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Breakaway

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Liebesgeschichte / P18 / Het
27.03.2022
17.12.2022
31
117.601
44
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
4 Reviews
 
 
27.03.2022 3.605
 
Willkommen zu einer weiteren Geschichte. Diese hier ist mein erstes Baby... Nein, mein erstes Baby sitzt im Zimmer nebenan und erfüllt mich mit Stolz, weil es an einem Sonntag für seine Anatomieklausur lernt, statt sich von einer durchzechten Nacht zu erholen.
Aber diese Geschichte ist die erste freie Arbeit, an der ich mich je versucht habe und die Figuren liegen mir immer noch am Herzen. Ich hoffe, es geht euch auch bald so und ihr habt Lust, mit Tyler und Romy zu leben, zu lieben und zu lachen.


*** ***

Durch das geöffnete Fenster drang nicht nur ein kühlender Wind in das Innere des Jeeps, sondern auch der salzige Geruch der Luft, mit dem er aufgewachsen war. Verursacht wurde dieser vom Long Island Sound, der berühmten Meeresbucht, die Long Island vom Festland trennte.

Bridgeport lag hinter ihm und das bedeutete, dass er in wenigen Minuten seine Heimatstadt erreichen würde. Bradfort war eine Kleinstadt, wie man sie unzählige Male in Connecticut fand und doch war sie berühmter, als viele andere Kleinstädte dieses Bundesstaates. Das lag an ihm und während er immer mehr Altbekanntes durch die Windschutzscheibe sehen konnte, fragte er sich, wann er und damit auch Bradfort in Vergessenheit geraten würden.

Obwohl er erst vor drei Monaten achtundzwanzig geworden war, war er bereits gezwungen, sich eine neue Karriere zu suchen. Das verdankte er dem zweihundertachtzig Pfund schweren Koloss von einem Defensive Lineman, der mit vollem Gewicht auf seinem Knie gelandet war. Das hatte nicht nur eine mehrstündige Operation und eine mehrmonatige Reha zur Folge gehabt, sondern auch das Ende seiner beruflichen Laufbahn bedeutet. Er hatte auf dem Höhepunkt des Erfolgs gestanden und war nun gezwungen, sich umzuorientieren.

Glücklicherweise hatte er schon immer vielseitige Interessen gehabt, deshalb hatte sein plötzliches Karriereende ihn nicht verbittern lassen. Er hatte genug Spieler erlebt, auch in der eigenen Mannschaft, die nichts gehabt hatten, außer Football und die am Ende ihrer Karriere in ein schwarzes Loch gefallen waren. Er selbst war da schon immer anders gewesen, auch als er noch der Quarterback der Bradfort High gewesen war. Statt sich auf dem sportlichen Erfolg auszuruhen, der ihm Stipendien an mehreren Colleges eingebracht hatte, hatte er für die Schule gearbeitet und auf der Ranch seiner Eltern geholfen.

Auf diese Ranch würde er nun zurückkehren, um seine Eltern zu unterstützen. Die beiden gingen auf die Sechzig zu und auch wenn sie körperlich noch fit waren, konnte niemand voraussagen, wie lange das noch so bleiben würde. Vor allem, wenn sie weiterhin so hart arbeiteten, wie sie es seit Jahrzehnten taten. Dass er die Ranch irgendwann übernahm, war immer geplant gewesen, nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von ihm, auch wenn sie alle gedacht hatten, dass das erst in ein paar Jahren der Fall sein würde.

Glücklicherweise war sein Knie soweit abgeheilt, dass gegen körperliche Arbeit und längere Ritte nichts einzuwenden war. Nur dem Profisport musste er abschwören, wenn er nicht innerhalb kürzester Zeit ein versteiftes Kniegelenk vorweisen wollte. Als Trainer hätte er dem Football weiterhin treu bleiben können, denn mehrere Teams hatten ihm einen Trainerposten angeboten, doch auch wenn er ein guter Teamleader war, taugte er rein als Trainer überhaupt nichts. Das hatte sich gezeigt, als er das Juniorenteam in Dallas für kurze Zeit trainiert hatte, weil der eigentliche Trainer nach einem Herzinfarkt für mehrere Wochen ausgefallen war.

Seine Entscheidung, nach Hause zurückzukehren, war eindeutig die richtige. Auch wenn er gerne Footballspieler gewesen war, sich sowohl in Chicago, wo er seine Profikarriere begonnen hatte, und später auch in Dallas ganz wohl gefühlt hatte, waren beide Orte nie wirklich sein Zuhause geworden. Zu sehr hatte ihm seine Familie gefehlt; seine Eltern, seine jüngere Schwester und auch sein Neffe, von dem er in den letzten Jahren viel zu wenig gesehen hatte, obwohl der ihn wirklich gebraucht hätte.

Schuld daran, dass Nicky seinen Onkel so dringend gebrauchen konnte, war Kevin Henderson, der Drecksack, der seine Schwester geschwängert und sitzen gelassen hatte. Es war Kevins Glück, dass er sich so weit aus dem Staub gemacht hatte, dass sie sich nie über den Weg liefen, sonst hätte Kevin wahrscheinlich eine Abreibung verpasst bekommen.

Wie man sein Kind überhaupt sitzen lassen konnte, war ihm seit jeher ein Rätsel, aber wer Nicky kannte, würde es noch weniger verstehen können. Er selbst war froh, dass er sich in Zukunft öfter um Nicky würde kümmern können. Auch wenn er nicht sein Vater war, würde er hoffentlich eine Vaterfigur für ihn sein und gleichzeitig würde er Mel, seine Schwester, ein wenig entlasten.

Während seine Gedanken abgeschweift waren, hatte er die Zufahrtsstraße nach Bradfort erreicht. Rechts und links wurde sie von großen, jahrhundertealten Bäumen gesäumt, die im Spätsommer ihre bunte Farbenpracht präsentieren würden. Jetzt, Anfang Juni, trugen sie noch ihre grünen Blätter, die verrieten, dass der Frühling hinter ihnen und der Sommer noch vor ihnen lag.

Zehn Minuten später erreichte er endlich die fast zwei Meilen lange Zufahrt zur Ranch. Zu beiden Seiten erstreckten sich die Weiden, auf denen sich Pferde tummelten. Seine Eltern hatten schon immer nur Pferde gehabt und ein wenig Farmland, das sie hauptsächlich gebraucht hatten, um damit ihre Pferde zu versorgen. Zusätzlich zur Pferdezucht, hatte auch schon immer eine Reitschule dazugehört, die ein Anlaufpunkt für Jung und Alt war. Ganz besonders die Jugend der Stadt tummelte sich schon dort, seit es die Ranch gab, um zu reiten oder wenigstens die Pferde bewundern zu können.

Seine Eltern hatten sich nie auf eine Rasse spezialisiert, sondern ein breit gefächertes Angebot, das ihnen Kunden aus allen Teilen des Landes brachte. Er selbst hatte schon immer Quarter Horses bevorzugt, weil sie ein freundliches Wesen hatten und trotz ihrer Sensibilität starke Nerven aufwiesen. Trotzdem würde er in der Zukunft seinen Eltern nacheifern und das breite Angebot beibehalten.

Vor ihm tauchten das Haupthaus, die Stallgebäude und die ehemalige Mühle auf. Die Mühle war schon seit beinahe hundert Jahren nicht mehr in Betrieb und wurde derzeit umgebaut, denn in ihr würde er in Zukunft wohnen. Zwar hatten seine Eltern ihm angeboten, dass sie dort einziehen und er das Haupthaus würde haben können, doch solange sie gesund waren und das Haus noch versorgen konnten, wollte er sie dort wissen. Wenn sie –in hoffentlich ferner- Zukunft doch etwas Kleineres brauchen würden, würden sie immer noch tauschen können.

Auf dem Hof tummelten sich mehrere Leute. Frank und Henry, die beiden Pferdetrainer, Andy, einer der Reitlehrer und auf den Stufen der Veranda entdeckte er Mel und Nicky. Automatisch drosselte er das Tempo, als er seinen vierjährigen Neffen sah, obwohl Mel ihn eisern festhielt.

Er parkte den Wagen vor den Garagen, stieg aus und hatte die Tür noch nicht geschlossen, da stürmte Nicky auf ihn zu.
„Tyler, Tyler“, rief er so laut, dass seine Stimme sich überschlug. Er breitete lächelnd die Arme aus und fing den kleinen Blitz in Blue Jeans und dreckigem T-Shirt ab. Schwungvoll hob er ihn hoch. „Hey, Champion…“
„Tyler, endlich bist du da. Ich warte schon ewig und ewig.“
„Wow, das ist lange“, spielte er den Bedauernden. „Aber jetzt bin ich ja da.“
„Ja.“ Begeistert strahlte Nicky ihn an.

Mel hatte sie unterdessen erreicht und lächelte nicht minder breit, als ihr Sohn.
„Willkommen Zuhause, großer Bruder.“ Mit einem Arm hielt er Nicky weiterhin sicher oben, den anderen breitete er wieder aus und drückte Mel damit an sich.
„Wie geht’s dir, Nervensäge?“, fragte er.
„Ganz gut, Eierkopf.“ Die Geschwister lachten über die altbekannten und über die Jahre liebgewonnenen Spitznamen, die nicht besonders nett klangen. Sie beide wussten trotzdem um die liebevoll gemeinte Bedeutung.

Natürlich hatten sie sich früher oft und heftig gestritten, wie es unter Geschwistern üblich ist, aber trotzdem waren sie immer für den anderen eingestanden. Wenn es darauf ankam, stärkten sie sich gegenseitig den Rücken und waren bereit, den anderen bis aufs Blut zu verteidigen.

„Tyler?“ Die Stimme seiner Mutter tönte über den Hof. Keine zwei Sekunden später sah er Ellen auf sich zukommen. Mel ließ ihn los und nahm ihm Nicky ab. Und das keinen Moment zu früh, denn seine Arme waren gerade frei, da hing Ellen ihm am Hals.
„Hi, Mom“, grüßte er sie, während er sie gleichzeitig fest an sich drückte.
„Wie geht es dir, Schatz?“ Innerlich verdrehte er die Augen, als er die besorgte Stimme seiner Mutter hörte. Hinter deren Rücken grinste Mel wissend, denn sie war selber oft genug das Opfer von Ellens übertriebenen Mutterinstinkten.
„Mir geht’s gut, Mom“, versicherte er aufrichtig.

Er wurde soweit aus der mütterlichen Umarmung entlassen, dass Ellen ihn forschend ansehen konnte. Lächelnd sah er auf sie hinunter und tatsächlich schien sie zu erkennen, dass es ihm gut ging, denn auch ihre besorgte Miene wandelte sich in ein Lächeln. Natürlich verstand er, dass sie sich Sorgen machte. Um sein Knie, aber ganz besonders um sein Seelenheil, denn im ersten Moment hatte er sein Karriereende nicht ganz so gut aufgenommen und als die Reha sich länger hingezogen hatte, als er es gerne gehabt hätte, war seine Frustrationsgrenze so manches mal überschritten gewesen.

„Es geht mir wirklich gut“, wiederholte er seine Aussage und während sein Blick über die Ranch glitt, stellte er fest, dass er tatsächlich nichts beschönigen musste. Er war nicht nur bereit für einen neuen Lebensabschnitt, er freute sich sogar darauf.

Nicky erlöste ihn ganz aus Ellens Umarmung, denn er wand sich aus Mels Armen, hüpfte stattdessen an ihm auf und ab und fragte: „Willst du das Fohlen sehen? Das ist ganz klein und braun.“ Die offenkundige Begeisterung Nickys zauberte ihm das nächste Lächeln aufs Gesicht und er hob ihn ein weiteres Mal schwungvoll in seine Arme.
„Na sicher will ich es sehen. Hat es schon einen Namen?“
„Nein, mir fällt keiner ein, den alle schön finden“, erklärte Nicky und sah so bedauernd aus, dass Tyler ihn unwillkürlich an sich drückte.
„Lass uns gehen. Vielleicht fällt uns zusammen ein Name ein.“

„Ich koche frischen Kaffee. Kommt doch hinterher ins Haus“, rief seine Mutter ihnen nach, als er sich, weiterhin mit Nicky auf dem Arm, in Bewegung setzte.

*** ***

Mit dem Handrücken rieb er sich den Schweiß von der Stirn. Die erste sommerliche Welle hatte Connecticut erreicht und so sehr er das sonst genoss, war es beim Kisten schleppen eher unangenehm. Sein Vater hatte angeboten, ihm zu helfen, doch das hatte er abgelehnt. Auf der Ranch war genug Arbeit, die getan werden musste und viel hatte er sowieso nicht mitgebracht.

Als festgestanden hatte, dass er neu anfangen musste, hatte er sich für einen kompletten Neuanfang entschieden, auch wenn er auf gewisse Weise in sein altes Leben zurückkehrte. Er hatte nicht nur seine Wohnung in Dallas verkauft, sondern auch seine Möbel und seine Autos. Stattdessen hatte er sich einen Jeep gekauft, den er auf der Ranch besser gebrauchen konnte, als einen teuren, amerikanischen Sportwagen oder auch zwei. Alles, was er behalten hatte, passte in ein paar Kartons und Koffer, die er mit dem Jeep hierher transportiert hatte.

Zu seiner Überraschung waren die Renovierungsarbeiten in der Mühle viel weiter vorangeschritten, als er angenommen hatte. Seine Familie hatte ihn überraschen wollen und das war ihr gelungen. Einzig die Küche musste noch geliefert und eingebaut werden. Essen würde er solange im Haupthaus, was er wahrscheinlich auch noch oft tun würde, wenn er selber eine Küche besaß, da seine Mutter schon immer alle Arbeiter mitverköstigt hatte. Aber ansonsten würde er von Anfang an in der Mühle wohnen können und musste nicht für ein paar Tage oder Wochen in sein altes Kinderzimmer zurückkehren.

Den Jeep hatte er umgeparkt, um mit seinem Gepäck nur kurze Wege zu haben, deshalb war die Arbeit schnell erledigt. Aufgeheizt von der sommerlichen Wärme und der körperlichen Arbeit ging er zum Haupthaus hinüber, um ein Glas selbstgemachte Limonade zu trinken, die seine Mutter im Sommer jeden Tag frisch zubereitete.

Als er das Haus und die Küche betrat, erfasste ihn, wie immer, ein heimeliges Gefühl. Nichts hatte sich hier in den letzten zehn Jahren verändert. Abgesehen von den Fotos, die sich im Haus verteilten und zu denen sich neuere von Mel und ihm, aber vor allem einige von Nicky gesellt hatten.

„Hast du alle Kisten drüben?“, wollte seine Mutter wissen und schenkte ihm ungefragt ein Glas Limonade ein. Nickend nahm er es entgegen und leerte es in einem Zug. Ellen nahm es ihm ab und füllte es ein weiteres Mal. Nachdem er das Glas ein zweites Mal entgegen genommen hatte, setzte er sich an den großen Esstisch aus massiver Eiche. Zehn Stühle standen um den Tisch herum und die wurden auch regelmäßig gebraucht, wenn die Trainer, Stallburschen und Reitlehrer mitaßen. In den nächsten Wochen und Monaten würde Ellen den Tisch sogar ausziehen und weitere Stühle dazustellen müssen, denn über die Sommermonate würden auch Mel und Nicky regelmäßig mitessen.

Seit Mel in der örtlichen Bibliothek arbeitete, ging Nicky in den Kindergarten, doch der hatte über den Sommer geschlossen und Nicky würde deshalb solange von seiner Großmutter betreut werden. Weil es für Mel praktischer war, wenn sie morgens nicht zwischen ihrer Wohnung im Stadtzentrum, der Ranch und der Bibliothek hin- und herfahren musste, wohnten sie und Nicky den Sommer über immer auf der Ranch.

„Und? Gibt es irgendwas Neues?“, riss er sich aus seinen Gedanken. Obwohl sie vom Klatsch und Tratsch nicht allzu viel hielt, war Ellen immer auf dem neuesten Stand und wusste alles, was in der Stadt vor sich ging. Zu seiner Überraschung sah Ellen ihn plötzlich unbehaglich an.
„Ehrlich gesagt, gibt es da etwas, das nicht mehr wirklich neu ist, aber ich wollte es dir nicht am Telefon sagen. Und als du in der Reha warst, hattest du sowieso andere Sorgen.“ Fahrig tastete Ellen an den Trockentüchern herum, die ordentlich in Reih und Glied unter der Spüle hingen
„Mom? Ist irgendwas Schlimmes passiert?“
„Schlimm ist es nicht, auch wenn die meisten im Ort das anders sehen.“ Endlich ließ sie von den Tüchern ab und sah ihn mit einer Mischung aus Vorsicht und Unbehagen an. „Romy ist wieder da.“

Obwohl er es nicht wollte, schlug sein Magen einen Salto. Ellens Blick wurde eindringlich, als er sie sekundenlang nur schweigend anstarrte.
„Romy Montgomery“, schob sie hinterher, als hätte er sie nicht verstanden.
„Ich weiß, wen du meinst“, erwiderte er und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme ganz normal klang. „Wieso hast du mir das nicht sofort erzählt?“
„Na ja…“ Seufzend setzte sie sich neben ihn an den Tisch. „Irgendwie komme ich mir lächerlich vor. Wenn Mels erste große Liebe plötzlich wieder auftauchen würde, nachdem sie jahrelang weg war, würde ich nicht so reagieren und wenn man bedenkt, dass du nie mit Romy zusammen warst…“ Erneut seufzte sie und er musste sich beherrschen, es ihr nicht gleichzutun. „Die erste große Liebe ist etwas Besonderes, das weiß ich, aber sie ist eigentlich nicht mehr als das. Eine erste Liebe, die in der Regel irgendwann verblasst, aber…“ Um Worte ringend brach Ellen ab. Schließlich schüttelte sie unmerklich den Kopf. „Ich weiß, dass zwischen Romy und dir nie etwas war, ihr wart nicht mal befreundet, aber irgendwie war mir immer bewusst, dass deine Gefühle anders waren, als die deiner Schwester oder auch meine, wenn es um die erste Liebe ging. Bei dir war es tiefgehender und… es hielt eine halbe Ewigkeit an.“

Er hatte zwei Super Bowl Ringe in einer seiner Umzugskisten, die er sich hart erkämpft hatte. Er hatte immer wieder Männern gegenüber gestanden, die sechzig, siebzig Pfund mehr wogen als er und hatte die Zusammenstöße mit ihnen unbeschadet überlebt und jetzt saß er hier und ihm zitterten buchstäblich die Knie. Weil seine Mutter ein Mädchen erwähnte, in das er vor einer Ewigkeit mal verliebt gewesen war!

„Wieso ist sie hier?“, fragte er und zum Glück klang seine Stimme weiterhin klar und fest.
„Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Gwen hat sich soweit erholt, ist aber auf Pflege angewiesen und lebt nun im Shady Pines.“ Das Shady Pines war ein Alten- und Pflegeheim am Stadtrand von Bradfort und die Tatsache, dass Romy und Gwen wieder in der Stadt waren, ließ ihn ungläubig den Kopf schütteln.
„Wieso sind sie hierher gekommen? Warum kein Pflegeheim im Bridgeport oder wo auch immer sie vorher gewohnt haben?“
„Das fragt sich die ganze Stadt“, antwortete Ellen achselzuckend.

Sie seufzte schon wieder und drückte gleichzeitig seine Hand, die riesig unter ihrer wirkte.
„Ich wollte dich nur vorwarnen, denn du willst bestimmt bald zu Hal, um einen Burger zu essen und… na ja, Romy arbeitet dort als Bedienung.“
„Oh“, entfuhr es ihm ungewollt. Verlegenheit wallte in ihm auf, als er das verständnisvolle Lächeln seiner Mutter sah.

Er ignorierte seine Verlegenheit und die Tatsache, dass es noch schlimmer wurde, als er aufstand und murmelte: „Ich gehe meine Kisten auspacken.“ Verschlimmert wurde seine Verlegenheit, weil er merkte, dass seine Mutter ihn durchschaute. Die Neuigkeit haute ihn tatsächlich so sehr um, wie sie befürchtet hatte. Das Ganze erschien ihm so lächerlich, schließlich hatte er Romy seit zehn Jahren nicht gesehen und sie war nicht mehr gewesen, als ein Jugendschwarm, der ihn nie wirklich beachtet hatte.

Ellens Blick bohrte sich stechend in seinen Nacken, doch er drehte sich trotzdem nicht um, als er die Küche verließ. Stattdessen verließ er schnellstmöglich, ohne dass es nach Flucht aussah, das Haus und ging zur Mühle hinüber. Dort angekommen, setzte er sich auf die Stufen, statt wie geplant seine Kisten auszupacken.

Aus dem Stall hörte er das Wiehern eines Pferdes, auf das einige, auf den Weiden stehende, Pferde antworteten, außerdem tönte das Geräusch von Hufen, die beschlagen wurden, über den Hof. Überall liefen Leute herum, denn der Reitunterricht würde in wenigen Minuten beginnen. Fröhliches Gelächter der Kinder, die sich auf den Unterricht freuten, erklang immer wieder, ebenso wie die ruhigen und präzisen Anweisungen von Andy, der heute den Unterricht abhielt und im Moment dabei war, seinen Schülern beim Satteln der Pferde zu helfen.

All das sah und hörte er, nahm es aber nicht bewusst wahr. Seine Gedanken kreisten um die vier Worte, die ihn beinahe umgehauen hatten. Romy ist wieder da.

Es war vollkommen lächerlich, dass diese Information ihn so sehr umhauen konnte. Nach so vielen Jahren. Es waren fast auf den Tag genau zehn Jahre, dass er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Es war der Tag der Abschlussfeier gewesen. Doch er hatte sie nicht dort gesehen, denn sie hatte an der Feier nicht teilgenommen. Stattdessen hatte sie an diesem Tag die Stadt verlassen. Und niemand hatte damit gerechnet sie jemals wiederzusehen. Doch jetzt war sie wieder da…

Romina Grace Montgomery war vermutlich das schönste Mädchen, das Bradfort jemals gesehen hatte. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, war er in sie verliebt gewesen. Selbst zu der Zeit, als er Mädchen grundsätzlich doof gefunden hatte, hatte das nicht für Romy gegolten. Er erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen und er würde diesen Tag wahrscheinlich niemals vergessen können. Es war der erste Tag in der Vorschule gewesen, als Romy in einem hellblauen Kleid das Klassenzimmer betreten hatte. Ob ihm zuerst die kastanienfarbenen Locken oder die grünen Augen aufgefallen waren, wusste er heute nicht mehr, aber beides hatte ihn in all den Jahren, die sie zusammen zur Schule gegangen waren, in ihren Bann gezogen. Und dann war da dieses Lächeln gewesen, das selbst den hellsten Raum noch mehr zu erhellen schien.

Mit jedem Jahr war sie noch hübscher geworden und die Zahl ihrer Verehrer war stetig gewachsen. Mit Beginn der High School hatte alles, was Romy betraf, den Höhepunkt erreicht. Sie war der Kopf der exklusivsten Clique der Stadt gewesen, so ziemlich jeder Junge hatte davon geträumt, ihr Freund zu sein und noch vor den Weihnachtsferien war sie der Head Cheerleader an der Bradfort High gewesen.

All das könnte den Eindruck erwecken, dass Romy arrogant oder zickig gewesen war, doch das stimmte nicht. Zwar waren sie nie befreundet gewesen, doch sie hatten in der High School drei gemeinsame Kurse gehabt und wenn man täglich drei Stunden in einem Raum saß, konnte man sich, seiner Meinung nach, ein Urteil über eine Person bilden. Vor allem, weil Romy eine aktive Schülerin gewesen war, die sich häufig zu Wort gemeldet hatte und sie hatte niemals einen unsympathischen Eindruck hinterlassen.

Das hielt er beinahe für ein Wunder, wenn man bedachte, wie sie aufgewachsen war. Sie war das einzige Kind von Gwendolyn und Carl Montgomery, die beide den Ton in der Stadt angegeben hatten. Carl dadurch, dass er der Hauptarbeitgeber der Stadt gewesen war und Gwen hatte gesellschaftlich den Ton angegeben. Sie hatte entschieden welche Feste gefeiert wurden, wer zu ihren Teegesellschaften eingeladen worden war, hatte sich nicht geehrt fühlen dürfen, sondern hatte es gemusst und Romy war ihre Kronprinzessin gewesen. Sie sollte irgendwann an Gwens Stelle treten, selbstverständlich mit einem akzeptablen Ehemann an der Seite, der irgendwann das höchst lukrative Familiengeschäft hatte übernehmen sollen.

Das waren die Pläne gewesen, doch die waren im März vor zehn Jahren ganz plötzlich gescheitert und das durch Carls Schuld. Als plötzlich die Steuerfahndung vor der Tür gestanden und alles beschlagnahmt hatte. Carl war verhaftet worden und seine Frau und seine Tochter hatten vor dem Nichts gestanden. Buchstäblich vor dem Nichts, denn ihnen war nicht nur alles Materielle genommen worden, sondern auch ihr gesellschaftlicher Status.

Dank Carl hatten viele Bürger Bradforts ihre Jobs verloren und nicht wenige hatten um ihre Existenz bangen müssen. Dies hatten sie Gwen spüren lassen und auch Romy war nur noch geächtet worden, obwohl sie nichts Falsches getan hatte. Innerhalb weniger Tage war Romy nicht mehr die Königin der High School gewesen, sondern das Aschenputtel, dem man das Happy End verwehrte.

Unbewusst schüttelte er den Kopf, um die Bilder der Vergangenheit zu vertreiben, die er so glasklar vor seinem inneren Auge sah, als wäre es nicht schon eine Ewigkeit her, dass all das geschehen war. So unbewusst, wie er den Kopf geschüttelt hatte, seufzte er und erhob sich von den Stufen. Es wurde Zeit, dass er seine Sachen auspackte, statt längst vergangenen Zeiten nachzuhängen.

*** ***
 
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