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Breakaway

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
27.03.2022
17.12.2022
31
117.601
44
Alle Kapitel
170 Reviews
Dieses Kapitel
8 Reviews
 
03.12.2022 4.377
 
Meine Lieben, hätten meine Kapitel Namen, hieße dieses Ups and downs oder so ähnlich. Aber ich lasse euch selber lesen. Und wünsche euch schon mal einen schönen zweiten Advent.

*** ***

Mandy stand gerade hinter dem Tresen des Stützpunktes, als er auf die Intensivstation stürmte.
„Na los, geh schon rein“, forderte sie ihn mit einem breiten Lächeln auf. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er zwang sich, langsam zu gehen, auch wenn er am liebsten in Romys Kabine gerannt wäre.

Dort angekommen, lag Romy noch immer im Bett, aber das Kopfteil war ein wenig erhöht und vor allem war sie wach. Sie wirkte ein wenig benommen, aber als sie ihn bemerkte, breitete sich ein schläfriges, kleines Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Hey“, grüßte er sie mit rauer Stimme und überbrückte die Distanz zum Bett. Er ließ sich auf seinen üblichen Platz sinken, griff nahezu zeitgleich nach ihrer Hand und küsste ihren Handrücken. „Ich bin so froh, dass du endlich aufgewacht bist.“ Sie sah ihn an und deutete auf ihren Hals, deshalb nickte er. „Ich weiß, dass du noch nicht reden sollst. Lass dir einfach Zeit.“ Sie drückte sanft seine Hand und er drückte genauso sanft zurück.

Mandy betrat den Raum und lächelte zwischen ihnen hin und her.
„Romy hat mir schon zu verstehen gegeben, dass wir dich über alles informieren dürfen. Da sie im Moment noch Schwierigkeiten mit dem Schlucken und Sprechen hat, möchten wir ihren gesamten Hals noch schonen. Aber ihr könnt euch durch Ja und Nein Fragen unterhalten. Wenn Romy deine Hand einmal drückt, heißt es Ja, zweimal drücken heißt Nein.“ Romy drückte erneut seine Hand, als wollte sie Mandy bestätigen. „Romy, du wirst noch eine ganze Weile sehr müde sein und wahrscheinlich auch mal mitten im Gespräch einschlafen. Das ist vollkommen normal und kein Grund zur Besorgnis. Erinnerst du dich, was du machen sollst, wenn du etwas nicht verstehst?“ Romy löste ihre Hand aus seiner und hielt sie, wie zum High Five, nach oben.“
„Sehr gut.“ Mandy lächelte aufrichtig. „Du wirkst wesentlich wacher und aufnahmefähiger, als du müsstest. Das ist ein gutes Zeichen.“ Mit einem Nicken sah sie zwischen ihnen hin und her. „Ich gebe euch einem Moment für euch. Aber sollte irgendwas sein, meldet euch.“ Damit verließ sie die Kabine und er war wieder mit Romy allein.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er. „Hast du Schmerzen? Ist dir kalt?“ Sie verneinte beides. Er hatte so unzählig viele Fragen, aber er verkniff sich einige. Vor allem die schweren, die sie belasten könnten. Alles, was den Unfall betraf, klammerte er beispielsweise aus. „Ich habe dir so viel zu erzählen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, gestand er. „Wie wäre es mit einer guten Neuigkeit? Jason und Sandra sind jetzt zusammen.“ Es dauerte eine Sekunde, aber dann breitete sich ein Lächeln auf Romys Gesicht aus. „Ich wusste, dass dir das gefällt. Und Sandra wird dir auch gefallen. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen, aber sie ist total nett. Sie passt perfekt zu Jason.“

Er erzählte ihr noch etwas mehr über das neue Paar, erzählte ihr auch ein paar harmlose Begebenheiten von seiner Familie und der Ranch, aber schließlich schlief Romy ein. Für eine Weile saß er einfach bei ihr und war dankbar, dass sie aus dem künstlichen Koma erwacht war und die Chance hatte, gesund zu werden.

Aber irgendwann stand er auf und ging zum Stützpunkt. Dort stand Max und lächelte ihn zufrieden an.
„Dein Mädchen ist eine von den ganz Starken. Sie ist viel wacher, als die meisten, die aus dem künstlichen Koma geholt werden.“
„Ja“, seufzte er erleichtert. „Sie sieht gut aus. Und sie hat bisher auf alles reagiert, was ich ihr erzählt habe.“
„Vor ihr liegt Arbeit, aber ich traue ihr zu, dass sie es gut schafft“, bestätigte Max ihn. „Vor allem, weil sie so ein gutes Netzwerk hat. Zuallererst dich. Das darf man nicht unterschätzen.“ Der Pfleger nahm sich eine der Akten. „Ich muss weiter, aber Dr. Baxter ist im Dienst und wird sicherlich bald auf dich zukommen, um dir ein paar Dinge zu erklären.“
„Alles klar. Danke. Für alles.“ Max nickte lächelnd.
„Dafür sind wir da.“

Er kehrte zu Romy zurück, die blinzelnd die Augen aufschlug, als er sich setzte.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.“ Langsam schüttelte sie den Kopf, als wollte sie ihm mitteilen, dass es nicht schlimm sei. „Ist dir weiterhin warm genug?“ Sie verzog leicht das Gesicht und deutete ans Fußende. „Deine Füße sind kalt“, stellte er erkennend fest. „Moment.“ Er öffnete die Schublade des Nachtschranks, in der er immer ihre Socken verstaute. „Welche möchtest du?“ Fragend deutete sie auf die Socken, die seine Mutter ihr gestrickt hatte. „Die sind von meiner Mom. Sie hat dir noch ein ganz buntes Paar gestrickt, aber die habe ich gestern zum Waschen mitgenommen. Möchtest du dieses hier anziehen oder eins von deinen anderen?“ Sie deutete auf die Socken seiner Mutter.

Erstaunt sah sie ihn an, als er ans Fußende trat und die Decke zurückschlug.
„Keine Sorge, ich habe es in den letzten Tagen ständig für dich gemacht. Falls ich dir doch weh tue, lass es mich wissen.“ Sie lächelte dankbar, als er ihre Füße warm einpackte. „Besser?“, erkundigte er sich und bekam ein Lächeln zu sehen.“ Sorgfältig deckte er sie wieder zu, bevor er sich wieder setzte.
„Draußen ist es ganz schön kalt geworden. Ich hoffe, du darfst bald deine eigenen Sachen anziehen. Die sind wärmer, als die Hemdchen, die sie dir bisher angezogen haben.“ Romy griff nach seiner Hand, die sie besänftigend streichelte. „Soll das heißen, es ist alles in Ordnung?“ Sie drückte einmal seine Hand. „Okay“, erwiderte er lächelnd. „Das ist gut zu wissen.“

Er wusste, dass er ihre Mutter anrufen musste, genauso wie seine Familie, damit sie wussten, dass es Romy einigermaßen gut ging, aber er genoss es zu sehr, sie für eine Weile ganz für sich zu haben und das sogar bei vollem Bewusstsein. Auch wenn sie sich nicht richtig unterhalten konnten. Solange sie irgendwie reagieren konnte, war er der glücklichste Mensch der Welt.

*** ***

Die Nachtschwester, Beth, betrat ihren Raum und lächelte sie warmherzig an.
„Na, kannst du nicht schlafen?“, erkundigte sie sich. Sie antwortete mit einem Kopfschütteln.
„Das ist ganz normal. Auch wenn es ein bisschen nervt.“ Beth ging zu dem Monitor, der ihren Herzschlag kontrollierte und machte eine Notiz in die Akte, die am Fußende des Bettes hing. „Dein Herzschlag ist vorbildlich, die Sauerstoffsättigung sieht auch wunderbar aus… Meine Liebe, du bist ein medizinisches Kunstwerk.“ Sie schnaubte leicht und entlockte der Schwester damit ein Lächeln.
„Wenn du möchtest, kannst du versuchen ein bisschen zu sprechen. Am besten immer nur mit einem Wort, aber versuch es ruhig.“
„‘kay“, presste sie mühsam hervor. Ihr Hals kratzte unangenehm und ihre Stimme klang, als hätte sie Sandpapier im Mund. Beth lächelte trotzdem aufmunternd.
„Wie fühlst du dich? Ist es dir zu kalt? Soll ich dir noch eine Decke holen?“
Nein… danke“, wisperte sie.
„Solltest du deine Meinung ändern, sag jederzeit Bescheid“, forderte Beth sie auf.

Lächelnd zwinkerte die Schwester ihr zu.
„Warme Socken hast du ja bereits an. Tyler war da sehr bestimmend. Er hat uns ganz genau darüber aufgeklärt, welche Socken du am liebsten magst.“
„Spinner“, murmelte sie lächelnd. Beth lachte darüber und erwiderte: „Dazu werden Männer manchmal, wenn sie verliebt sind. Übrigens waren wir Schwestern alle neidisch auf dich.“ Fragend hob sie die Augenbrauen, was Beth erneut lächeln ließ. „Wegen Tyler natürlich. Der Mann sieht so aus und ist dann auch noch so nett? Er war jeden Tag hier, hat dir stundenlang vorgelesen oder mit dir gesprochen. Er hat bei deiner Pflege geholfen. War unheimlich nett zum Personal. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.“ Sie lächelte die Schwester entschuldigend an. Die zuckte bloß die Achseln. „Das sind die Schattenseiten unseres Berufs. Aber Tyler ist ein richtiges Goldstück und erinnert einen daran, warum man sich für diesen Beruf entschieden hat.“ Beth zwinkerte erneut. „Du hast jedenfalls im Lotto gewonnen, meine Liebe.“ Als wenn sie das nicht wüsste.

Sie hatte schnell gelernt, was für ein großes Herz Tyler hatte und wie viel er für sie tat und das sogar sehr gerne. Aber dass er sein Leben so für sie hintenan gestellt hatte, ließ ihre Gefühle für ihn noch mehr anwachsen. Dabei hatte sie geglaubt, dass das gar nicht mehr möglich wäre. An dem Abend, an dem Tyler ihr ganz offen erzählt hatte, dass sein Karriereende ihn noch immer beschäftigte, hatte sie realisiert, dass sie nicht nur verliebt in Tyler war, sie liebte ihn. Wie keinen Menschen vor ihm. Sie hatte noch nicht den Mut gefasst, es ihm zu sagen, aber das würde sie schnellstmöglich nachholen. Ihr Unfall hatte gezeigt, wie schnell die Chance vertan sein konnte und sie hatte Glück gehabt, dass sie nicht für immer vertan war.

„Ich muss meine Runde drehen“, sagte Beth entschuldigend. „Falls du wirklich nicht einschlafen kannst, könntest du die Tagebücher lesen.“ Fragend sah sie die Schwester an. „Jeder deiner Besucher hat ein kleines Tagebuch für dich geführt. Um dich auf dem Laufenden zu halten. Wir bitten alle Angehörigen, das zu machen, um den Patienten zu helfen, sich zu orientieren.“ Beth zog eine der Schubladen des Nachtschranks auf. „Hier liegen sie alle. Das oberste ist Tylers. Möchtest du damit anfangen?“
„Ja… Okay.“
„Moment.“

Beth schob den Nachttisch näher ans Bett und klappte den beweglichen Tisch über ihren, Romys, Schoß.
„Geht das so?“, fragte Beth, nachdem sie das Heft, auf dem Tylers Name stand, gegen zwei Wasserflaschen gelehnt hatte. Dank ihres eingegipsten Arms konnte sie das Heft nicht gleichzeitig halten und umblättern, deshalb nickte sie dankbar. „Dann bis später“, verabschiedete Beth sich.

Langsam schlug sie das Heft auf und erkannte sofort Tylers Schrift. Für einen Mann hatte er eine beinahe schöne Schrift. Sie lächelte, als sie die ersten Worte las, die ihr verrieten, wie gehemmt er gewesen war. Aber wer sollte es ihm verdenken? Was schrieb man einer bewusstlosen Frau, wenn man nicht mal sicher war, ob sie es je lesen konnte?

Ihr Verstand fühlte sich immer noch etwas benebelt an, deshalb kam sie nur langsam vorwärts, musste manche Sätze auch zwei oder dreimal lesen, aber es dauerte nicht lange, da füllten sich ihre Augen mit Tränen. Mit jedem Eintrag wurde deutlicher, wie viel sie Tyler bedeutete. Natürlich hatte er mit seinen Gefühlen nie hinter dem Berg gehalten, aber zwischen den Zeilen konnte sie lesen, dass sie nicht die Einzige war, die nicht nur verliebt war, sondern echte Liebe empfand.

Manche Einträge waren nur lustige kleine Anekdoten seines Alltags, die sie lächeln und schmunzeln ließen, manchen merkte man an, wie traurig und ängstlich ihr Zustand ihn gemacht hatte und sein letzter Eintrag… Sie hatte noch nie einen Liebesbrief bekommen, aber das hatte Tyler geändert. Noch eines der Dinge, die sie auf ihre Liste der Dinge setzen konnte, die Tyler für sie getan oder verbessert hatte. Natürlich war kein Mensch perfekt, aber Tyler kam, ihrer Meinung nach, ganz nahe heran.

Sie klappte das Tagebuch zu und presste es an ihre Brust, als sie merkte, dass die Müdigkeit sie doch übermannte. Vielleicht hatte sie ja Glück und würde von Tyler träumen.

*** ***

Die Ärzte hatten sie untersucht, gepikst und mit Fragen gelöchert, das Pflegepersonal hatte sie gewaschen und so gut zurecht gemacht, wie es unter ihren Umständen möglich war. Natürlich war es albern, aber nachdem Tyler sie tagelang nur komatös und verschrammt gesehen hatte, wollte sie endlich mal wieder einigermaßen hübsch aussehen.

Es war halb elf, als Tyler schließlich ihr Zimmer betrat.
„Hey“, grüßte er sie lächelnd.
„Hi“, antwortete sie. Ihre Stimme klang immer noch kratzig und zu sprechen war ungewöhnlich anstrengend, aber das war normal und je mehr sie sprach, desto größer würde ihr Lungenvolumen wieder werden.
„Es ist schön, deine Stimme zuhören“, ließ Tyler sie mit einem strahlenden Lächeln wissen. Gleichzeitig lehnte er sich über sie. „Ist ein Kuss okay?“, vergewisserte er sich.
„Ja“, antwortete sie so nachdrücklich, wie sie konnte. Und dann spürte sie endlich wieder Tylers Lippen auf ihren. Sie seufzte unbewusst, was Tyler in den Kuss lächeln ließ.

Als er ihre Lippen wieder freigab, lächelte er sie vorsichtig an.
„Ich habe dir jemanden mitgebracht. Bist du bereit für einen Überraschungsgast?“
„Ja, okay.“ Sie rechnete mit Ellen oder Mel, vielleicht auch Hal oder Sally, aber ihr fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als Tyler mit ihrer Mutter zurückkehrte.
„Mom?“, krächzte sie.
„Oh, Romy.“ Ungewöhnlich flink, eilte Gwen auf ihr Bett zu und griff nach ihrer Hand. „Ich habe solche Angst gehabt.“ Ihr Blick glitt von Gwen zu Tyler, der sie aufmunternd und entschuldigend zugleich anlächelte.
„Ich gebe euch ein bisschen Zeit. Falls was sein sollte, ich bin unten in der Cafeteria.“
„Danke, Tyler“, sagte Gwen lächelnd.

Es fiel ihr unglaublich schwer, ein ungläubiges Kopfschütteln zu unterdrücken. Ihre Mutter sprach freiwillig? Ganze Sätze? Und sie war freundlich, sogar warmherzig Tyler gegenüber? Was genau war in den letzten knapp zwei Wochen passiert?

Tylers Lächeln wirkte verständnisvoll, als er sich vorbeugte und sie erneut küsste.
„Ich bin in einer Stunde wieder da. Aber solltest du mich vorher brauchen, ich habe das Handy dabei und deines liegt aufgeladen in deiner Handtasche.“
„Danke.“ Sie lächelte, als er sie sanft auf die Wange küsste.

Als sie mit ihrer Mutter allein war, setzte die sich auf den Stuhl neben ihrem Bett.
„Wie geht es dir, Romy? Hast du Schmerzen?“
„Nein.“ Irritiert schüttelte sie den Kopf. „Mom, was…?“ Sie musste sich räuspern, weil das Sprechen sie so anstrengte. „Was machst du hier?“ Gwen seufzte traurig.
„Diese Frage und diesen Tonfall habe ich verdient.“ Ihre Mutter griff vorsichtig nach ihrer Hand. „Romy, ich… Ich war eine furchtbare Mutter. Nicht nur in den letzten Jahren, sondern schon dein ganzes Leben lang. Du kanntest meine Eltern, weißt, welche Art von Leben sie von mir erwartet haben und… ich habe dir die gleiche Bürde auferlegt. Ich wünschte, ich hätte irgendeine Entschuldigung oder zumindest eine gute Ausrede, aber… ich war einfach nur feige und charakterschwach.“

Sie wusste nicht, was sie zu Gwens ungewöhnlicher Ehrlichkeit sagen sollte. Dafür war sie viel zu überrascht, um nicht zu sagen, überrumpelt von der Entwicklung des Tages. Gwen bemerkte ihre Verwirrung und lächelte beschwichtigend.

„Als wir damals alles verloren haben und ich damit überhaupt nicht zurecht gekommen bin, hat ein Teil von mir gehofft, dass du dich aus dem Staub machst und dir was Eigenes aufbaust, aber… du bist so charakterstark, so grundanständig, dass du mich natürlich nicht hast hängen lassen. Und der egoistische Teil von mir war dankbar dafür. Ich konnte mich in meinem Elend suhlen und nichts tun und musste nicht an der Situation wachsen. Das habe ich dir aufgebürdet.“ Seufzend drückte Gwen ein weiteres Mal ihre Hand. „Als ich dann den Schlaganfall hatte… Im Krankenhaus habe ich eins dieser Klatschblätter in die Finger bekommen und gelesen, dass Tyler nach Bradfort zurückkehrt. Schon als ihr noch Kinder wart, war mir bewusst, wie gern er dich hat und ich hatte gehofft, dass es wieder so sein würde, wenn ihr erneut aufeinandertrefft. Deshalb wollte ich unbedingt in ein Heim in Bradfort. Nicht für mich, sondern für dich. Ich wollte euch die Gelegenheit geben, zusammenzufinden. Und es hat doch geklappt.“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Ihre Mutter war unglaublich. Und das nicht auf die gute Art.

Entweder bemerkte Gwen ihre aufkeimende Wut nicht oder sie ignorierte sie, denn sie sprach unbeirrt weiter.
„Wieder habe ich gehofft, dass du mich endlich links liegen lässt, aber… du bist einfach ein zu guter Mensch. Deshalb war ich so fies zu dir, als du mir von Tyler erzählt hast.“
„Also hast du mich all die Monate wieder nur manipuliert!?“ Sie versuchte, es zu unterdrücken, aber die Tränen kamen und sie wollten raus. „Wieso kannst du nicht einfach nur meine Mutter sein, die mich liebt?“
„Oh Romy.“ Mit Tränen in den Augen, drückte Gwen ihre Hand. „Natürlich liebe ich dich. Ich bin einfach nur… Ich bin kein guter Mensch, wie du einer bist. Ich bin schwach und… und in gewisser Weise faul. Wenn du… Wenn du mich nun doch aus deinem Leben verbannen willst, werde ich das akzeptieren, aber wenn… wenn du mir die Chance geben willst, dann werde ich an mir arbeiten.“
„Ich weiß nicht… Ich kann… Ich kann dir nicht sagen, was ich will. Ich muss erst nachdenken.“
„Natürlich.“ Sanft strich Gwen ihr durchs Haar. „Es kommt viel zu spät, aber ich liebe dich und ich will, dass du glücklich bist. Wenn ich dich unglücklich mache, dann werde ich dich endlich in Ruhe und Frieden leben lassen.“

Gwen erhob sich von ihrem Platz und lächelte sie mit Tränen in den Augen an.
„Ich werde jetzt gehen und dir ein bisschen Zeit und Ruhe gönnen. Bitte sag Tyler, dass ich ein Taxi nehme. Er war immer so nett, mich mitzunehmen, aber ihr solltet ein bisschen Zeit für euch haben. Meine nicht einwandfreie Einmischung hin oder her, Tyler liebt dich. Er liebt dich so sehr, dass mir die Worte fehlen, es zu beschreiben. Und ich hoffe, dass du es euch jetzt nicht unnötig schwer machst, weil du wütend auf mich bist. Das habt ihr beide nicht verdient.“ Sie deutete ein Nicken an, weil ihr die Worte fehlten.

Gwen verabschiedete sich und als sie aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, starrte sie hilflos an die Decke. Was lief nur schief bei ihrer Mutter? Sie hatte sich das Leben unnötig schwer gemacht und ihrer Tochter gleich mit. Und wenn sie schon vor Jahren gewusst hatte, dass Tyler sie mochte, wieso hatte sie sie nicht darauf aufmerksam gemacht. Er war doch keine schlechtere Wahl als Cole gewesen!?!

Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging, aber plötzlich betrat Tyler ihren Glaskasten, der ihr als Zimmer diente.
„Hey, wo ist deine Mutter?“, fragte er.
„Nach Hause gefahren.“ Erneut traten ihr Tränen in die Augen und Tyler eilte sofort zu ihr hinüber.
„Was ist denn los? Habt ihr euch gestritten?“ Sie schüttelte den Kopf, brauchte aber einen Moment, um ihm erzählen zu können, was ihre Mutter ihr gestanden hatte. Es dauerte, alles in Worte zu fassen, weil das Sprechen sie anstrengte und ihre Tränen immer wieder ihre Stimme erstickten.

Seufzend deutete Tyler ein Kopfschütteln an, als sie schließlich zum Ende kam.
„Deine Mutter ist… eine Marke für sich. Keine Ahnung, wie ich ihr Verhalten finden soll, aber… In den letzten Wochen war ganz deutlich zu merken, dass sie dich wirklich liebt. Sie mag es zu wenig zeigen und ihre Methoden sind echt Dallas trifft den Denver Clan, aber trotzdem liebt sie dich. Und ob sie unser Aufeinandertreffen nun forciert hat oder nicht, ich bin dankbar, dass wir uns getroffen haben.“
„Das bin ich auch“, versicherte sie so nachdrücklich, wie sie konnte. „Ich wollte nicht andeuten, dass ich uns in Zweifel ziehe.“ Sie streckte die Hand aus und legte sie sanft auf seine Wange. „Ich weiß nicht, ob es der richtige Zeitpunkt ist, es dir zu sagen, aber… Ich liebe dich.“ Es dauerte eine ganze Sekunde, aber dann breitete sich ein strahlendes Lächeln auf Tylers Gesicht aus.
„Ich liebe dich auch.“ Er nahm ihre Hand von seiner Wange und küsste die Innenfläche. „Du weißt nicht, wie dringend ich dir das in den letzten Wochen sagen wollte.“

Ihr traten schon wieder Tränen in die Augen, aber diesmal waren es Freudentränen. Dass sie mal eine glückliche Beziehung führen und von einer Zukunft träumen würde, hatte sie noch ein halbes Jahr zuvor für unmöglich gehalten und auch wenn, dank des Unfalls, viel Arbeit vor ihr lag, war sie glücklich. Ihre Mutter und ihr Verhalten waren ein Wermutstropfen, aber kein Leben war absolut perfekt.

„Letztlich entscheidest du, aber wenn du Wert auf meine Meinung legst; ich finde, du solltest deiner Mutter eine letzte Chance geben.“ Tylers Lächeln war einfach nur warm und liebevoll und keineswegs auffordernd. „Ich bin mir sicher, sie wird dich überraschen und das vielleicht sogar wirklich positiv.“
„Denkst du?“, fragte sie eher hoffnungsvoll, denn zweifelnd. Auch nach achtundzwanzig Jahren sehnte sie sich noch immer nach der Liebe ihrer Mutter und einem guten Verhältnis zu ihr.
„Ist dir das hier schon aufgefallen?“ Tyler ließ ihre Hand los und griff nach einem kleinen Plastikpferd, das sie natürlich schon gesehen hatte. Es stand schließlich mitten auf ihrem Nachtschrank. Sie nahm an, dass Nicky es ihr ins Krankenhaus hatte schicken lassen. Genauso wie seine süßen Zeichnungen, die die Wand hinter ihr zierten.

Lächelnd hielt Tyler ihr das kleine Pony hin, dass beinahe wie Giggles aussah.
„Vor einem ihrer ersten Besuche hat deine Mutter mich gebeten, bei einem Spielwarengeschäft zu halten. Sie hat mir von deiner Sammlung erzählt und wie du sie verloren hast.“ Mit einem unmerklichen Achselzucken drückte er ihr das Figürchen in die Hand. „Es macht eure Vergangenheit nicht wieder gut, aber es könnte der Anfang einer besseren Zukunft sein!?“
„Vielleicht?“ Ihre Antwort klang vielmehr wie eine Frage, aber so sehr sie sich eine gute Beziehung zu ihrer Mutter wünschte, so oft war sie auch enttäuscht worden.
„Du musst dich nicht gleich heute entscheiden. Eine schwierige Beziehung verbessert sich sowieso nicht über Nacht.“ Tylers Tonfall passte zu dem verständnisvollen Lächeln, das sein Gesicht zierte.

Vermutlich hatte er recht und sie sollte es auf sich zukommen lassen. Vielleicht war es mal wieder Zeit, sich an Hatties Motto zu halten!? Das Beste hoffen, das Schlimmste befürchten.

*** ***

Sein Handy begann zu klingeln, kurz bevor er den Krankenhausparkplatz erreichte. Die Nummer verriet ihm, dass es das Krankenhaus war und er nahm den Anruf besorgt entgegen.
„Hey Tyler, Max hier“, tönte die Stimme des Stationsleiters durch die Freisprechanlage. „Hast du Zeit, vorbeizukommen. Wir haben ein paar Probleme mit Romy.“
„Was ist los?“, fragte er gleich noch besorgter.
„Ihr ist plötzlich bewusst geworden, wie lange sie schon hier ist und dass sie keine Krankenversicherung hat, da…“
„Sie schiebt Panik wegen der Kosten“, unterbrach er den Pfleger.
„Stimmt. Wir haben versucht, ihr klar zu machen, dass sich alles regeln lässt, aber sie… Tyler, wenn sie sich nicht bald beruhigt, müssen wir sie ruhig stellen.“
„Ich bin schon auf dem Parkplatz. Gebt mir fünf Minuten.“

Am Ende brauchte er drei, um die Intensivstation zu erreichen. Den Einwegkittel band er sich im Laufen zu und seine Hände waren noch längst nicht fertig desinfiziert, als er Romys Raum betrat. Es war nicht zu übersehen, dass Romy versuchte, aufzustehen und mit noch immer rauer Stimme mit Dr. Baxter und Mandy diskutierte. Er wusste nicht, was ihn am härtesten traf; Romys tränenüberströmtes Gesicht oder die blanke Panik in ihrer Stimme.

„Romy, Stopp!“, unterbrach er sie. Arzt und Pflegerin sahen ihn erleichtert an, als sie ihn bemerkten. „Kann ich einen Moment allein mit Romy reden?“, bat er. Die beiden Mediziner nickten und verließen eilig den Raum.
„Tyler, du musst den beiden erklären, dass ich nicht noch länger hierbleiben kann. Ich kann die Rechnungen jetzt schon nicht mehr bezahlen.“
„Das werde ich ganz bestimmt nicht“, schmetterte er ihren Wunsch ab. Er konnte sehen, wie sie versuchte, erneut aufzustehen und eilte zu ihrem Bett hinüber, um sie aufzuhalten. „Romy, nein! Du musst liegenbleiben.“ Sie versuchte allen Ernstes, ihn wegzuschieben. Einhändig! Sie schaffte es nicht mal mit beiden Händen, wenn sie vollkommen gesund war, aber sie war so trotzig und vor allem panisch, dass sie es in ihrem angeschlagenen Zustand versuchte. „Hör auf!“ Sie hörte nicht auf, deshalb hielt er ihre Hand fest und hob mit seiner anderen Hand ihr Gesicht an. „Romina! Hör mir nur fünf Minuten zu, dann weißt du, dass du dir keine Sorgen machen musst.“

In ihren großen grünen Augen schwammen immer noch Tränen und ihre Atmung kam so krampfhaft, dass er befürchtete, dass sie gleich zusätzliche medizinische Behandlung brauchen würde. Was mehr Kosten verursachen und Romy noch mehr Angst machen würde.

Um nicht so sehr über ihr zu thronen, setzte er sich auf seinen üblichen Platz.
„Was macht dir solche Angst?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. Aber er wollte ihr die Möglichkeit geben, ihre Ängste zu verbalisieren.
„Ich bin schon zwei Wochen hier. Weißt du, was es kostet, zwei Wochen auf der Intensivstation zu liegen? Und operiert worden zu sein?“ Er hatte eine ungefähre Vorstellung, auch wenn er die exakte Summe noch nicht kannte.
„Es ist alles okay“, versicherte er ihr, konnte sie aber nicht überzeugen, wie ihr Gesichtsausdruck nur zu deutlich verriet. „Glaub mir, du musst dir keine Sorgen machen.“
„Aber… Tyler, wie soll ich das alles bezahlen? Meine Rechnungen, die Pflege meiner Mutter und… Dr. Baxter besteht darauf, dass ich eine Reha mache. Das geht nicht. Ich muss arbeiten.“
„Du kannst nicht arbeiten“, widersprach er ihr. „Und jetzt hör mir zu, okay?“

Er hatte in seinem Leben vor ein paar Herausforderungen gestanden, aber die vielleicht härteste stand ihm unmittelbar bevor. Er musste es schaffen, dass Romy ihren Stolz hinunterschluckte und sich von ihm helfen ließ. Nicht nur emotional, sondern diesmal auch finanziell.

„Die Mutter des Jungen, den du gerettet hast, ihr Name ist Nicole, hat ein Spendenkonto für dich eröffnet. Auf dem hat sich mittlerweile eine Menge Geld angesammelt. Und was den Rest angeht; ich bezahle deine Krankenhausrechnung und alles, was du sonst brauchst. Und auch die Kosten für deine Mutter werde ich übernehmen. Du konzentrierst dich einfach darauf, wieder gesund zu werden.“
„Nein!“ Natürlich sprach sie genau das Wort aus.
„Doch!“, widersprach er vehement. Er hielt noch immer ihre Hand fest, die er sanft drückte.
„Das ist einfach zu viel Geld, Tyler. Wie soll ich mich jemals revanchieren?“
„Gar nicht. Das hier ist nicht Das Schweigen der Lämmer. Es geht nicht um quit pro quo.“ Sanft strich er mit dem Daumen eine Träne weg, die ihre Wange hinabrann. „Du und ich? Das ist es für mich. Vielleicht ist es zu früh, dir das zu sagen, aber du bist die Frau, mit der ich das gesamte Paket will. Mit der ich alt werden will. Und welche bessere Investition in unsere Zukunft könnte ich machen, als deine Gesundheit?“

Normalerweise mochte er es überhaupt nicht, wenn Romy weinte, aber diesmal waren ihre Tränen der Beweis, dass sie mit sich kämpfte. Und ihr Kampf zu seinen und somit zu ihren gemeinsamen Gunsten ausgehen könnte.

Es würde ihr nicht immer leicht fallen, weil er finanziell so viel besser gestellt war, als sie, aber für ihn war sein Geld, ihr gemeinsames. Wofür hatte er diese unverschämten Summen auf dem Konto, wenn er sie nicht mit den Menschen teilten konnte, die er liebte? Und sie war die unangefochtene Nummer Eins auf dieser Liste. Und genau deshalb würde er notfalls den Rest seines Lebens damit verbringen, ihr klarzumachen, dass Geld kein Hindernis zwischen ihnen zu sein brauchte.

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