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Mord unterm Osterstrauch

Kurzbeschreibung
OneshotHumor, Freundschaft / P12 / Gen
Blair Sandburg James Ellison
18.04.2022
18.04.2022
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5.700
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18.04.2022 5.700
 
Kommentar
Diese Geschichte ist als finaler Beitrag zum Projekt "Osterserienkalender 2022" entstanden.
Sie kann als Slash gelesen werden, muss es aber nicht (in meinem Kopf sind die zwei so oder so verheiratet und ich würde sie bei Slash nicht groß anders schreiben), darum habe ich die FF bei Gen eingeordnet. :)

Ich hoffe, ich kann euch hiermit ein bisschen vom Alltag ablenken – und wünsche euch natürlich frohe Ostern. ;)


Warnungen gelten eigentlich keine, außer für die Elemente, die für die Serie/Krimiserien typisch sind. Ich gehe jedoch nicht allzu sehr ins Detail. Es kommen außerdem keine Tiere zu Schaden.




Mord unterm Osterstrauch


„Sandburg.“
„Hmm?“, machte Blair, während er einen Stapel Bücher vor seiner Brust quer durchs Zimmer in Richtung seiner geöffneten Reisetasche balancierte.
„Was gibt’s, Jim?“, fragte er, nachdem er die Bücher in seiner Tasche verstaut hatte, und warf einen Blick zu seinem besten Freund und Mitbewohner hinüber, der mit amüsierter Miene im Türrahmen lehnte.
„Sandburg, es sind nur drei Tage“, erwiderte Jim. „Drei Tage Angeln und Campen in unberührter Natur. Ist es wirklich nötig, Lesestoff für drei Wochen einzupacken?“
„Es sind nur acht Bücher“, verteidigte sich Blair und zog mit sichtlicher Mühe den Reißverschluss der Tasche zu. „Und ich bin ein schneller Leser. Das ist das erste Mal seit letztem Herbst, dass ich mal wieder drei ganze Tage am Stück Zeit für mich habe und mich nicht mit Hausarbeiten herumärgern muss. Das muss ich einfach ausnutzen.“
Jim hob die Hände. „Okay, okay. Ich wollte dich auch nicht daran hindern, ich bewundere nur deinen Enthusiasmus.“
Er wandte sich ab, als in der Küche plötzlich das Telefon klingelte.
„Aber ich werde nicht deine Tasche tragen, nur damit das klar ist“, rief er Blair über die Schulter zu.
Er konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie der andere Mann ihm die Zunge rausstreckte, doch er ignorierte es nur kopfschüttelnd und nahm stattdessen den Hörer ab.
„Ellison.“
„Jim“, ertönte am anderen Ende der Leitung die vertraute Stimme von Simon, seinem Boss. „Ich befürchte, ich habe schlechte Nachrichten für dich...“
Jim lehnte sich an den Küchentisch und warf einen Blick zu Blair hinüber, der sein Zimmer verlassen hatte und ihn mit fragender Miene ansah.
„Bitte sag nicht, dass du einen Mord für mich hast“, erwiderte er. „Du weiß, wie sehr Sandburg und ich die Auszeit nötig haben.“
„Das weiß ich, Jim, und es tut mir leid, dass ich dich dafür zurückholen muss“, sagte Simon. „Aber dieser Fall ist ganz besonders seltsam und ich brauche dich und deine... besonderen Fähigkeiten, um ihn aufzuklären. Wäre es anders, hätte ich mich nicht bei euch gemeldet. Henri ist auch schon vor Ort und sammelt die wichtigsten Infos für dich zusammen.“
Jim stieß ein Seufzen aus. Vom verlängerten Wochenende am See konnte er sich wohl verabschieden. Er selbst konnte damit leben, aber es tat ihm vor allem für seinen Partner leid. Blair hatte tatsächlich schon lange keinen freien Tag mehr gehabt und hatte sich schon seit Wochen auf ihren Ausflug gefreut.
„Na schön“, meinte er. „Gib mir die Adresse...“
Nachdem er alles notiert und sich von Simon verabschiedet hatte, wandte er sich seinem Mitbewohner zu.
„Tut mir leid. Simon hat mir einen neuen Fall aufs Auge gedrückt, den ich leider nicht ablehnen kann. Wenn du jedoch lieber allein fahren willst...“
Blair warf einen sehnsüchtigen Blick zu seiner Reisetasche hinüber, doch dann schüttelte er den Kopf.
„Ich bin dein Partner, Jim, natürlich komme ich mit dir“, entgegnete er. „Unser Campingtrip kann warten.“
Und mit dem grenzenloser Eifer, den nur Blair in solch einer Situation aufbringen konnte, ging er zur Tür, um sich seine Schuhe anzuziehen.
Jim folgte ihm erleichtert, nicht ohne zum wiederholten Male den Göttern dafür zu danken, dass sie ihm damals Blair Sandburg vor die Füße gespült hatten.

„Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde“, murmelte Blair, als sie sich am Tatort umsahen. „Den Mord oder das Farbschema dieser Wohnung.“
Es kostete Jim alle Mühe, bei diesen Worten nicht aufzulachen, sondern eine neutrale Miene zu bewahren, weil er seinem Partner in diesem Punkt absolut zustimmte.
Die komplette Wohnung war in einem cremefarbenen Ton gehalten. Von der hellen Tapete hin zu den Schränken und Regalen, den Tischen und Stühlen, und den Sofapolstern und Teppichen bot die Einrichtung so gut wie keine farblichen Reize, wäre nicht die Leiche auf dem Wohnzimmerteppich gewesen, die in einer großen Blutlache lag.
Wobei, das stimmte nicht ganz. Neben der Leiche stand in einer – natürlich cremefarbenen – Vase ein grüner Strauß auf dem Wohnzimmertisch. Es war jedoch kein Blumenstrauß, wie Jim feststellte, sondern eine Ansammlung von blühenden Zweigen, die man von verschiedenen Bäumen geschnitten hatte. An einigen davon hingen bunt bemalte Eier.
„Ich frage mich, ob der Strauch für den Mord von Bedeutung ist“, sagte Jim leise. „Er passt so gar nicht an diesen Ort. Vielleicht ein Ritual...?“
Blair beugte sich vor, um die angemalten Eier zu bewundern.
„Wie ist noch mal der Name des Opfers?“, fragte er.
„Schaefer. Karl Schaefer.“
Blair nickte, als würde ihn die Antwort nicht verwundern. „Das ergibt Sinn.“
Jim runzelte die Stirn. „Sandburg, ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst.“
Sein Partner richtete sich wieder auf.
„Er war deutscher Abstammung“, erklärte er. „Und wir haben dieses Wochenende Ostern. In Deutschland ist es ein weit verbreiteter Brauch, sich Ostersträuche wie diesen in die Wohnung zu stellen. Sie symbolisieren unter anderem die Wiedergeburt der Natur im Frühjahr. Darum denke ich nicht, dass der Strauch von Relevanz ist – außer, dass er rein farblich etwas Leben in die Wohnung bringt. ... okay, ungünstige Formulierung in Anbetracht des Mordes, aber du verstehst, was ich meine.“
Jim schüttelte den Kopf, einmal mehr fasziniert von der lebenden Enzyklopädie, mit der er zusammenarbeitete.
„Woher weißt du solche Dinge?“, fragte er.
Blair zuckte mit den Schultern.
„Mein Urgroßvater mütterlicherseits kam aus Deutschland“, erwiderte er. „Was glaubst du, woher mein Nachname kommt?“
Dann trat ein herausforderndes Funkeln in seine Augen. „Außerdem lese ich viel.“
Jim stöhnte innerlich auf.
„Du wirst mir meinen Kommentar zu deinem Bücherkonsum heute Morgen noch ewig vorhalten, oder?“
„Jepp.“ Blair grinste.
„Gentlemen...?“ Henri Brown, der Detective, der sie in der Wohnung des Opfers in Empfang genommen hatte, trat auf sie zu. „Wenn ich euch kurz unterbrechen dürfte...“
„Natürlich“, sagte Jim. „Schieß los, Henri. – Was wissen wir schon?“
Der andere Mann sah auf den Notizblock in seiner Hand herab.
„Ehrlich gesagt nicht viel“, gestand er. „Es gibt keine verdächtigen Finger- oder Schuhabdrücke, keine Zeugen, keine Sicherheitsaufnahmen. Das Opfer war 42 Jahre alt und hat allein gelebt. Eine Partnerin oder andere soziale Kontakte außerhalb der Arbeit scheinen nicht zu existieren. Die Nachbarn haben allerdings erzählt, dass Schaefer jeden Tag früh die Wohnung verlassen hat und immer erst spät nach Hause gekommen ist. Ein klassischer Workaholic also.“
Jim und Blair tauschten einen kurzen Blick.
Wenn er Blair nicht hätte, würde es ihm nicht so viel anders gehen, da machte Jim sich nichts vor.
„Womit wurde er ermordet?“, fragte er.
„Nun.“ Henri räusperte sich. „Das ist einer der Punkte, die noch nicht ganz geklärt sind. Sieh dir Schaefer an und sag mir, was du denkst.“
Jim erkannte schnell, was sein Kollege meinte, als er neben der Leiche niederkniete.
Beim ersten, flüchtigen Blick war er davon ausgegangen, dass der Mörder dem Mann die Kehle durchgeschnitten hatte, doch als er die Wunde nun genauer betrachtete, erkannte er, dass es etwas komplizierter war, als er gedacht hatte.
Es war nicht ein einziger, sauberer Schnitt, sondern es handelte sich um mehrere parallele, unterschiedlich breite und tiefe Schnitte, als hätte jemand mit sehr spitzen Fingernägeln und sehr, sehr kleinen Händen Schaefer die Kehle aufgekratzt. Den Händen eines Einjährigen etwa, dem Abstand zwischen den Schnitten nach zu urteilen.
Oder eine Pfote.
Jim verwarf diesen Gedanken sofort wieder, er war schlichtweg absurd. Nein, es musste sich bei der Mordwaffe stattdessen um einen Gegenstand mit mehreren Klingen gehandelt haben, auch wenn Jim noch keine Ahnung hatte, welche Art von Waffe solch eine Wunde verursachen konnte.
Als er seinen Blick wieder hob und kurz durch den Raum schweifen ließ, fiel er plötzlich auf ein anderes Detail.
„Was zum...?“, murmelte Jim und stand auf.
Er lieh sich eine Pinzette von einem der Forensiker und kniete dann neben dem Sofa nieder, um ein kurzes weißes Haar aus dem cremefarbenen Teppich zu zupfen.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Blair leise.
Jim hielt die Pinzette hoch. „Das hier. Dieses Haar ist nicht wie die anderen. Schaefers Haare sind deutlich dunkler und länger.“
Sein Blick wanderte über den Teppich. „Und es scheint nicht das einzige seiner Art zu sein.“
Er roch an dem Haar und ließ seinen hypersensiblen Geruchssinn den Fund analysieren.
Das Ergebnis irritierte ihn nur noch mehr.
Er sah zu Henri hinüber.
„Hatte das Opfer zufällig Haustiere?“, fragte er.
„Nein“, erwiderte sein Kollege. „Warum fragst du?“
„Ich habe Tierhaare gefunden.“ Jim stand auf und reichte Henri die Pinzette. „Hier. Für die Analyse.“
Der andere Mann sah ihn überrascht an.
„Die weißen Haare wären uns auf dem hellen Teppich nie aufgefallen. Du hast gute Augen, Jim.“
„Danke“, meinte Jim abwesend, während er sich erneut umsah und immer mehr Tierhaare auf dem Teppich bemerkte. „Das höre ich öfters.“
Während Henri abzog, um Jims Fund weiterzugeben, trat Blair an seinen Partner heran.
„Okay, raus damit“, sagte er leise. „Was haben deine Sentinelsinne entdeckt...?“
„Bitte versprich mir, dass du nicht anfängst zu lachen“, erwiderte Jim.
Blair sah aus großen Augen gespannt zu ihm auf. „Okay, jetzt hast du mich erst recht neugierig gemacht. Worum handelt es sich?“
„Kleintierhaare“, erwiderte Jim. „Genauer gesagt um Kaninchenhaare, dem Geruch nach zu urteilen. Und gepaart mit den Schnittwunden am Hals des Opfers ergibt das gerade ein ziemlich skurriles Bild, wenn du mich fragst...“
Blair hob die Hand und schnipste aufgeregt. „Oh, oh, lass mich den Fall auflösen!“
Jim stieß ein Seufzen aus. „Sandburg, bitte sag es nicht.“
„Es war der Osterhase?“
„... Gott, ich hasse dich.“

„Ich frage mich, was wohl das Motiv für den Mord war“, sagte Blair, als sie später im Revier zusammen an Jims Schreibtisch saßen. „Vielleicht hat Schaefer im letzten Jahr nicht genug Eier gegessen?“
„Sandburg, der Mörder war nicht der Osterhase!“, entgegnete Jim mit Nachdruck. „Und wir werden diese absurde Theorie auch gar nicht erst weiter verfolgen.“
„‚Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag‘“, zitierte Blair unbeeindruckt, während er einen Kugelschreiber auf seinem Finger balancierte.
„Danke für die Lebensweisheit, Watson, aber dass ein einzelnes Kleintier einen erwachsenen Mann tötet, ist ganz und gar unmöglich.“
„Vielleicht hatte es Freunde dabei?“
„Und wie sollen sie bitte die Wohnungstür geöffnet haben? Per Räuberleiter oder was?“ Jim schüttelte den Kopf. „Außerdem beschränkt sich die Verteilung der Kaninchenhaare ausschließlich auf das Wohnzimmer und den Flur. In den anderen Zimmern der Wohnung hat unser Team keine Haare gefunden.“
„Hmm“, machte Blair nachdenklich. „Das ist in der Tat seltsam.“
„Oh, das findest du auf einmal seltsam? Aber nicht den Osterhasen als Tatverdächtigen?“
Blair zuckte lediglich mit den Schultern, ein unschuldiges Lächeln auf den Lippen.
„Wo hat Schaefer noch mal gearbeitet?“, fragte er dann.
Jim schlug die Akte auf.
„Offenbar hatte er einen Bürojob bei einer Firma namens Pure&Simple Corp“, sagte er. „Stellen wohl Haushaltsartikel und so her.“
Sein Partner wurde mit einem Mal hellhörig.
„Moment, der Name sagt mir irgendetwas“, meinte Blair und fuhr sich mit der Hand durch seine Locken, während er angestrengt nachdachte.
Plötzlich trat ein Leuchten in seine Augen.
„Ich hab’s!“, rief er aus. „Letztes Jahr bei einer Studentendemo. Sie richtete sich gegen Experimente an Tieren in der Pharma- und Kosmetikindustrie. Pure&Simple Corp. stellt unter anderem Kosmetikartikel her und gehört leider zu den Konzernen in Cascade, die diesbezüglich eine lange und streckenweise nicht sehr ethische Tradition haben.“
Jim nickte verstehend. „Das wäre für manche Leute schon ein Motiv.“
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Okay, Sandburg, gehen wir Schaefers Vorgesetzten ein paar unbequeme Fragen stellen. Ökoterroristen, die über Leichen gehen, wären wirklich das letzte, was ich an diesem Wochenende gebrauchen kann...“

„Oh Gott, meine Augen“, sagte Blair und stöhnte leise, als sie das Foyer der Pure&Simple Corporation betraten.
Jim musste ihn nicht erst fragen, was ihn zu diesem Kommentar veranlasste.
Der gesamte Raum einschließlich des Mobiliars war von der Decke bis zu den Bodenkacheln in einem cremefarbenen Ton gehalten. Selbst die Angestellten trugen ausschließlich Kleidung in diesem Farbton.
„Dieser Ort ist so steril, man kann sich nur automatisch schmutzig fühlen“, murmelte Blair. „Sie hätten wenigstens ein paar Topfpflanzen aufstellen können.“
Jim nickte. Für gewöhnlich war er dankbar für eine reizarme Umgebung, aber hier verursachte der Mangel an abwechslungsreichen, optischen Signalen ein unangenehmes Jucken an seinem Hinterkopf.
„Willkommen in der Zentrale der Pure&Simple Corporation“, wurden sie am Tresen von einer jungen Frau mit gelangweiltem Lächeln empfangen. „Was kann ich für Sie tun?“
Jim hielt ihr seine Dienstmarke hin.
„Detective James Ellison, Cascade P.D.“, stellte er sich vor. Dann machte er eine Kopfbewegung zu Blair hinüber. „Und mein Partner Blair Sandburg.“
„Hi!“ Blair winkte ihr lächelnd zu. Sie ignorierte ihn jedoch nur geflissentlich.
„Wir sind hier aufgrund des tragischen Todes eines Angestellten der Pure&Simple Corp, Karl Schaefer.“ Jim sah sich um. „Gibt es jemanden, der mir mehr über ihn erzählen kann?“
„Einen Moment.“
Die junge Frau griff nach dem Telefonhörer neben sich und wählte eine Nummer.
„Hier ist Amy vom Empfang“, sagte sie mit einer Stimme, die ebenso gelangweilt war wie ihr Lächeln. „Da sind zwei Detectives, die Fragen zu Karl Schaefer haben. ... Ja. ... Ja, ich verstehe. ... In Ordnung. ... Ich gebe ihnen gleich Bescheid.“
Sie legte wieder auf. „Einen Moment bitte, Mr. Méndez wird Ihnen gleich weiterhelfen. Er war Karls direkter Vorgesetzter.“
Jim nickte ihr zu. „Danke schön.“
Dann wandte er sich ab und zog Blair am Ellenbogen mit sich in Richtung des Wartebereichs.
„Sie hat mich nicht mal angesehen.“ Blair seufzte.
„Kein Wunder bei dieser Umgebung“, erwiderte Jim mit gesenkter Stimme. „Ich glaube, hier wird einem früher oder später alles egal. Selbst als ich den Mord erwähnt habe, hat sie nicht die Miene verzogen.“
„Vielleicht war es am Ende gar kein Mord. Vielleicht hat er sich selbst so zugerichtet und die Kaninchenhaare sollten nur eine Ablenkung sein, um uns alle zu verwirren. Ich meine, du hast seine Wohnung gesehen, du hast gesehen, wie trostlos sie war. Vielleicht hat er seinen Alltag nicht mehr ertragen.“
Jim schwieg, als er Blairs These für einen Moment ernsthaft in Betracht zog. Doch schließlich schüttelte er den Kopf.
„Selbst dann würde immer noch eine Mordwaffe fehlen“, sagte er. „Nein, ich befürchte, so einfach ist es nicht...“
Es vergingen keine fünf Minuten, bis sich die Türen des Fahrstuhls neben dem Empfang öffneten und ein Mann mittleren Alters heraustrat, der ihnen mit einem professionellen Lächeln entgegenkam, das seine Augen nicht ganz erreichte. Im Gegensatz zu allen anderen Angestellten trug er einen dunkelgrauen Anzug und Jim war für einen Moment so dankbar für die farbliche Abwechslung, dass er vor Erleichterung fast aufgeseufzt hätte.
„Antonio Méndez“, stellte sich der Mann vor. „Leiter der Buchhaltungsabteilung. Was kann ich für Sie tun?“
„Detective James Ellison und Blair Sandburg“, führte Jim die Vorstellungsrunde fort. „Wir hätten ein paar Fragen zu Ihrem ehemaligen Mitarbeiter Karl Schaefer.“
Méndez nickte und bedeutete ihnen mit einer kurzen Geste, ihm zu folgen.
Gemeinsam begaben sie sich in einen kleinen, überdachten Innenhof des Gebäudes, in dem neben einem halben Dutzend Sitzbänken auch ein Springbrunnen stand, um den herum kleine Bäume gepflanzt waren.
„Karls Tod hat uns alle sehr getroffen“, sagte Méndez, als sie gemeinsam auf einer Bank platznahmen. „Er war stets zuverlässig und hatte einen angemessenen und freundlichen Umgang mit allen Kollegen. Wer auch immer der Mörder war, ich bezweifle, dass er aus seinem Arbeitsumfeld stammte.“
„Ich verstehe“, meinte Jim. Trotz seines gefassten Äußeren konnte er die ehrliche Betroffenheit aus der Stimme des Mannes heraushören. „Was genau war Mr. Schaefers Aufgabe innerhalb ihrer Abteilung?“
„Er hat hauptsächlich Bestellungen vorgenommen. Er war der Hauptverantwortliche für die Neuanschaffungen für unsere Labore.“
„Fällt unter ‚Neuanschaffungen‘ auch der Einkauf von Versuchstieren?“, fragte Blair geradeheraus.
Méndez warf ihm einen unergründlichen Blick zu. „Unter anderem, ja.“
„Hatte Mr. Schaefer Zugang zu den Laboren oder war dort selbst tätig?“, fragte Jim, bevor Blair erneut den Mund öffnen konnte.
Méndez schüttelte den Kopf. „Er besuchte die Labore einmal wöchentlich, um eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, doch selbst geforscht hat er dort nicht. Schaefer war Buchhalter, kein Biochemiker.“
„Gab es in letzter Zeit einen Einbruch in die Labore?“, fragte Blair, der Jims bohrenden Blick gekonnt ignorierte. „Hat jemand eventuell versucht, Tiere zu stehlen oder zu befreien?“
Méndez starrte ihn irritiert an. „Ich verstehe die Frage nicht.“
„Worauf mein Partner hinausmöchte“, sagte Jim eilig, „ist die Frage, ob radikale Tierschützer hinter dem Mord stecken könnten. Wir haben momentan den Verdacht, dass jemand mit Zugang zu den Laboren und zu den Versuchstieren Mr. Schaefer ermordet hat.“
Méndez zog die Augenbrauen zusammen. „Detective Ellison, ich versichere Ihnen, dass die Pure&Simple Corp. nach der Kritik in der Vergangenheit Ihre Verantwortung sehr ernst nimmt und schon seit längerem nur noch nach den Richtlinien der heutigen, ethischen Standards forscht. Befreiungsversuche wie diese hat es bei uns schon seit Jahren nicht mehr gegeben.“
Jim hob beschwichtigend die Hände. „Das sollte auch keine Unterstellung sein, versprochen. Wir sind nur immer noch dabei, das Motiv des Mordes zu klären und müssen alle Möglichkeiten ins Auge fassen.“
„Also gab es keine wütenden Briefe von Tierschützern, keine anonymen Drohungen oder Ähnliches gegen Mr. Schaefer?“, fragte Blair.
„Oh, wütende Briefe bekommen wir ständig“, erwiderte Méndez. „Allerdings kennen wir die Namen der Absender, unsere Kritiker machen aus ihrer Identität kein Geheimnis. Wenn Sie die Briefe sehen wollen, kann ich sie Ihnen gerne überreichen.“
Jim nickte. „Das wäre fantastisch, danke.“
Dann zögerte er. Méndez hatte sich soweit kooperativ gezeigt, vielleicht sollte er sein Glück ausreizen und aufs Ganze gehen.
„Wäre es möglich, die Labore, für die Mr. Schaefer zuständig war, zu besuchen und mit dem Personal dort zu sprechen?“
Méndez warf ihm einen scharfen Blick zu und Jim konnte deutlich sehen, wie der Mann mit sich kämpfte.
Doch schließlich nickte er knapp.
„Unter den gegebenen Umständen kann ich vielleicht eine Ausnahme machen“, sprach er. „Da Sie nicht vom Fach sind, gehe ich davon aus, dass Sie keine Betriebsgeheimnisse ausplaudern werden.“
Er schenkte Jim und Blair ein breites Lächeln.
„Für alles andere haben wir unsere Anwälte.“
Jim musste nicht nachfragen, um die implizierte Drohung zu verstehen.
„Ich  verstehe“, entgegnete er. „Wir werden es auch kurz machen. Vielen Dank für Ihre Kooperation, Mr. Méndez.“
Méndez erhob sich. „Bitte folgen Sie mir...“

Laut Digitalanzeige befanden sie sich in der 6. Etage, als sie wieder aus dem Fahrstuhl traten. Da es keine Fenster gab, war dies der einzige Anhaltspunkt, den Jim hatte, um zu wissen, wo genau im Gebäude sie sich gerade befanden.
Im Gegensatz zum Foyer wurden die Labore von Weiß und Chrom dominiert. Um eintreten zu können, mussten Jim und Blair Schuhe und Jacken ausziehen und bekamen spezielle Latschen, sowie Kittel, die sie tragen sollten.
Eine Mitarbeiterin des Labors führte sie gemeinsam mit Méndez durch die Räumlichkeiten und erklärte ihnen kurz und knapp die Arbeit, die sie dort taten. Interessiert sah sich Jim um und ließ zwischendurch immer wieder seinen gesteigerten Sinnen freien Lauf, doch nichts von dem, was sie sahen, erregte auf Anhieb seine Aufmerksamkeit.
Jedenfalls nicht bis zu dem Moment, in dem sie die Käfige mit den Versuchstieren erreichten.
Blair warf ihm einen besorgten Blick zu, als Jim mit einem Mal stehenblieb, einen nur allzu bekannten Geruch in der Nase.
Jim blickte sich suchend um und entdeckte schließlich die Quelle des Geruchs: einen von etwa zwei Dutzend Käfigen mit Kaninchen.
Er nickte Blair kurz zu. Sein Freund verstand den Wink zum Glück sofort und wandte sich der Laborantin zu, um sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Jim trat währenddessen näher an den Käfig heran, aus dem ihm der vertraute Geruch entgegenschlug. Rote Augen erwiderten unschuldig seinen Blick.
Jim inspizierte das weiße Kaninchen gewissenhaft von den Spitzen seiner Ohren bis hin zu den Pfoten. Menschliches Blut konnte er an ihm weder sehen noch riechen, was die These, dass das Kaninchen der Mörder gewesen sein könnte, nun endgültig ausschloss.
Tut mir leid, Sandburg, dachte er mit einem kleinen Schmunzeln, während er einmal mehr seinen hypersensiblen Geruchssinn zum Einsatz kommen ließ.
Ja, dem Geruch nach war dies zweifelsohne dasselbe Kaninchen, dessen Fell sie am Tatort gefunden hatten.
Die Frage war nur, wie um alles in der Welt es dort hingelangt war.
Direkt danach zu fragen, hätte für unnötige Aufmerksamkeit gesorgt und vielleicht nur den Mörder in Alarmbereitschaft versetzt. Stattdessen merkte Jim sich die Käfignummer in der Hoffnung, dass sie sie bei ihren Nachforschungen weiterbringen würde. Auch wenn er noch nicht genau wusste, wie.
Doch dieses Problem sollte sich zum Glück von selbst erledigen, nachdem sie ihren Rundgang beendet hatten.
„Danke für das Gespräch und Ihr Vertrauen“, sagte Jim, als er Méndez‘ Hand zum Abschied schüttelte. „Wenn wir weitere Fragen haben, werden wir auf Sie zukommen.“
„Bitte tun Sie das“, erwiderte Méndez. „Tut mir leid, Gentlemen, ich muss leider zu einem Meeting. Ich bin mir sicher, Sie finden den Weg selbst hinaus. – Bryce?“
„Ja, Mr. Méndez?“, fragte die junge Laborantin.
„Bitte geben Sie den Detectives ihre Sachen zurück und zeigen Ihnen den Ausgang.“
„Natürlich, Mr. Méndez“, entgegnete sie. Dann war Méndez auch schon verschwunden.
„Sie sind wegen Karl hier, nicht wahr?“, fragte Bryce leise, als sie wenig später im Umkleideraum standen und wieder ihre Jacken und Schuhe anzogen. Sie wirkte mit einem Mal sehr fahrig und bedrückt.
Jim und Blair tauschten einen kurzen Blick.
„Ja, das sind wir“, sagte Blair dann. „Wieso, gibt es etwas, was Sie uns sagen wollen?“
Sie blickte sich kurz um, dann schüttelte sie den Kopf.
„Nicht hier. Treffen Sie mich in zehn Minuten am Hinterausgang, dann erzähle ich Ihnen, was ich weiß.“
Und damit ließ sie die beiden wieder allein.
„Seltsam“, meinte Blair mit nachdenklicher Miene, als sie in den Fahrstuhl traten. „Was hatte das gerade zu bedeuten?“
Jim drückte auf den Knopf, der sie zurück ins Erdgeschoss bringen würde. „Ich nehme an, wir werden es gleich herausfinden.“
Er sah sich unauffällig nach Kameras um und fuhr, als er keine entdeckte, fort: „Es war übrigens dasselbe Tier, Sandburg. Derselbe Geruch, dasselbe Fell.“
Blairs Augen weiteten sich. „Bist du dir sicher?“
„Absolut.“
„Und was denkst du, wer es war?“
„Das weiß ich noch nicht.“ Ein grimmiges Lächeln legte sich auf Jims Gesicht. „Es war jedenfalls nicht der Osterhase, soviel ist sicher...“

Im Foyer wurden sie kurz von einer Sekretärin aufgehalten, die ihnen einen dicken Umschlag mit den gesammelten Briefen der Tierschützer überreichte.
Jim reichte ihn an Blair weiter, ohne ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. „Hier, Arbeit für dich.“
Blair machte eine säuerliche Miene. „Ist das dein Ernst, Jim?“
„Warum nicht?“ Jim lächelte. „Ich dachte, du bist Schnellleser.“
„Oh, jetzt forderst du es aber heraus!“, erwiderte Blair naserümpfend und holte mit dem Umschlag nach ihm aus.
Doch Jim machte nur einen schnellen Schritt zur Seite. „Hey, du hast Méndez darauf angesprochen, also gebe ich alle diesbezüglich zu tätigenden Anrufe voller Vertrauen in deine professionellen Hände.“
„Und ich dachte, wir wären Partner, Jim“, sagte Blair und fasste sich theatralisch an die Brust. „Ich spüre hier gerade nicht viel Liebe, Mann...!“
Jim grinste nur und verließ das Gebäude, während sein Freund ihm leise fluchend folgte.

Bryce trat eine Viertelstunde später aus dem Hinterausgang und gesellte sich zu Jim und Blair, die an der Wand gelehnt bereits auf sie gewartet hatten.
„Falls Sie meine Einschätzung hören wollen: ich glaube, Karl ist wegen seiner Arbeit gestorben“, sagte sie ohne große Einleitung und zündete sich nervös eine Zigarette an.
Jim sah sie aufmerksam an. „Was bringt Sie zu dieser Vermutung?“
Sie zog ein paar Male an ihrer Zigarette  und stieß dann langsam wieder den Rauch aus.
„Karl kam vor ein paar Tagen zu mir und fragte mich nach unserem aktuellen Verbrauch im Labor.“
„Dem Verbrauch wovon?“, fragte Blair.
„Von allem“, erwiderte sie. „Laborartikel, Chemikalien, Versuchstiere... Er meinte, etwas stimmt nicht. Unser Verbrauch wäre nicht größer als sonst, aber er würde jeden Monat immer mehr für die Labore einkaufen, weil ihm ein entsprechender Bedarf zurückgemeldet wurde, und das schon seit fast einem halben Jahr. Er fragte sich, wo die überschüssigen Artikel waren, was damit geschah. Ich sagte ihm, dass ich es nicht weiß. Unsere Vorräte sind am Ende des Monats regelmäßig alle.“
„Also bedient sich jemand am Forschungsmaterial, um es vielleicht sogar weiterzuverkaufen“, stellte Jim fest. „Von welcher Größenordnung reden wir?“
„Von Artikeln im Wert von 10.000 bis 15.000 Dollar im Monat?“ Bryce zuckte mit den Schultern. „Angesichts der Unmengen, die wir für die Forschung ausgeben, ist das ein Tropfen auf heißem Stein, aber es summiert sich natürlich mit der Zeit.“
„Hmm“, machte Jim.
Er neigte den Kopf leicht zur Seite und lauschte für einen Moment. An ihrem Herzschlag konnte er hören, dass sie zwar nervös war, mit ihnen zu sprechen, aber dass sie die Wahrheit erzählte.
„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Bryce, Sie haben uns sehr geholfen“, sagte er dann. „Kann ich Sie noch um einen etwas ungewöhnlichen Gefallen bitten?“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Worum geht es?“
„Könnten Sie für mich herausfinden, wer von Ihren Kollegen in den letzten Tagen mit dem Versuchstier in Käfig 412 zu tun hatte und mich kurz anrufen, wenn Sie es in Erfahrung gebracht haben?“
Er zog eine Visitenkarte aus einer Jackentasche und reichte sie der jungen Frau.
Sie sah auf die Telefonnummer herab. „Dafür müsste ich im Computer nachschauen, aber ja, das sollte kein Problem sein. – Darf ich fragen, wofür Sie diese Information brauchen?“
Jim und Blair sahen sich an.
Wenn die junge Frau ihnen schon weiterhalf und dadurch zusätzliche Risiken einging, dann waren sie ihr wenigstens einen Teil der Wahrheit schuldig.
„Wir vermuten, dass der Mord von jemandem begangen wurde, der Zugang zum Labor hat“, sagte Blair. „Darum passen Sie bitte gut auf sich auf und seien Sie vorsichtig bei Ihren Nachforschungen.“
Doch anstatt sich davon verunsichern zu lassen, legte sich nur ein entschlossener Ausdruck auf Bryces Gesicht.
„Karl war vielleicht ein bisschen langweilig, aber er war ein guter und freundlicher Mensch, der mir viel über seine Heimat erzählt hat“, meinte sie. „Wer auch immer ihn auf dem Gewissen hat, ich hoffe, Sie nehmen ihn bald fest. – Sobald ich mehr weiß, rufe ich Sie an.“
„Mehr können wir nicht verlangen“, erwiderte Jim. „Danke für Ihre Hilfe, Bryce.“
„Gerne.“ Sie drückte ihre Zigarette an der Wand aus und winkte ihnen zum Abschied kurz zu, bevor sie zurück ins Gebäude ging.
„Und jetzt?“, fragte Blair zwei Minuten später, als sie in Jims Ford saßen.
„Jetzt warten wir“, sagte Jim und startete den Motor. „Das heißt: ich warte. Du hast ein paar Anrufe zu tätigen, wenn ich mich recht entsinne...“
„Yaaay“, machte Blair mit wenig Enthusiasmus und seufzte ergeben.
Dann waren sie auch schon auf der Hauptstraße und fuhren zum Revier zurück.

Am Ende hatte Jim doch etwas Erbarmen mit seinem Partner.
Während Blair all die Personen anrief, die wütende Briefe an die Pure&Simple Corp. geschickt hatten, erledigte Jim schon mal den ganzen Papierkram, der mit dem Fall zusammenhing. In der Zwischenzeit traf auch der Bericht aus der Forensik bei ihnen ein, der noch mal „offiziell“ bestätigte, dass es sich bei den Haaren am Tatort um Kaninchenhaare handelte und dass diese von einer Art stammten, die für gewöhnlich für Experimente verwendet wurde.
Jim nahm den Bericht mit einer gewissen Erleichterung, aber zugleich auch mit Resignation zur Kenntnis.
Manchmal wäre sein Job so viel leichter, wenn die Welt wüsste, dass er ein Sentinel war und seine hypersensiblen Sinne bei seinen Nachforschungen nutzte. Dann würde man einfach seinem Urteil vertrauen, ohne dass Simon, Blair oder er selbst ständig Beweise finden mussten, die auch für Menschen ohne erweiterte Sinne nachvollziehbar waren.
Aber das würde wohl nie passieren.
Als der Abend langsam dämmerte, legte Blair schließlich endgültig den Telefonhörer weg. Dann verschränkte er die Hände und streckte die Arme über den Kopf, so dass seine Gelenke hörbar knackten.
„Das war’s“, sagte er dann erleichtert und sank in seinem Stuhl zurück. „Nach diesem Marathon habe ich echt eine Gehaltserhöhung verdient.“
„Du bist Beobachter, du wirst nicht bezahlt“, kommentierte Jim, ohne von seinem Bericht aufzusehen.
„Ich meine ja nur.“ Blair kämmte seufzend mit den Fingern durch seine langen Haare. „Ich konnte alle 27 Absender persönlich erreichen – und alle von ihnen konnten ein Alibi für den Zeitpunkt des Mordes vorweisen. Damit können wir Ökoterroristen also endgültig ausschließen.“
Jim hob den Kopf und sah die Erschöpfung auf dem Gesicht seines Freundes. Und plötzlich erfüllten ihn Stolz und Zuneigung für den jüngeren Mann.
„Du hast gute Arbeit geleistet, Blair“, sagte er. „Wenn du willst, kannst du schon nach Hause fahren. Ich schreibe nur noch den Bericht fertig. Was auch immer heute noch kommen sollte, ich kann mich auch allein drum kümmern.“
Blair sah ihn einen Moment lang überrascht an, doch dann schenkte er Jim ein von Herzen kommendes Lächeln.
„Danke, Jim“, erwiderte er. „Schlaf klingt gerade fantastisch...“
In diesem Moment klingelte das Telefon auf Jims Schreibtisch.
„... oder auch nicht“, beendete Blair nüchtern seinen Satz.
„Ellison, Cascade P.D.“, meldete sich Jim, nachdem er den Hörer abgenommen hatte.
„Detective Ellison? Hier ist Mrs. Dawson. Bryce Dawson.“
Sofort war Jims Müdigkeit wie verflogen und er richtete sich gerade auf.
Blair, dem die Änderung seiner Körperhaltung nicht entging, rückte mit seinem Stuhl neugierig näher und sah Jim aufmerksam an.
„In der letzten Woche gab es nur eine Person, die mit dem Versuchstier in Käfig 412 – und generell mit unseren Kaninchen – Kontakt hatte“, erzählte Bryce. „Und das war Dr. Grote, ein alter Studienkollege von Karl. Die beiden haben sich immer gut miteinander verstanden, aber in letzter Zeit schien ihr Verhältnis etwas angespannt...“
Bingo.
„Vielen Dank für die Information, Mrs. Dawson, damit ist uns sehr geholfen“, sagte Jim und gab Blair wortlos das Daumen-hoch-Zeichen. Blair lächelte nur zurück und stand auf, um seine Jacke anzuziehen und nach den Autoschlüsseln zu suchen. „Bitte ruhen Sie sich jetzt aus. Um alles Weitere kümmern wir uns.“
„Wir haben ihn“, teilte er Blair mit, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Wir müssen nur noch seine Adresse herausfinden.“
„Oh, wow, ich glaube, das ist unser neuer Rekord“, stellte Blair fest, während Jim das Telefonbuch öffnete, um Dr. Grotes Anschrift zu finden.
„Jepp“, erwiderte Jim. „Mit etwas Glück können wir tatsächlich noch Ostersonntag und Ostermontag Urlaub machen.“
„Ich bin dafür, dass du dein Handy ausschaltest, sobald der Fall abgeschlossen ist“, sagte Blair.
„Wenn ich das tue, wird Simon mir das Leben zur Hölle machen, wenn er mich in diesem Zeitraum nicht erreichen kann“, entgegnete Jim. Doch dann zuckte er nur mit den Schultern. „Aber um ehrlich zu sein? Das Risiko würde ich eingehen...“

Sie trafen Dr. Grote an seiner Wohnungstür an. Offenbar war er selbst eben erst nach Hause gekommen und wollte gerade die Tür aufschließen.
Jim wusste sofort, dass sie den Mörder vor sich hatten, er sah und roch die Kaninchenhaare, die an den Hosen des Mannes hafteten, und  entdeckte winzige Bluttröpfchen auf seinen Schuhen.
„Detective James Ellison, Cascade P.D.“, stellte er sich vor und zeigte Grote seine Dienstmarke, bevor der Mann auch nur den Mund öffnen konnte. „Und das ist mein Partner Blair Sandburg. Wir haben ein paar Fragen an Sie...“
Sofort konnte er hören, wie sich der Puls des Mannes beschleunigte.
„Nicht ohne meinen Anwalt“, erwiderte Grote brüsk und stieß die Tür auf. „Auf Wiedersehen.“
„Das ist okay“, meinte Jim jedoch nur gelassen, bevor der andere Mann die Wohnungstür schließen konnte, und bückte sich, um etwas vom Boden des Hausflurs aufzuheben. „Es wird sich auch ohne Ihre Mithilfe herausstellen, dass die Tierhaare, die aus Ihrer Kleidung rieseln, dieselben sind, die wir auch am Tatort gefunden haben.“
Er hielt Grote die Haare hin, die er gefunden hatte. Die Geste und seine Worte ließen den Mann erstarren und im nächsten Moment wich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht.
Jim konnte förmlich dabei zusehen, wie sein Selbstbewusstsein in sich zusammenbrach wie ein Kartenhaus.
„Ich schwöre, es war nur ein Unfall“, sagte Grote schwach.
„Das sagen sie alle“, erwiderte Jim mit regloser Miene. „Was ist passiert?“
„Karl hat mich auf... auf Ungereimtheiten bei den Bestellungen angesprochen. Also besuchte ich ihn gestern Abend, in der Hoffnung, diese Ungereimtheiten klären zu können...“
„Das passt“, sagte Blair leise an Jim gewandt. „Es gab keine Hinweise eines gewaltsamen Einbruchs, Schaefer muss seinen Mörder also gekannt und ihm die Tür geöffnet haben.“
Jim nickte.
„Wo ist die Mordwaffe?“, fragte er nur.
„In... in meinem Bad...“, murmelte Grote ergeben und lehnte sich dann kraftlos gegen den Türrahmen.
Blair warf ihm nur einen kurzen, verächtlichen Blick zu und wandte sich dann kopfschüttelnd ab, während Jim sein Handy aus der Tasche zog und Simon anrief.
„Hey Simon“, sagte er, nachdem sich sein Vorgesetzter mit einem entnervten „Captain Banks!“ gemeldet hatte. „Schick ein Team zu meiner Position. Wir haben ihn.“

„Okay, ich gebe es zu: darauf wäre ich nie gekommen“, sagte Blair, als sie die Mordwaffe auf dem Revier betrachteten.
Es war ein Schweizer Taschenmesser, bei dem Grote nicht nur eine Klinge, sondern mehrere der Bestandteile gleichzeitig ausgeklappt hatte, unter anderem eine Schere und einen Korkenzieher.
„Das erklärt die parallelen, unterschiedlich tiefen Schnitte“, entgegnete Jim. „Grote muss in Panik verfallen und einfach alles auf einmal geöffnet haben, als er Schaefer angegriffen hat.“
„Also war es doch nicht der Osterhase.“ Blair klang fast ein bisschen enttäuscht.
„Das habe ich dir vom ersten Moment an gesagt, Sandburg.“
„Nein, das sagst du jetzt“, erwiderte Blair. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem herausfordernden Grinsen. „Gib einfach zu, dass du zwischendurch einen Moment lang deine Zweifel hattest, Jim.“
Jim  erwiderte das Grinsen. „Niemals.“
„Pfff“, machte Blair und lachte kurz auf. „Lügner.“

Als sie eine Viertelstunde später im Auto zurück zur Loft fuhren, räusperte sich Jim plötzlich.
„Ich habe Simon übrigens das Versprechen abgenommen, uns für den Rest des Osterwochenendes nicht mehr zu behelligen“, sagte er. „Wir können also morgen früh doch noch Zelten fahren – wenn auch leider nur für zwei Tage, nicht für drei.“
„Im Ernst? Mann, das wäre fantastisch!“, entgegnete Blair erleichtert. „Danke, Jim! Zwei Tage sind immer noch besser, als gar keiner. Für fünf Bücher sollte es trotzdem noch reichen.“
Jim lag eine stichelnde Bemerkung auf der Zunge, doch dann sah er in das müde, aber zufriedene Gesicht seines Freundes und beschloss, sie dieses Mal hinunterzuschlucken.
„Ja“, sagte er stattdessen leise. „Ja, das sollte es.“

 
 
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