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Autumn Sky

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Romance / P18 / Het
15.04.2022
04.06.2022
18
49.097
10
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Dieses Kapitel
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04.06.2022 2.273
 
Als er erwachte, war ihm für einen Moment nicht bewusst, wo er war und alles woran er denken konnte, war der furchtbare Schmerz in seinem Kopf. Es fühlte sich wahrhaft so an, als würde jemand hinter seiner Stirn hausen und mit großer Zufriedenheit auf sein Hirn einschlagen. Ihm war übel und er kontemplierte tatsächlich ob es sinnvoll war, den Nachttopf unter dem Bett hervorzuholen und sich einfach zu erbrechen, um zumindest den furchtbaren Druck in seinem Magen loszuwerden. Doch allein schon der Gedanke, seinen pochenden Schädel dafür aus den Kissen heben zu müssen, hielt ihn davon ab, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er Zuhause in seinem Bett lag. Mit geschlossenen Augen begab er sich an die mühevolle Aufgabe, zu rekonstruieren, was letzte Nacht auf dem Ball der Richmonds geschehen war. Er konnte doch unmöglich so viel getrunken haben, dass er sich fühlte, als würde er sterben. Das letzte Mal, dass ihm vom Alkoholkonsum so schlecht geworden war, war schon Jahre her. Eine Episode, auf die er nicht stolz war und die er sich nicht zu wiederholen geschworen hatte. Was also war passiert, dass er um diesen Schwur nun doch einen feuchten Kehricht gegeben hatte? Die Erinnerung, die beinahe schlagartig zurückkehrte, drehte ihm prompt noch einmal den Magen um. Colin würgte, schaffte es aber, seine aufgewühlte Magengegend unter Kontrolle zu halten.

Er erinnerte sich an Penelope, an die niederschmetternde Erkenntnis, die er gewonnen hatte. Er war danach zurück zum Haus gegangen, was ihn geradewegs in George Richmonds Arme hatte laufen lassen. Lady Richmonds jüngsten Sohn, der in seinem Alter war und dem an diesem Abend genau so wenig die Lust nach Müßiggang gestanden hatte, wie ihm.



George hatte ihn eingeladen, ihn in das Arbeitszimmer seines Bruders zu begleiten. Dort hatten sie gesessen, Zigarren geraucht und Henry Richmonds Whisky heruntergespült, als wäre er Wasser gewesen. Colin stöhnte gepeinigt auf. Er hatte sich so verwirrt, so wütend, so niedergeschlagen gefühlt, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sich sein Zustand veränderte. Als George ihm verkündete, dass er genug habe und zu Bett gehen würde, war er einfach zurück in den Ballsaal gegangen.

Dort hatte der Abend eine hochnotpeinliche Wendung genommen.

In dem Augenblick, da er erfuhr, dass Penelope fehlte und Richard Cavendish zu ihnen trat, hatte sein benebelter Verstand aller Logik entsagt.

Ihm waren Cavendishs Worte durch den Kopf gefahren und plötzlich hatte er nur noch rot gesehen.

Jetzt ist der Weg frei, für jene, die in ihr mehr sehen, als bloß einen Staubfänger.

Es hatte Sinn gemacht, zumindest in jenem Moment. Cavendish zu beschuldigen, er habe Penelope bedrängt, war seinem verwirrten Verstand als durchaus rationale Handlung vorgekommen. Schließlich sagte man solche Worte nicht einfach so daher. Er war sich sicher gewesen, dass CavendishsVerlangen nach Penelope die Oberhand gewonnen haben musste und er folglich ihre Verletzlichkeit ausgenutzt hatte. Verletzlichkeit, die Colin mit seinem Verhalten ihr gegenüber im Garten noch forciert hatte. Dass der Mann vor ihrem Aufeinandertreffen geweint haben musste, war ihm entsprechend dann auch eher Bestätigung seiner Annahme denn Hinweis darauf gewesen, dass etwas mit dieser nicht stimmen konnte. Cavendish, so war er überzeugt gewesen, schien bewusst geworden zu sein, dass er etwas abgrundtief Böses verbrochen hatte. Die Scham und das schlechte Gewissen darüber wären sicherlich ausreichend und unerträglich genug gewesen, um den Mann dazu zu bringen, in Tränen auszubrechen und in seinem Selbstmitleid zu ertrinken.



Jetzt jedoch kam ihm nichts davon mehr rational vor. Colin vergrub das Gesicht in den Händen. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Seine Familie hatte ihn von Cavendish herunterzerren müssen! Ein solches Verhalten war verachtenswert. Hatte es jemand anderes gesehen? Colin kniff die Augen fester zu. Natürlich. Mit Sicherheit hatte der halbe ton ihm dabei zugeschaut, wie er versuchen wollte, auf Cavendish einzuprügeln. Wegen Penelope Featherington!

Welch ein Hohn…

Nur weil er ihre Freundschaft beendet hatte und die Entscheidung nun hinsichtlich ihrer Richtigkeit anzweifelte, war das als Grund nicht ausreichend, auf einen Mann einschlagen zu wollen. Er verbot es sich, seine Reaktion zum Teil auf Cavendishs Widerworte zu schieben. Der Mann hatte bloß ausgesprochen, was ihm selbst schon klar geworden war. Warum also hatte er sich zu einem derartig ausgearteten, böswilligen Verhalten hinreißen lassen? Dem Alkohol allein die Schuld zuzuschieben erschien ihm ebenso wenig ratsam. Sicher, er hatte ihn nicht mehr geradeaus denken lassen, aber da musste mehr sein. Etwas, das die ganze Angelegenheit erklärte. Nur was? Er öffnete die Augen, fluchte leise, als ihn die durch einen Spalt in den Vorhängen scheinende Sonne heftig blinzeln ließ und dachte fieberhaft nach. Ohne Erfolg. Nichts, was ihm einfiel, war zufriedenstellend genug. Colin schluckte. Gott, wie sollte er Anthony unter die Augen treten, ohne eine Erklärung vorbringen zu können, für das, was er getan hatte? Er hatte einen verdammten Skandal zu verantworten. Einen, der Eloise zum Verhängnis werden konnte. Schließlich war es das zweite Jahr, in dem sie einen Gatten zu finden hatte. Angelegenheiten wie diese verschreckten jedoch potentielle Partner… Verflucht. Er hatte Eloise damit mehr geschadet, als dem Rest seiner Familie. Wie sollte er das bloß wieder geradebiegen? Er würgte erneut. Eine Entschuldigung musste her. Offiziell, in der Anwesenheit mehrerer Zeugen. Eine Entschuldigung von ihm an Richard Cavendish.

Diesmal zog Colin tatsächlich den Nachttopf unter dem Bett hervor.



*

Penelope saß bei Tisch, doch ihr Teller blieb leer. Sie verspürte keinen Appetit und wann immer Varley ihr etwas auflegen wollte, hob sie abwehrend die Hand.

Sie vermied es, ihre Mutter oder Prudence anzusehen. Von beiden hatte sie noch in der Nacht ihrer Rückkehr eine heftige Standpauke erhalten und zumindest was ihre Mutter betraf, schwelte der Zorn ob ihres unbotmäßigen Verhaltens fast zwei Tage später immer noch in deren Brust.

„Ah. Eine neue Kolumne.“

Sie hörte Prudence mit dem Stück Papier hantieren und heftete ihre Augen auf ihren leeren Teller. Lady Whistledown war also wieder aktiv geworden, nachdem einige Tage nichts von ihr veröffentlicht worden war.

Unter anderen Umständen hätte Penelope sich die Ausgabe geschnappt und akribisch auf Hinweise untersucht, bevor sie nach einer Möglichkeit zu suchen begann, wie sie ihren Verleger kontaktieren konnte, ohne in eine ähnlich bedrohliche Lage wie bei ihrem letzten Ausflug zu geraten. Doch an diesem Morgen fand sie nicht die Kraft dazu. Weder wären ihr Herz, noch ihr Kopf bei der Suche nach der Identität der falschen Lady Whistledown besonders hilfreich gewesen. Beide waren zu sehr damit beschäftigt, Colin Bridgerton und nun auch Richard Cavendish zu vergessen.



„Das glaub ich nicht.“

„Was ist denn?“

Prudence wurde, dem Geräusch nach zu urteilen, die Zeitung von ihrer Mutter aus den Händen gerissen.

„Aber ich war doch noch gar nicht fertig!“, entrüstete sich Penelopes Schwester.

„Du bekommst sie zurück. Hör auf zu schmollen, das steht einer jungen Dame nicht.“

Kurz herrschte Stille. Dann wurde scharf eingeatmet.

„Aber wann soll das denn bitteschön passiert sein? Und warum haben wir bis jetzt nichts davon erfahren?“, hörte Penelope ihre Mutter fassungslos ausrufen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht geschah es, als wir im Garten gesucht haben? Wir haben eine ganze Weile gebraucht. Dann kam der Kutscher und du hast entschieden, dass wir sofort die Heimreise antreten, Mutter.“, mutmaßte Prudence.

Penelope runzelte die Stirn. Was war auf dem Ball nach ihrer Flucht geschehen, dass ihre Mutter klang, als wäre soeben die Sonne vom Himmel gefallen?

„Penelope!“

Die Angesprochene hob gegen ihren Willen den Kopf.

„Lies.“

Die Zeitung landete auf ihrem Teller und Penelope entschied, dass sie ihre Neugier nicht besänftigen wollte. Wahrscheinlich hatte es den üblichen Aufruhr gegeben, wenn ein nicht miteinander verheiratetes Paar in flagranti erwischt worden war. Sicherlich bimmelten in den nächsten Tagen wieder die Hochzeitsglocken in der Stadt. Neuigkeiten, also, die sie mittlerweile anödeten.

Sie sah ihrer Mutter fest in die Augen.

„Ich denke nicht, dass-“

Portia Featherington fuhr ihr schrill ins Wort.

„Lies, Penelope!“

Penelope schloss ihren Mund, griff nach der Zeitschrift und hob sie an, um sie besser lesen zu können.



Ein Ballabend wie der der Richmonds wird wohl noch lange Zeit in Erinnerung bleiben. Unglücklicherweise aber nicht wegen der üblichen Annehmlichkeiten, die einen solchen Ball prägen und ihn unvergesslich werden lassen. Lady Richmond ist zutiefst zu bedauern, gemessen an dem, was sich auf ihrem so opulent ausgerichteten Fest zutrug. Lange vor Ende des Balls kam es bereits zu einem kleinen Tumult, als Lady Featherington das Fehlen ihrer Tochter, Miss Penelope Featherington bemerkte und das Publikum in Aufruhr versetzte. Wie zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Ausgabe gemunkelt wurde , hatte Miss Featherington aufgrund von Unpässlichkeit die vorzeitige Heimreise angetreten, ohne ihre Mutter zu informieren. Während die Gastgeberin und ein Teil der Festgesellschaft sich auf die Suche nach der Verschwundenen machten, kam es zu einem bedauerlich skandalösen Vorfall zwischen Mister Colin Bridgerton und Mister Richard Cavendish, der zuvor in Begleitung von Miss Featherington und seiner Mutter gesehen worden war.

Mister Bridgerton warf im Zuge dieses Vorfalles Mister Cavendish vor, dass er sich Miss Featherington wohl unsittlich genähert habe und die Schuld an ihrem Verschwinden trüge. Mister Cavendish verneinte dies laut vor Zeugen und hätte sicherlich auch die Bestätigung seiner Mutter einholen können, wenn Mister Bridgerton sich nicht auf den armen Herrn gestürzt hätte, mit dem Vorhaben, auf ihn einzuprügeln. Nur dem beherzten Eingreifen Viscount Bridgertons ist es zu verdanken, dass Mister Cavendish diesen Angriff unbeschadet überstanden hat. Das Familienoberhaupt der Bridgertons verließ den Ball sofort nach dem unglücklichen Vorfall in Begleitung seiner Familie, wobei er Mister Colin Bridgerton am Kragen zerrte, der, wie man behauptet , stark alkoholisiert war. Der Unterzeichnenden bleibt zu dieser prekären Angelegenheit nur zu sagen, dass wohl kaum eine Saison vergeht, in der die Bridgertons nicht Teil eines Skandals werden. Man fragt sich wie eine so angesehene Familie so viel Pech erleiden muss…



Die Zeitung fiel ihr aus den erschlafften Händen und segelte mit einem leisen Rascheln, das in ihrem Kopf wie ein Kanonenschuss widerhallte, zurück auf den Teller. Wie in Trance starrte sie auf das Schriftstück und konnte nicht glauben, was sie dort gelesen hatte.

„Colin Bridgerton wollte sich prügeln. Wegen dir!“

Der Bann war gebrochen angesichts dieser Worte. Ihr Kopf ruckte hoch, ihre Augen landeten auf dem Gesicht ihrer Mutter und sogleich versuchte Penelope, nicht nur ihren aufgewühlten Geist mit Gegenargumenten ruhig zu stellen, sondern auch den ihrer Mutter.

„Es war sicherlich nur ein Missverständnis!“, keuchte sie. Denn es konnte nicht sein! Colin würde nie wegen ihr so etwas tun. Wegen Marina Thompson vielleicht. Aber nicht wegen ihr. Nie wegen ihr. Ihr Wohlergehen ob nun tatsächlich in Gefahr oder nur spekulativ, war ihm nie irgendetwas wert gewesen.

Ich bin auch eine Frau.

Du bist Pen. Du zählst nicht.

Nein, sicherlich lag hier ein Fehler vor.

„Es steht hier schwarz auf weiß. Und der ton wird das bestätigen können!“, zischte ihre Mutter. Prudence saß derweil angespannt auf ihrem Stuhl und blickte abwechselnd von Portia zu Penelope.

„Der ton war sich auch sicher, dass Cousin Jack sich Prudence unsittlich genähert habe! Du weißt, wie viel Wahrheit darin lag. Kein winziges Bisschen, Mutter!“, hielt Penelope dagegen.

„Aber…“, Prudence verstummte sofort wieder, als der funkelnde Blick ihrer Mutter sie traf und zum Still sein zwang.

„Wie dem auch sei.“, sagte Portia eisig, „Du wirst Mister Cavendishs Antrag sofort annehmen. Sonst gibt es nur noch weiteres Gerede! Und du schlägst dir diesen Bridgerton Jungen ein für alle Mal aus dem Kopf. Gerade jetzt, da er so negativ von sich reden macht!“

Bitte was?

„We-welcher Antrag?“

„Den, den Mister Cavendish dir in Anwesenheit seiner Mutter gemacht haben muss!“, rief Portia und klang dabei ganz so, als würde sie zu einer Minderbemittelten sprechen.

„Ihr wurdet gesehen, wie ihr zu dritt zur Bibliothek gingt. Ein reichlich seltsamer Ort auf einem Fest, auf dem man sich amüsieren soll. Für was sonst, solltet ihr euch also dorthin zurückgezogen haben? Und was, wenn nicht ein Antrag, sollte dich so verunsichert haben, dass du Reißaus nimmst und davonläufst, statt dich zu geben, wie man es von einer Frau erwartet, um deren Hand gebeten wurde? Also bitte, belüge mich nicht weiter, Penelope. Das kann ich nicht ausstehen.“



„Er hat mir keinen Antrag gemacht.“

Es war, als würde eine Fremde sprechen. Ihre Stimme klang mechanisch, bar jeden Lebens.

„Er hat mir gesagt, dass er mir nicht den Hof machen kann.“

Ihre Mutter starrte sie an und die Enttäuschung, der Horror und die Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht war zu viel. Unvergossene Tränen brannten in Penelopes Augen, als sie zur Seite sah, um dem Anblick zu entkommen.

„Umso schlimmer, Penelope. Umso schlimmer!“, wisperte ihre Mutter erschrocken.

„Denn obgleich ich es für unwahrscheinlich halte, dass auch nur ein Hauch von Colin Bridgertons Anschuldigungen wahr ist, wird Mister Cavendish dieses Stigma vorerst nicht mehr los. Der ton verzeiht viel, solange er seine Mitglieder gut genug kennt, aber Mister Cavendish ist ein beinahe unbeschriebenes Blatt. Es ist egal, was er getan oder nicht getan hat, es ist egal, wer oder was ein gutes Wort für ihn einlegt. Die Leute werden tuscheln, werden behaupten, seine Mutter hätte euch für einen kurzen Moment allein gelassen. Sie werden über dich reden. Du bist gebrandmarkt, Kind. Schlimmer als er! Wenn er dich abgewiesen hat, wird der ton in dir ein schadhaftes junges Fräulein sehen. Eine, die ein Mann selbst dann nicht an seiner Seite erträgt, wenn er sich mutmaßlich an ihr vergreift!“

Sie schwieg, doch nicht lang genug, um Penelope die Schwere und Bedeutung ihrer Worte verarbeiten zu lassen.

„Es nützt nichts mehr…“, fuhr Portia tonlos fort.

„Hier wirst du keinen Fuß mehr fassen können. Ich muss nun tun, was eine Mutter tun muss. Was ich schon längst hätte tun sollen. Ich bereite deine Abreise vor. Nach Nova Scotia, zu meiner Schwester Cynthia. Dort bist du weit genug von London entfernt, um einen Neustart wagen zu können. Weit genug, dass die Menschen dort keinen Schimmer von deiner Reputation haben werden.“
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