte auf den Küchentisch und kam zu ihm. Ungeniert betrachtete sie ihn von oben bis unten, dann umrundete sie ihn und schnalzte schließlich mit der Zunge. „Jetzt verstehe ich, dass du so lange ausgeharrt hast, Mina.“

 „Wie bitte?“, fragte Severus indigniert.

 Granger verdrehte die Augen und lief etwas rosa an. „Hör auf damit!“

 „Womit denn?“, fragte die Fremde unschuldig und grinste.

 „Vor allem damit, mich so anzusehen“, schnarrte Severus, „bevor Sie es bereuen.“

 Sie wandte sich mit irritiertem Blick zu Granger um. „Er meint es ernst“, informierte diese sie.

 Ihr Blick flog zu Severus zurück. „Gutaussehend und gefährlich“, murmelte sie, womit sie einen konsternierten Blick von Severus und Granger provozierte. Doch sie schien es nicht zu bemerken, denn sie schmunzelte nur in sich hinein, drehte sich um und nahm ihre Schildkröte wieder an sich. Zärtlich strich sie ihr über den Panzer.

 „Ich ähm … denke, es ist besser, wenn du gehst, Wendeline. Wir sehen uns heute Abend im Dorf, okay?“

 „Ist gut.“ Die Fremde, die offensichtlich mit dem Namen Wendeline geschlagen war, schnappte sich einen Apfel vom Tisch und wandte sich um.

 „Und sei pünktlich!“, mahnte Granger sie, während sie sie zur Tür begleitete.

 „Bin ich das nicht immer?“

 „Nein.“

 „Das eine Mal …“, seufzte die andere.

 „Das eine Mal hätte uns beinahe auffliegen lassen und Isobel fast das Leben gekostet!“

 „Jaah, ich weiß, ich werde pünktlich sein. Versprochen!“

 „Gut!“

 Während die beiden Frauen sich unterhielten, kniff Severus die Augen zusammen und dachte nach. Wendeline … Hexenverbrennung … Das kam ihm bekannt vor. Doch erst, als die Tür hinter ihr ins Schloss klickte, rastete auch in seinem Kopf etwas ein. „Das ist Wendeline die Ulkige?“, fragte er perplex.

 „Allerdings“, stimmte Granger vergnügt zu und setzte sich an den Tisch. „Ich habe auch nie wirklich an ihre Existenz geglaubt. Bis sie plötzlich vor mir stand.“

 Severus blinzelte mehrmals, ehe er ebenfalls zum Tisch ging und sich setzte. „Woher hat sie die Schildkröte?“

 „Aus dem Dublin des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Grangers Stimme klang so beiläufig, als würde sie vom Wetter reden. Erst als sie seine hochgezogenen Augenbrauen bemerkte, fügte sie hinzu: „Wie sich herausgestellt hat, ist Wendeline ganz und gar keine Hexe dieser Zeit, sondern hat denselben Zeitriss entdeckt wie wir, allerdings bereits kurz nachdem er sich geöffnet hat. Und weil sie neugierig und furchtloser ist, als es ihr gut tut, ist sie durchgegangen. Mehr als einmal.“

 „Das hätte ich jetzt nicht erwartet“, gab er zu.

 „Trösten Sie sich, ich auch nicht.“ Sie lächelte schief. „Ich bin aber froh darüber, ohne ihre Hilfe wäre ich hier anfangs ziemlich aufgeschmissen gewesen, Geschichtswissen hin oder her. Möchten Sie auch einen Kaffee?“

 „Ich möchte lieber wissen, wozu Sie sich mit Wendeline der Ulkigen verabredet haben. Oder ist auch dafür der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen?“

 Granger quittierte seine Frage mit einem kleinen Lachen. Es klang so sehr wie das, das er in Hogwarts hin und wieder von ihr aufgeschnappt hatte, dass er instinktiv auf seinem Stuhl zurückwich, so als wäre er ihr schon wieder viel zu nahe gekommen. Sie schien es jedoch nicht zu bemerken, vielleicht weil sie ohnehin gerade aufstand, um den Kaffee zu holen. „Dafür braucht es keinen richtigen Zeitpunkt. Aber es würde mehr Spaß bringen, wenn Sie sich einfach überraschen lassen.“

 „Natürlich würde es das“, grollte er dunkel.

 Sie grinste ihn verschmitzt an. „Oh, seien Sie nicht so, Sir! Außerdem: Sie kennen doch die Überlieferungen von Wendeline. Und ich habe Ihnen gestern eine Hexenverbrennung versprochen. Ihnen fehlen also nur noch die Details – und der Vielsafttrank, den Sie gestern in meinem Labor entdeckt haben, ist eines davon.“ Sie setzte sich wieder zurück an den Tisch und ihr Vergnügen machte einer aufrichtigen Freundlichkeit Platz. „Denken Sie mal eine Weile darüber nach anstatt über die Dinge, die Sie auf der anderen Seite des Risses zurückgelassen haben.“

 Er schürzte die Lippen.

 „Und gehen Sie raus! Die Sonne scheint und es gibt eine Bank auf der Ostseite des Hauses. Wann haben Sie das letzte Mal einfach nur in der Sonne gesessen?“

 Severus senkte den Blick, denn die Wahrheit war: Er wusste es nicht mehr. In den letzten Jahren war er immer in irgendeiner Form beschäftigt gewesen, selbst im Sommer. Und Spinner's End lud ohnehin nicht dazu ein, sich irgendwo in die Sonne zu setzen.

 Also beherzigte er Grangers Rat, wenn auch aus Prinzip mit einem verächtlichen Schnauben, nahm seine Tasse und ging hinaus, um sich auf der Bank in die Sonne zu setzen.

- - -

 Der folgende Abend brachte ihm dann die Antworten, über die er im Laufe des Tages tatsächlich intensiver nachgedacht hatte als über Dumbledore und den Dunklen Lord – wenn auch möglicherweise nur, weil die beiden gerade mehr als fünfhundert Jahre weit weg waren. Die Frage nach dem aktuellen Datum hatte Granger ihm nämlich beantwortet: „Wir haben heute den 25. Mai 1488, Sir.“ Sie sagte es mit einem Grinsen, vermutlich weil sie aus eigener Erfahrung wusste, wie sich so ein Datum anfühlte, wenn man sich normalerweise als Kind des 20. Jahrhunderts begriff. „Man gewöhnt sich irgendwann daran …“

 „Sicher“, grollte er und wollte sich bereits abwenden, als er noch einmal innehielt. „Glauben Sie, die Hexenverfolgung ist das zweite mächtige Ereignis, das den Zeitriss verursacht hat?“

 Sie zog eine Schulter hoch. „Ich nehme es an. Jedenfalls habe ich nirgendwo Hinweise auf andere Ereignisse in dieser Zeit gefunden.“ Sie seufzte leise. „Ich fand es … amüsant, als wir im Unterricht über Wendeline gesprochen haben und dass sie es mochte, verbrannt zu werden, weil ihr die Flammen nichts anhaben konnten. Aber das trifft nur auf die wenigsten Hexen zu. Zauberstäbe gibt es in dieser Zeit kaum, die Zauberstabkunst steckt noch in den Kinderschuhen, und die, die es gibt, sind unglaublich teuer. Ich habe ein paar aus unserer Zeit mitgebracht, aber die Kommunikation in der magischen Bevölkerung ist … dürftig. Die meisten geben sich verständlicherweise große Mühe, nicht als Hexen erkannt zu werden, das macht es schwierig. Die meisten Hexen und Zauberer können jedenfalls nur rudimentär stablose Magie wirken und sie sind besser darin, Feuer zu entzünden als es zu löschen oder sogar einen Flammen-Gefrierzauber zu wirken. Ich glaube, es sind mehr echte Hexen verbrannt worden, als die Geschichtsbücher es wiedergeben.“

 „Wahrscheinlich“, sagte er leise. Und wenn er sich recht erinnerte, dann standen sie im 15. Jahrhundert auch noch am Anfang der Ära der großen Hexenverfolgungen. Auf dieser Seite musste der Riss sich über Jahrhunderte erstrecken, wenn wirklich die Hexenverfolgung der andere Pol der Schleife war.

 Nichtsdestotrotz vibrierte Granger an diesem Abend vor freudiger Erwartung und stattete Severus mit einem etwas akkurateren zeitgemäßen Gewand sowie einem Übersetzungszauber aus. „Nur falls jemand Sie anspricht …“, sagte sie dabei und er war froh darüber, auch wenn er ihr das niemals sagen würde. Das Englisch dieser Zeit war ein komplett anderes als er es sprach. Und auf dieser Ecke mischte sich vermutlich auch noch uraltes Gälisch mit hinein. Aber Granger sprach den Zauber nicht auf sich und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie lange sie schon hier war, wenn sie genug Zeit gehabt hatte, um die Sprache ausreichend gut zu lernen, dass sie sich ohne magische Unterstützung unter die Leute mischen konnte. Aber diese Frage würde sie ihm wohl ohnehin nicht beantworten. „Passen Sie auf, dass man Ihren Zauberstab nicht sieht“, war alles, was sie vor ihrem Aufbruch noch sagte.

 „Selbstverständlich.“

 Und so stand er nun mitten auf dem Marktplatz des nächstgelegenen Dorfes. Der laue Sommerwind spielte mit den für seinen Geschmack viel zu weiten Kleidern, während er die Menge der Menschen beobachtete, die grölte und buhte, während die letzten Vorbereitungen am Scheiterhaufen getroffen wurden. Granger stand neben ihm und ließ den Blick schweifen, zweifellos auf der Suche nach Wendeline.

 Eine Mischung aus vielen Gerüchen hing in der Luft, der Wind trug sie mit sich. Zum einen natürlich der Geruch von Feuer; auch wenn der Scheiterhaufen noch nicht entzündet worden war, brannten überall kleinere und größere Feuer, über denen Essen gegart wurde. Auch das konnte er riechen, intensiver, als es ihm lieb war. Aber was ihn besonders abstieß, war die Vielzahl von Körpergerüchen, Abwasser und Dreck. Es war kein sonderlich sauberes Jahrhundert, in dem er gelandet war.

 Granger schmunzelte, als sie ihn die Nase rümpfen sah. „Man …“

 „Ja, ich weiß“, unterbrach er sie, „man gewöhnt sich daran.“

 Schließlich tauchte Wendeline aus der Menge auf. „Da bist du ja“, sagte Granger. „Können wir dann?“

 „Ich bin bereit.“

 „Bereit wofür?“, fragte Severus.

 „Sie werden es sehen.“ Granger griff nach seinem Arm und zog ihn hinter sich her in eine verdreckte, aber verlassene Gasse. Wendeline folgte ihnen. „Wir werden apparieren“, informierte Granger ihn, ungefähr zwei Sekunden, bevor er an ihrer Seite durch ein Schlüsselloch gequetscht wurde.

 Severus keuchte und stolperte, als sie an ihrem Ziel angekommen waren, während er Granger einen Imperturbatio-Zauber sprechen hörte. Merlin, er hasste Seit-an-Seit-Apparationen … Nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, sah er sich um – und stellte fest, dass sie in einer Gefängniszelle waren. „Was zum Teufel …“, murmelte er.

 „Cristiana!“, hörte er Wendelines Stimme und wandte sich zu ihr um. Im hinteren Teil der Zelle hockte eine Frau in einem dreckigen Leibchen.

 „Wendy!“, rief sie und stolperte auf ihre Füße. Die beiden fielen sich in die Arme.

 „Wir haben nicht viel Zeit“, schaltete Granger sich ein und zog eine Phiole aus ihrer Tasche. Und obwohl er sie verstehen konnte, bemerkte er, dass sie nun eine andere Sprache, ein anderes Englisch, Gälisch, irgendetwas dazwischen sprach. Er beobachtete fasziniert ihren Mund. „Ich brauche ein Haar von dir“, sagte sie gerade und Severus blinzelte.

 „Ja, natürlich“, murmelte die Frau namens Cristiana und fuhr sich durch die Haare, bis eines davon an ihren Fingern hängenblieb. „Hier!“ Da sie sich nicht darüber zu wundern schien, dass sie aus dem Nichts aufgetaucht waren und dass Granger ihr Haar in eine Phiole steckte, nahm Severus an, dass sie eine jener echten Hexen war. Und allmählich begriff er auch, was hier passierte.

 „Dafür brauchen Sie den Vielsafttrank“, sagte er (nun selbst in einer anderen Sprache, ohne dass er es hätte steuern können) und beobachtete, wie Granger die Phiole an Wendeline weiterreichte, die sich in der Zwischenzeit bis auf ihr Leibchen ausgezogen hatte und ihm nun bedeutete, sich umzudrehen, vermutlich damit die beiden Frauen ihre Kleidung wechseln konnten.

 „Theoretisch bräuchte ich ihn nicht“, erklärte Granger und klang ein bisschen vorwurfsvoll, „aber zumindest dieser Teil in den Geschichtsbüchern ist wahr: Wendeline mag es, auf dem Scheiterhaufen zu stehen, also übernimmt sie das für jede Frau, die wir hier rausholen …“

 „Es kitzelt immer so herrlich“, schaltete eben diese sich ein.

 „Schon klar“, stöhnte Granger. „Seid ihr soweit?“

 „Ja, ihr könnt euch wieder umdrehen.“

 Als Severus es tat, stand er zwei Cristianas gegenüber, eine von ihnen in dem dreckigen Leibchen, die andere in dem Kleid, das Wendeline vorher getragen hatte.

 „Gut. Dann gib mir deinen Zauberstab und wir bringen Cristiana weg, damit wir rechtzeitig wieder hier sind.“

 „Ich bitte darum“, entgegnete die Cristiana, die eigentlich Wendeline war, und reichte Granger ihren Zauberstab.

 „Ich werde dich schon nicht verbrennen lassen“, sagte die und hielt dann einen Arm für Cristiana hin, den anderen für ihn.

 Severus verzog das Gesicht; er hätte es bevorzugt, allein zu apparieren, aber da er nicht wusste, wohin es gehen sollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als eine weitere Seit-an-Seit-Apparation über sich ergehen zu lassen.

 Sie trug sie an einen Waldrand und Cristiana keuchte genauso wie er. „Seid ihr beide heil?“, fragte Granger.

 „Ja“, grollte Severus und Cristiana nickte.

 „Nur etwas übel“, murmelte sie.

 „Das gibt sich gleich. Heli?“ Letzteres rief sie lauter und Severus sah sich wachsam um.

 Kurz darauf hörte er jemanden näherkommen. „Ich bin hier!“

 „Perfekt! Ich muss zurück, Wendeline war schon wieder zu spät.“

 „Ja“, keuchte die Frau, die offenbar Heli hieß, „ich bin hier, ich kümmere mich um Cristiana.“

 „Viel Glück!“, sagte die, während sie sich einen Umhang anzog, den Heli mitgebracht hatte.

 „Dir auch“, entgegnete Granger, „mach's gut!“ Die beiden Frau disapparierten und Granger wandte sich zu ihm um. „Wollen Sie allein zurück zum Marktplatz apparieren?“

 „Unbedingt“, schnarrte er und sie nickte ihm knapp zu, bevor sie selbst verschwand. Severus schnaubte leise, dann konzentrierte er sich und folgte ihr.

 Granger war nirgendwo zu sehen, als er aus der dreckigen Gasse auf den Marktplatz zurückkehrte, und so stellte er sich an den Rand und beobachtete etwa eine Viertelstunde lang das Geschehen. Wendeline wurde gefesselt zum Scheiterhaufen geführt und die Menge begann wieder zu johlen und zu buhen, die Hexe wurde beworfen mit etwas, von dem Severus vermutete, dass es altes Gemüse war, erkennen konnte er es jedoch nicht. Als die Flammen begannen, gierig an den aufgeschichteten Holzscheiten zu lecken und sich immer weiter zu der Frau vorarbeiteten, die gefesselt obenauf thronte, schüttelte er den Kopf und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eines der umstehenden Häuser. Wendeline schrie wie am Spieß, flehte um Gnade, wehrte sich gegen die Fesseln. Wenn er nicht gewusst hätte, dass Granger ausreichend Zeit gehabt hatte, um den nötigen Zauber zu sprechen, wäre er überzeugt gewesen, sie würde tatsächlich verbrennen.

 Aber als Granger ihn schließlich wiederfand, grinste sie. „Und? Genießen Sie das Spektakel?“, fragte sie und er musste sich zu ihr lehnen, damit er sie verstehen konnte. Ihr Atem strich warm über sein Ohr.

 „Wie oft haben Sie dieses Schauspiel schon abgezogen?“, fragte er zurück, versuchte aber, ihr nicht näher als unbedingt nötig zu kommen, auch wenn sie im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen um sie herum sehr angenehm roch. Er hätte am liebsten einen Muffliato über sie gesprochen, aber er wagte es nicht, seinen Zauberstab aus dem Ärmel zu holen.

 „Das ist jetzt das achte Mal. Bald haben wir Jubiläum.“

 „Sie scheinen ja eine Menge Spaß daran zu haben.“

 „Warum sollte ich keinen Spaß daran haben?“ Sie sah sich um und flüsterte dann direkt in sein Ohr: „Es ist … befriedigend, wenigstens ein paar Menschenleben zu retten.“

 Gänsehaut lief über Severus' Rücken und er wich zurück. Mit schmalen Augen musterte er ihr Gesicht, ihre geröteten Wangen, ihre Zunge, die hervorschnellte und ihre Lippen befeuchtete. „Ach ja?“

 „Empfinden Sie das nicht so?“

 Er wandte den Blick ab und verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Ich weiß es nicht mehr“, sagte er leise und hoffte, dass sie ihn nicht gehört hatte. In letzter Zeit hatte es nicht viele Leben zu retten gegeben für ihn. Er hatte häufiger dabei zusehen müssen, wie sie starben.

 Schließlich nickte er zum Scheiterhaufen hinüber. „Was sieht Ihr Plan denn für die Flucht vor? Die werden doch merken, dass sie nicht verbrennt.“

 „Ich habe ein paar der Holzscheite in täuschend echt aussehende Überreste verwandelt, als die Flammen hoch genug waren. Und Wendeline trägt einen Ring, verborgen von einem Illusionszauber. Es ist ein Portschlüssel und sobald die Flammen hoch genug sind, wird sie ihn mit einem Passwort aktivieren und er bringt sie zu sich nach Hause. Dort wäscht sie sich und wartet, bis der Vielsafttrank seine Wirkung verliert. Und dann kommt sie zurück und mischt sie sich unter das Volk.“ Wieder fuhr sie sich mit der Spitze ihrer Zunge über die Lippen. „Hinterher wird gefeiert, Sir.“

- - -

 Severus wäre am liebsten zu Grangers Haus zurückgekehrt, als besagte Feier begann. Er hasste Feiern, er hasste Tanzen und er hasste laute Menschen, insbesondere, wenn es Muggel waren. Alles davon gab es hier im Überfluss.

 Aber Granger schien das zu mögen, jedenfalls genug, um ihren Spaß zu haben. Und Severus brachte es überraschend viel Spaß, sie dabei zu beobachten.

 Hogwarts richtete zu wenig Bälle und Feiern aus, als dass er sie vorher schon mal so ausgelassen hätte sehen können. Und selbst wenn, hätte er vermutlich nicht allzu genau hingesehen, immerhin war sie seine Schülerin und beinahe zwanzig Jahre jünger als er. Es wäre ihm nicht mal im Traum eingefallen, sie dort so zu beobachten, wie er es hier tat.

 Denn hier war einfach alles anders. Sie war keine Schülerin, er gerade kein Lehrer. Und sie war keine zwanzig Jahre jünger, sondern nur noch ungefähr zehn oder elf. Es fühlte sich nicht mehr allzu ungebührlich an, sie beim Tanzen zu beobachten. Vermutlich sollte es das, aber nein. Je mehr Zeit Severus hier verbrachte, desto unwichtiger wurden die Regeln, die in seiner Zeit galten.

 Und das schien auch Granger zu spüren, denn irgendwann im Laufe der Nacht griff sie nach seinem Arm und zog ihn hinaus auf den Marktplatz, dorthin, wo zur Musik einer Gruppe von Bauern getanzt wurde, die ihre Instrumente mitgebracht hatten. „Auf keinen Fall“, protestierte er und stemmte seine Füße in den Boden.

 „Oh, kommen Sie schon! Sie können nicht die ganze Zeit da stehen und finster dreinblicken! Dafür sind Sie nicht hier!“

 „Wofür bin ich dann hier?“, fragte er zurück, spürte aber seinen Widerstand schwinden.

 Sie sah schwer atmend zu ihm auf, ein paar Haare klebten in ihrem verschwitzten Gesicht und ihre Wangen waren rot angelaufen. „Um weitermachen zu können“, sagte sie und ihre braunen Augen blitzten. „Kommen Sie schon!“

 Also gab er nach. Und weil er noch nie auf diese Art getanzt hatte (Lucius hatte ihm nur ein paar Standardtänze für die Bälle, denen er in seiner Jugend auf Malfoy Manor beigewohnt hatte, beigebracht, aber nichts davon entsprach dem hier), musste er Granger die Führung überlassen. Ihre Hand war warm in seiner und es bestand kein Zweifel daran, dass sie einander jetzt entschieden näher waren, als es in ihrer Zeit jemals denkbar gewesen wäre. Ihr Geruch kitzelte seine Nase, ihr Blick hielt seinen fest, so intensiv, als wollte sie Legilimentik bei ihm anwenden. Aber das tat sie nicht. Und er auch nicht. Er wollte die Antworten, die sie ihm versprochen hatte, nicht auf diese Art bekommen.

 „Warum sind Sie hiergeblieben, Miss Granger?“, fragte er, als er diesen Blickkontakt nicht mehr aushalten konnte.

 „Warum sollte ich nicht?“, fragte sie mit lauter Stimme, während ihr Haar bei einer Drehung kurzzeitig seinen Blick auf ihre kirschroten Wangen verdeckte.

 Er beugte sich ein Stück zu ihr. „Weil Sie in unserer Zeit viel mehr hätten erreichen können, als ein paar unglücklichen Hexen das Leben zu retten. Ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie aufgegeben haben?“

 „Wer sagt, dass ich etwas aufgegeben habe?“, lachte sie. „Zugegeben, meine Karriere war ein Opfer, aber das hier macht mich auch glücklich. Und ich bin regelmäßig drüben. Oder dachten Sie, meine Freunde hätten mich einfach gehen lassen? Von meinen Eltern ganz zu schweigen …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es gibt nichts, das ich hier vermisse, Sir.“

 Severus starrte sie an. Zugegeben, sie hatte angedeutet, dass sie den Riss bereits mehrmals durchschritten hatte, immerhin hatte sie ein paar Zauberstäbe besorgt. Aber dass sie zwischen den Zeiten pendelte wie andere zur Arbeit, hatte er nicht erwartet. „Sie kriegen niemals genug, nicht wahr? Es reicht nicht, das Beste aus einer Zeit zu bekommen, es muss das Beste aus Zweien sein“, zischte er und als er sie das nächste Mal herumwirbelte, geriet dies etwas härter, als er es beabsichtigt hatte.

 Granger funkelte ihn an, als sie wieder zu ihm zurückstolperte, und zögerte eine Sekunde lang, bevor sie es doch aussprach: „Neidisch, Sir?“ Und wieder schnellte die Spitze ihrer Zunge zwischen ihren Lippen hervor.

 Sein Blick zuckte dorthin, er konnte es nicht verhindern. Mit einem kleinen Knurren packte er ihren schlanken Körper fester, zog sie an sich und raunte: „Meinen Neid muss man sich verdienen, Granger!“ Dann ließ er sie los und schlug sich einen Weg aus dem Gedränge.

- - -

 „Wie verdient man sich denn Ihren Neid?“, rief ihre Stimme hinter ihm, während er sich auf den Waldrand zubewegte.

 Er hatte genug von dem Fest, er wollte gehen, war sich allerdings noch nicht ganz sicher, wohin – zurück zu Grangers Haus oder in seine Zeit. „Ganz bestimmt nicht so!“, entgegnete er brüsk, verlangsamte seinen Schritt jedoch nicht.

 Zu seinem Bedauern holte sie trotzdem zu ihm auf, griff wieder nach seinem Arm und drehte ihn zu sich herum. „Tatsächlich?“, fragte sie schwer atmend. „So wütend, wie es Sie macht, habe ich nämlich einen anderen Eindruck.“

 „Sie kennen mich nicht, wenn ich wütend bin“, schnarrte Severus. Er machte sich aus ihrem Griff los, blieb aber stehen.

 „Doch, ich kenne Sie, wenn Sie wütend sind“, entgegnete Granger mit einem freudlosen Lächeln. „Ich war mit Harry im Krankenflügel, nachdem Sirius entkommen war am Ende unseres dritten Schuljahres. Ich habe Sie brüllen hören, lange bevor Sie den Krankenflügel betreten haben. Ich kenne Sie, wenn Sie wütend sind, Sir. Und dass ich einfach zwischen den Zeiten hin und her springe, von einer kriegsfreien Zeit in die andere, und mir nehme, was ich will, tue, was ich will, und vor allem nicht tue, was ich nicht tun will, das macht Sie wütend.“

 Er holte tief Luft und hielt sie an, während sein Herz im gleichen Takt wie die Musik auf dem Marktplatz pochte. Gegen seine Rippen und bis in seinen Hals. „Wie könnte es nicht?“, zischte er schließlich. „Wie könnte ich Sie so sehen und nicht wütend werden?“

 Granger nickte. „Ja, wie könnten Sie?“ Sie senkte den Blick dorthin, wo seine Hand war, eine geballte Faust und er hatte es nicht mal bemerkt. Sie berührte sie und Severus zuckte zurück.

 „Was tun Sie, Miss Granger?“ Er sprach ihren Namen scharf aus, eine Erinnerung daran, wer sie war und wer er war.

 Sie schluckte. „Ich ähm … kann Ihnen gerade nicht geben, was Sie wollen. Ich kann nicht ändern, dass Sie etwas tun müssen, das Sie nicht tun wollen.“ Sie hob den Blick. „Ich würde es gern. Ich würde es Ihnen so gern ersparen.“ Sie presste die Lippen aufeinander und in ihren Augen schimmerten Tränen. „Aber alles, was ich Ihnen geben kann, ist, für ein paar Tage das zu tun, was Sie wollen. Und ich hoffe …“ Sie schluckte wieder und ihr Blick zuckte zu seinen Lippen. Dann stemmte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

 Severus holte scharf Luft und wich einen Schritt zurück, griff nach ihren Schultern. „Miss Granger! Sie vergessen sich!“

 Sie lachte kurz auf und nickte. „Ja, absolut! Und ich biete Ihnen an, dasselbe zu tun.“ Sie hob die Hände und löste seine von ihren Schultern, hielt sie fest. Ihre Finger waren ein bisschen kühl. „Ich bin nicht mehr, wen Sie zu kennen glauben. Und ich weiß, wer Sie sind. Ich habe es gesehen. Alles. Und ich bin hiergeblieben. Für Sie.“

 „Nur damit ich tun kann, was notwendig ist“, schnarrte er. „Und das ist definitiv nicht nötig, damit ich weitermachen kann.“

 „Nein“, gab sie leise zu, „aber vielleicht, damit Sie überleben können.“ Ein paar schnelle Atemzüge lang war sie still, hielt seine Hände, strich mit ihrem Daumen über seinen Handrücken. „Damit … ich weitermachen kann“, fügte sie dann hinzu.

 Severus runzelte die Stirn. „Wovon sprechen Sie bloß, Mädchen?“

 Wieder lachte sie kurz und eine Träne fiel auf ihre Wange. „Von über zwei Jahren arithmantischen Berechnungen und Analysen des Zeitrisses und Frauen, die umgebracht werden sollen für etwas, für das ich meine gesamte Kindheit lang gekämpft habe. Für das ich so viel geopfert habe. Ich bin es leid, etwas zu opfern.“ Sie wischte sich über die Wange. „Bist du es nicht auch leid?“

 Er wollte wegsehen, hatte eigentlich geglaubt, dass die vertraute Anrede ihm den nötigen Impuls dafür geben würde. Dass sie ihn wie das Schnalzen einer Peitsche daran erinnern würde, wer er war und wer sie war und dass es eben doch Regeln gab, die nicht mal fünfhundert Jahre überwinden konnten.

 Aber er sah nicht weg. Sah sekundenlang nicht weg, sondern nur in ihre braunen Augen, die im Halblicht des späten Abends schwarz aussahen. Oder vielleicht waren es auch ihre Pupillen, die geweitet waren und ihre braune Iris schluckten. Was auch immer es war, er sah nicht weg und ihre Worte sickerten wie ein warmer Schauer in seinen Körper und seinen Rücken hinab und je tiefer sie sanken, desto mehr vergaß er, wer er war.

 „Ja“, murmelte er schließlich und ihr kleiner stockender Atemzug war dann doch ein Impuls – allerdings keiner, der ihn wegsehen ließ. Ehe Severus zu genau darüber nachdenken konnte, vergaß er sich und küsste sie. Und er hatte noch nicht mal realisiert, was er gerade tat, als Granger sie fort apparierte.
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