Teestunde
von OfficerSnickers
Kurzbeschreibung
„Ich will unser Schicksal verändern. Bitte reicht mir dazu eure Hand.“ Isabella hat es geschafft, vertrauenswürdige Komplizinen auf ihre Seite zu ziehen, um die Farm Grace Field House in zwei Jahren zu zerstören. Geködert mit dem Wissen um das Leben ihrer Kinder kehren die Schwestern eine nach der anderen zu ihr zurück, in der Erwartung eines anregenden Tees, köstlichem Gebäck und vielen spannenden Geheimnissen.
GeschichteFamilie, Schmerz/Trost / P12 / Gen
Isabella
Jessica
Matilda
Scarlet
Sienna
22.02.2022
22.02.2022
5
10.865
2
22.02.2022
1.758
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A/N: Das hier sollte eigentlich nur ein kleiner Oneshot aus einer Gedankenspielerei heraus werden. Und was ist passiert? Dieses Monstrum von Fanfiktion. Dabei wollte ich einfach nur ein bisschen was über die Wicked Witches of the West die Schwestern aus Grace Field House schreiben. Sei es, wie es sei, nun sind es eben ein paar mehr Kapitel mehr geworden.
Kleiner Tipp von mir: Kocht euch euren Lieblingstee, schnappt euch etwas Leckeres zu Knabbern und versucht zu genießen, was auch immer das hier ist – alle Kapitel auf einmal oder eines nach dem anderen, ganz wie es euch beliebt. Ich wünsche euch ganz viel Spaß dabei.
OfficerSnickers
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~ Grüner Tee & Biskuitküchlein ~
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Scarlet war die Erste, die zu ihr kam.
Isabella hatte sie bereits in ihrem Arbeitszimmer erwartet; Vorkehrungen für die nächsten Monate waren zu treffen, was die logistische Gestaltung von Grace Field House anging. Innerhalb der straffen Hierarchie hatte Scarlet sich zügig eine unentbehrliche Position gesichert, indem sie resourcenbewusst mit allem handzuhaben wusste, was das Hauptquartier tagtäglich benötigte – Nahrung, Kleidung, Hygiene- und Medizinartikel, sonstige Gebrauchsgegenstände. Selbst die Versorgung der Anlagen unterstand ihrem Kommando, und Isabella, die so gesehen jahrelang von ihr beliefert worden war, wollte sich nun selbst ein Bild von Scarlets Fähigkeiten machen.
„Guten Tag, Großmutter“, grüßte die Frau mit der dunklen Haut und dem ordentlich frisierten schwarzem Haar; in der üblichen Tracht einer Schwester aus Kragenkleid und Schürze stand sie da, den Rücken gerade durchgedrückt, eine dicke Mappe unter dem Arm geklemmt.
„Komm doch herein.“ Isabella wies ihr einen Platz am Tisch zu, auf dem sich bereits Unterlagen befanden. Es war erst ein knapper Monat seit ihrer Berufung zur Großmutter vergangen, sodass ihr noch vieles neu war in den Abläufen innerhalb des Hauptquartiers. Ein Glück konnte sie so viele treue, ergebene Schwestern unter sich ihr eigen nennen, die sie niemals hintergehen würden.
„Etwas Tee?“, fragte Isabella und stellte vor Scarlet eine Tasse samt Unterteller hin, ohne eine Antwort abzuwarten, und ebenso vor ihrem Platz der Jüngeren gegenüber. Ein frischer, leicht bitterer Geruch erfüllte die Luft ob des Grünen Tees in ihren Porzellantassen. Mit einer lockeren Handbewegung deutete Isabella auf der sich auf dem Tisch befindlichen Etagere aus geschwungenem Stahl, die heute mit Biskuitküchlein bestückt war, in die getrocknete Früchte eingebacken worden waren. Und auch wenn es in Teekennerkreisen vermutlich als Sakrileg gelten mochte, hatte sie einige Stangen mit braunem Rohrzucker dazulegen lassen, um die Bitterkeit des Tees ein wenig zu versüßen.
„Bedien dich, wenn du möchtest.“
Scarlet wirkte etwas unschlüssig und schlug stattdessen ihre lederne Mappe auf, mit allerlei Papieren und noch mehr Zahlen, Tabellen und Rechnungen darin.
„Bezüglich des zweiten Quartals würde ich gerne die letzten Details klären“, sagte Scarlet und begann, die Zettel vor Isabella auszubreiten, die sich jedes kleinste Detail erklären ließ, selber Anmerkungen machte und die vorab getroffenen Entscheidungen allesamt abwog. Die Zeit verging schnell trotz des insgesamt trockenen Themas, auch weil Scarlet gute Vorarbeit geleistet hatte und sich Isabellas Vorschlägen gegenüber sehr offen zeigte. Allein, dass der Blick der Jüngeren immer wieder durch das Zimmer wanderte und es manchmal Sekunden brauchte, bis sie den roten Faden zurückfand, das entging Isabella keineswegs.
Als sie fertig waren ordnete Scarlet ihre Papiere zurück in die Ledermappe, während Isabella den letzten Schluck ihres Tees genoss. Dann, Schweigen.
„Möchtest du noch eine Tasse haben?“, fragte die Ältere freundlich lächelnd. Scarlet schüttelte den Kopf.
„Ich sollte gehen… wir bekommen heute noch eine Lieferung neuer Kleidung...“ Trotz ihrer Aussage blieb sie sitzen und schielte wie zuvor auf ein schweres, altes Buch, das Isabella neben sich gelegt hatte und auf dem eine ihrer schmalen Hände ruhte. Die Ecken des Buches waren bereits reichlich abgenutzt, die Seiten von außen vergilbt, und der Ledereinband hatte auch schon viele Jahre an sich vorüberziehen sehen. Isabellas Lächeln wurde noch eine Spur spitzbübischer, als sie Scarlet das Buch reichte, was sie mit offenstehendem Mund entgegennahm.
„Nur zu. Schau ruhig hinein.“
„W-wie bitte?“
„Ich weiß doch, dass es dich interessiert.“ Isabella erhob sich aus ihrem Stuhl und ging zur Anrichte, um die Teekanne vom Stövchen zu nehmen und in ihrer beider Teetassen einen weiteren Schluck der dampfenden Flüssigkeit einzuschenken. Einmal mehr umfing sie der herbe Geruch von Blättern und Kräutern. „Bei unserem letzten Zusammentreffen mit deinen Kameradinnen eröffnete ich euch, dass eure Kinder noch am Leben seien. Ihr konntet es nachprüfen, anhand der Aufzeichnungen aller in Grace Field geborenen Kinder, samt ihres Status. Doch die Zeit war damals knapp. Ihr konntet nicht erfahren, wie sie heißen, ob sie es nach draußen geschafft haben – und vor allem nicht, was für Menschen sie sind.“ In einer galanten Bewegung setzte Isabella sich wieder hin, die Falten ihres Kleides glattstreichend. Scarlet war noch immer wie erstarrt, aber drückte das Buch an sich, wenn wohl auch nur unbewusst.
„Schau ruhig nach. Du kannst mir auch so viele Fragen stellen, wie du möchtest.“
Gespannte Sekunden vergingen, in denen die beiden Frauen allein einander in die Augen blickten – keine wagte zu zwinkern, auch nur einen Muskel im Gesicht zu rühren, als wäre dies ein Kampf um die eigene Integrität.
Da gab Scarlet auf und legte das Buch vor sich auf den Tisch, schlug die Seiten auf und suchte nach ihrer eigenen Identifikationsnummer, die sie am Halse trug, hinter der die ihres Kindes vermerkt war.
„55294...“, las die Jüngere schließlich vor. „Am Leben. Anlage 3. Nicht zur Ernte zur Verfügung stehend.“
Isabella nickte. Sie hatte hinter jedem ihrer Ausbrecher einen kleinen Vermerk hinterlassen, schon als Erinnerung an sich selbst, nie wieder zu verzweifeln und aufzugeben, sich nie wieder jemanden zu beugen, so, wie ihre Kinder es ihr gelehrt hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie weit die fünfzehn inzwischen gekommen waren, ob sie denn wirklich noch am Leben waren wie erhofft, doch wenn sie ehrlich war, wollte sie nicht an den schlimmsten anzunehmenden Fall glauben. Solange Emma bei ihnen war würde sie niemanden sterben lassen, und sie würde auch niemanden hier in Grace Field zurücklassen, für immer. Ihre Kinder würden zurückkommen, irgendwann. Und Isabella würde sie mit offenen Armen empfangen.
Bis dahin galt es Vertraute unter sich zu scharen, und das konnte sie am besten, indem sie ihnen gab, wonach es diesen verlangte – Informationen. Details über die Kinder, die sie hatten hergeben müssen, die niemals wirklich die ihrigen gewesen waren und an denen sie nichtsdestotrotz hingen wie nur wahre Mütter es konnten.
„Wie war… wie ist es so gewesen?“, fragte Scarlet leise, das Buch umklammernd, den Kopf gesenkt haltend. Ehe sie antwortete, nahm Isabella einen weiteren Schluck Tee.
„55294 ist ein Junge. Ich habe ihn Thoma genannt.“
Scarlets Kopf schoss nach oben. „Ein… ungewöhnlicher Name.“
Isabella verkniff sich zu sagen, dass die prägnante Frisur des Kindes sie damals an eine Tomate erinnert hatte, und sein vom Weinen tomatenrotes Gesicht seinen Beitrag dazu geleistet hatte, dass sie ihn einfach nach dem Nachtschattengewächs hatte benennen müssen. Im Nachhinein erst war ihr die Ironie bewusst geworden, ein Kind, das allein zum Verzehr gezüchtet worden war, wie ein Nahrungsmittel zu bezeichnen.
„Thoma war schon als kleines Baby sehr aufgeweckt und unternehmungsfreudig. Ihn zum Stillsitzen zu bewegen war manches Mal ein Ding der Unmöglichkeit und er hatte ständig Flausen im Kopf. Zusammen mit seinem besten Freund Lani hat er jeden Tag neue Dummheiten ausgeheckt. Die beiden waren wirklich wie Pech und Schwefel.“
Scarlet lachte fassungslos auf. „Wirklich? Das hört sich gar nicht an, als wäre er von mir!“, sagte sie. „Ich war als Kind immer ganz brav und folgsam!“
„Aber es ist die Wahrheit. Und auch wenn Thoma mir bestimmt einige verfrühte graue Haare eingebracht hat, war er auch immer ein fröhlicher, lebenslustiger Junge. Er hat mich oft zum Lachen gebracht, auch wenn mir einmal nicht danach zumute war.“ Isabellas Lächeln wurde schmaler. „Ich kann nicht beurteilen, inwieweit er bei der Flucht der Kinder involviert gewesen ist. Im Rückblick denke ich, wusste er schon länger über die Wahrheit hinter dem Waisenhaus Bescheid, doch ließ sich mir gegenüber nichts anmerken. Meine Aufmerksamkeit lag damals beinahe ausschließlich auf den Initiatoren der Flucht… ich hatte wirklich keine Ahnung, was in Thoma vorging in den letzten Monaten.“
Scarlet wirkte nachdenklich, geradezu melancholisch. „Als ich damals adoptiert werden sollte“, sie zischte voller Hohn bei diesem einem Wort, das wohl die größte Lüge ihres Lebens gewesen war, „und mich den Monstern sowie der damaligen Großmutter gegenüberfand, riss es mir den Boden unter den Füßen fort. Ich dachte lange noch beim Einschlafen, morgen würde ich endlich aus diesem Albtraum erwachen… nur um jeden Tag aufs Neue enttäuscht zu werden. Es gelang mir erst sehr viel später, die Wahrheit zu akzeptieren. Da muss ich mindestens doppelt so alt gewesen sein wie… wie Thoma.“ Breit grinsend strich sie sich über ihre Lippen, als sie zum ersten Mal den Namen ihres Sohnes aussprach. Es schien sie ungemein glücklich zu machen.
„Wenn ich recht überlege“, Isabella nahm sich eines der Fruchtküchlein und wickelte dieses aus dem geblümten Backpapier aus, „habe ich sogar noch mitgeholfen, die Flucht der Kinder vorzubereiten. Thoma und sein Freund Lani ließen über die Wintermonate gerne Flaschenraketen aufsteigen, mit denen sie in besagter Nacht wohl Seile über den Abgrund spannten. Ich habe ihnen auch noch erklärt, wie sie die Gesetze der Physik ausnutzen können, um die größtmögliche Reichweite ihrer Raketen zu erlangen. Nichts haben sie sich dabei in meinem Beisein anmerken lassen, keine Angst, keine Wut, keine Nervosität. Thoma hat wirklich Nerven aus Stahl.“
„Wie sieht er aus?“, fragte Scarlet weiter.
„Er ist wesentlich heller als du“, antwortete Isabella, woraufhin Scarlet die Stirn runzelte. Keine von ihnen wusste um die andere genetische Hälfte ihrer Kinder, sodass es wie in diesem Fall schwer fallen mochte, Ähnlichkeiten herauszusehen. Doch nichtsdestotrotz gab es sie. „Die Haare hat er eindeutig von dir. Die Farbe, die Glätte. Und Thoma hat deine Augen. Ganz eindeutig.“
Geradezu verlegen zupfte Scarlet an einer ihrer kinnlangen Haarspitzen, während sie die Augen niederschlug. Ja, diese Mandelform, dazu die langen, dichten Wimpern, die waren Thoma wie aus dem Gesicht geschnitten. Wobei, in diesem Fall verhielt es sich wohl eher andersherum.
„Ich… ich denke, ich sollte dann mal gehen“, sagte Scarlet schließlich und erhob sich, ihre Mappe an die Brust drückend. Isabella verstand ihren plötzlichen Sinneswandel. Es war viel, das sie nun erst einmal zu verarbeiten hatte, und es gab auch noch anderweitig genug zu tun, als in einer nie stattgefundenen Vergangenheit zu schwelgen.
Die Ältere geleitete Scarlet zur Tür. „Wenn du noch mehr erfahren möchtest, weißt du, wo du mich findest“, sagte Isabella charmant und öffnete das Blatt im gleichen Atemzug. Scarlet lächelte sie an.
„Danke, Großmutter. Für alles.“
„Immer wieder gern.“
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