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Die geheimnisvollen Geräusche

von Nenaisu
Kurzbeschreibung
SammlungFreundschaft, Schmerz/Trost / P16 / MaleSlash
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
01.05.2022
16.08.2023
15
47.339
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05.02.2023 3.209
 
Das Schlurfen von Füßen


Hallo Leo,

wie geht es dir?


Es war jedes Mal der gleiche erste Satz, die gleiche Begrüßung, Tag für Tag und Brief für Brief. Seit seiner Flucht vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren schrieb Adam Leo jeden Tag. 934 Tage um genau zu sein, 934 Briefe, in denen er seinem besten Freund Seite um Seite um Seite von seinen Erlebnissen schrieb. Erlebnisse, die er auf seinen Reisen um die ganze Welt hatte. Er hatte ihm aus Japan und aus Kanada, aus Südafrika und Brasilien geschrieben. Bald würde er 1000 Briefe zusammen haben. Briefe, die er nie abschicken würde. Briefe, die er in einer eigens dafür angeschafften Tasche mit sich herumschleppte, von Reiseziel zu Reiseziel.

1000 Briefe machten 1000 Tage.

Tausend Tage, die er an Leo gedacht hatte. Jede Minute, jede Sekunde.
Tausend Tage, die er dennoch nicht bereute.

Es tat ihm gut, nicht mehr in Saarbrücken zu sein. In dieser Kleinstadt, die ihm schon immer zu eng war. In dieser Kleinstadt, in der ihn immer alles an seinen Vater erinnerte.
Er heilte langsam, körperlich und seelisch, doch er konnte es nicht ertragen, in derselben Stadt zu sein, in der sein Vater war, auch wenn dieser unbeweglich im Koma lag. Außerhalb von Saarbrücken konnte sein Vater ihm nichts mehr anhaben. Er war einfach nur ein Körper irgendwo in einem Krankenhaus.

Es ging Adam gut, ohne irgendeinen Druck. Den Druck von seinem Vater, der perfekte Sohn zu sein. Seinen Vorstellungen zu entsprechen. Den Druck, seine Mutter nicht zu enttäuschen, weil in Roland Schürks Augen immer sie daran schuld war, wenn Adam Schwäche zeigte. Ihr schwaches Erbe, ihr schwaches Blut. Den Druck in der Schule, immer gute Leistungen zu erbringen, denn auch darauf achtete sein Vater penibel. Den Druck, seine blauen Flecke und offenen Wunden zu verbergen. Den Druck, seine Ängste nicht zu zeigen, die vor der Dunkelheit, die vor engen Räumen, die vor Hunden. Sich nicht anmerken zu lassen, dass er nie etwas zu Essen dabeihatte, Hunger zu haben, dass niemand sah, dass er so dünn war, dass er nur aus Haut und Knochen bestand.
Niemanden an sich heranzulassen, damit all das niemand bemerkte.

Dann war die Sache mit Leo passiert.

Er wollte wegsehen, wirklich. Es wäre für alle besser gewesen, selbst für Leo.

Natürlich bekam Adam mit, wie Leo ausgelacht und gehänselt wurde, wie sie ihn herumschubsten und ihn auch mal schlugen. Er ignorierte es, Tage, Wochen, Monate. Wie alle anderen, die es mitbekamen, auch.
Dann kam Leo eines Tages mit einem Veilchen in die Schule. Das war so offensichtlich, dass auch die Lehrer nicht mehr darüber hinwegsehen konnten. Also fragten sie, vor versammelter Klasse, was passiert war. Leo murmelte etwas Unverständliches über einen Hängeschrank, gegen den er gelaufen war, doch er verriet seine Mitschüler nicht. Die neben ihm saßen und ihn anstierten, als sei nichts gewesen, während er selbst starr auf die Tischplatte vor sich sah.
Es hatte ihn an sich selbst erinnert. Wie oft hatte er dieselben Ausreden erfunden? Die Treppe hinuntergefallen, gegen Türen gerannt, über die Katze gestolpert, die sie gar nicht besaßen, aber das wusste ja keiner.
Jedes Mal ließen die Lehrer dann vom Thema ab, weil es bequemer war, die Ausreden zu glauben, als weiter nachzuhaken. So auch bei Leo.

Seine Mitschüler sollten ihm verdammt nochmal dankbar sein, doch sie machten weiter, sobald das Auge verheilt war, weil Leo sich nicht wehrte, es vermutlich gar nicht konnte. Nachdem sie Leo zu Boden gestoßen hatten und wieder auf das gerade verheilte Auge zielten, da riss etwas in Adam. Leo hatte diese Arschlöcher gedeckt, und wie dankten sie es ihm? Überhaupt nicht. Genauso, wie Adam immer seinen Vater deckte, der es ihm nur mit neuen Schlägen und Demütigungen dankte.

In einer Kurzschlussreaktion hatte er sich dazwischen gestellt. Hatte Julian oder Kevin oder wie der Feigling hieß – er merkte sich die Namen seiner Mitschüler nicht. Wozu auch? Er wollte nichts mit denen zu tun haben – von Leo weggestoßen. Hatte diesem wieder auf die Beine geholfen und dann Julian-Kevin wieder angesehen. Hatte den Schlag kommen sehen, alleine an der Verlagerung seines Gewichts, bevor dieser sich überhaupt dazu entschlossen hatte. War das Training von seinem Arschloch-Vater doch wenigstens einmal zu etwas nütze. Er hatte ihn den Schlag erst gar nicht durchführen lassen, sondern sofort zum Gegenangriff angesetzt und Julian-Kevin zu Boden gestreckt, auf dem dieser wimmernd liegen blieb.

Memme.

Von da an hatte Leo an ihm geklebt, wie eine Klette. Erst hatte es Adam geärgert, dann hatte er sich über sich selbst geärgert, dass er ihm geholfen hatte. Hätte er gewusst, wie Leo reagieren würde, er hätte es sich wahrscheinlich nochmal überlegt. Dann war es ihm gleichgültig geworden und irgendwann waren sie erst Kumpel und dann Freunde geworden.

Denn Leo sagte nichts. Nicht, als er blaue Flecke sah, nicht, als er Wunden und Narben sah. Er sagte nichts, nicht zu Lehrern, nicht zu anderen Erwachsenen, nicht einmal zu Adam selbst.

Erst, als Leo Adam das Baumhaus zeigte, verstand er, warum.
Leo wusste es längst. Hatte es schon vorher gewusst.
Und nichts gesagt, zu niemandem.
Es war ihr Geheimnis.

Adam hatte Leo an sich herangelassen.
Das war am Ende das Problem gewesen, denn Adam hatte Leo mit hineingezogen, in sein verkorkstes Leben. Leo war der einzige Lichtblick in seinem Leben gewesen, doch die Sache in der Garage und dass Leo sich danach zurückgezogen hatte, hatte ihm gezeigt, dass er Leo nicht mit sich in die Dunkelheit reißen durfte.

Deshalb war er gegangen.

Gerade hatte Adam seine Gedanken dazu aufgeschrieben, ob er hierbleiben oder weiterziehen sollte und wenn ja, wohin er gerne gehen würde, als er das Schlurfen der Schritte seines Mitbewohners hörte, der eindeutig auf sein Zimmer zukam. Hastig griff er seinen Brief und versteckte ihn unter seinem Kopfkissen. Tyler hatte ihn schon einmal erwischt und nachdem er ihm grob erklärt hatte, wer Leo war und dass er diese Briefe an ihn nicht abschicken würde, hatte dieser ihm einen Vortrag gehalten, dass es nicht gesund sein konnte, so an seinem Ex zu hängen und dass er nach vorne schauen sollte. Adam hatte ihn nicht korrigiert, denn Leo und er waren schließlich nie ein Paar gewesen, doch er war anderer Meinung. Denn es war das Gegenteil, es tat ihm unglaublich gut, an Leo zu denken und sich vorzustellen, wie er reagieren würde, wenn er ihm diese Briefe schicken würde.

Erst durch Tylers Aussage hatte er angefangen, darüber nachzudenken, was Leo für ihn war. Leo war sein bester Freund, natürlich, aber war da auch mehr? Und wie kam Tyler überhaupt auf die Idee? Er kannte Leo nicht einmal, was war also die Grundlage für seine Rückschlüsse? Er selbst hatte nie definiert, ob er auf Jungs oder Mädchen oder beides stand. Sein Vater war der Meinung gewesen, dass es unnatürlich war, das gleiche Geschlecht zu lieben und genau das hatte er Adam immer wieder eingebläut und auch er selbst fand es lange Zeit ekelhaft. Bis er das Leo gegenüber erwähnt hatte und dieser absolut kein Verständnis dafür gehabt hatte. Erst das hatte ihn zum Nachdenken gebracht und jetzt, da sein Vater im Koma lag, spielte es auch keine Rolle mehr, was der dachte.

Er hatte keine großartige Lust auf eine weitere Diskussion darüber mit seinem Mitbewohner und er sollte Recht behalten, denn kurz darauf streckte dieser seinen Kopf durch die Zimmertür.
„Hast du Lust, heute auszugehen?“ wollte er wissen.
Adam ließ seine Augen über Tyler wandern. Wenn dieser so angezogen war, dann wusste er, welche Clubs Tyler besuchen wollte, daher fiel die Entscheidung nicht sehr schwer. „Klar, bin dabei.“
Seit Tyler entdeckt hatte, dass er seinem vermeintlichen Ex Briefe schrieb, hatte er ihn immer wieder in einschlägige Clubs mitgenommen und Adam hatte festgestellt, dass er auch gerne mit Jungs knutschte, auch wenn es nie etwas Festes geworden war. Außerdem wollte er das niemandem antun, da er nie wusste, wie lange er bleiben würde, aber es war sicher, dass er irgendwann gehen würde.

Nachdem Tyler verschwunden war, widmete Adam sich wieder seinem Brief. Er hatte Leo nie davon geschrieben, dass er seine Meinung bezüglich Männerliebe mittlerweile geändert hatte und auch nicht, dass er jetzt dabei war, solche Erfahrungen zu sammeln. Er wusste noch nicht einmal, wieso. Schließlich wusste er von damals, dass Leo nichts dagegen haben würde.

Und er schickte die Briefe doch sowieso nicht ab.


**


Irgendwann hörten die Briefe auf.

Erst wurden sie kürzer, dann seltener. Als Adam nach fünf Jahren beschloss, fest nach Berlin zu ziehen, hörte er ganz damit auf.

Nachdem er mit Tyler damals in diesen Club gegangen war und er jemanden kennengelernt hatte, der Leo sowohl optisch als auch im Verhalten wirklich sehr ähnlich war, war ihm klargeworden, dass Tyler recht hatte. Er war total verliebt in Leo gewesen, hatte es selbst aber nicht bemerkt.
Doch diese Erkenntnis half ihm nicht sehr viel weiter. Er konnte nicht zurück nach Saarbrücken, dafür war er nicht bereit. Außerdem war er einfach gegangen, ohne irgendjemandem etwas zu sagen, nicht einmal Leo, der bestimmt sauer deswegen war.
Er versuchte, nach vorne zu blicken, anstatt zurück. Das bedeutete auch, die Briefe aufzugeben, weniger an Leo zu denken, neue und andere Beziehungen einzugehen.

Dennoch pochte die Sehnsucht dumpf irgendwo tief in ihm drin.

Als er dann auf den Tag genau fünfzehn Jahre nach seiner Flucht und einen Tag, nachdem er seine letzte Beziehung beendet hatte, weil es einfach nicht das Richtige gewesen ist, ein Tauschgesuch mit Saarbrücken an der Pinnwand sah, war es ihm, als wolle das Schicksal ihm etwas sagen. Mit einem Mal war die Sehnsucht so groß, dass er sich in einer Kurzschlussreaktion auf die Stelle bewarb, ohne darüber nachzudenken, ob er überhaupt bereit dazu war, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Da niemand die Großstadt Berlin gegen die Provinz tauschen wollte, blieb er der einzige Bewerber und brauchte daher noch nicht einmal ein Bewerbungsgespräch zu absolvieren. Stattdessen saß er noch nicht einmal zwei Monate später mit Sack und Pack im Bus nach Saarbrücken.

Adam hatte bereits einen Plan gefasst: er würde sich erst eine Wohnung suchen, richtig ankommen, dann würde er nach Leo suchen und Widergutmachung leisten. Er konnte nur hoffen, dass Leo ihn nicht einfach wegschickte, weil er ihn nicht mehr in seinem Leben wollte. Adam hoffte, dass Leo ihn wenigstens als Freund zurücknehmen würde.
Seine Gedanken fuhren bereits seit zwei Monaten Achterbahn, doch er wusste noch immer nicht, ob das Ganze eine so gute Idee war. Vielleicht waren seine Erwartungen auch einfach zu hoch und dann würde er in Saarbrücken festsitzen, doch auch das würde er schon irgendwie hinkriegen.

Vorerst zog er in ein Hotel, dann hatte er noch eine Woche Zeit, bis zu seinem Dienstantritt. Eine Woche, in der er sich akklimatisieren konnte, eine Woche, die er hauptsächlich damit verbrachte, zu warten. Und sich Wohnungen anzusehen, für die er bereits von Berlin aus Besichtigungstermine vereinbart hatte. Da er seinen Dienstplan erst an seinem ersten Arbeitstag erhalten würde, konnte er auch vorerst keine neuen Termine ausmachen, auch wenn er weiterhin die Inserate im Internet und in der Zeitung im Auge behielt und bereits eine Vorauswahl traf.

Adam wusste selbst nicht einmal, warum er davon ausging, dass Leo noch immer in Saarbrücken war. Traute er es ihm nicht zu, seine Heimat zu verlassen? Leo war hier verwurzelt, er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Außerdem ging er davon aus, dass zumindest noch Leos Eltern hier lebten. Sie hatten immerhin zusammen ein Haus gebaut, das gab man nicht so einfach auf und eine Trennung der beiden schloss er ebenso aus. Vielleicht war es auch einfach nur der Tatsache geschuldet, dass das sein einziger Anhaltspunkt war. Das einzige, was ihm die Hoffnung gab, Leo irgendwann zu finden. Er würde die beiden einfach aufsuchen und dann würde er sehen, was dabei herauskam.

**

Sein erster Arbeitstag begann denkbar unangenehm. Nachdem er verschiedene Formulare ausgefüllt und unterschrieben hatte und er seinen Dienstausweis hatte, wartete er eigentlich auf sein Team. Doch stattdessen hielt ihm jemand von der Disziplinardienststelle, dessen Namen er schon gleich wieder vergessen hatte, einen Vortrag über seinen hiesigen Partner. Darüber, dass dieser Schießhemmungen hatte und eine Gefahr für alle war. Adam runzelte unwillig die Stirn. Er würde sich schon selbst ein Bild von diesem Typen machen.

Doch dann fiel der Name Leo Hölzer und seine Aufmerksamkeitsspanne ging automatisch auf null.

Leo war Polizist geworden?
Leo war Polizist geworden.
Wieso war Leo Polizist geworden?

Er wusste noch ganz genau, dass Leo Lehrer werden wollte. Weil er Kinder liebte, weil er sie gerne um sich hatte, weil er Leuten gerne etwas beibrachte, was er, wie Adam aus eigener Erfahrung wusste, auch sehr gut konnte. Er hatte erwartet, dass Leo jetzt auch wirklich Lehrer war, an einer Grundschule oder an einem Gymnasium. Dass er sich seinen Traum erfüllt hatte. Oder Tierarzt, denn Tiere liebte er genauso, aber das war eher etwas, was Adam ihm vorgeschlagen hatte, weil er es sich wirklich gut vorstellen konnte. Leo, der Helfer.

Wieso war er Polizist geworden? Was war der Auslöser? Polizist war doch unglaublich weit weg von seinem Plan, Lehrer zu werden. Und dann noch bei der Mordkommission. Leichen und Psychopathen, Wechselschicht und Wochenendarbeit, das waren Dinge, die nicht zu Leo passten.

Zumindest nicht zu dem Leo, den er kannte.
Gekannt hatte.

Adam schloss überwältigt die Augen. Er würde einen ganz anderen Leo kennenlernen. Er konnte nur hoffen, dass sie wieder einen Draht zueinander fanden.

Adam bekam nicht mit, dass der Disziplinartyp sich verabschiedete, oder dass er noch eine Weile einfach nur dasaß, während seine Gedanken Karussell fuhren.
Das nächste, was er mitbekam, war eine Stimme, die ihm durch Mark und Bein ging.

„Guten Morgen, ich bin Leo Hölzer, willkomm...“

Adam stand auf und drehte sich um. Bewusst langsam, er musste sich beherrschen, da er nicht wusste, die Leo reagieren würde. Wie dieser Leo reagieren würde.

Fünfzehn Jahre waren eine verdammt lange Zeit.


**


Wie sich herausstellte, war es gar nicht so schwer, wieder einen Draht zu Leo zu finden. Eine Umarmung und ein ehrliches ‚Ich hab' dich vermisst.‘ brachen das Eis. Trotzdem dauerte es einige Zeit, bis ihr Verhältnis zueinander wieder eingependelt war.

Es war Leos erster Geburtstag seit Adams Rückkehr vor zehn Monaten und Adam hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, denn er hatte ein ganz besonderes Geschenk für ihn. Er hatte nicht viel dazu gesagt, daher folgte Leo ihm nun gespannt. Er war überrascht, als Adam ihn in sein Schlafzimmer führte. Leo war schon oft in Adams Wohnung gewesen, doch nie hier. Es war das einzige Zimmer, das bisher immer tabu gewesen war. Nun, im Grunde nicht tabu, aber es hatte nie einen Grund gegeben, es zu betreten, daher war ihm nun ein wenig mulmig, als er es nun tat. Nichtsdestotrotz konnte er nicht umhin, sich neugierig umzusehen, denn ihn interessierte alles, was Adam betraf.

Der stand mittlerweile neben einer dunklen Holztruhe, die am Fußende des Bettes stand. Andächtig hob er den Deckel, trat dann einen Schritt zur Seite und sah Leo erwartungsvoll an. Dieser trat neben seinen Freund und warf einen Blick in die Truhe. Er runzelte die Stirn, während er die Zettel betrachtete, die die Truhe bis zum oberen Rand füllten. „Was ist das?“ Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was das sein sollte, geschweige denn, was er mit diesem Geschenk anfangen sollte.

Adam schluckte nervös. Jetzt, da Leo neben ihm stand und auf die Briefe sah, war er sich nicht mehr so sicher, ob das wirklich eine so gute Idee war. „Das sind Briefe,“ erklärte er und räusperte sich, da seine Stimme mit einem Mal kratzig klang. „Als ich weg war…“ Er stockte, als Leo ihn nun ansah und befeuchtete mit der Zunge seine Lippen, da sein Mund plötzlich ganz trocken war. Er musste sich einen Ruck geben, um weiterzusprechen. „Am Anfang habe ich dir jeden Tag einen Brief geschrieben. Später sind es dann weniger geworden, bis ich ganz aufgehört habe.“ Gegen Ende wurde er immer leiser.

Leo blinzelte. „Wie viele sind das?“
Adam hob die Schultern. „Bei 1200 habe ich aufgehört, zu zählen.“ Er erwähnte lieber nicht, dass er haargenau wusste, wie viele es waren. Schließlich hatte er vor zwei Wochen damit angefangen, sie noch einmal nach Datum zu sortieren, damit Leo vorne beginnen konnte und hatte sie dabei auch gerade gezählt, weil es ihn auch selbst interessiert hatte.

Leo wusste nicht, was er sagen sollte. Oder denken. Oder fühlen.

Er hatte bisher immer gedacht, dass Adam die fünfzehn Jahre, die er weg gewesen war, nicht einmal an ihn gedacht hatte. Dass er ihn vergessen hatte. Später, als Adam hier wieder aufgeschlagen war und Leo klar wurde, dass er die Erinnerung an die Garage einfach weggedrückt hatte, hatte er vermutet, dass Adam auch die Erinnerung an ihn fünfzehn Jahre weggedrückt hatte.
Stattdessen erfuhr er nun, dass Adam anfangs jeden Tag an ihn gedacht hatte. Was war schlimmer, dass er ihn vergessen hatte oder dass er immer an ihn gedacht, sich aber nicht gemeldet hatte?

Er wusste es nicht.

Wieso hatte Adam diese Briefe überhaupt geschrieben, wenn er nicht die Absicht gehabt hatte, sie ihm jemals zu schicken? Er stellte sich vor, wie Adam abends irgendwo saß und Briefe schrieb, während er selbst in Saarbrücken hockte und sich die Augen aus dem Kopf heulte. Nicht nur, weil Adam verschwunden war, sondern auch, weil man irgendwann davon ausging, er könnte nicht mehr am Leben sein. Und hier stand er nun und starrte auf die Briefe, die damals zumindest ein Beweis dafür hätten sein können, dass Adam wenigstens noch am Leben war.

„Es sind deine Briefe, du kannst sie lesen, wann immer du willst.“ Adams Stimme drang nur dumpf durch das Rauschen seiner Gedanken.
Lesen? Wozu sollte er das wollen? Jetzt, wo es viel zu spät war.
Er schüttelte stumm den Kopf, musste sich allerdings von dem Anblick regelrecht losreißen. „Ich kann nicht.“ Seine Stimme war leise und dünn, so dass er sie selbst kaum hörte.

„Warum nicht?“ Adam zog die Augenbrauen zusammen. „Du wolltest doch immer wissen, was in diesen fünfzehn Jahren passiert ist. Zumindest die ersten fünf Jahre liegen direkt vor dir.“ Adam deutete auf die geöffnete Truhe, doch Leo wich einen Schritt davon zurück. Eigentlich spürte er einen unbändigen Fluchtdrang. Flucht vor der Vergangenheit, Flucht vor dem Zeugnis dessen, was hätte sein können, hätte Adam diese Briefe verschickt. Er konnte an nichts Anderes denken, als das was-wäre-wenn.

Es verletzte ihn unglaublich, zu wissen, dass Adam an ihn gedacht hatte, aber nicht daran, was die Briefe hätten ändern können. Dass er sie ihm jetzt geben wollte, machte das Ganze noch schlimmer.

Er wünschte, er hätte von diesen Briefen nie erfahren.

Schließlich gab Leo diesem übermächtigen Drang nach. Doch bevor er auch nur mehr als einen Schritt Richtung Tür gemacht hatte, packte Adam ihn am Oberarm.
"Eine Sache, die dort drin steht, musst du allerdings wissen," flüsterte Adam.
Leo drehte sich nur zögerlich zu ihm um.
Adam wartete, bis Leo seinen Blick von seinem sicherlich extrem interessanten Teppich gehoben hatte und ihn fragend ansah. Dann trat er mit einem Selbstbewusstsein, das er eigentlich gar nicht fühlte, nachdem Leo so extrem anders auf die Briefe reagiert hatte, als von ihm angenommen, den letzten Schritt auf Leo zu, so dass sie fast Nasenspitze an Nasenspitze standen und Leos Gesichtsausdruck eher Verwirrung widerspiegelte.

"Ich liebe dich," wisperte er und beugte sich die letzten paar Zentimeter vor, um Leo zu küssen.

Ich vermisse dich so schrecklich,
Adam
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