Tempus Gratiae
von Charlotte Rhea
Kurzbeschreibung
HG/SS: Professor Snape verschwindet während Hermines 6. Schuljahr für eine Woche. Spurlos. Dann kehrt er zurück und alles ist wie vorher. Abgesehen von ein paar Details, die Hermines Neugier wecken. Aber erst sieben Jahre später fängt das Rätsel an, sich zu lösen. (Überarbeitete Version)
KurzgeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / Het
Hermine Granger
OC (Own Character)
Severus Snape
11.05.2022
23.05.2022
4
25.348
159
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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14.05.2022
5.657
So, da ist er also, mein neuer Nickname, passend zu meinem 15jährigen Jubiläum auf dieser Seite - und das neue Kapitel gleich dazu. ^^
Ich danke euch für die Reviews und Empfehlungen zum ersten Kapitel und hoffe, das nächste gefällt euch ebenfalls. :)
Ohne darauf zu achten, wohin die Sachen flogen, warf Hermine alles hinter sich, was ihr in die Finger kam. Schuhe, Taschen, von Bügeln gerutschte Kleidungsstücke, noch mehr Schuhe – alles landete verstreut auf ihrem Schlafzimmerboden. Bis sie endlich das fand, was sie gesucht hatte. Eine kleine Holzschachtel, die sie bei ihrem Einzug vor drei Jahren in die hinterste Ecke ihres Schrankes geräumt hatte, um nicht ständig darauf zu stoßen.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sich zurücksinken ließ und mit dem Rücken gegen die Schranktür lehnte. Sie hob den Zauber auf, der auf der Schachtel lag, und riss den Deckel herunter. Das Notizbuch, das sie in ihrem siebten Schuljahr begonnen hatte, lag noch immer darin, so unversehrt, als hätte sie es gerade erst hineingelegt.
Hermine nahm es in die Hand und kämpfte sich auf die Füße. Dann lief sie ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Während sie ihre eigenen Notizen durchblätterte, flog ihr Blick immer wieder zu dem Buch, das sie vorhin bekommen hatte. Zu Severus Snapes Notizbuch.
Sie hatte die Handschrift ihres früheren Lehrers selbst nach all den Jahren sofort wiedererkannt. Doch wie konnte es jetzt hier sein? Adressiert an sie. Mit genau dieser Adresse. Wer mochte ihr das Buch geschickt haben? Konnte es sein, dass Snape doch noch lebte?
Diesen letzten Gedanken tat sie mit einem Schnauben ab. Selbst wenn Snape noch leben sollte, warum sollte er ausgerechnet ihr sein Notizbuch schicken? Zwar standen nur Abläufe von Trankexperimenten darin, doch nicht einmal die würde er hergeben.
Hermine blätterte wild durch ihre Notizen, dann warf sie das Buch neben sich auf die Couch und griff wieder nach dem Buch von Snape. Sechs Jahre lang hatte sie es mehr oder weniger erfolgreich geschafft, nicht an die Mysterien zu denken, die diesen dunklen Mann umgeben hatten. Und jetzt war er plötzlich wieder da.
„Was ist nun?“, murmelte Hermine. „Wollen Sie, dass ich das Rätsel löse, oder wollen Sie es nicht?“ Sie schürzte die Lippen. Und dann entschied sie, dass sie in den letzten achtundvierzig Stunden viel zu wenig Schlaf bekommen hatte, um noch klar denken zu können. Das Ganze hatte sechs Jahre lang Zeit gehabt, es würde auch noch eine Nacht länger warten können.
Am nächsten Tag hatte Hermine frei und nutzte die Zeit, um mit ihrem Frühstück und beiden Notizbüchern ins Bett zurückzuklettern und sich das Ganze genauer anzuschauen. Zuerst überflog sie ihre eigenen Aufzeichnungen, denn auch wenn sie damals behauptet hätte, sie so oft gelesen zu haben, dass sie nichts davon jemals vergessen würde, musste sie sich nun doch eingestehen, dass ihr einige Details entfallen waren.
Danach nahm sie sich Snapes Aufzeichnungen vor und war bald in der Welt der Zaubertränke versunken. Begeistert las sie eine Seite nach der anderen, kaute abwechselnd auf ihrem Toast und ihrer Unterlippe und nahm das Buch sogar mit auf die Toilette. Sie verließ den ganzen Tag über das Bett nicht und erst, als es draußen schon wieder zu dämmern begann, schaffte sie es innezuhalten – was einzig und allein an dem Eintrag lag, der mit dem Datum von Snapes Verschwinden gekennzeichnet war. Er bestand nur aus zwei Worten: Doll, Brora.
Hermine ließ das Buch sinken und alle Tränke waren von einem Moment auf den anderen aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie starrte an die Zimmerdecke und versuchte, ihre sich überschlagenden Gedanken zu zähmen. Doll, Brora … Das sagte ihr nichts.
Kurzentschlossen kämpfte sie sich aus ihrer Decke und brachte sich mit Hilfe ihres Zauberstabes in einen ansehnlichen Zustand. Dann schnappte sie sich Snapes Buch und apparierte in die magische Zentralbibliothek.
Fünf Tage später hatte Hermine sich kurzfristig frei genommen, ihren Koffer gepackt und einen Portschlüssel beim Ministerium beantragt, der sie direkt nach Schottland bringen würde – in eine kleine, verschlafene Streusiedlung namens Doll, in der unmittelbaren Nähe des Dorfes Brora. Sie wusste nicht, was sie dort suchte, nur, dass sie nicht nicht suchen konnte. Das geheimnisvolle Auftauchen des Notizbuches hatte ihr Verlangen nach Antworten heißer auflodern lassen als jedes Detail, das sie während ihrer Schulzeit über ihren Tränkelehrer und sein Verschwinden herausgefunden hatte.
Bevor sie sich die zerschlissene Feder schnappte und ihrem Forscherdrang nachging, schrieb sie noch einen kurzen Brief an Ginny und rief eine Eule vom Zentralpostamt. Danach verriegelte sie alle Fenster, prüfte, ob der Kamin verschlossen war, und vergewisserte sich, dass sie keine schnell verderblichen Lebensmittel mehr in der Küche hatte. Um kurz vor elf stand sie dann mit ihrem Koffer in der Hand vor dem Wohnzimmertisch und starrte die Feder an, die sie nach Schottland bringen sollte.
Das war so ziemlich das Verrückteste, was sie jemals getan hatte – von der Suche nach den Horkruxen abgesehen. Nur aufgrund eines Notizbuches, von dem sie nicht wusste, wer es ihr geschickt hatte, nach Schottland zu reisen und nach etwas zu suchen, ohne zu wissen, was es war. In ihrem Magen kitzelte es und sie atmete einmal tief durch.
„Hoffentlich ist das alles weder eine Falle, noch umsonst“, murmelte sie und nahm dann doch die Feder in die Hand, die sie sofort von den Füßen riss.
Doll war … nun ja, verstreut.
Hermine sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen zwischen weiten Feldern um und nachdem sie sich einmal um sich selbst gedreht hatte, musste sie erkennen, dass es hier absolut nichts zu sehen gab.
Erst nachdem sie leise geschnaubt hatte, fiel ihr ein, dass ein dermaßen unspektakuläres Fleckchen Erde vermutlich auch nicht viele Ecken haben würde, die für einen Severus Snape von Interesse gewesen waren. „Huh.“ Also machte sie sich auf den Weg, ein Quartier für die Nacht zu suchen.
Nachdem sie sich eine Weile lang in der Siedlung umgesehen hatte, stellte sie fest, dass es hier nur ein Bed & Breakfast gab. Zumindest nur eines, das auch als solches gekennzeichnet war. Mit einem kaum noch leserlichen schmiedeeisernen Schild an der Zufahrt zu dem kleinen Gutshaus. Elphin Cottage. Es war aus Stein gemauert und von wildem Efeu bewachsen, das graue Dach grün von Moos und von den hölzernen Fensterrahmen blätterte die weiße Farbe.
Sie ging zur Tür und klopfte dreimal an. Lange Zeit geschah nichts und sie sah sich schon auf irgendeinem Feld unter ein paar Bäumen nächtigen. Dann wurde die Tür endlich geöffnet und sie fand sich einem kleinen, gebückt stehenden Muggel mit spärlichem grauen Haar und dicker Hornbrille gegenüber. „Ja?“, fragte er mit heiserer Stimme und schon in dem einen Wort konnte sie den schottischen Akzent hören und lächelte.
„Guten Tag“, begann Hermine. „Ich … ähm … wollte fragen, ob bei Ihnen noch ein Zimmer frei ist.“ Sie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, auch wenn sie nicht wusste, wonach sie sich eigentlich umsah. Aber der Mann sah sie so seltsam an.
„Kostet 50 Pfund die Nacht“, war seine knappe Antwort.
Hermine keuchte leise. Für ein verschlafenes Dörfchen waren das ziemlich stolze Preise. Dann verengte sie die Augen. „Machen Sie 30 draus, und ich bleibe für drei Nächte.“
Ihr Gegenüber tat es ihr gleich und musterte sie abschätzend. „40.“
„35.“
Nach einigen Sekunden ruckte er mit dem Kopf, was wohl eine schottische Art der Zustimmung war, und trat einen Schritt zurück. Hermine betrat an ihm vorbei das Haus und sah sich neugierig um. An den Wänden hingen zahlreiche Familienbilder, der Flur war mit einem Teppich ausgelegt und nur wenige Schritte hinter der Eingangstür führte eine schmale Treppe hinauf ins Obergeschoss.
„Wir haben nur zwei Zimmer, beide im Dachgeschoss.“ Er verzog seine Lippen. „Sie dürfen sich eines aussuchen, Ma'am.“
„Ich bin keine Ma'am“, verbesserte Hermine ihn, nachdem sie sich wieder ihm zugewandt hatte. „Und ich nehme das rechte.“
„Ay. Ist das kleinere. Meine Frau ist im Moment unterwegs. Sie wird es nachher vorbereiten. Solange können Sie Ihr Gepäck hier abstellen und sich das Dorf anschauen.“ Er deutete auf eine Nische neben der Tür.
Hermine, die angesichts dieses Rauswurfs doch lächeln musste, stellte ihren Koffer an besagter Stelle ab und ging zur Tür zurück.
„Wie heißen Sie?“, fragte der alte Mann, als sie gerade die Tür geöffnet hatte.
„Hermine Granger. Und Sie?“
„Cahal McCollum. Ab zwei Uhr ist das Zimmer fertig.“
„Gut. Vielen Dank“, erwiderte sie höflich und kehrte in die Wärme des Frühlings zurück.
Hermine nutzte die Zeit bis zum frühen Nachmittag, um sich einen groben Überblick über das Dorf zu verschaffen. Es lag in der Nähe der Küste, so dass ihr ständig ein frischer, salziger Wind um die Nase wehte. Das Meer konnte nur wenige Kilometer entfernt sein. Wenn sie ihrem Rätsel rechtzeitig auf die Spur kam, würde sie vielleicht einen Abstecher dorthin machen.
Vorerst allerdings beschränkte sie sich auf die wenigen Straßen, die sich durch die Felder zogen wie die Linien einer Kinderzeichnung. Hermine war froh, dass Doll nicht größer war; sie war auch so schon lange genug beschäftigt, um sich alles anzusehen.
Sie genoss es allerdings, in der Natur zu sein und sich die verstreuten Höfe anzusehen, deren Häuser beinahe alle aus grauem Stein gemauert waren und im Grün von Pflanzen zu versinken drohten. Der Ort hatte etwas Magisches an sich. Etwas, das nichts mit der Magie zu tun hatte, die in ihrem Körper zirkulierte.
Doch es gab einen Ort in diesem Dörfchen, der wirklich Magie ausstrahlte. Und das war die Kirche, die etwas höher gelegen am Rande des Dorfes stand. Hermine spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, noch bevor sie auf das Gebäude aufmerksam geworden war. Nun ging sie zielstrebig darauf zu und sah sich mit gerunzelter Stirn um.
An der großen zweiflügligen Holztür hing ein Schild: 'Achtung! Betreten verboten! Einsturzgefahr!' Hermine trat die zwei Stufen wieder nach unten und umrundete die Kirche. Als die magische Energie an einer Stelle so stark wurde, dass ihre Hände zu kribbeln begannen und sie sich kaum davon abhalten konnte, ein paar wahllose Sprüche zu wirken, zückte sie ihren Zauberstab und schluckte. Dann schnalzte sie mit der Zunge und watete durch hohes Gras, wilde Büsche und niedrig wachsende Bäume weiter um das Gebäude herum.
Nach einer Viertelstunde war sie wieder am Eingang der Kirche angekommen und hatte nichts gefunden, das sie nicht ohnehin schon wusste. Sie musste sich im Inneren dieses verfallenen Hauses Gottes umsehen.
„Alohomora!“, flüsterte sie, den Zauberstab auf das Schloss der Türen gerichtet, und hörte es knirschen. Sie zog an dem schmiedeeisernen Ring und die Tür öffnete sich langsam, knarrend. Mit einem letzten Blick über ihre Schulter vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, dann schlüpfte sie durch den schmalen Spalt ins Innere der Kirche.
Verglichen mit den angenehmen Temperaturen draußen war es hier drinnen so frisch wie in einem Kühlschrank. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann konnte sie den breiten Gang und die verrottenden Bänke an den Seiten erkennen – und am Ende des Ganges eine ovale, schimmernde Fläche, ungefähr so hoch wie sie selbst groß war, die zweifellos die Quelle der Magie war.
Hermine schluckte und sah sich um. Überall lagen Gesteinsbrocken auf dem Boden und ein Blick nach oben zeigte ihr das Kirchendach, durchbrochen von Löchern, durch die der hellblaue Himmel über ihr zu sehen war. Die Einsturzgefahr schien keine Ausrede gewesen zu sein.
Sie tastete sich vorsichtig vorwärts, folgte der stärker werdenden Magie, die ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Setzte ihre Schritte mit Bedacht, lauschte auf jedes Geräusch und glaubte, über die Stille hinweg taub zu werden.
Im Abstand von etwa einem Meter ging sie schließlich um das sonderbare magische Objekt herum, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Nichtsdestotrotz biss sie sich auf die Unterlippe, versuchte gar nicht erst, das Lächeln zu verbergen. Sie hatte das vermisst. Nicht Voldemort oder die Todesser, aber den Nervenkitzel von Geheimnissen. Von magischen Objekten, die mehr waren als ein Lumos hier und ein Alohomora dort. Die sogar mehr waren als die Tränke und Zauber, mit denen sie im St.-Mungos tagtäglich Leben rettete. Einfach mehr. Und das hier war mehr.
Vor allem war es ein Mehr, von dem erst mal keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien. Und wenn es das war, was sie vermutete, dann war es auch tatsächlich nicht gefährlich. Zumindest nicht aus sich heraus.
Mit geschürzten Lippen blieb sie schließlich direkt vor der schimmernden Fläche stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie musste das recherchieren; prüfen, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Sie würde jedenfalls nicht so dumm sein, ein unbekanntes Objekt anzufassen, ohne es vorher analysiert zu haben.
Dennoch konnte sie diesen Ort nicht wieder verlassen, ohne ihre Theorie zumindest einem kleinen Test zu unterziehen. Mit geschürzten Lippen hob sie einen Stein vom Boden auf, sah erst auf das schimmernde Oval, dann auf ihre Hand, und warf den Stein schließlich direkt hinein.
Er verschwand.
Und Hermine grinste. „Einhundert Punkte für die Streberin aus Gryffindor“, murmelte sie zu sich und trat dann vorerst den Rückzug an. Wenn es nicht das war, was Professor Snape hier in Doll interessiert hatte, dann wusste sie auch nicht mehr.
Es war bereits nach vier Uhr am Nachmittag, als Hermine zur Pension zurückkehrte. Sie vergewisserte sich, dass ihr Zauberstab gut verborgen war, und klopfte. Dieses Mal dauerte es keine zehn Sekunden, ehe die Tür enthusiastisch geöffnet wurde. Hermine wich einen Schritt zurück.
Eine füllige Frau mit grauem Lockenkopf und wettergegerbter Haut strahlte sie breit an. Sie erinnerte Hermine vage an Molly Weasley. „Sie müssen Miss Granger sein!“, sagte sie und winkte Hermine ins Haus. „Mein Mann hat mir schon von Ihnen erzählt. Aber er ist so wortkarg, der sture Bock. Da kann man sich gar kein richtiges Bild machen. Oh, verzeihen Sie, wie unhöflich von mir! Ich heiße Eilidh, Sie dürfen mich gerne beim Vornamen nennen.“
„Oh … ähm … danke. Ich heiße Hermine.“
„Hermine …“ Die andere ließ den Namen über ihre Zunge rollen, wie nur Schotten es konnten. „Hermine Granger“, wiederholte sie und runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ein schöner Name. Stark und tiefgründig. Möchten Sie einen Tee, Hermine?“
Sie hatte nicht einmal Zeit, zuzustimmen – zumal sie eigentlich hatte ablehnen wollen. Sie musste eine Eule nach London schicken, brauchte Literatur über Risse in der Zeit.
Aber die Eule musste warten, denn vorerst lotste Eilidh sie quer durch das kleine Häuschen bis in die Küche und bedeutete ihr so nachdrücklich, auf einem der alten Holzstühle Platz zu nehmen, dass Hermine nicht anders konnte, als es zu tun. Sie seufzte leise.
„Ich freue mich ja so, endlich mal wieder einen jungen Gast im Haus zu haben. Cahal ist davon immer gar nicht begeistert, aber ich sage immer, Cahal, sage ich, ohne junge Leute, die Doll besuchen und unser Dorf kennenlernen, werden wir hier irgendwann aussterben. Und das wäre doch schade, nicht wahr?“ Eilidh stellte eine Tasse Tee vor Hermine auf den Tisch und schenkte sich dann selbst ein, ehe sie ihr gegenüber Platz nahm. „Also, was führt Sie her, Hermine?“
Diese hatte gerade vorsichtig an ihrem Tee genippt und verschluckte sich nun beinahe daran. Verlegen hüstelte sie und räusperte sich. „Ich … ähm … Urlaub.“ Sie lächelte unverbindlich. „Ich wollte mal raus, frische Luft schnappen, den Kopf frei bekommen, nachdenken …“ Das letzte Wort zog sie in die Länge in der Hoffnung, dass Eilidh den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sie gehen lassen würde.
Aber das tat sie nicht: „Eine wunderbare Idee! Cahal kann Ihnen ganz herrliche Ecken zeigen, die nicht weit weg liegen. Cahal!“ Sie rief so laut nach ihrem Ehemann, dass Hermine zusammenzuckte. Aber als auch nach geschlagenen drei Sekunden noch keine Antwort gekommen war – Hermine war überrascht, dass Eilidh tatsächlich so lange still geblieben war – sprudelte der Wasserfall von Worten einfach weiter aus dem mit Falten gesäumten Mund.
„So gerne ich Ihren Geschichten noch weiter zuhören würde“, begann Hermine zwei Stunden später und schob einen Stapel Babybilder von Eilidhs Kindern Eoin und Caitriona von sich, „aber ich muss jetzt wirklich ins Bett. Der Spaziergang vorhin hat mich sehr ermüdet. Die frische Luft und so …“ Sie schielte zum Ziffernblatt der Uhr, die hinter Eilidh an der Wand hing. Es war noch nicht mal halb sieben, doch müde war sie allemal. Dass die frische Luft daran Schuld war, bezweifelte Hermine allerdings.
„Natürlich. Wenn man das Leben auf dem Land nicht gewohnt ist, nimmt die frische Luft einen sehr mit.“ Eilidh lächelte und nickte verständnisvoll. „Ruhen Sie sich aus, Hermine, und morgen …“ Sie stockte, ihre Miene hellte sich auf. „Hermine Granger, natürlich!“ Sie musterte Hermine mit großen Augen, die verwirrt den Kopf zur Seite neigte. „Warten Sie!“ Eilidh stand auf und eilte so flink aus der Küche, dass Hermine ihr überrascht hinterher sah.
Dann jedoch seufzte sie, hauptsächlich vor Erleichterung. Für ganze zehn Sekunden legte sich eine wohltuende Stille auf ihre Ohren. Sie massierte sich die Schläfen und überlegte, ob sie einen Kopfschmerztrank eingepackt hatte. Oder wenigstens Aspirin. Vielleicht war noch ein alter Blister in der Innentasche ihres Koffers …
Waren Snapes Geheimnisse das hier wirklich wert? Warum hatte sie sich nicht einfach Arthurs Zelt geliehen und draußen gecampt, anstatt sich ein Bed & Breakfast zu suchen? Und warum fiel ihr das erst jetzt ein?
Sie hatte noch keine Antwort darauf gefunden, als Eilidhs Rückkehr sie aus ihren Überlegungen riss. „Ich wusste doch, dass ich Ihren Namen irgendwoher kenne.“ Sie balancierte einen Stapel Bücher auf dem Arm, den sie nun vorsichtig auf dem Küchentisch ablud. „Es war vor über sieben Jahren“, erklärte sie und wischte sich ihre staubigen Finger an der Schürze ab, die sie um die Taille trug. „Ein unheimlicher Kerl. Ich war froh, dass Cahal da war.“
„Ein unheimlicher Kerl?“, warf Hermine ein, als Eilidh zum ersten Mal seit über zwei Stunden nicht augenblicklich weitersprach, sondern sich anscheinend in ihren Erinnerungen verlor.
„Ja, sehr unheimlich. Ganz in schwarz gekleidet. Und dieser Blick …“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Er blieb zum Glück nicht lange. Hat nur die Bücher hier gebracht und gesagt, ich solle sie an Hermine Granger weitergeben, sobald sie hier auftaucht.“
Hermine riss die Augen auf. „Er hat meinen Namen genannt?“
„Ay, ay! Kennen Sie ihn denn nicht?“ Ihre grauen Augen weiteten sich.
„Doch“, murmelte Hermine, „doch, ich denke, ich kenne ihn.“ Sie schwieg für einen kleinen Moment, nun selbst in ihre Erinnerungen vertieft, dann riss sie sich blinzelnd wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Warum haben Sie mir die nicht schon eher gegeben?“
„Es ist mir entfallen! Ich wusste, dass mir Ihr Name bekannt vorkam, aber ich wusste einfach nicht mehr, wo ich ihn hinpacken sollte. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben zwischendurch schon überlegt, die Dinger wegzuwerfen. Es ist schon ein sehr sonderbares Thema, Gletscherforschung in der Antarktis …“
„Ähm … ja“, murmelte Hermine und rieb sich die Stirn, hinter der es immer noch pochte, während sie den Blick über die Bücher schweifen ließ, die zwar mit dem Schnitt zu ihr lagen, das oberste so alt, dass der Titel auf dem Einband unleserlich geworden war, von denen sie aber trotzdem vermutete, dass sie ganz und gar nichts mit Gletscherforschung zu tun hatten.
„Beschäftigen Sie sich damit?“, hakte Eilidh neugierig nach. „War dieser Mann ein Kollege von Ihnen? Aber warum hat er Ihnen die Bücher nicht persönlich gegeben? Ist das eine Art Schnitzeljagd?“
„So in … der Art“, stammelte Hermine. Was hätte sie auch anderes sagen sollen? Sie beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten. „Ich danke Ihnen, dass Sie die Bücher aufgehoben haben. Wenn es in Ordnung ist, würde ich mich dann jetzt gern auf mein Zimmer zurückziehen.“
„Oh, ay, natürlich. Soll ich Ihnen Bescheid sagen, wenn das Essen fertig ist?“
Hermine schüttelte den Kopf, während sie bereits aufstand und die Bücher aufhob. „Nein, das ist nicht nötig. Ich habe keinen Hunger. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Eilidh. Ihnen und Ihrem Mann.“
Sie wartete die Antwort ihrer Gastgeberin nicht ab, sondern stieg mit ihrer unerwarteten Ausbeute die Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Ihr Koffer stand vor einer der vier Türen, die vom Flur abgingen, und Hermine vermutete, dass hinter dieser Tür das Zimmer lag, das für sie hergerichtet worden war. Sie brachte erst die Bücher hinein, dann holte sie ihren Koffer hinterher.
Als sie ihn vor dem Kleiderschrank abstellte, fielen ihr die kleinen Brandspuren an den Schnallen auf und sie schnaubte kopfschüttelnd. Anscheinend hatte einer der beiden versucht, einen Blick hineinzuwerfen, und war von ihren Schutzzaubern überrascht worden. Geschah ihnen recht.
Doch ihre Schadenfreude verblasste schnell und Neugier gewann die Oberhand. Schnell durchsuchte sie ihren Koffer nach etwas, das ihre Kopfschmerzen lindern würde, und fand tatsächlich eine alte Aspirin. Hermine drückte sie aus dem Blister und roch misstrauisch daran; Aspirin konnte Essigsäure bilden, wenn es alt wurde, aber sie konnte nichts dergleichen riechen. Nun, das würde es tun müssen.
Während Hermine darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, wandte sie sich bereits den Büchern zu. „Sie wollen also doch, dass ich Ihr Rätsel löse, Professor Snape“, stellte sie fest, nachdem sie die Titel überflogen hatte. Denn entgegen Eilidhs Worten behandelte jedes einzelne der Werke die Theorie der Zeitreise.
In dieser Nacht schlief Hermine nicht. Nachdem ihre Kopfschmerzen nachgelassen hatten, las sie sich durch jedes einzelne der Bücher, sie inhalierte sie quasi. Und als vor ihrem Fenster der Morgen graute, kämpfte sie sich aus ihrem Bett, in dem sie es sich bequem gemacht hatte, und machte sich so schnell es ihr möglich war frisch.
Eines der Bücher, ein eher dünnes, praktisch orientiertes Exemplar, steckte sie sich in ihre Tasche. Dann schlich sie die Treppe hinunter und verließ die Pension, bevor Eilidh sie ein weiteres Mal in Beschlag nehmen konnte; das war ihr das Frühstück nicht wert.
Hunger hatte sie trotzdem und so apparierte sie zuerst nach Brora, um sich bei einem dortigen Bäcker mit zwei Brötchen und einer Tasse Kaffee zu versorgen, danach kehrte sie zur alten Kirche zurück. Heute war sie besser informiert, heute würde sie dem Geheimnis ein großes Stück näher kommen, heute würde sie den Teufel tun und ohne mehr Informationen wieder gehen!
Von neugierigen Blicken unbemerkt schlüpfte Hermine in das alte Gebäude und streifte sich den von der Decke rieselnden Staub aus den Haaren. So früh am Morgen schien die Sonne durch einige der noch intakten Buntglasscheiben und malte ein farbenfrohes Spiel aus Licht auf das verfallene Innere der Kirche.
Am Altar angekommen, nahm Hermine ihre Tasche ab und zog das Buch hervor. Sie kniete sich mit ihrem Zauberstab und der Lektüre bewaffnet vor den Zeitriss und probierte einige der Zauber aus, die sie in dem Buch gefunden hatte, nebenbei immer mal wieder einen Bissen von ihrem Brötchen nehmend.
Eine halbe Stunde später sank sie mit großen Augen auf ihre Füße zurück und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Bemerkenswert“, murmelte sie.
Wie es aussah, war dieser Zeitriss stabil. Es gab ihn schon seit einer ganzen Weile und er war schon mehrmals durchquert worden. Die Möglichkeit, dass Snape während seiner Abwesenheit in ihrem sechsten Schuljahr also eine kleine Zeitreise unternommen hatte, war nach allem, was sie bisher wusste und erfahren hatte, gar nicht so unwahrscheinlich.
Davon abgesehen hatten die Zauber ihr geflüstert, dass der Riss noch genug Energie in sich trug, um weitere Jahre offen zu bleiben. Hermine fragte sich, ob die Kirche von Muggeln oder von Magiern geschlossen worden war. Aber so ungeschützt, wie die Kirche hier stand, ohne Banne, ohne Alarme, ohne irgendetwas, das jemanden davon abhielt, sie zu betreten, vermutete sie, dass das Ministerium keine Ahnung hatte, dass dieser Riss existierte. Und wenn die Bücher, die Snape ihr hinterlassen hatte, recht hatten, dann konnten Muggel diesen Riss in der Zeit nicht sehen. Vielleicht hatte es Fälle von verschwundenen Personen gegeben, die auf diese Kirche zurückzuführen gewesen waren. Vielleicht hatten sie auch nur die Magie gespürt und die Kirche deswegen aufgegeben. Von ihren Eltern wusste Hermine, dass sie sich nicht wohl fühlten in der Nähe von sehr magischen Orten. Sie hatten sie nur ungern in die Winkelgasse begleitet und waren froh gewesen, wenn Hermine mit den Weasleys dorthin gegangen war.
Das Einzige, was die Zauber ihr nicht verraten konnten, war, wohin dieser Riss führte. Entstanden war er durch zwei mächtige magische Ereignisse in der Zeit. Sie hatten einander angezogen wie die Pole eines Magneten und waren stark genug, um die Linie der Zeit in eine Schleife zu legen. An den Stellen, an denen die Zeitlinie sich überschnitt, hatte sich infolgedessen der Riss geöffnet. Man konnte hindurch gehen wie durch eine Tür.
Hermine war überzeugt, dass das Ereignis ihrer Zeit die Vernichtung Voldemorts gewesen war, vielleicht auch in Kombination mit dem Tod Dumbledores und der Zerstörung der Horkruxe. Zwar lag das alles inzwischen schon einige Jahre zurück, doch was waren schon ein paar Jahre im Angesicht der Ewigkeit? Der Riss musste sich über einen Zeitraum von mindestens fünfzig Jahren rund um den Krieg erstrecken, vermutlich noch mehr.
In der Vergangenheit allerdings gab es einige Ereignisse von magischer Bedeutung, denen sie genug Macht zutrauen würde, um diese Schleife zu bilden. Und es gab nur eines, das ihr eine klare Antwort auf ihre Frage geben würde: Sie musste nachsehen.
Hermine nutzte die beiden verbleibenden Tage, für die sie im Bed & Breakfast bezahlt hatte, um sich weiter in die Theorie der Zeitlinien einzulesen. Und um Eilidh unauffällig nach der Kirche zu fragen. „Oh, geh da nicht hin!“, war die Antwort, begleitet von einem Schaudern. „Es ist unheimlich dort oben. Seit mindestens zwanzig Jahren ist niemand mehr dort gewesen. Wenn du dich für Kirchen interessierst, gibt es weiter unten im Dorf eine, die du dir ansehen kannst. Aber geh nicht zu der alten Kirche.“
Hermine hatte es darauf bewenden lassen; offensichtlich hatte sie recht gehabt mit ihrer Vermutung, dass das Ministerium nichts von diesem Riss wusste. Und falls sie ihn tatsächlich durchschreiten wollte, dann blieb das besser auch so.
Denn das war die große Frage, nicht wahr? Wollte sie durch den Riss gehen? Snape hatte sie quasi hierher geführt, anscheinend wollte er, dass sie es tat. Aber warum? Was hatte er auf der anderen Seite gefunden, dass er sie zu diesem Riss geführt hatte? Und warum überhaupt sie? Warum nicht Harry? Sollte sie Snape wirklich so sehr vertrauen? Blind? Über den Tod hinaus?
Vorerst beschloss sie, sich etwas mehr Zeit zu verschaffen. Sie bat um weitere freie Tage im St.-Mungos (die man ihr gewährte, sie hatte ohnehin noch Urlaubstage aus den letzten Jahren übrig) und informierte Harry und Ginny darüber, dass sie noch länger in Schottland bleiben würde.
Und dann gab sie sich als einfache Touristin, bis sie am vierten Tag nach ihrer Ankunft ihre Koffer packte und Eilidh zuwinkend den Hof verließ. Kaum war sie aus der Sichtweite des Hofs verschwunden, schlug sie sich jedoch in ein Gebüsch und apparierte direkt ins Innere der Kirche.
Hermine schluckte, als sie wieder vor dem Riss in der Zeit stand und feststellte, dass sie sich in den letzten Tagen völlig unnötig den Kopf zerbrochen hatte. Die Antwort war doch völlig klar. Natürlich würde sie durch den Riss gehen. Wie könnte sie nicht? Sie war schließlich eine Gryffindor und sie konnte nicht ein Rätsel lösen und das nächste ignorieren. Snape wollte, dass sie durch den Riss ging, und Snape hatte ihnen immer helfen wollen, wie sie leider viel zu spät erfahren hatten. Wenn er sie hierher führte, dann würde er seine Gründe dafür gehabt haben. Und nachdem sie alle ihm so Unrecht getan hatten, war seinem Wunsch zu folgen wohl das Mindeste, was sie tun konnte.
„Sie wollen also, dass ich durchgehe“, murmelte sie und ließ ihren Koffer fallen, wo sie stand. „Dann werde ich das tun, Professor. Lassen Sie es mich nicht bereuen.“
Hermine hob ihr Kinn, atmete noch einmal tief durch und griff ihren Zauberstab fester. Ihre Finger waren kalt, feucht und zitterten vielleicht ein bisschen. Trotzdem ging sie los und schaffte es, ihre Beine in eine Art sonderbaren Automatismus zu versetzen; selbst wenn sie hätte stehenbleiben wollen, hätte sie es nicht mehr gekonnt.
Die flimmernde Oberfläche des Zeitrisses kam näher und erst im letzten Moment kniff sie die Augen zu und stieß ein leises Wimmern aus. Sie hatte Angst, absolut tief empfundene Angst vor dem, was nun passieren würde. Sie bereitete sich vor auf Schmerzen, auf Schwindel, auf Übelkeit und spürte – nichts.
Nach gut zehn Schritten blieb Hermine stehen. Für einen Moment wagte sie es nicht, die Augen zu öffnen. Fragte sich stattdessen, ob es geklappt hatte. Oder ob sie immer noch in der alten Kirche stand, nur eben auf der anderen Seite des Risses. Sie hörte Vögel, aber das hatte sie dort auch. Erst verzögert fiel ihr auf, dass der Boden unter ihren Füßen sich anders anfühlte. Und da blinzelte sie doch, sah sich um und stieß ein leises „Huh!“ aus, denn sie stand mitten im Wald.
„Ich würde dir ja sagen, dass du dich nicht erschrecken sollst …“
Hermine schrie leise auf und wirbelte auf dem Absatz herum. Ihr Blick flog hektisch zwischen den Bäumen umher, bis sie schließlich eine Frau entdeckte, die gegen einen Baumstumpf gelehnt saß und den Panzer einer Schildkröte streichelte, die in ihrem Schoß hockte.
„… aber das hat ohnehin keinen Sinn, wenn man von hinten angesprochen wird.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Einen Versuch war es trotzdem wert.“
Hermine stolperte einen Schritt zurück. „Wer bist du?“, fragte sie und sah sich weiter um. Sie war wirklich in einem Wald. Ihre Turnschuhe sanken ein bisschen in den weichen Boden und um sie herum sangen ganze Schwärme von Vögeln. Der Wind rauschte durch das dichte Blattwerk und Sonnenstrahlen fanden nur vereinzelt ihren Weg hinunter bis zu ihnen. Einen solchen Wald, so dicht bewachsen, so lebhaft, so umwerfend, hatte Hermine niemals zuvor gesehen. „Und wo bin ich?“ Oder vielmehr wann?, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ich finde es zwar reichlich unhöflich, sich als Besucher nicht vorzustellen, ehe man anfängt, Fragen zu stellen …“, begann die Fremde und stand etwas ungelenk auf, bevor sie zu Hermine kam. „… aber ich will mal nicht so sein. Ich bin Wendeline. Und das ist Saoirse.“ Sie deutete auf die Schildkröte, die gerade ihren Kopf einzog.
Hermines Augenbrauen zuckten. „Freut mich, euch kennen zu lernen, schätze ich …“
„Verrätst du mir jetzt auch, wie du heißt?“
„Ähm, klar … Mein Name ist Hermine.“
„Freut mich, Hermine.“
„Das … ähm … mag jetzt vielleicht merkwürdig klingen, aber … welches Jahr haben wir gerade?“ Unter ihren Füßen knackte ein Ast und Hermine zuckte unmerklich zusammen.
„Das klingt ganz und gar nicht seltsam. Ich meine, du bist aus einem Zeitloch gekommen. Da kann man schon verwirrt sein.“ Wendeline lächelte freundlich.
„Allerdings …“ Und es wurde mit jeder Sekunde schlimmer. War sie tatsächlich über eine andere Hexe gestolpert? Konnte sie wirklich so viel Glück haben?
„Wir schreiben das Jahr 1486 nach Christus.“
„Wow, wir sind vierstellig“, murmelte Hermine. Und als Wendeline von ihrer Bemerkung nicht übermäßig irritiert schien, fuhr sie fort: „Gehe ich recht in der Annahme, dass du eine …“ Sie würgte am Ende ihres Satzes. „… Hexe bist?“
„Ich bevorzuge inzwischen den Ausdruck magisch begabt, aber ja, das bin ich.“ Wendeline kräuselte die Nase.
„Und … kommst du auch aus einer anderen Zeit?“
„Eventuell.“ Sie grinste spitzbübisch. „Aber jetzt erzähl du mal. Was treibt dich hierher?“ Sie wandte sich um und bedeutete Hermine mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen.
Hermine zögerte und sah zurück zum Zeitriss.
„Oh, keine Angst, der ist stabil. Ich beobachte ihn seit einer ganzen Weile.“
Sie sah sich nach Wendeline um. „Was verstehst du unter einer ganzen Weile?“
„Das kommt auf den Blickwinkel an. Kommst du oder willst du sofort zurück?“
„Nein! Ich meine, ich komme“, entgegnete Hermine schnell. „Aber … ist schon mal jemand hindurchgekommen?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich sitze aber auch nicht jeden Tag hier und beobachte den Riss, also …“
Hermine nickte gedankenverloren. Angenommen, sie war tatsächlich als erste durch den Riss gekommen – zumindest auf dieser Seite des Risses – dann bedeutete das, dass … Snape erst noch kommen würde? Sie runzelte die Stirn. War es möglich, dass der Riss nicht den Regeln der Zeit unterworfen war? Dass in ihm die Zeit nicht linear vorwärts verlief sondern … chaotisch? Dass man auf der einen Seite später hindurchgehen, auf der anderen aber früher herauskommen konnte? Oder bedeutete das, dass Snape …
… dass er nie hier gewesen war. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie musste das überprüfen. Nichts in den Büchern hatte darauf hingedeutet, dass sie vor Snape hier ankommen könnte, aber vielleicht hatte sie es auch nur überlesen. Sie war müde gewesen … Sie würde den Riss untersuchen, ihn erforschen. Die Zauber, die sie auf der anderen Seite des Risses angewandt hatte, würden auch hier funktionieren.
„Kommst du nun“, durchschnitt Wendelines Stimme jedoch ihre Gedanken, „oder willst du doch gleich wieder zurückgehen?“ Sie legte den Kopf schief, während sie Hermine beobachtete.
Die blinzelte. Im Grunde, so dachte sie, hatte sie nichts zu verlieren. Der Riss war stabil, Wendeline schien mit ihrer Schildkröte nicht gerade gefährlich und diese Zeit war mehr als faszinierend – auch wenn Hexen hier vermutlich keinen allzu guten Ruf hatten. Aber sie hatte gelernt, sich bedeckt zu halten. In jedem Sommer, den sie bei ihren Eltern verbracht hatte.
Davon abgesehen wollte sie dieses Rätsel lösen; mehr als alles andere auf der Welt wollte sie herausfinden, wie das alles – Snapes Verschwinden in ihrem sechsten Schuljahr, sein Notizbuch und all die anderen Hinweise, dieser Zeitriss – miteinander zusammenhing. Sie konnte jetzt nicht zurückgehen und so tun, als hätte sie das alles nie herausgefunden.
Also lächelte sie zum ersten Mal, seitdem sie in dieser Zeit angekommen war. „Ja, ich komme mit.“ Und folgte Wendeline über den moosbedeckten Waldboden.
Ich danke euch für die Reviews und Empfehlungen zum ersten Kapitel und hoffe, das nächste gefällt euch ebenfalls. :)
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Ohne darauf zu achten, wohin die Sachen flogen, warf Hermine alles hinter sich, was ihr in die Finger kam. Schuhe, Taschen, von Bügeln gerutschte Kleidungsstücke, noch mehr Schuhe – alles landete verstreut auf ihrem Schlafzimmerboden. Bis sie endlich das fand, was sie gesucht hatte. Eine kleine Holzschachtel, die sie bei ihrem Einzug vor drei Jahren in die hinterste Ecke ihres Schrankes geräumt hatte, um nicht ständig darauf zu stoßen.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sich zurücksinken ließ und mit dem Rücken gegen die Schranktür lehnte. Sie hob den Zauber auf, der auf der Schachtel lag, und riss den Deckel herunter. Das Notizbuch, das sie in ihrem siebten Schuljahr begonnen hatte, lag noch immer darin, so unversehrt, als hätte sie es gerade erst hineingelegt.
Hermine nahm es in die Hand und kämpfte sich auf die Füße. Dann lief sie ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf die Couch fallen. Während sie ihre eigenen Notizen durchblätterte, flog ihr Blick immer wieder zu dem Buch, das sie vorhin bekommen hatte. Zu Severus Snapes Notizbuch.
Sie hatte die Handschrift ihres früheren Lehrers selbst nach all den Jahren sofort wiedererkannt. Doch wie konnte es jetzt hier sein? Adressiert an sie. Mit genau dieser Adresse. Wer mochte ihr das Buch geschickt haben? Konnte es sein, dass Snape doch noch lebte?
Diesen letzten Gedanken tat sie mit einem Schnauben ab. Selbst wenn Snape noch leben sollte, warum sollte er ausgerechnet ihr sein Notizbuch schicken? Zwar standen nur Abläufe von Trankexperimenten darin, doch nicht einmal die würde er hergeben.
Hermine blätterte wild durch ihre Notizen, dann warf sie das Buch neben sich auf die Couch und griff wieder nach dem Buch von Snape. Sechs Jahre lang hatte sie es mehr oder weniger erfolgreich geschafft, nicht an die Mysterien zu denken, die diesen dunklen Mann umgeben hatten. Und jetzt war er plötzlich wieder da.
„Was ist nun?“, murmelte Hermine. „Wollen Sie, dass ich das Rätsel löse, oder wollen Sie es nicht?“ Sie schürzte die Lippen. Und dann entschied sie, dass sie in den letzten achtundvierzig Stunden viel zu wenig Schlaf bekommen hatte, um noch klar denken zu können. Das Ganze hatte sechs Jahre lang Zeit gehabt, es würde auch noch eine Nacht länger warten können.
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Am nächsten Tag hatte Hermine frei und nutzte die Zeit, um mit ihrem Frühstück und beiden Notizbüchern ins Bett zurückzuklettern und sich das Ganze genauer anzuschauen. Zuerst überflog sie ihre eigenen Aufzeichnungen, denn auch wenn sie damals behauptet hätte, sie so oft gelesen zu haben, dass sie nichts davon jemals vergessen würde, musste sie sich nun doch eingestehen, dass ihr einige Details entfallen waren.
Danach nahm sie sich Snapes Aufzeichnungen vor und war bald in der Welt der Zaubertränke versunken. Begeistert las sie eine Seite nach der anderen, kaute abwechselnd auf ihrem Toast und ihrer Unterlippe und nahm das Buch sogar mit auf die Toilette. Sie verließ den ganzen Tag über das Bett nicht und erst, als es draußen schon wieder zu dämmern begann, schaffte sie es innezuhalten – was einzig und allein an dem Eintrag lag, der mit dem Datum von Snapes Verschwinden gekennzeichnet war. Er bestand nur aus zwei Worten: Doll, Brora.
Hermine ließ das Buch sinken und alle Tränke waren von einem Moment auf den anderen aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie starrte an die Zimmerdecke und versuchte, ihre sich überschlagenden Gedanken zu zähmen. Doll, Brora … Das sagte ihr nichts.
Kurzentschlossen kämpfte sie sich aus ihrer Decke und brachte sich mit Hilfe ihres Zauberstabes in einen ansehnlichen Zustand. Dann schnappte sie sich Snapes Buch und apparierte in die magische Zentralbibliothek.
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Fünf Tage später hatte Hermine sich kurzfristig frei genommen, ihren Koffer gepackt und einen Portschlüssel beim Ministerium beantragt, der sie direkt nach Schottland bringen würde – in eine kleine, verschlafene Streusiedlung namens Doll, in der unmittelbaren Nähe des Dorfes Brora. Sie wusste nicht, was sie dort suchte, nur, dass sie nicht nicht suchen konnte. Das geheimnisvolle Auftauchen des Notizbuches hatte ihr Verlangen nach Antworten heißer auflodern lassen als jedes Detail, das sie während ihrer Schulzeit über ihren Tränkelehrer und sein Verschwinden herausgefunden hatte.
Bevor sie sich die zerschlissene Feder schnappte und ihrem Forscherdrang nachging, schrieb sie noch einen kurzen Brief an Ginny und rief eine Eule vom Zentralpostamt. Danach verriegelte sie alle Fenster, prüfte, ob der Kamin verschlossen war, und vergewisserte sich, dass sie keine schnell verderblichen Lebensmittel mehr in der Küche hatte. Um kurz vor elf stand sie dann mit ihrem Koffer in der Hand vor dem Wohnzimmertisch und starrte die Feder an, die sie nach Schottland bringen sollte.
Das war so ziemlich das Verrückteste, was sie jemals getan hatte – von der Suche nach den Horkruxen abgesehen. Nur aufgrund eines Notizbuches, von dem sie nicht wusste, wer es ihr geschickt hatte, nach Schottland zu reisen und nach etwas zu suchen, ohne zu wissen, was es war. In ihrem Magen kitzelte es und sie atmete einmal tief durch.
„Hoffentlich ist das alles weder eine Falle, noch umsonst“, murmelte sie und nahm dann doch die Feder in die Hand, die sie sofort von den Füßen riss.
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Doll war … nun ja, verstreut.
Hermine sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen zwischen weiten Feldern um und nachdem sie sich einmal um sich selbst gedreht hatte, musste sie erkennen, dass es hier absolut nichts zu sehen gab.
Erst nachdem sie leise geschnaubt hatte, fiel ihr ein, dass ein dermaßen unspektakuläres Fleckchen Erde vermutlich auch nicht viele Ecken haben würde, die für einen Severus Snape von Interesse gewesen waren. „Huh.“ Also machte sie sich auf den Weg, ein Quartier für die Nacht zu suchen.
Nachdem sie sich eine Weile lang in der Siedlung umgesehen hatte, stellte sie fest, dass es hier nur ein Bed & Breakfast gab. Zumindest nur eines, das auch als solches gekennzeichnet war. Mit einem kaum noch leserlichen schmiedeeisernen Schild an der Zufahrt zu dem kleinen Gutshaus. Elphin Cottage. Es war aus Stein gemauert und von wildem Efeu bewachsen, das graue Dach grün von Moos und von den hölzernen Fensterrahmen blätterte die weiße Farbe.
Sie ging zur Tür und klopfte dreimal an. Lange Zeit geschah nichts und sie sah sich schon auf irgendeinem Feld unter ein paar Bäumen nächtigen. Dann wurde die Tür endlich geöffnet und sie fand sich einem kleinen, gebückt stehenden Muggel mit spärlichem grauen Haar und dicker Hornbrille gegenüber. „Ja?“, fragte er mit heiserer Stimme und schon in dem einen Wort konnte sie den schottischen Akzent hören und lächelte.
„Guten Tag“, begann Hermine. „Ich … ähm … wollte fragen, ob bei Ihnen noch ein Zimmer frei ist.“ Sie warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter, auch wenn sie nicht wusste, wonach sie sich eigentlich umsah. Aber der Mann sah sie so seltsam an.
„Kostet 50 Pfund die Nacht“, war seine knappe Antwort.
Hermine keuchte leise. Für ein verschlafenes Dörfchen waren das ziemlich stolze Preise. Dann verengte sie die Augen. „Machen Sie 30 draus, und ich bleibe für drei Nächte.“
Ihr Gegenüber tat es ihr gleich und musterte sie abschätzend. „40.“
„35.“
Nach einigen Sekunden ruckte er mit dem Kopf, was wohl eine schottische Art der Zustimmung war, und trat einen Schritt zurück. Hermine betrat an ihm vorbei das Haus und sah sich neugierig um. An den Wänden hingen zahlreiche Familienbilder, der Flur war mit einem Teppich ausgelegt und nur wenige Schritte hinter der Eingangstür führte eine schmale Treppe hinauf ins Obergeschoss.
„Wir haben nur zwei Zimmer, beide im Dachgeschoss.“ Er verzog seine Lippen. „Sie dürfen sich eines aussuchen, Ma'am.“
„Ich bin keine Ma'am“, verbesserte Hermine ihn, nachdem sie sich wieder ihm zugewandt hatte. „Und ich nehme das rechte.“
„Ay. Ist das kleinere. Meine Frau ist im Moment unterwegs. Sie wird es nachher vorbereiten. Solange können Sie Ihr Gepäck hier abstellen und sich das Dorf anschauen.“ Er deutete auf eine Nische neben der Tür.
Hermine, die angesichts dieses Rauswurfs doch lächeln musste, stellte ihren Koffer an besagter Stelle ab und ging zur Tür zurück.
„Wie heißen Sie?“, fragte der alte Mann, als sie gerade die Tür geöffnet hatte.
„Hermine Granger. Und Sie?“
„Cahal McCollum. Ab zwei Uhr ist das Zimmer fertig.“
„Gut. Vielen Dank“, erwiderte sie höflich und kehrte in die Wärme des Frühlings zurück.
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Hermine nutzte die Zeit bis zum frühen Nachmittag, um sich einen groben Überblick über das Dorf zu verschaffen. Es lag in der Nähe der Küste, so dass ihr ständig ein frischer, salziger Wind um die Nase wehte. Das Meer konnte nur wenige Kilometer entfernt sein. Wenn sie ihrem Rätsel rechtzeitig auf die Spur kam, würde sie vielleicht einen Abstecher dorthin machen.
Vorerst allerdings beschränkte sie sich auf die wenigen Straßen, die sich durch die Felder zogen wie die Linien einer Kinderzeichnung. Hermine war froh, dass Doll nicht größer war; sie war auch so schon lange genug beschäftigt, um sich alles anzusehen.
Sie genoss es allerdings, in der Natur zu sein und sich die verstreuten Höfe anzusehen, deren Häuser beinahe alle aus grauem Stein gemauert waren und im Grün von Pflanzen zu versinken drohten. Der Ort hatte etwas Magisches an sich. Etwas, das nichts mit der Magie zu tun hatte, die in ihrem Körper zirkulierte.
Doch es gab einen Ort in diesem Dörfchen, der wirklich Magie ausstrahlte. Und das war die Kirche, die etwas höher gelegen am Rande des Dorfes stand. Hermine spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten, noch bevor sie auf das Gebäude aufmerksam geworden war. Nun ging sie zielstrebig darauf zu und sah sich mit gerunzelter Stirn um.
An der großen zweiflügligen Holztür hing ein Schild: 'Achtung! Betreten verboten! Einsturzgefahr!' Hermine trat die zwei Stufen wieder nach unten und umrundete die Kirche. Als die magische Energie an einer Stelle so stark wurde, dass ihre Hände zu kribbeln begannen und sie sich kaum davon abhalten konnte, ein paar wahllose Sprüche zu wirken, zückte sie ihren Zauberstab und schluckte. Dann schnalzte sie mit der Zunge und watete durch hohes Gras, wilde Büsche und niedrig wachsende Bäume weiter um das Gebäude herum.
Nach einer Viertelstunde war sie wieder am Eingang der Kirche angekommen und hatte nichts gefunden, das sie nicht ohnehin schon wusste. Sie musste sich im Inneren dieses verfallenen Hauses Gottes umsehen.
„Alohomora!“, flüsterte sie, den Zauberstab auf das Schloss der Türen gerichtet, und hörte es knirschen. Sie zog an dem schmiedeeisernen Ring und die Tür öffnete sich langsam, knarrend. Mit einem letzten Blick über ihre Schulter vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, dann schlüpfte sie durch den schmalen Spalt ins Innere der Kirche.
Verglichen mit den angenehmen Temperaturen draußen war es hier drinnen so frisch wie in einem Kühlschrank. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann konnte sie den breiten Gang und die verrottenden Bänke an den Seiten erkennen – und am Ende des Ganges eine ovale, schimmernde Fläche, ungefähr so hoch wie sie selbst groß war, die zweifellos die Quelle der Magie war.
Hermine schluckte und sah sich um. Überall lagen Gesteinsbrocken auf dem Boden und ein Blick nach oben zeigte ihr das Kirchendach, durchbrochen von Löchern, durch die der hellblaue Himmel über ihr zu sehen war. Die Einsturzgefahr schien keine Ausrede gewesen zu sein.
Sie tastete sich vorsichtig vorwärts, folgte der stärker werdenden Magie, die ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Setzte ihre Schritte mit Bedacht, lauschte auf jedes Geräusch und glaubte, über die Stille hinweg taub zu werden.
Im Abstand von etwa einem Meter ging sie schließlich um das sonderbare magische Objekt herum, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. Nichtsdestotrotz biss sie sich auf die Unterlippe, versuchte gar nicht erst, das Lächeln zu verbergen. Sie hatte das vermisst. Nicht Voldemort oder die Todesser, aber den Nervenkitzel von Geheimnissen. Von magischen Objekten, die mehr waren als ein Lumos hier und ein Alohomora dort. Die sogar mehr waren als die Tränke und Zauber, mit denen sie im St.-Mungos tagtäglich Leben rettete. Einfach mehr. Und das hier war mehr.
Vor allem war es ein Mehr, von dem erst mal keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien. Und wenn es das war, was sie vermutete, dann war es auch tatsächlich nicht gefährlich. Zumindest nicht aus sich heraus.
Mit geschürzten Lippen blieb sie schließlich direkt vor der schimmernden Fläche stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie musste das recherchieren; prüfen, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Sie würde jedenfalls nicht so dumm sein, ein unbekanntes Objekt anzufassen, ohne es vorher analysiert zu haben.
Dennoch konnte sie diesen Ort nicht wieder verlassen, ohne ihre Theorie zumindest einem kleinen Test zu unterziehen. Mit geschürzten Lippen hob sie einen Stein vom Boden auf, sah erst auf das schimmernde Oval, dann auf ihre Hand, und warf den Stein schließlich direkt hinein.
Er verschwand.
Und Hermine grinste. „Einhundert Punkte für die Streberin aus Gryffindor“, murmelte sie zu sich und trat dann vorerst den Rückzug an. Wenn es nicht das war, was Professor Snape hier in Doll interessiert hatte, dann wusste sie auch nicht mehr.
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Es war bereits nach vier Uhr am Nachmittag, als Hermine zur Pension zurückkehrte. Sie vergewisserte sich, dass ihr Zauberstab gut verborgen war, und klopfte. Dieses Mal dauerte es keine zehn Sekunden, ehe die Tür enthusiastisch geöffnet wurde. Hermine wich einen Schritt zurück.
Eine füllige Frau mit grauem Lockenkopf und wettergegerbter Haut strahlte sie breit an. Sie erinnerte Hermine vage an Molly Weasley. „Sie müssen Miss Granger sein!“, sagte sie und winkte Hermine ins Haus. „Mein Mann hat mir schon von Ihnen erzählt. Aber er ist so wortkarg, der sture Bock. Da kann man sich gar kein richtiges Bild machen. Oh, verzeihen Sie, wie unhöflich von mir! Ich heiße Eilidh, Sie dürfen mich gerne beim Vornamen nennen.“
„Oh … ähm … danke. Ich heiße Hermine.“
„Hermine …“ Die andere ließ den Namen über ihre Zunge rollen, wie nur Schotten es konnten. „Hermine Granger“, wiederholte sie und runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ein schöner Name. Stark und tiefgründig. Möchten Sie einen Tee, Hermine?“
Sie hatte nicht einmal Zeit, zuzustimmen – zumal sie eigentlich hatte ablehnen wollen. Sie musste eine Eule nach London schicken, brauchte Literatur über Risse in der Zeit.
Aber die Eule musste warten, denn vorerst lotste Eilidh sie quer durch das kleine Häuschen bis in die Küche und bedeutete ihr so nachdrücklich, auf einem der alten Holzstühle Platz zu nehmen, dass Hermine nicht anders konnte, als es zu tun. Sie seufzte leise.
„Ich freue mich ja so, endlich mal wieder einen jungen Gast im Haus zu haben. Cahal ist davon immer gar nicht begeistert, aber ich sage immer, Cahal, sage ich, ohne junge Leute, die Doll besuchen und unser Dorf kennenlernen, werden wir hier irgendwann aussterben. Und das wäre doch schade, nicht wahr?“ Eilidh stellte eine Tasse Tee vor Hermine auf den Tisch und schenkte sich dann selbst ein, ehe sie ihr gegenüber Platz nahm. „Also, was führt Sie her, Hermine?“
Diese hatte gerade vorsichtig an ihrem Tee genippt und verschluckte sich nun beinahe daran. Verlegen hüstelte sie und räusperte sich. „Ich … ähm … Urlaub.“ Sie lächelte unverbindlich. „Ich wollte mal raus, frische Luft schnappen, den Kopf frei bekommen, nachdenken …“ Das letzte Wort zog sie in die Länge in der Hoffnung, dass Eilidh den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sie gehen lassen würde.
Aber das tat sie nicht: „Eine wunderbare Idee! Cahal kann Ihnen ganz herrliche Ecken zeigen, die nicht weit weg liegen. Cahal!“ Sie rief so laut nach ihrem Ehemann, dass Hermine zusammenzuckte. Aber als auch nach geschlagenen drei Sekunden noch keine Antwort gekommen war – Hermine war überrascht, dass Eilidh tatsächlich so lange still geblieben war – sprudelte der Wasserfall von Worten einfach weiter aus dem mit Falten gesäumten Mund.
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„So gerne ich Ihren Geschichten noch weiter zuhören würde“, begann Hermine zwei Stunden später und schob einen Stapel Babybilder von Eilidhs Kindern Eoin und Caitriona von sich, „aber ich muss jetzt wirklich ins Bett. Der Spaziergang vorhin hat mich sehr ermüdet. Die frische Luft und so …“ Sie schielte zum Ziffernblatt der Uhr, die hinter Eilidh an der Wand hing. Es war noch nicht mal halb sieben, doch müde war sie allemal. Dass die frische Luft daran Schuld war, bezweifelte Hermine allerdings.
„Natürlich. Wenn man das Leben auf dem Land nicht gewohnt ist, nimmt die frische Luft einen sehr mit.“ Eilidh lächelte und nickte verständnisvoll. „Ruhen Sie sich aus, Hermine, und morgen …“ Sie stockte, ihre Miene hellte sich auf. „Hermine Granger, natürlich!“ Sie musterte Hermine mit großen Augen, die verwirrt den Kopf zur Seite neigte. „Warten Sie!“ Eilidh stand auf und eilte so flink aus der Küche, dass Hermine ihr überrascht hinterher sah.
Dann jedoch seufzte sie, hauptsächlich vor Erleichterung. Für ganze zehn Sekunden legte sich eine wohltuende Stille auf ihre Ohren. Sie massierte sich die Schläfen und überlegte, ob sie einen Kopfschmerztrank eingepackt hatte. Oder wenigstens Aspirin. Vielleicht war noch ein alter Blister in der Innentasche ihres Koffers …
Waren Snapes Geheimnisse das hier wirklich wert? Warum hatte sie sich nicht einfach Arthurs Zelt geliehen und draußen gecampt, anstatt sich ein Bed & Breakfast zu suchen? Und warum fiel ihr das erst jetzt ein?
Sie hatte noch keine Antwort darauf gefunden, als Eilidhs Rückkehr sie aus ihren Überlegungen riss. „Ich wusste doch, dass ich Ihren Namen irgendwoher kenne.“ Sie balancierte einen Stapel Bücher auf dem Arm, den sie nun vorsichtig auf dem Küchentisch ablud. „Es war vor über sieben Jahren“, erklärte sie und wischte sich ihre staubigen Finger an der Schürze ab, die sie um die Taille trug. „Ein unheimlicher Kerl. Ich war froh, dass Cahal da war.“
„Ein unheimlicher Kerl?“, warf Hermine ein, als Eilidh zum ersten Mal seit über zwei Stunden nicht augenblicklich weitersprach, sondern sich anscheinend in ihren Erinnerungen verlor.
„Ja, sehr unheimlich. Ganz in schwarz gekleidet. Und dieser Blick …“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Er blieb zum Glück nicht lange. Hat nur die Bücher hier gebracht und gesagt, ich solle sie an Hermine Granger weitergeben, sobald sie hier auftaucht.“
Hermine riss die Augen auf. „Er hat meinen Namen genannt?“
„Ay, ay! Kennen Sie ihn denn nicht?“ Ihre grauen Augen weiteten sich.
„Doch“, murmelte Hermine, „doch, ich denke, ich kenne ihn.“ Sie schwieg für einen kleinen Moment, nun selbst in ihre Erinnerungen vertieft, dann riss sie sich blinzelnd wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Warum haben Sie mir die nicht schon eher gegeben?“
„Es ist mir entfallen! Ich wusste, dass mir Ihr Name bekannt vorkam, aber ich wusste einfach nicht mehr, wo ich ihn hinpacken sollte. Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Wir haben zwischendurch schon überlegt, die Dinger wegzuwerfen. Es ist schon ein sehr sonderbares Thema, Gletscherforschung in der Antarktis …“
„Ähm … ja“, murmelte Hermine und rieb sich die Stirn, hinter der es immer noch pochte, während sie den Blick über die Bücher schweifen ließ, die zwar mit dem Schnitt zu ihr lagen, das oberste so alt, dass der Titel auf dem Einband unleserlich geworden war, von denen sie aber trotzdem vermutete, dass sie ganz und gar nichts mit Gletscherforschung zu tun hatten.
„Beschäftigen Sie sich damit?“, hakte Eilidh neugierig nach. „War dieser Mann ein Kollege von Ihnen? Aber warum hat er Ihnen die Bücher nicht persönlich gegeben? Ist das eine Art Schnitzeljagd?“
„So in … der Art“, stammelte Hermine. Was hätte sie auch anderes sagen sollen? Sie beschloss, die Flucht nach vorn anzutreten. „Ich danke Ihnen, dass Sie die Bücher aufgehoben haben. Wenn es in Ordnung ist, würde ich mich dann jetzt gern auf mein Zimmer zurückziehen.“
„Oh, ay, natürlich. Soll ich Ihnen Bescheid sagen, wenn das Essen fertig ist?“
Hermine schüttelte den Kopf, während sie bereits aufstand und die Bücher aufhob. „Nein, das ist nicht nötig. Ich habe keinen Hunger. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Eilidh. Ihnen und Ihrem Mann.“
Sie wartete die Antwort ihrer Gastgeberin nicht ab, sondern stieg mit ihrer unerwarteten Ausbeute die Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Ihr Koffer stand vor einer der vier Türen, die vom Flur abgingen, und Hermine vermutete, dass hinter dieser Tür das Zimmer lag, das für sie hergerichtet worden war. Sie brachte erst die Bücher hinein, dann holte sie ihren Koffer hinterher.
Als sie ihn vor dem Kleiderschrank abstellte, fielen ihr die kleinen Brandspuren an den Schnallen auf und sie schnaubte kopfschüttelnd. Anscheinend hatte einer der beiden versucht, einen Blick hineinzuwerfen, und war von ihren Schutzzaubern überrascht worden. Geschah ihnen recht.
Doch ihre Schadenfreude verblasste schnell und Neugier gewann die Oberhand. Schnell durchsuchte sie ihren Koffer nach etwas, das ihre Kopfschmerzen lindern würde, und fand tatsächlich eine alte Aspirin. Hermine drückte sie aus dem Blister und roch misstrauisch daran; Aspirin konnte Essigsäure bilden, wenn es alt wurde, aber sie konnte nichts dergleichen riechen. Nun, das würde es tun müssen.
Während Hermine darauf wartete, dass die Wirkung einsetzte, wandte sie sich bereits den Büchern zu. „Sie wollen also doch, dass ich Ihr Rätsel löse, Professor Snape“, stellte sie fest, nachdem sie die Titel überflogen hatte. Denn entgegen Eilidhs Worten behandelte jedes einzelne der Werke die Theorie der Zeitreise.
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In dieser Nacht schlief Hermine nicht. Nachdem ihre Kopfschmerzen nachgelassen hatten, las sie sich durch jedes einzelne der Bücher, sie inhalierte sie quasi. Und als vor ihrem Fenster der Morgen graute, kämpfte sie sich aus ihrem Bett, in dem sie es sich bequem gemacht hatte, und machte sich so schnell es ihr möglich war frisch.
Eines der Bücher, ein eher dünnes, praktisch orientiertes Exemplar, steckte sie sich in ihre Tasche. Dann schlich sie die Treppe hinunter und verließ die Pension, bevor Eilidh sie ein weiteres Mal in Beschlag nehmen konnte; das war ihr das Frühstück nicht wert.
Hunger hatte sie trotzdem und so apparierte sie zuerst nach Brora, um sich bei einem dortigen Bäcker mit zwei Brötchen und einer Tasse Kaffee zu versorgen, danach kehrte sie zur alten Kirche zurück. Heute war sie besser informiert, heute würde sie dem Geheimnis ein großes Stück näher kommen, heute würde sie den Teufel tun und ohne mehr Informationen wieder gehen!
Von neugierigen Blicken unbemerkt schlüpfte Hermine in das alte Gebäude und streifte sich den von der Decke rieselnden Staub aus den Haaren. So früh am Morgen schien die Sonne durch einige der noch intakten Buntglasscheiben und malte ein farbenfrohes Spiel aus Licht auf das verfallene Innere der Kirche.
Am Altar angekommen, nahm Hermine ihre Tasche ab und zog das Buch hervor. Sie kniete sich mit ihrem Zauberstab und der Lektüre bewaffnet vor den Zeitriss und probierte einige der Zauber aus, die sie in dem Buch gefunden hatte, nebenbei immer mal wieder einen Bissen von ihrem Brötchen nehmend.
Eine halbe Stunde später sank sie mit großen Augen auf ihre Füße zurück und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Bemerkenswert“, murmelte sie.
Wie es aussah, war dieser Zeitriss stabil. Es gab ihn schon seit einer ganzen Weile und er war schon mehrmals durchquert worden. Die Möglichkeit, dass Snape während seiner Abwesenheit in ihrem sechsten Schuljahr also eine kleine Zeitreise unternommen hatte, war nach allem, was sie bisher wusste und erfahren hatte, gar nicht so unwahrscheinlich.
Davon abgesehen hatten die Zauber ihr geflüstert, dass der Riss noch genug Energie in sich trug, um weitere Jahre offen zu bleiben. Hermine fragte sich, ob die Kirche von Muggeln oder von Magiern geschlossen worden war. Aber so ungeschützt, wie die Kirche hier stand, ohne Banne, ohne Alarme, ohne irgendetwas, das jemanden davon abhielt, sie zu betreten, vermutete sie, dass das Ministerium keine Ahnung hatte, dass dieser Riss existierte. Und wenn die Bücher, die Snape ihr hinterlassen hatte, recht hatten, dann konnten Muggel diesen Riss in der Zeit nicht sehen. Vielleicht hatte es Fälle von verschwundenen Personen gegeben, die auf diese Kirche zurückzuführen gewesen waren. Vielleicht hatten sie auch nur die Magie gespürt und die Kirche deswegen aufgegeben. Von ihren Eltern wusste Hermine, dass sie sich nicht wohl fühlten in der Nähe von sehr magischen Orten. Sie hatten sie nur ungern in die Winkelgasse begleitet und waren froh gewesen, wenn Hermine mit den Weasleys dorthin gegangen war.
Das Einzige, was die Zauber ihr nicht verraten konnten, war, wohin dieser Riss führte. Entstanden war er durch zwei mächtige magische Ereignisse in der Zeit. Sie hatten einander angezogen wie die Pole eines Magneten und waren stark genug, um die Linie der Zeit in eine Schleife zu legen. An den Stellen, an denen die Zeitlinie sich überschnitt, hatte sich infolgedessen der Riss geöffnet. Man konnte hindurch gehen wie durch eine Tür.
Hermine war überzeugt, dass das Ereignis ihrer Zeit die Vernichtung Voldemorts gewesen war, vielleicht auch in Kombination mit dem Tod Dumbledores und der Zerstörung der Horkruxe. Zwar lag das alles inzwischen schon einige Jahre zurück, doch was waren schon ein paar Jahre im Angesicht der Ewigkeit? Der Riss musste sich über einen Zeitraum von mindestens fünfzig Jahren rund um den Krieg erstrecken, vermutlich noch mehr.
In der Vergangenheit allerdings gab es einige Ereignisse von magischer Bedeutung, denen sie genug Macht zutrauen würde, um diese Schleife zu bilden. Und es gab nur eines, das ihr eine klare Antwort auf ihre Frage geben würde: Sie musste nachsehen.
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Hermine nutzte die beiden verbleibenden Tage, für die sie im Bed & Breakfast bezahlt hatte, um sich weiter in die Theorie der Zeitlinien einzulesen. Und um Eilidh unauffällig nach der Kirche zu fragen. „Oh, geh da nicht hin!“, war die Antwort, begleitet von einem Schaudern. „Es ist unheimlich dort oben. Seit mindestens zwanzig Jahren ist niemand mehr dort gewesen. Wenn du dich für Kirchen interessierst, gibt es weiter unten im Dorf eine, die du dir ansehen kannst. Aber geh nicht zu der alten Kirche.“
Hermine hatte es darauf bewenden lassen; offensichtlich hatte sie recht gehabt mit ihrer Vermutung, dass das Ministerium nichts von diesem Riss wusste. Und falls sie ihn tatsächlich durchschreiten wollte, dann blieb das besser auch so.
Denn das war die große Frage, nicht wahr? Wollte sie durch den Riss gehen? Snape hatte sie quasi hierher geführt, anscheinend wollte er, dass sie es tat. Aber warum? Was hatte er auf der anderen Seite gefunden, dass er sie zu diesem Riss geführt hatte? Und warum überhaupt sie? Warum nicht Harry? Sollte sie Snape wirklich so sehr vertrauen? Blind? Über den Tod hinaus?
Vorerst beschloss sie, sich etwas mehr Zeit zu verschaffen. Sie bat um weitere freie Tage im St.-Mungos (die man ihr gewährte, sie hatte ohnehin noch Urlaubstage aus den letzten Jahren übrig) und informierte Harry und Ginny darüber, dass sie noch länger in Schottland bleiben würde.
Und dann gab sie sich als einfache Touristin, bis sie am vierten Tag nach ihrer Ankunft ihre Koffer packte und Eilidh zuwinkend den Hof verließ. Kaum war sie aus der Sichtweite des Hofs verschwunden, schlug sie sich jedoch in ein Gebüsch und apparierte direkt ins Innere der Kirche.
Hermine schluckte, als sie wieder vor dem Riss in der Zeit stand und feststellte, dass sie sich in den letzten Tagen völlig unnötig den Kopf zerbrochen hatte. Die Antwort war doch völlig klar. Natürlich würde sie durch den Riss gehen. Wie könnte sie nicht? Sie war schließlich eine Gryffindor und sie konnte nicht ein Rätsel lösen und das nächste ignorieren. Snape wollte, dass sie durch den Riss ging, und Snape hatte ihnen immer helfen wollen, wie sie leider viel zu spät erfahren hatten. Wenn er sie hierher führte, dann würde er seine Gründe dafür gehabt haben. Und nachdem sie alle ihm so Unrecht getan hatten, war seinem Wunsch zu folgen wohl das Mindeste, was sie tun konnte.
„Sie wollen also, dass ich durchgehe“, murmelte sie und ließ ihren Koffer fallen, wo sie stand. „Dann werde ich das tun, Professor. Lassen Sie es mich nicht bereuen.“
Hermine hob ihr Kinn, atmete noch einmal tief durch und griff ihren Zauberstab fester. Ihre Finger waren kalt, feucht und zitterten vielleicht ein bisschen. Trotzdem ging sie los und schaffte es, ihre Beine in eine Art sonderbaren Automatismus zu versetzen; selbst wenn sie hätte stehenbleiben wollen, hätte sie es nicht mehr gekonnt.
Die flimmernde Oberfläche des Zeitrisses kam näher und erst im letzten Moment kniff sie die Augen zu und stieß ein leises Wimmern aus. Sie hatte Angst, absolut tief empfundene Angst vor dem, was nun passieren würde. Sie bereitete sich vor auf Schmerzen, auf Schwindel, auf Übelkeit und spürte – nichts.
Nach gut zehn Schritten blieb Hermine stehen. Für einen Moment wagte sie es nicht, die Augen zu öffnen. Fragte sich stattdessen, ob es geklappt hatte. Oder ob sie immer noch in der alten Kirche stand, nur eben auf der anderen Seite des Risses. Sie hörte Vögel, aber das hatte sie dort auch. Erst verzögert fiel ihr auf, dass der Boden unter ihren Füßen sich anders anfühlte. Und da blinzelte sie doch, sah sich um und stieß ein leises „Huh!“ aus, denn sie stand mitten im Wald.
„Ich würde dir ja sagen, dass du dich nicht erschrecken sollst …“
Hermine schrie leise auf und wirbelte auf dem Absatz herum. Ihr Blick flog hektisch zwischen den Bäumen umher, bis sie schließlich eine Frau entdeckte, die gegen einen Baumstumpf gelehnt saß und den Panzer einer Schildkröte streichelte, die in ihrem Schoß hockte.
„… aber das hat ohnehin keinen Sinn, wenn man von hinten angesprochen wird.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Einen Versuch war es trotzdem wert.“
Hermine stolperte einen Schritt zurück. „Wer bist du?“, fragte sie und sah sich weiter um. Sie war wirklich in einem Wald. Ihre Turnschuhe sanken ein bisschen in den weichen Boden und um sie herum sangen ganze Schwärme von Vögeln. Der Wind rauschte durch das dichte Blattwerk und Sonnenstrahlen fanden nur vereinzelt ihren Weg hinunter bis zu ihnen. Einen solchen Wald, so dicht bewachsen, so lebhaft, so umwerfend, hatte Hermine niemals zuvor gesehen. „Und wo bin ich?“ Oder vielmehr wann?, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Ich finde es zwar reichlich unhöflich, sich als Besucher nicht vorzustellen, ehe man anfängt, Fragen zu stellen …“, begann die Fremde und stand etwas ungelenk auf, bevor sie zu Hermine kam. „… aber ich will mal nicht so sein. Ich bin Wendeline. Und das ist Saoirse.“ Sie deutete auf die Schildkröte, die gerade ihren Kopf einzog.
Hermines Augenbrauen zuckten. „Freut mich, euch kennen zu lernen, schätze ich …“
„Verrätst du mir jetzt auch, wie du heißt?“
„Ähm, klar … Mein Name ist Hermine.“
„Freut mich, Hermine.“
„Das … ähm … mag jetzt vielleicht merkwürdig klingen, aber … welches Jahr haben wir gerade?“ Unter ihren Füßen knackte ein Ast und Hermine zuckte unmerklich zusammen.
„Das klingt ganz und gar nicht seltsam. Ich meine, du bist aus einem Zeitloch gekommen. Da kann man schon verwirrt sein.“ Wendeline lächelte freundlich.
„Allerdings …“ Und es wurde mit jeder Sekunde schlimmer. War sie tatsächlich über eine andere Hexe gestolpert? Konnte sie wirklich so viel Glück haben?
„Wir schreiben das Jahr 1486 nach Christus.“
„Wow, wir sind vierstellig“, murmelte Hermine. Und als Wendeline von ihrer Bemerkung nicht übermäßig irritiert schien, fuhr sie fort: „Gehe ich recht in der Annahme, dass du eine …“ Sie würgte am Ende ihres Satzes. „… Hexe bist?“
„Ich bevorzuge inzwischen den Ausdruck magisch begabt, aber ja, das bin ich.“ Wendeline kräuselte die Nase.
„Und … kommst du auch aus einer anderen Zeit?“
„Eventuell.“ Sie grinste spitzbübisch. „Aber jetzt erzähl du mal. Was treibt dich hierher?“ Sie wandte sich um und bedeutete Hermine mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen.
Hermine zögerte und sah zurück zum Zeitriss.
„Oh, keine Angst, der ist stabil. Ich beobachte ihn seit einer ganzen Weile.“
Sie sah sich nach Wendeline um. „Was verstehst du unter einer ganzen Weile?“
„Das kommt auf den Blickwinkel an. Kommst du oder willst du sofort zurück?“
„Nein! Ich meine, ich komme“, entgegnete Hermine schnell. „Aber … ist schon mal jemand hindurchgekommen?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich sitze aber auch nicht jeden Tag hier und beobachte den Riss, also …“
Hermine nickte gedankenverloren. Angenommen, sie war tatsächlich als erste durch den Riss gekommen – zumindest auf dieser Seite des Risses – dann bedeutete das, dass … Snape erst noch kommen würde? Sie runzelte die Stirn. War es möglich, dass der Riss nicht den Regeln der Zeit unterworfen war? Dass in ihm die Zeit nicht linear vorwärts verlief sondern … chaotisch? Dass man auf der einen Seite später hindurchgehen, auf der anderen aber früher herauskommen konnte? Oder bedeutete das, dass Snape …
… dass er nie hier gewesen war. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie musste das überprüfen. Nichts in den Büchern hatte darauf hingedeutet, dass sie vor Snape hier ankommen könnte, aber vielleicht hatte sie es auch nur überlesen. Sie war müde gewesen … Sie würde den Riss untersuchen, ihn erforschen. Die Zauber, die sie auf der anderen Seite des Risses angewandt hatte, würden auch hier funktionieren.
„Kommst du nun“, durchschnitt Wendelines Stimme jedoch ihre Gedanken, „oder willst du doch gleich wieder zurückgehen?“ Sie legte den Kopf schief, während sie Hermine beobachtete.
Die blinzelte. Im Grunde, so dachte sie, hatte sie nichts zu verlieren. Der Riss war stabil, Wendeline schien mit ihrer Schildkröte nicht gerade gefährlich und diese Zeit war mehr als faszinierend – auch wenn Hexen hier vermutlich keinen allzu guten Ruf hatten. Aber sie hatte gelernt, sich bedeckt zu halten. In jedem Sommer, den sie bei ihren Eltern verbracht hatte.
Davon abgesehen wollte sie dieses Rätsel lösen; mehr als alles andere auf der Welt wollte sie herausfinden, wie das alles – Snapes Verschwinden in ihrem sechsten Schuljahr, sein Notizbuch und all die anderen Hinweise, dieser Zeitriss – miteinander zusammenhing. Sie konnte jetzt nicht zurückgehen und so tun, als hätte sie das alles nie herausgefunden.
Also lächelte sie zum ersten Mal, seitdem sie in dieser Zeit angekommen war. „Ja, ich komme mit.“ Und folgte Wendeline über den moosbedeckten Waldboden.