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Autumn Sky

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Romance / P18 / Het
15.04.2022
04.06.2022
18
49.097
10
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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21.04.2022 3.187
 
Portia Featherington betrachtete ihr Sorgenkind über den Rand ihrer Teetasse hinweg. Wie immer hatte sich Penelope mit einem Buch in den Salon gesetzt, wieder einmal zu nah am Fenster für Portias Geschmack.
„Komm vom Fenster weg, Kind. Sommersprossen sind das Letzte, das du gerade gebrauchen kannst.“, wiederholte sie eine Aufforderung, derer sie sich zu ihrem Leidwesen schon viel zu oft hatte bedienen müssen.
Penelope setzte sich zwar gehorsam um, doch der Ausdruck in ihrem Gesicht deutete darauf hin, dass sie dem Befehl nur nachgekommen war, um einer Diskussion zu entgehen.
Portia nahm einen weiteren Schluck Tee, hörte aber nicht auf ihre Tochter zu mustern.
Der Vorfall am Getränkestand vor zwei Tagen war ihr noch lebhaft in Erinnerung geblieben. Sie hatte die Konfrontation zwischen Mister Cavendish und Mister Bridgerton erst sehr spät unterbunden obwohl sie ihrer schon viel früher gewahr worden war.
Sie kannte Männer nur zu gut.
Während ihres eigenen Debüts hatte sie die Aufmerksamkeit einiger Gentlemen auf sich gezogen. Den letzten hatte sie dann jahrelang ertragen und tat es, zu ihrem Leidwesen, sogar bis über seinen Tod hinaus. Schließlich litt ihre kleine Familie immer noch unter der Tatsache, dass er sie völlig mittellos zurückgelassen hatte. Ja, sie kannte Männer. So gut, dass sie nicht mehr auf sie hereinfallen würde.
Und gerade weil die männliche Spezies kein Buch mit sieben Siegeln für Portia war, hatte sie erst eingegriffen, als es wirklich kritisch zu werden begann. Sie hatte sehen wollen, wie sich Mister Cavendish in Anwesenheit eines langjährigen Freundes ihrer Tochter verhielt. Bridgerton hätte sie diesen Titel niemals selbst gegeben, aber Penelope war leider ein naives Ding, das in Colin mehr als nur den Bruder ihrer ehemals besten Freundin sah.

Portia hatte bereits damit gerechnet, dass Cavendish sich nicht an Bridgertons Präsenz stören würde, was ihrer Auffassung nach ein klares Zeichen dafür gewesen wäre, dass er verständlicherweise kein Interesse an Penelope hatte. Doch dann war alles anders gekommen. Sie hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen, hatte sein Gebaren analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass der Herr Colin Bridgerton als Bedrohung empfand. Auf Letzteren selbst hatte sie nicht geachtet. Wer eine Marina Thompson ehelichen wollte, der hegte keine tiefergehenden Gefühle für junge, unvorteilhaft geratene Damen wie ihre Tochter Penelope. Zumal er ein ums andere Mal bewiesen hatte, dass er im Umgang mit dem armen Kind allenfalls den Höflichkeitsstandards folgte. Gott im Himmel, Lady Bridgerton befahl ihrem Sohn regelmäßig mit Penelope zu tanzen, nur damit sie wenigstens einen Tanz am Ende des Abends vorweisen konnte. Aus eigenem Antrieb kam er selten auf den Gedanken, sich ihrer Tochter aus irgend einem anderen Grund zu nähern, als ihr seine ach so wichtigen Reisepläne- oder Eindrücke mitzuteilen. Und so jemanden nannte das naive Kind allen Ernstes Freund?
Nein, mit Bridgerton brauchte sie sich nicht zu befassen. Der Fatzke wollte bloß die Bewunderung ihres Kindes für seine Person einstreichen, um sein glanzloses Dasein ein wenig aufzupolieren.
Cavendish hingegen…
Portia setzte die Teetasse ab. Hatte sie anfangs noch mit sich gehadert, weil sie ihrer Tochter erlaubte Mary Cavendish zum Anwesen ihrer Eltern zu begleiten, so hielt sie es jetzt für eine äußerst gute Entscheidung. Vorausgesetzt das Kind vermasselte es nicht schon wieder und nutzte die Zeit, um Cavendishs Interesse dauerhaft für sich zu gewinnen.

„Penelope.“
Ihre Tochter schien zu sehr an ihrem dummen Buch zu hängen, denn sie reagierte nicht. Portia rief lauter und mit drängendem Unterton.
„PENELOPE!“
Schrill klingelte ihr ihre eigene Stimme in den Ohren.
Jetzt endlich drehte sich ihr das verwirrte Gesicht ihrer Tochter zu.
„Leg das Buch weg und setz dich zu mir. Wir müssen über deinen Aufenthalt bei den Cavendishs reden!“
Portia sah gnädigerweise über den leisen Protestlaut, der diesem Befehl gefolgt war, hinweg und wartete, bis Penelope sich zögerlich neben ihr niedergelassen hatte.
„Wenn du ab morgen bei den Cavendishs bist, wirst du dich anstrengen müssen.“, mahnte sie. „Mister Cavendish hat offensichtlich Interesse an dir, sonst hätte es gestern keinen Vorfall-“, sie hob die Hand, da Penelope den Mund bereits zu einem Einwand geöffnet hatte, „keinen Vorfall mit Mister Bridgerton gegeben. Ich erwarte, dass du den Mann nicht vor den Kopf stößt mit deinem Wesen, dich jedoch auch nicht so schwer greifbar gibst - sprich zurückziehst-, dass sein Interesse wieder schwindet. Ich möchte noch einmal betonen, dass du deine Buchvorlieben nicht mit ihm zu teilen versuchen solltest und ganz besonders die Finger von Eloise Bridgertons radikalen Ansichten über Frauenrechte lässt. Dass sie diese bedauerlicherweise hinausposaunt ist kein Beispiel, an dem du dich zu orientieren hast! Insofern bin ich wirklich froh, dass ihr euch nicht mehr seht. Sie ist ein schlechter Einfluss und für jemanden mit deinen Voraussetzungen eher ein Hindernis, was das Umwerben eines potentiellen Ehegatten betrifft. Achte darauf, dass ihr immer in Gesellschaft seid. Ich möchte keine Beschwerden seiner Eltern hören müssen, falls diese bereits andere Pläne für ihren Sohn verfolgen. Es muss dir klar sein, dass jemand mit Richard Cavendishs Stand und Aussehen ein vorzüglicher Kandidat auf dem Heiratsmarkt ist. Gib ihm die Möglichkeit, seine Eltern von dir zu überzeugen, falls es ihm tatsächlich ernst mit dir ist. Verwechsle Nettigkeiten nicht mit offensichtlicher Zuneigung. Schmeiß dich ihm demnach nicht an den Hals, wenn du den Ruf einer Dame, die allenfalls zur Mätresse taugt, vermeiden willst!“
Das Kind schwieg. Das war gut. Zumindest für Portia. Sie hatte ihre Ansage gemacht und wenn es keine Proteste gab, konnte sie ja wohl durchaus erwarten, dass Penelope ihre Ratschläge befolgte.

*

Penelope war derweil eher verzweifelt, denn gehorsam. Dass ihre Mutter sich so sehr auf einen Mann eingeschossen hatte, dem sie zuerst mit Argwohn begegnet war, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie fühlte sich unter Druck gesetzt, zumal sie selbst nicht wusste ob Richard etwas an ihr lag, das über die ohnehin noch sehr zarten Bande einer Freundschaft hinausging. Penelope konnte ohne Weiteres nachvollziehen, dass ihre Mutter ihre Töchter möglichst gut verheiraten wollte. Ihr ging es um die Zukunft ihrer Kinder. Es war ein Ziel, das Penelope ihrer Mutter definitiv nicht nachtragen konnte. Sie selbst hätte sich selbiges für ihren eigenen Nachwuchs sicher auch gewünscht. Auch wenn sie nie unbedarft verletzende Worte an ihre Kinder gerichtet hätte, sobald das Thema Heirat relevant geworden wäre. Statt also zu protestieren und ihrer Mutter zu sagen, was sie fühlte, schwieg sie einfach, nickte hier und dort und wünschte sich so weit weg wie nur irgend möglich.

Es klopfte an der Salontüre und Varley trat ein. Die Dienerin, die immer ein wenig verbissen wirkte und mit ihrem lauernden Blick stets den Eindruck hinterließ, dass ihr nichts entging, brachte das Tablett mit den Briefen.
Mit einer knappen Geste entschied Portia, dass Penelope aufstehen und die Briefe entgegennehmen sollte.
Sie erhob sich, griff sich den winzigen Stapel und ging ihn durch, um ihre Mutter vorab schon über die Verfasser zu informieren. Währenddessen verließ Varley den Salon wieder.
Ein Brief von Philippa. Einer von den Kingsleys, wohl die Einladung zu ihrem Musikabend… und-“ Ihr stockte für einen kurzen Moment der Atem, denn die Schrift auf dem Briefumschlag hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Es war Colins saubere Handschrift.
„Und?“, tönte es vom Kanapee. Penelope, die Gott sei dank mit dem Rücken zu ihrer Mutter stand, ließ Colins Brief in einer Falte ihres Kleides verschwinden.
„Sonst nichts.“, erwiderte sie gespielt fröhlich, so als hätte sie gerade einen besonders lustigen Scherz zum Besten gegeben. Ihre Mutter quittierte ihren Ausruf mit einem missgestimmten Hrmpf.

Penelope reichte ihr die beiden Briefe, gab an, dass sie sich zurückziehen wollte, um noch ein paar gelbe Kleider für ihren Aufenthalt auf Cavendish Hall auszuwählen und entwich aus der Präsenz ihrer viel zu neugierigen Mutter.
Zwei Szenarien hätte Penelope für möglich gehalten, wenn sie den Brief nicht vor Portias Augen versteckt hätte:
Im ersten hätte ihre Mutter den Brief sehen wollen, um sich zu vergewissern, dass auch ja nichts Unartiges darin stand (so wie sie es bei Colins Reiseberichten die ersten drei Male getan hatte).
Im zweiten hätte sie mit den Augen gerollt, ihr den Brief bis zum Ende ihres Aufenthaltes auf Cavendish Hall verwehrt und verlangt, dass sie sich auf Richard zu konzentrieren und ihre kindische Verliebtheit in Colin aufzugeben habe.
Keines dieser Szenarien war ihr als aushaltbar erschienen, weswegen ihrer Mutter das Schriftstück vorzuenthalten die einzige Alternative geblieben war.

Kaum auf ihrem Zimmer, riss sie den Brief auf und begann mit klopfendem Herzen und vor Aufregung zitternden Händen zu lesen.

Liebe Pen,

ich schreibe diesen Brief, um mich für mein Verhalten während des Pferderennens zu entschuldigen. Ich habe mich in deiner Gegenwart wie ein Narr verhalten und nicht bemerkt, dass du nicht mit mir sprechen wolltest. Ich glaube den Grund für deine Distanziertheit zu kennen und möchte mich diesbezüglich mit dir unterhalten. In Anwesenheit meiner Mutter, um den Anstand zu wahren. Sie ist bereits informiert und würde am Samstagnachmittag um drei Uhr zur Verfügung stehen.
Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, weswegen ich mich an dich wende. Es geht um Mister Cavendish. Da du mir gegenüber einst offen bezüglich Marinas tatsächlichen Gefühlen warst, möchte ich nun ebenso aufrichtig zu dir sein. Als ich am gestrigen Abend Mister Mondrichs Club aufsuchte, traf ich Jonathan Mowbray wieder. Er ist ein ehemaliger Studienkollege von Mister Cavendish. Wir unterhielten uns und nach einer Weile erwähnte er, dass Mister Cavendish schon vor Jahren ihm und anderen gegenüber, einschließlich seiner Familie, hat verkünden lassen, dass er kein Interesse an einer Ehe hegt. Ich möchte mich nicht aus dem Fenster lehnen und dir romantische Gefühle für Mister Cavendish unterstellen, aber falls dem so ist, so bitte ich dich inständig, die Distanz zu ihm zu wahren. Beginne nicht, auf seine Worte hereinzufallen, lasse dir von ihm keine Hoffnungen machen, die er nicht intendiert zu erfüllen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er dir weh tut. Du hast mehr verdient als das, Pen…

Sie ließ den Brief sinken. Tatsächlich hatte sie bereits geahnt, dass Richard keine eigenen Hochzeitspläne verfolgte. Ein Gentleman, der die Aufmerksamkeit jeder anderen Dame, die auf ihn zutrat, weitestgehend ignorierte – wenn auch in höflicher Manier -, schien offensichtlich kein Interesse am ewigen Bund zu haben. Dass er sich überhaupt mit ihr befasste lag aller Wahrscheinlichkeit nach an der Tatsache, dass sie ihm nicht das Gefühl gab, eine diesbezüglich gestaltete Agenda zu verfolgen. Dennoch, es schwarz auf weiß zu sehen, tat ihr mehr weh, als sie geglaubt hätte. Anscheinend hatte sie tief in ihrem Inneren darauf gehofft, dass zumindest ein Mann sie für würdig halten könnte, mehr als nur ein verschmähtes Mauerblümchen zu sein. Das hatte sie nun von ihren kindischen Vorstellungen. Wütend wischte sie sich die verräterische Feuchtigkeit von den Wangen und versuchte nicht an ihre Mutter zu denken, deren Enttäuschung sie schon jetzt vor ihrem geistigen Auge sehen konnte, wenn ihr bewusst wurde, dass auch Cavendish sich als Sackgasse entpuppte. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Trotzig wischte Penelope sie fort und fasste einen Entschluss: Sie würde nicht weiter weinen. Nicht wegen etwas, von dem ihr hätte klar sein müssen, dass es ohnehin nie existieren würde.
Penelope schüttelte den Kopf, so als wollte sie ihre Gedanken in eine weniger emotionale Richtung zwingen. Dann widmete sie sich, durchaus gleichgültiger als zuvor, erneut dem Inhalt des Briefes.
Sie glaubte nicht, dass Colin log. Er hatte keinen Grund dazu. Zwar hätte sie seine Worte durchaus anzweifeln können, wenn man bedachte, was er selbst von ihr hielt, aber sie hielt ihn nicht für so grausam, dass er etwas erfinden würde, nur um sich über ihr daraus resultierendes Unglück lustig zu machen. Nein, er würde ihr nicht raten, einen Gentleman abzuweisen und so sein Interesse an ihr zu vernichten, aufgrund bloßer Unterhaltungszwecke seiner Person. Colin konnte grausam sein, aber nicht derart herzlos.

Penelope biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich auf den ersten Teil der Nachricht.
Er wollte sie sehen, um über seinen vermuteten Grund bezüglich ihrer Distanziertheit ihm gegenüber zu reden. Was in Anbetracht der Tatsache, dass er ihr nicht von vornherein unterstellte, Gefühle für Mister Cavendish zu hegen, wohl nichts damit zu tun hatte. Nur, worum sollte sich das verlangte Gespräch dann drehen?
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wusste, dass sie ihn an jenem Abend auf dem Ball ihrer Familie belauscht hatte. Niemand hatte Notiz von ihr genommen. Einer der wenigen Vorteile, wenn man als uninteressant betrachtet wurde. Nein, er hatte keine Ahnung und deswegen konnte es sich nicht um eine Entschuldigung handeln. Es musste etwas anderes sein…
Glaubte er, dass es wegen Eloise war? Dass sie nun, da sie nicht mehr mit ihr befreundet war, sich von allen Bridgertons abwenden wollte? Wollte er ihr versichern, dass es ihm egal war, was zwischen Eloise und ihr vorgefallen war? Wusste er überhaupt welchen Grund- Nein, er hätte vollkommen anders reagiert, wenn er es gewusst hätte.
Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. Es klang zumindest plausibel. Nichtsdestotrotz würde sie den wahren Grund wohl vorerst nicht erfahren.
Penelope legte den Brief auf ihrem Schreibtisch ab, setzte sich auf den davor stehenden Stuhl und griff nach einem Bogen Papier und einer noch neuen Feder. Vorsichtig drehte sie das Tintenfässchen auf und tauchte die Federspitze in die dunkle Flüssigkeit.
Sie würde eine kurze Antwort verfassen, in der sie Colin mitteilte, dass es ihr nicht möglich sein würde, den vorgeschlagenen Termin wahrzunehmen.
Denn Warnung hin oder her, Penelope würde einen Teufel tun und die Aussicht auf ein Wochenende fernab des erdrückenden ton aufgeben, nur weil der Gentleman, der ihr so offenherzig und zuvorkommend erschienen war, keine nennenswerten Gefühle für sie hegte. So weit würde sie es nicht kommen lassen! Nicht für Colin und nicht für irgendwen sonst.

*


Ihre Antwort war nicht das, was Colin erwartet hatte. Hatte er Penelope denn nicht ausdrücklich genug gewarnt? Statt auf ihn zu hören, fuhr sie tatsächlich nach Cavendish Hall und beraubte ihn somit auch einer zeitigen Chance, sich zu entschuldigen.
Es war, als wären ihre Rollen urplötzlich vertauscht worden. So wie er einst ihre Warnung in den Wind geschlagen hatte, so schlug sie jetzt seine in den selbigen. Es fühlte sich an als hätte sie ihm in den Magen geschlagen. Wollte sie denn blind in ihr Verderben laufen? War sie sich ihrer eigenen, hoffentlich noch sehr zaghaften Gefühle denn nicht bewusst? Glaubte sie tatsächlich, dass sie Cavendishs Charme nicht noch weiter erliegen würde, wenn sie ein ganzes Wochenende in seiner Nähe verbrachte? Sie mochte ihn noch nicht lieben, aber für Colin gab es keinen Zweifel: Jemand, der so verwundbar war wie Penelope, würde ein viel zu leichtes Opfer in viel zu kurzer Zeit werden.
Ungebetene Bilder tauchten in seinem Geist auf. Cavendish, wie er sich die ein oder andere Freiheit herausnahm, wenn niemand hinsah. Penelope, wie sie jede noch so kleine Geste und Aufmerksamkeit fehlinterpretierte und sich in einem Trugbild verlor. Cavendish, der einen Kuss stah- Colin kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass dies die Flut an imaginierten Bildern, die auf ihn einstürmten, aufhalten konnte. Doch umsonst. Er konnte ihre geröteten, geschwollenen Lippen schon vor sich sehen. Konnte den leisen Laut, der auf diesen willkommenen Schock folgte, in seinen Ohren widerhallen hören.
Es war nicht auszuhalten. Mit starrem Blick sah er einer Zukunft entgegen, die er um alles in der Welt würde verhindern müssen. Dabei ignorierte er geflissentlich die leise Stimme in seinem Kopf, die ihm versuchte einzureden, dass ein Mann, der in der Anwesenheit anderer Gentlemen Penelopes Qualitäten abseits ihres Aussehens lobte, vielleicht gar keine so bösen Intentionen verfolgte, wie er sie ihm gerade unterstellte. Für ihn war glasklar: Penelopes ohnehin schon ungünstiger Ruf stand auf dem Spiel. Ihre Zufriedenheit war bedroht.
Er würde Cavendish nicht damit durchkommen lassen. Und wenn es das letzte war, was er tat.
Aber zuerst würde er mit jemandem reden müssen. Jemand, der ihm helfen konnte, wieder klar zu denken, die Bilder zu vergessen, die ihn so sehr beunruhigten, dass sich ihm die Kehle zuschnürte.

Er traf Eloise in ihrem Zimmer an, wo sie gerade dabei war ihr neuestes Ballkleid mit einer Mischung aus Ekel und Verachtung zu betrachten.
„Bruder, was treibt dich denn zu mir?“, begrüßte sie ihn mit schief gelegtem Kopf.
„Ich muss mir etwas von der Seele reden.“, sprach er wahrheitsgemäß.
„Muss eine ernste Angelegenheit sein, wenn du aussiehst, als würdest du jeden Moment Streit suchen wollen.“
Eloise bot ihm den Stuhl vor ihrem Schreibtisch an, während sie sich undamenhaft auf ihr Bett fallen ließ.
Nur zu. Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“
Colin holte tief Luft. Dann begann er zu sprechen. Im Verlauf seines Monologs achtete er darauf, dass er nichts ausließ und ging sogar soweit ihr alle möglichen, plausiblen Szenarien zu unterbreiten vor denen er zuvor so zurückgeschreckt war.
Eloises Reaktion jedoch war fern von dem, was er erwartet hatte.
Ja, sie hatte ihm gebeichtet, dass etwas zwischen ihr und Penelope vorgefallen war, aber wie furchtbar dieses Zerwürfnis gewesen sein musste, erkannte er erst, als sie auf seine Aussagen einging. Schon im Verlauf seines Monologs hatte er ihr wachsendes Unbehagen gespürt. Doch das war nichts im Vergleich mit dem zornerfüllten Blick, mit dem sie ihn jetzt traktierte.

„Was interessiert es dich, was Cavendish tut?“, zischte Eloise mit schneidender Stimme.
„Penelope ist nicht deine Schwester. Du hast ihr gegenüber nicht die Verpflichtung, besorgt um sie zu sein. Selbst wenn du wirklich ihr Freund sein solltest, wie du immer behauptest. Darüber hinaus: Glaubst du tatsächlich, dass Cavendish so weit gehen oder sogar einen Skandal riskieren würde, nur wegen jemandem wie Penelope? Glaubst du nicht, dass der wenige Spaß, den er daraus zieht, ihre Gefühle auszunutzen, die Kosten der Mühen nicht einmal ansatzweise decken wird? Cavendish versucht nur nett zu sein, schätze ich. Er hat Mitleid mit dem welkenden Mauerblümchen, mehr nicht. Der Mann hat ein zu großes Herz, natürlich kümmert er sich dann um das, was der ton als Ballast empfindet. Wie um alles in der Welt kommst du also auf solche Szenarien? Ehrlich, man könnte fast meinen, du erträgst es nicht, dass Penelope andere Männer außer dir kennt, Bruder!“
Er spürte, wie sich sein Mund unfreiwillig öffnete.
Ein Ausdruck tiefer Erschütterung.
Diese Verachtung für Penelope war neu und in höchstem Maße verstörend. Colin ignorierte den lächerlichen Satz, den sie zum Schluss ihrer Ansprache an ihn gerichtet hatte. Stattdessen sagte er bloß mit einer reichlichen Portion eigenen Zorns:
„Ich fürchte, dass ich mich an die falsche Person gewendet habe. Vielleicht hätte ich mit Anthony reden sollen. Da du mir nicht sagen willst, was sich zwischen dir und Penelope abgespielt hat, kann ich nur meine eigenen Schlüsse ziehen: Du musst sie ziemlich hassen, wenn sie dir so vollkommen egal ist, dass du die Dringlichkeit der Situation nicht nachvollziehen willst. Wenn ich richtig liege, bedeutet das, dass ich von dir keine Hilfe erwarten kann. Entschuldige also, dass ich deine Zeit verschwendet habe.“
Er erhob sich, war schon fast zur Tür hinaus, als Eloise hinter ihm plötzlich erneut das Wort ergriff.
„Du willst wissen, warum ich kein gutes Wort mehr über sie sagen kann? Du willst wissen, warum mich ihr Schicksal nicht mehr kümmert? Nun, seit ich weiß, dass sie das Leben anderer Menschen ohne mit der Wimper zu zucken zerstören konnte. Seit ich weiß, dass sie ein egoistisches Miststück ist, das nur ihren eigenen Vorteil im Blick hat. Seit ich weiß, Colin, dass sie Lady Whistledown war!“
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