Dortmunder Durcheinander Vol. 2
von Arkia
Kurzbeschreibung
Hier kommt eine weitere Sammlung von kleinen und etwas größeren Geschichten zum Tatort Dortmund, nähere Informationen finden sich wieder in den Headern der einzelnen Kapitel.
SammlungAllgemein / P16 / Gen
Kriminalhauptkommissar Jan Pawlak
Kriminalhauptkommissar Peter Faber
Kriminalhauptkommissarin Martina Bönisch
Kriminalhauptkommissarin Rosa Herzog
20.02.2022
07.05.2023
15
102.237
4
20.02.2022
7.226
Titel: Die Bürden des Lebens Teil I
Fandom: Tatort Dortmund
Episodenbezug: Masken
Rating: P 16
Genre: Freundschaft, Kollegialität
Länge: 6950 Wörter
Beta: nein
Zusammenfassung: Faber hat beim Fall des überfahrenen Kollegen, Nicolas Schlüter, nicht nur mit seinen Gefühlen gegenüber Katrin Steinmann zu kämpfen, sondern auch mit Martina Bönisch. Und dann sitzt plötzlich Besuch, der sein ganz eigenes Päckchen zu tragen hat, vor der Tür.
A/N: Es ist einmal mehr ein Monster von einem Kapitel geworden (15k *hust*), von daher gibt es die zweite Hälfte nächsten Sonntag.
* kennzeichnet Zitate aus „Masken“
Warnung: Depressionen
Scheiße!
Faber dreht den Schlüssel erneut im Schloss. Wieder gibt der Manta nicht ein einziges Geräusch von sich und das, obwohl er ihn doch erst vor drei Wochen aus der Werkstatt geholt hat. Fast schon routiniert fischt er das Kärtchen mit den Kontaktdaten aus dem Armaturenfach auf der Beifahrerseite. Warum er ihn jetzt in die gleiche Werkstatt wie beim letzten Mal bringen will? Na ja, sie machen gute Arbeit, haben ihn beim Abholen schon darauf hingewiesen, dass er vermutlich nicht zum letzten Mal da gewesen ist und... einige Kontakte sollte man sich warmhalten, auch wenn es welche in die Dortmunder Unterwelt sind.
Faber schlägt die Beifahrertür des Abschleppwagens zu und fragt dann Meyer, der sich seiner angenommen hat: „Wo ist denn der Boss?“
Jürgen Meyer grinst und erkundigt sich dann: „Privat oder beruflich?“
Faber räuspert sich und antwortet dann: „Beruflich.“
Meyer hebt kurz in einer Art „Aha, so ist das“-Entgegnung das Kinn und meint: „Im Clubhaus.“ Faber läuft über den Hof der Werkstatt und betritt dann die heiligen Hallen von SAMDOR.
Im Hauptraum ist niemand zu sehen und da Faber Feierabend hat – zumindest dann, wenn nicht doch noch eine Leiche auftauchen sollte –, muss er ja nicht hetzen. Sein Blick fällt auf die Membergallerie. Er streift das schwarz-weiße Foto des ehemaligen Präsidenten und dann heftet sich sein Blick auf das des damals auch verstorbenen Prospects. Faber spürt einen Kloß im Hals. Nicht nur, weil die Erinnerung an die damalige Ermittlung immer ein ganzes Konglomerat an Gefühlen an die Oberfläche spült, sondern vor allem deswegen, weil sich seit dem letzten Besuch in Bezug auf Hannes Jensen viel verändert hat.
Faber sieht ihn vor seinem inneren Auge ganz deutlich vor sich, damals bei der ersten Befragung im Präsidium: Ein Häufchen Elend, das seinen Ziehvater verloren hat, den einzigen Menschen, der ihn aus der „Afghanistanscheiße“, wie er es damals selbst formuliert hat, herausreißen konnte. Wie hätte Jensen wohl auf die Bilder des letzten Monats reagiert? Er war nach seinem Einsatz dort vollkommen am Ende gewesen. Wie hätte er es aufgenommen, dass 20 Jahre im Grunde genommen umsonst gewesen sind? Dass er und einige seiner Kameraden für nichts seelisch wie körperlich zu Krüppeln gemacht worden sind? Faber kann sich diese Fragen nicht beantworten. Aber irgendwie ist er froh, dass Jensen das jetzt nicht hat sehen müssen, das alles: den schnellen Einmarsch der Taliban, die Entrechtung der Frauen und Mädchen sowie die chaotische Evakuierungsaktion, bei der sich völlig verzweifelte Menschen an ein startendes Flugzeug geklammert haben und dann kurz nach dem Start wie kleine schwarze Punkte hinabgefallen sind als sei dies alles ein Zeichentrickfilm.
Faber schließt die Augen und drückt mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand gegen die geschlossenen Lider. Und er wird jetzt für den Autotraum seiner Jugend erneut vermutlich eine hohe dreistellige Summe auf den Tisch legen, die eine Familie in Afghanistan was weiß er wie lange ernähren könnte. Wie heißt dieses neumodische Wort dafür, das er letztens in einem Podcast gehört hat, noch? Ach ja: First-World-Problem. Und dieses Erste-Welt-Problems wird sich jetzt durch Jürgen Meyer angenommen.
„Herr Faber?“, erschallt eine Stimme in seinem Rücken.
Faber nimmt die Hand von den Augen, öffnet diese und dreht sich um. „Tach, Herr Stern, Tach, Herr Phan“, grüßt Faber ganz formell.
Stern grinst. „Hat der Manta wieder schlapp gemacht?“, erkundigt er sich.
Faber nickt nur.
Phan schaut seinen Freund und Boss mit sorgenvollem Blick an und meint dann zu Faber: „Aber deswegen sind Sie nicht hier drin, oder?“
„Nein“, bestätigt Faber, „es geht um die Frau meines Kollegen.“
Phan legt Stern eine Hand auf die Schulter. „Ich mach' das. Fahr du zu deiner Frau und deinem Kind!“
Stern nickt merklich besorgt und sagt dann leise: „Is' wohl besser so.“
Faber erkennt die Stimmlage; was immer es ist, es ist ernst. „Haben sie sich mit Corona angesteckt?“, fragt er mitfühlend.
Stern lacht, aber es klingt abfällig, ja beinahe zynisch. Dann antwortet er: „So 'was in der Art. Noodles war ja nur ein paar Monate Feindbild Nummer eins, jetzt bin ich es eben wieder.“ Er wendet sich zum Gehen und meint in Richtung Phan: „Kannst ihm ruhig alles erzählen.“
Dann ist der Präsident der Sons auch schon verschwunden.
Faber befeuchtet sich die Lippen. „Wie hat er das gemeint?“
Keno Phan räuspert sich. „Am Anfang der Pandemie war ich als Asiate das Feindbild, jetzt ist er es wieder, als Jude.“ Phan blickt düster in den Raum. „Mit dem einzigen Unterschied, dass es immer schlimmer wird.“
„Seine Familie wurde bedroht?“, hakt Faber nach.
„Ich würde ganz eindeutig sagen ja, aber das Rechtssystem sieht es wohl anders.“
„Was ist passiert?“, erkundigt sich Faber mit belegter Stimme.
„Wenn jede Woche Zigtausende auf die Straße gehen und zwar mit Transparenten wie 'Damals die Juden, heute die Ungeimpften' oder 'Coronadiktatur', dann kann man sich als Angehöriger einer Familie, in deren Großelterngeneration nur ein Mitglied überlebt hat, weil sich – Zitat von Sterni – 'die anderen sprichwörtlich in Rauch aufgelöst haben' schon bedroht fühlen. Und wenn Leute aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft dann mit solchen Leuten demonstrieren und sich gegenüber der...“ Hier macht Phan pantomimische Gänsefüßchen in die Luft. „...'Lügenpresse' äußern, sie seien nicht für, aber auch nicht gegen Nazis, dann kann man 'mal verdammt viel Bammel kriegen. Mal ganz zu schweigen davon, dass 'Jude' heute wieder ein gebräuchliches Schimpfwort auf Schulhöfen in diesem Land ist. Zu meiner Zeit war es 'Schwuchtel'. Auch nicht besser, aber 'mal ehrlich: Warum geht die Regierung des Staates nicht dagegen vor? Das ist ganz eindeutig Verharmlosung des Holocausts!“
„Ich glaube, da ist gerade 'was in der Mache“, entgegnet Faber kleinlaut. Denn als Repräsentant dieses Staates fühlt er sich jetzt hundeelend.
Phan atmet tief durch. „Aber genug jetzt davon. Sie sind wegen Pawlaks Frau hier.“
Faber nickt. „Genau.“
Phan schüttelt den Kopf. „Leider nichts Neues. Wir haben überall, wo es uns möglich ist, Erkundigungen eingezogen. Aber wir halten natürlich weiterhin die Augen offen.“
„Danke“, entgegnet Faber und tritt wieder hinaus an die frische Luft.
„Bezüglich des Wagens“, erklingt plötzlich die Stimme von Meyer, „melden wir uns in 'ner guten Woche.“
„Erst in 'ner Woche?“, fragt Faber geschockt.
„Sie wollen doch ein ordentliches originales Ersatzteil“, erklärt Meyer, „das dauert.“
Faber lässt den Blick zum Clubhaus schweifen und blickt dann Meyer wieder an. „Und da kann man nicht so 'n bisschen was deichseln?“, fragt er nach.
Meyer hat genau verstanden, was er meint. Er grinst. „Is' nicht unser Metier.“
Faber seufzt. „Ist gut. Also in 'ner guten Woche dann.“ Faber hebt zum Abschied die Hand und ruft sich ein Taxi.
Zu Hause besieht er sich die neue beigefarbene Schlafcouch. Zumindest da ist der Schritt in ein neues Leben getan, aber von seiner Kleidung, da kann er sich immer noch nicht trennen. Es fühlt sich so an, als würde er damit auch ein Stück von Susanne und Leonie aus seinem Leben verbannen. Faber überlegt, ob er Birger anrufen soll. Die Begegnung eben im Clubhaus hat ihn ziemlich 'runtergezogen, und Birger kann ihn einfach gut aufheitern oder aber zumindest die schlechten Gefühle mit ihm gut zu zweit ertragen. Aber er war ja erst vor einem Monat hier und beim letzten Telefonat vor drei Wochen hat er ziemlich angespannt geklungen und was von Stress im Job gemurmelt. Aber vielleicht kann Faber ja wenigstens Frau Bönisch Bescheid geben und fragen, ob sie ihn morgen früh abholen kann. Genau das macht er dann auch.
Das frühe Klingeln seines Handy am nächsten Morgen und Rosas Mitteilung geben ihm zu verstehen, dass es ein langer Tag werden wird. Keine Zeit für 'nen Kaffee, zumindest für keinen selbstgekochten. Faber absolviert das morgendliche Programm im Schnelldurchlauf und holt sich dann unten an dem Kiosk einen Coffee-to-go. Mit dem heißen Becher wartet er auf Martina Bönisch, die kurz darauf in ihrem Dienstwagen vor ihm hält.
„Morgen“, grüßt er und steigt ein.
„Morgen“, entgegnet sie. Es klingt nicht gerade fröhlich.
„'N Kollege also, ja?“, hakt Faber nach, um irgendwie ein Gespräch zu beginnen. Denn er hat von Rosa im Grunde genommen schon alle Infos erhalten.
„Mhm“, brummt Frau Bönisch nur.
Offensichtlich ist ihr nicht nach Reden zumute. Faber seufzt.
Dann eben nicht.
Er nippt vorsichtig an seinem Kaffee.
Es dämmert.
Zeit loszugehen!, denkt Faber voller Tatendrang.
Der Tag ist ermittlungstechnisch zwar nicht gerade aufschlussreich gewesen, aber in vielen anderen Belangen. Da ist zum Beispiel das komische Verhältnis von Katrin Steinmann und Martina Bönisch, das Faber nicht ergründen kann. Und er kann sich die Frage nicht beantworten, ob er es sich aus beruflichem Interesse mental notiert hat, dass sich Martina und Katrin morgen um acht privat treffen wollen. Der Termin jetzt, der ist ganz eindeutig ein Mix aus privat und beruflich. Vielleicht hat Katrin ja etwas herausbekommen und außerdem findet er sie sympathisch. Dass sie sich kämpferisch vor ihre Leute gestellt hat, das hat ihm gefallen.
Hat 'was von Martina, denkt das verliebte Ich ganz automatisch.
Und mit Haller ist sie außer Reichweite, setzt der Rationalist dagegen.
Dann 'mal los!
In der Stadt dauert es nicht lange, bis er sie gefunden hat. Überrascht ist sie ihrem Gesichtsausdruck nach über sein Erscheinen nicht, was Katrin dann auch verbal bestätigt.
„Ich hätt' Sie ja eher erwartet.“*
„Und? Was 'rausgefunden?“*, erkundigt Faber sich.
„Nee“*, entgegnet sie, aber es klingt nicht unfreundlich.
„Was war denn Nicolas Schlüter für einer?“*, fragt Faber nach.
„Der hatte ständig das Gefühl, sich beweisen zu müssen.“*
Das kennst du doch irgendwoher, meint die innere Stimme.
Um sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen und sich außerdem Zeit für eine bessere Antwort zu verschaffen, erwidert Faber daraufhin lediglich: „Hm.“*
„Das sagt man übrigens auch über Sie“*, erklärt Katrin daraufhin schmunzelnd. Na super.
Also wieder das gleiche Spiel, dieses Mal ist Fabers Entgegnung darauf ein simples: „Aha.“* Aber ihre Art lässt Faber mutiger werden und so fragt er nach: „Und was sagt der Polizeifunk sonst noch über mich?“*
„Na ja, das Sie 'n Knall haben und dass man mit Ihnen nicht arbeiten kann.“*
Faber bleibt stehen und hebt warnend den rechten Zeigefinger. „Moment, das stimmt nicht. Ich hab' 'nen Riesenknall“*, verbessert er sie gut gelaunt,
„Na dann“*, meint sie lachend und läuft in Richtung Streifenwagen.
Hast du da eben geflirtet?, hakt die innere Stimme nach und Faber hört ganz deutlich Birgers schwedischen Akzent in dieser mitschwingen.
Nee, wehrt er zum Glück nur in Gedanken ab.
Lögnare!, entgegnet die Birgerstimme.
Ich bin kein Lügner!, erwidert er erneut in Gedanken und öffnet die Beifahrertür des Streifenwagens.
Katrin startet den Wagen und Faber ist froh, dass sich sein Arbeits-Ich wieder meldet. Da ist etwas, das Katrin eben gesagt hat, das irgendwie nicht passt. Ah ja, Rosa hat heute berichtet, dass Paul Lohse bei der Beförderung übergangen worden ist. Merkwürdig, denn aus seiner eigenen Erfahrung und seinen Psychositzungen mit Lich weiß Faber ja, dass diese Eigenschaft, sich immer beweisen zu müssen, nicht gerade gut bei einem Führungsposten ist.
„Warum haben Sie Nicolas Schlüter zur Beförderung vorgeschlagen und nicht Paul Lohse?“*, erkundigt er sich also.
„Nicolas war engagierter“*, entgegnet Katrin knapp.
Das bringt Faber auch nicht weiter. „Mochten Sie ihn?“*, bohrt er nach.
„War'n guter Teamplayer... hatte Führungsqualitäten“*, entgegnet sie, erneut kurz angebunden.
Aber dieses Mal hilft Faber zumindest ihre Antwort, denn ein ganz eindeutiges Nein spricht daraus.
Sie blickt ihn an. „Aus dem hätte richtig 'was werden können.“* Die anschließende Kopfbewegung fügt ihren Worten ein nonverbales „Aber so...“ hinzu.
Bevor Faber sich noch intensiver mit den erhaltenen Antworten beschäftigen kann, meldet sich das Funkgerät.
„Hier ist die Leitstelle, in der Burgunderstraße haben Nachbarn Schreie aus einer Wohnung gemeldet.“*
„Bei Wolfberg?“*, hakt Katrin nach.
„Ja“*, kommt die Bestätigung irgendwie fatalistisch aus dem Funkgerät.
„Danke.“*
Die Tür zur Wohnung der Wolfbergs schließt sich wieder hinter ihnen. Und plötzlich ist Faber erneut glasklar, warum er damals zur Kripo gewechselt ist. Weil man da erst kommt, wenn alles vorbei ist, weil man da nicht mit ansehen muss, wie ein Leben Stück für Stück ausgehaucht wird und man gegen dieses schleichende Aushauchen nichts tun kann, weil das Opfer die Hilfe verweigert. Streife ist schon das Härteste, was die Polizei zu bieten hat. Aber zum Glück für Faber übernimmt wieder das Kriminaler-Ich. Mal sehen, ob er so noch etwas über Katrin in Erfahrung bringen kann.
„Also, dass die den Kerl nicht' zum Teufel jagt und sich immer wieder verprügeln lässt..also...pff... unglaublich...“*, sagt Faber also, während sie aus dem Haus treten und in den Wagen einsteigen.
Sie schnallen sich an und Katrin fährt los. Auf das Gesagte reagiert sie nicht. Also setzt Faber noch einen drauf.
„Gut, die hat halt 'ne Riesenangst alleine zu sein. Sonst hätt' die sich doch schon längst von dem Arschloch befreit.“*
Es wirkt. Katrin reagiert. „Sie mein', die Schuld liegt bei ihr, weil sie zu schwach ist, sich zu trennen, oder ?“*, hakt sie nach.
„Na ja, was heißt, die Schuld liegt bei ihr... ja, nein, weiß ich nich'... Was meinen Sie denn?“*, fragt er.
Schließlich geht es hier nicht um ihn und das ist absolut nicht seine Meinung dazu.
„Ich?“* Katrin zuckt mit den Schultern. „Ich seh' einfach nur, was da is': Da is' 'ne Frau, die wurde körperlich verletzt und leidet drunter, und 'n Typ, unversehrt und fühlt sich auch noch im Recht.“*
Wahrscheinlich hält man es nur so aus, kommt Faber spontan in den Sinn.
„Alles andere ist doch Psychoquark, nichts als Spekulation. Da ist die Grenze zwischen Opfer und Täter einfach verwischt. Ne?“*, meint Katrin und will sich so offenbar rückversichern.
Faber hätte darauf eine Menge zu entgegnen, aber schließlich geht es hier nicht um ihn und so reagiert er nicht darauf.
„Ich...ich hab' das gehört, von Ihrer Frau und Ihrer Tochter. Das tut mir sehr leid“*, sagt Katrin und es klingt ehrlich.
Wär' ja auch 'n Wunder gewesen, wenn der Polizeifunk das Psychowrack Faber ausgespart hätte...
Faber bringt auf die Schnelle lediglich ein Nicken zustande und ein „Hmm...“.*
„Hilft das jetzt, wo Graf tot ist? Hilft das?“*, erkundigt sie sich.
Auch dazu hätte Faber eine Menge zu sagen, aber ihre Reaktion eben hat ihm gezeigt, dass er damit bei ihr an der falschen Adresse ist.
„Aha, na, weiß ich noch nich'“*, sagt er also bloß.
„Pessimist, hm?“*, meint sie.
„Realist“*, verbessert er und ist selbst überrascht. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er gesagt, dass sein Glas immer halb leer ist.
„Keine Träume mehr?“*, bohrt Katrin weiter.
„Träume? Kann mich an keine erinnern... Und selber?“*, hakt Faber das Thema durch die Gegenfrage relativ kurz ab.
„Hm. Wozu?“*, erwidert sie.
„Pessimistin?“*, meint er schmunzelnd, ihre eigenen Worte an sie selbst richtend.
„Nee, Realistin“*, antwortet sie prompt und sie lächeln sich an und lachen.
Kurze Zeit später setzt sie ihn vor seinem Wohnblock ab.
„Nette Gegend“, meint sie ironisch.
„Ja“, er lacht verlegen, „kann ich echt nur empfehlen.“
Auf dem Weg in seine Wohnung grübelt Faber fieberhaft darüber nach, warum er eben bei Katrins Aussage so etwas wie ein Schamgefühl empfunden hat. Verdammt, es hat ihn doch noch nie interessiert, was Leute über seine Wohngegend denken.
Er tritt aus dem Fahrstuhl und schließt seine Wohnungstür auf. Auf dem Weg nach oben hat sich ein inneres Unruhegefühl eingestellt. Er setzt sich aufs Sofa und versucht, an nichts zu denken. Was natürlich nicht funktioniert. Aber eins verändert sich: Das Unruhegefühl wandelt sich mehr und mehr zu einer kleinen Panik, in die sich Tropfen von Angst mischen. Durch lange Gespräche mit Lich weiß Faber inzwischen, was da passiert. Dass heute einfach zu viele seiner empfindlichen Knöpfe gedrückt wurden und er könnte sie auch benennen und sagen woher die Angst, die von längst vergangenen Ereignissen gespeist wird, kommt, aber dann wäre das Gefühl immer noch da. Er macht eine mit Lich antrainierte Atemübung und steht auf. Es ist schon besser, aber nur etwas besser.
Faber könnte, um sich abzulenken, Lich anrufen. Aber ein Notfall ist das nicht und da Lich nun pandemiebedingt alle Hände und Ohren voll zu tun hat, will er sich nicht wegen einer Kleinigkeit bei ihm melden. Er könnte Martina anrufen und ihr seine Ermittlungsergebnisse mitteilen, aber dann erinnert er sich daran, wer heute bei ihr ist. Schließlich hat er die mündliche Verabredung heute Morgen am Tatort und das körperliche Zusammentreffen heute Abend vor dem Präsidium ja hautnah mitbekommen. Bleibt nur einer. Er wählt Birgers Nummer, aber niemand nimmt ab.
Faber geht auf die Toilette und wäscht sich anschließend die Hände, benetzt sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Im Apothekenschrank neben der Badtür findet er eine alte, angebrochene Packung Tavor.
Die würde sicherlich helfen.
Aber auch in seinen schlimmsten Zeiten ist das nur für den Notfall gewesen. Dann würde er morgen höchstwahrscheinlich nicht einmal hochkommen. Er nimmt die Packung heraus.
Abgelaufen.
Das macht die Sache auch nicht besser.
Tun Sie etwas, das Ihnen guttut, kommt plötzlich Lichs Stimme in Fabers Kopf auf.
Na schön.
Im Inneren des Kühlschranks begrüßen ihn einige Flaschen Bier, aber ansonsten ist der Inhalt ganz ordentlich. Faber ist stolz darauf, dass er den mit Birger vereinbarten Einkaufsrhythmus und auch den Inhalt seines Warenkorbes bis jetzt eingehalten hat. Er nimmt sich eine kleine Rolle Marabou-Schokolade und schließt die Tür. Dann bleibt sein Blick auf Birgers selbstgemachter Kräutermischung hängen. Also, es ist nicht Birgers, Maja, dessen Freundin, hat sie gemischt.
„So 'n Wohlfühltee“, hatte Birger beim letzten Besuch erklärt.
Faber nimmt die Dose aus dem Regal und besieht sich den kleinen Post-it-Zettel mit der Zubereitungsanweisung. Offenbar hat Maja sämtliche Bekannten damit versorgt, denn es ist alles auf Schwedisch. Aber Faber kann inzwischen genug, um sich die Hauptinfos übersetzen zu können. Er trinkt den Tee und isst ganz bewusst drei Drops der Schokolade.
Achtsamkeit nennt sich das und damit wird zunehmend Geld gemacht. Und das ärgert Faber. Denn mit dem Leid der Leute bzw. genauer gesagt mit dem Wunsch der Leute, dieses zu lindern, sollte man kein Geld machen. Aber was denkt er denn da? Schließlich verdient er mit dem Leid anderer Leute sein täglich Brot. Also: Achtsam sein. Und wenn es hilft... Verdammt, wenn es helfen würde, würde er auch Affenhoden essen.
Ob es der Tee ist, weiß Faber nicht, aber als er schließlich ins Bett krabbelt, tut er es mit einem guten Gefühl.
Am nächsten Tag kommen sie was die Ermittlungsarbeit betrifft gut voran. Das Auto, welches Nicolas Schlüter überfahren hat, wurde gefunden und ist sein eigenes. Außerdem haben Rosa und Pawlak die private erotische Filmsammlung von Schlüter auf dessen Laptop entdeckt. Offenbar hat er die halbe weibliche Polizei von ganz Dortmund flachgelegt. Das Essen mit Martina Bönisch in der Kantine ist...intensiv gewesen. Was nicht zuletzt an Hallers Anwesenheit und Fabers Gespräch mit dem Kollegen Klaus Wildner vom Betrugsdezernat, mit dessen Frau Schlüter ebenfalls geschlafen hat, gelegen hat.
Gerade hat er dessen Alibi überprüft. Wie von Wildner beim Mittag ausgesagt ist dieser im Büro gewesen und wie von diesem ausgesagt trinkt er auch nicht mehr. Dafür spricht zumindest die von ihm virtuell um diese Zeit besuchte Gruppe der AA. Warum er sich dort mit dem Dienstinternet eingewählt hat, weiß Faber nicht, höchstwahrscheinlich ist das Internet in seinem Wohnort einfach zu schlecht für Videokonferenzen. Aber das alles muss er seinen Teamkollegen ja nicht mitteilen.
Vom Flur aus geht er direkt in Bönischs Büro. Sie blickt genervt vom Laptop auf.
„Ich kann den Scheiß nicht mehr sehen!“*
Faber erspart sich einen Kommentar hierzu. Schließlich hat er sie ja wegen ihrer Fachkompetenz darauf angesetzt, auch wenn er ihr diesen Grund nicht mitgeteilt hat und es auch nicht tun wird.
„Tja, Wildner können wir abhaken“, erklärt er stattdessen, „hab' sein Alibi gecheckt.“*
Vom Flur ist Pawlaks Stimme zu hören. „Gut, aber... keine Ahnung, nur weil er jetzt ein bisschen unsicher gewirkt hat. Was genau willste denn da jetzt gesehen haben?“*, fragt er bei Rosa nach.
Diese antwortet prompt. „Atemstocken, Anfeuchten der Lippen,Vermeidung von Blickkontakt. Typische Anzeichen dafür, dass jemand lügt. Paul Lohse liebt Simone Schlüter noch“*, erklärt Rosa mit Nachdruck.
„Typische Anzeichen“, hakt Faber nach, „was sind typische Anzeichen?“*
„Erhöhter Schweißausbruch, Blinzeln“*, zählt Rosa weiter auf, bevor Faber ihr erneut ins Wort fällt:
„Blinzeln auch? Vielleicht hat er seine Augentropfen nich' genomm'.“*
„Sie halten Körpersignale für überbewertet?“*, fragt Rosa etwas spitz.
Da ist er dann doch wieder einmal etwas zu weit gegangen. Der alte Faber hätte noch einen drauf gesetzt, der neue präferiert die Deeskalation.
„Ach, nein, Quatsch“, entgegnet er reumütig, „überhaupt nicht. Hier, da gibt's so viele auffällige Intimpartnerinnen des Opfers, massenhaft Körpersignale. Schmeißen Sie sich drauf, weil Frau Bönisch – ich zitiere – 'kann den Scheiß nicht mehr seh'n.'“*
Deeskaliert und 'ner anderen Kollegin Arbeitserleichterung verschafft, machst dich ja ganz gut, meint der innere Kritiker.
„Aber die hier übernehm' ich jetzt doch noch“*, erklärt Frau Bönisch.
„Wieso?“, erkundigt sich Faber erstaunt und auch Rosa und Pawlak blicken fragend in Martinas Richtung.
Sie wendet den Laptop und sagt nur zwei Worte: „Jessica Steinmann.“
Faber zieht sich in sein Büro zurück. Er überlegt angestrengt, ob er die Anzeichen, die Rosa aufgezählt hat, an Katrin Steinmann bemerkt hat. Sie ist gefahren, also hat sie natürlich nicht ständig Blickkontakt halten können, aber auch so war ihr Gesicht ziemlich ausdruckslos. Die ganze Zeit über bei der Befragung und später hat sie ja auch gelächelt, aber da ging es um Privates. Beim Gedanken daran schleicht sich auch jetzt ein Lächeln auf Fabers Gesicht. Aber dann denkt er an das Gespräch mit Jessica gestern auf der Hördewache zurück und wird wieder ernst. Denn die hat ihn definitiv angelogen, als sie beteuert hat, sie hätte nichts mit Schlüter gehabt. Wie sehr er auch seine kleinen grauen Zellen bemüht, an ihre Mimik kann er sich wahrlich nicht erinnern. Immer Blickkontakt gehalten hat sie nicht, aber sie hat auch geweint, und wollte offenbar nicht, dass er das sieht. Faber wartet noch Bönischs Bericht zum Verhör mit Jessica ab und macht sich dann auf den Heimweg.
Zu Hause ist Faber hin und her gerissen. Soll er oder soll er nicht? Die Adresse ist ihm ja bekannt.
Du könntest einen entscheidenden Hinweis für die Ermittlungen finden, drängt ihn das Arbeits-Ich zum Aufbruch.
Und Zeit mit Katrin und mit... Martina verbringen, führt das private Ich einen, nein zwei weitere Gründe zum Besuch bei Katrin an.
„Na schön, dann...dann geh' ich“, murmelt Faber, so als müsste er sich selbst Mut zusprechen, und das muss er auch, das merkt der private Teil von ihm ganz deutlich.
Während er von der Bahn zu Katrins Haus schlendert, bemerkt er, dass Birger angerufen hat – und er bemerkt, dass der Akku im roten Bereich ist. Mailboxabhören ist also nicht drin, genauso wenig wie Anrufen oder Nachrichtschreiben.
„Shit“, flüstert Faber und biegt zu Katrins Haus ein.
Es ist kurz nach acht. Er fühlt den leichten Schweißfilm an seiner Fingerkuppe und sein Herz schlägt eindeutig zu schnell. Er nimmt einen tiefen Atemzug und drückt den Klingelknopf. Das Zusammentreffen mit den beiden Frauen ist unbeschreiblich. Faber fühlt sich in seine Kindheit zurückversetzt, es fühlt sich an, als sei man nicht zu einem Geburtstag eingeladen, trotzdem erschienen und als würde das die anderen Besucher stören, aber das Geburtstagskind nicht.
Als Katrin ihm anbietet, zum Essen zu bleiben, nimmt er gerne an und als sie dann den komischen Namen des Essens sagt, den er noch nie gehört hat, da kommt automatisch die Verbindung zu Birger, bei dem er wohl die meisten Speisen, die er vom Namen nicht gekannt hat, gegessen hat.
Nachdem er also kurz mit Frau Bönisch gesprochen hat, ruft er in Richtung Küche: „Ah, kann ich 'mal kurz mein Handy irgendwo aufladen?“*
„Ja, hier in der Küche“*, ruft Katrin zurück.
Mit einem „Super!“ folgt Faber der Stimme. Als er die Küche betritt, mixt Katrin gerade ein Dressing.
Das komische Wort ist also Salat, aber noch 'was, oder?
„Da, neben der Magnettafel sind Steckdosen“, informiert Katrin ihn und nickt zum Bereich hinter sich.
Faber fischt Ladekabel und Handy aus den Tiefen seines Parkas hervor und schließt das Gerät an das Stromnetz an. Als er sich zu Katrin umdreht, bemerkt er eine Arzneimittelpackung auf dem Tresen, wo Katrin gerade das Dressing unter den Salat hebt, und schluckt innerlich.
Tavor. Also anderer Name, aber gleicher Inhalt.
Faber hofft, dass man ihm seinen Schock nicht ansieht, als er, seine Emotionen überspielend, versucht, mehr darüber zu erfahren.
„Dienst an der Waffe is' mit den Dingern aber nicht drin. Das weiß ich aus eigener Erfahrung“*, sagt er locker.
Während er gesprochen hat, hat er die Packung unbewusst an sich genommen. Katrin greift danach und meint: „Ach, die gehören Jessica. Sie hatte emotionale Probleme.“* Sie legt die Packung in das Regal hinter ihnen, blickt ihn beschwichtigend an und ergänzt: „Sie hat's jetzt im Griff.“*
Dieses Mal braucht Faber nicht Rosas Mimiklesekünste zu bemühen, er weiß auch so, dass Katrin lügt. Schließlich werden die Dinger nicht einfach so verschrieben, für die emotionalen Probleme, die man 'mal eben wieder im Griff hat. Das sind Hammerteile und sie machen auch verdammt schnell abhängig.
Mit einem unguten Gefühl verlässt er die Küche, aber der Abend wird noch schön und so vergisst Faber nicht nur die Tabletten, sondern auch Birgers Anrufe und Mailboxnachrichten. Schließlich verlassen sie Katrins Haus. Als Faber gerade die andere Straßenseite erreicht hat, fällt ihm etwas ein.
Scheiße, das Handy!
Er geht zurück und klingelt erneut. Kurz darauf blickt Katrin verwundert durch das Glaselement der Haustür. Faber winkt verlegen. Dann öffnet Katrin ihm die Tür.
„Hab' mein Handy vergessen“*, meint er entschuldigend.
„Mhm, bitteschön“*, entgegnet Katrin.
„Danke“*, sagt er und betritt das Haus.
Rasch geht sie in die Küche und übergibt Faber das Handy. Sie lächeln sich an. Dann hebt Katrin ihre Hand und streift damit Fabers Hemd. Er erstarrt. Seine Fluchtinstinkte erwachen.
„Ja, äh, ich muss dann auch 'mal los“, meint er schnell und begibt sich zur Tür.
Ohne sich richtig zu verabschieden, ist er draußen, läuft bis zur Bahn, lässt sich auf einen der Sitzplätze am Bahnsteig fallen. Zig Gedanken rasen durch seinen Kopf. Was wäre passiert, wenn er nicht im wahrsten Sinne des Wortes den Schwanz eingekniffen hätte? Beim bloßen Gedanken daran reagiert Fabers Körper so wie gerade eben bei Katrin im Haus und dann entfaltet sich ein Kopfkino vor ihm.
Er schreckt zusammen. Es ist bereits dunkel. Faber holt das Handy hervor und hört Birgers Mailboxnachrichten ab, schreibt ihm schnell eine Nachricht und steigt in die nächste einfahrende Bahn.
Während der Fahrt gibt er den Namen von Katrins Abendessen, Pfefferpotthast, bei einer bekannten Suchmaschine ein. Sie hat beim Essen ja schon erzählt, dass es eines der wenigen vegetarischen Gerichte ist, die eigentlich aus Fleisch bestehen würden, das ihr in der Version ohne totes Tier besser schmecken würde, aber dass er da heute die Neuinterpretation eines fast waschechten Dortmunder Kochkunsturgesteins vor sich hat, das hätte Faber nicht gedacht.
Bestimmt hat er den Namen damals in der Kindheit und Jugend schon einmal gehört. Dass er es selbst als Dortmunder nie gegessen hat, ist hingegen nicht weiter ungewöhnlich, wenn er genauer darüber nachdenkt. Zwar ist die Familie väterlicherseits schon seit Ewigkeiten hier im Pott verwurzelt, aber es ist immer die Mutter gewesen, die gekocht hat, und da sie aus einer Flüchtlingsfamilie aus den ehemaligen Ostgebieten des einstigen Deutschen Reiches stammt, hat sie die Gerichte ihrer Familie gekocht und nichts Ortstypisches. Und später... später war es uncool, so alte Rezepte zu kochen. Außerdem hat Faber mit Birger die Köstlichkeiten der skandinavischen Küche zu schätzen gelernt und später die der norddeutschen mit seiner Frau.
Die Bahn hält und Faber geht flotten Schrittes zu seinem Zuhause.
Auf dem Weg weiß Faber nicht, wie er es finden soll, dass Birger jetzt hier ist. Gestern hat er sich nichts sehnlicher gewünscht, aber heute...gerade nach dem, was heute Abend passiert oder eben nicht passiert ist.
Als er ihn da so auf den Treppenstufen vor seiner Wohnungstür sitzen sieht, noch bevor sein Kumpel den Blick hebt, ist Faber eher nicht zur Freude darüber zumute. Denn er bemerkt sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und Faber hat ein wenig Angst davor, dass er jetzt nicht so für Birger da sein kann, wie dieser es vermutlich braucht, so wie er für ihn die letzte Dekade da gewesen ist. Bei der Begrüßung überwiegt allerdings ganz klar die Freude.
Oh Mann, was hat er denn gegessen? Das stinkt ja.
Offenbar nicht besonders viel, denn als Faber ihm ein Pils anbietet, knurrt Birgers Magen unüberhörbar. Faber schaut in sein kleines Tiefkühlfach im oberen Teil des Kühlschranks und holt die Pizzen hervor, tritt zurück ins Wohnzimmer und hält Birger die Packungen hin.
„Was willst du? Tonno oder Tomate-Mozzarella?“
„Fisch“, entgegnet Birger und kommt mit in die kleine Küche.
Während der Ofen vorheizt, erklärt Faber: „Der Manta is' schon wieder inner Werkstatt. Du, der Typ hat uns so was von verarscht.“
Birger schreckt offenbar aus seinen Gedanken auf. „Vad sa du?“
Das hat Faber dann auch mit seinen Schwedischkenntnissen verstanden. „Na, dass der Mantatyp uns verarscht hat. Der Wagen ist schon wieder im Eimer.“
„Shit happens“, entgegnet Birger grinsend und fügt dann wohl, weil er denkt, Faber hört es nicht, da er gerade Backpapier von der Rolle abreißt, hinzu: „And sometimes a lot of it.“
Während des Essens unterhalten sie sich neben der Arbeit auch über andere Themen, aber Faber wird das Gefühl nicht los, dass Birger beim Beruflichen etwas kurz angebunden gewesen ist.
Neuer Versuch, denkt er sich.
Sie räumen gerade den Geschirrspüler ein. „Und sonst bei der Arbeit?“, erkundigt sich Faber. Birger blickt ihn fragend an. „Ach, ich hab' da letztens so 'n Podcast gehört. Da ging es darum, dass ihr gerade in den Vororten der Großstädte echt Probleme mit den Gangs habt.“
Birgers Blick verfinstert sich. „Is' auch so“, meint er nur düster.
Dann folgt Schweigen. Sie beschließen, ins Bett zu gehen.
Als um halb zwei eindeutige Geräusche aus dem Wohnzimmer kommen, hat Faber noch kein Auge zugetan. Er öffnet die Tür. Birger erklärt ihm sein Problem.
Oh Mann, wir werden echt alt!
Er öffnet einladend die Tür und sie legen sich zusammen in das Doppelbett.
„Besser so?“, fragt er.
„Ja, ansonsten wäre ich morgen nicht mehr vom Sofa hochgekommen“, murmelt Birger ins Kopfkissen.
Sie wünschen sich gute Nacht. Auch jetzt kann Faber nicht gut schlafen.
Als er das zweite Mal um halb vier aufwacht, ist es nicht die Blase, die sich meldet, sondern Birger. Er hat offenbar einen Alptraum. Die undeutlich artikulierten Worte kann Faber nicht ansatzweise verstehen, aber Birgers wild um sich schlagende Arme sprechen eine deutliche Sprache. Faber rüttelt vorsichtig an seiner Schulter. Es dauert etwas, dann fährt Birger aus dem Schlaf hoch.
„Vad? Var?“, fragt er schlaftrunken.
„Du hattest einen Albtraum“, erklärt Faber.
Birger fährt sich über die nackenlangen, hellbraunen, ein wenig ins Rötliche gehenden Haare und den Vollbart, der in Teilen grau meliert ist.
„Offensichtlich.“
Es gelingt ihnen beiden wieder einzuschlafen, und weder Albträume noch die Schlafunterlage können Birger dieses Mal wecken.
Faber steht früh auf und kocht Kaffee. Frau Bönisch wird über die ungeplante Verstärkung beim Seminar von Dr. Oberländer nicht gerade begeistert sein, aber Faber braucht das jetzt einfach. Gerade nach gestern Abend, weiß er nicht, wie er das allein durchstehen soll. Er öffnet den Kühlschrank, um Milch für Birger herauszunehmen, als sein Blick auf etwas fällt, das neben dem schwedischen Trinkjoghurt in der Tür definitiv nicht ihm gehört. Er nimmt eine der kleinen, runden Plastikdosen in die Hand. Nun, das erklärt auch Birgers miefigen Atem von gestern Abend.
Aber warum?
Sie haben beide nach der Ausbildung unabhängig voneinander mit dem Rauchen aufgehört. Und auch nicht wieder angefangen.
Und jetzt?
Jetzt konsumiert Birger offenbar wieder Tabak. Faber öffnet die Plastikdose und besieht sich die kleinen, braunen Beutelchen im Inneren. Bei seinem ersten gemeinsamen Ausflug mit Birger nach Schweden hatte er sich über die wenigen Zigarettenkippen auf der Straße gewundert, dafür hatte ihn Birger auf die kleinen Beutelchen auf dem Asphalt aufmerksam gemacht, die nach wie vor einen Oraltabak beinhalten, der Snus heißt.
Als Faber ihn beim Kaffeetrinken auf seinen Vorrat im Kühlschrank anspricht, reagiert Birger äußerst unwirsch. Und das Gefühl in Fabers Magen, dass es seinem Freund nicht gut geht, verschlimmert sich. Und weil er sich dem Umgang damit nicht gewachsen fühlt, geht Faber dann auch lieber auf Birgers Anmerkungen zu seinem Abend gestern bei Katrin ein.
Und jetzt sitzt Faber im Büro. Das Ermitteln beim Seminar von Dr. Oberländer ist gut verlaufen, auch wenn ihm der Arsch auf Grundeis gegangen ist, als Oberländer sich ausgerechnet ihn für seine Demonstration auf der Bühne geschnappt hat. Denn dort hat er die ganze Unsicherheit, die gestern bei Katrin in ihm aufgekommen ist, noch einmal total gespürt. Aber das ist jetzt vorbei. Birger ist mit Mia auf dem Weg in den Zoo, so dass auch Pawlak sich vollends in die Ermittlungen stürzen kann.
Plötzlich klingelt Fabers Handy. Eine Nummer, die mit +46 beginnt, wird angezeigt.
Aus Schweden?
„Ja, Hauptkommissar Faber“, meldet er sich ganz korrekt.
„Peter?“, kommt es etwas zu leise und zögerlich an sein Ohr.
„Ja, wer ist denn da?“
„Maja ist hier“, erklärt die Stimme, „ich habe versucht, Birger zu anrufen, aber sein Mobil ist abgeschalten.“
„Du, Maja, alles gut, der ist hier unterwegs.“
Genießt seinen Urlaub, will Faber eigentlich hinzufügen, aber eine innere Stimme hält ihn davon ab.
„Ah“, kommt es aus dem Hörer.
„Alles gut bei euch?“, erkundigt sich Faber.
„Ja, alles gut mit uns“, bestätigt Maja, „und du klingst auch bättre, Peter.“
Dieser Satz macht Faber stutzig. Warum sollte er „besser“ klingen? Nicht nur der Polizist in ihm sagt ihm, dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmt.
„Ja, mir geht es besser“, bestätigt er vorsichtig, um mehr Informationen zu bekommen.
„Bra, Birger var rädd igår. Han sa att han måste flyga strax.“
Je mehr Maja erzählt, und das auch wieder auf Deutsch, desto verwirrter wird Faber. Offenbar hatte Birger also gestern Angst und zwar um ihn und ist dann sofort, wie Maja betont hat, losgeflogen.
Oje, da liegt 'was Großes im Argen.
„Ja, das war echt heftig, also jätte heftig“, erklärt Faber und hofft, dass Maja aufgrund seines eingestreuten schwedischen Wortes von weiteren Nachfragen absieht. Das tut sie. Faber beendet das Telefonat.
Eines steht fest, etwas ist verdammt noch 'mal nicht in Ordnung, aber nicht bei ihm selbst, sondern bei Birger. Faber geht die Begegnung mit ihm gestern durch. Ja, er hat geblinzelt, als er erzählt hat, er hätte Urlaub und ja, er hat ihn nicht immer angeschaut, als er von seinem letzten Fall erzählt hat. Das mulmige Gefühl in Fabers Magengegend nimmt zu, aber das muss jetzt warten, denn Pawlak ruft:
„Kommt ihr 'mal!“
Also begibt er sich mit allen anderen zu Pawlaks Schreibtisch.
„Der Investmentbänker hat das Alibi vom Oberländer bestätigt“, erklärt Pawlak, „der war tatsächlich gestern früh noch bei ihm in der Praxis, also...“* Er schnalzt mit der Zunge.
Nix mit Mörder, übersetzt Faber in Gedanken.
Plötzlich sagt Rosa: „'Number close, kiss close, sex close.' Paul Lohse hat diesen Pick-up-Scheiß bei mir abgezogen.“*
„Wie ernsthaft jetzt?“*, hakt Faber nach. Rosa nickt. „Und wie weit ist er gekommen?“*, fragt Faber ein wenig belustigt.
In Wahrheit ist er mit der Situation überfordert, denn anhand von Rosas Reaktion hat er bemerkt, wie nahe ihr das gegangen ist.
Rosa lacht verlegen. „Der hat nicht 'mal meine Handynummer bekommen“*, erklärt sie gespielt schlagfertig, aber auch hier erkennt Faber ihr Bemühen, schlagfertig zu erscheinen.
„Was ist, wenn Jessica 'rausgefunden hat, dass Nicolas so 'n Pick-Up-Artist war?“*, stellt Martina Bönisch eine Vermutung in den Raum und blickt Faber direkt in die Augen.
„Dann hätt' se 'n echt starkes Motiv“, entgegnet Faber, „also bitte, Frau Bönisch, bitten Sie sie doch noch 'mal her.“
Bönisch grinst. „Mit dem größten Vergnügen.“
Faber wendet sich an Rosa. „Könnten Se noch 'mal kurz zu mir 'rüberkomm'?“, bittet er sie.
„Äh, ja klar.“
Als Faber hinter ihr die Schiebetür zu Bönischs Büro schließt, blickt Rosa ihn unsicher an. Er schüttelt den Kopf.
„Is' 'was Privates“, erklärt er. Rosa sieht ihn nur an. „Wegen dieser Anzeichen beim Lügen, von denen Sie gestern gesprochen haben...“
Rosa lacht. „Da gab's nicht so viele auf den Videos.“
„Nee, is' zwar was Privates, aber um Pornos geht es nicht“, erklärt Faber.
Erst jetzt merkt er, dass er sich damit unter Umständen schon in Teufelsküche gebracht hat: Er als heterosexueller Mann ist mit einer weiblichen Untergebenen allein in seinem Büro und redet über Pornos...
Aber Rosa lacht nur und meint grinsend: „So habe ich das auch nicht gemeint.“
Faber lächelt erleichtert. „Na, dann is' ja gut.“ Er räuspert sich. „Also, diese Anzeichen: Schnelles Sprechen gehört auch dazu?“ Rosa nickt. „Und äh... Rückfall in die Muttersprache. Also dass ich 'was erzähle in 'ner Fremdsprache, die ich eigentlich gut kann, aber dann falle ich, ohne es zu merken, in meine Muttersprache zurück?“
„Kann auch passieren.“
„Ah ja, gut, ok, danke.“
Anscheinend guckt Faber sehr entgeistert, denn Rosa fragt: „Alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Faber?“
„Ja, ja, alles gut“, beeilt er sich zu sagen.
Vermutlich merkt sie jetzt, dass er lügt und kann sich denken, um wen es geht, immerhin hat sie Birger samt dessen Sprachkenntnissen heute kennengelernt, aber egal, sie wendet sich um. Da fällt Faber noch etwas ein.
„Und Rosa!“
„Ja?“
„Lassen Sie sich nix gefallen, ja? Schon gar nicht von diesen Aufreißertypen!“
Sie lächelt. „Keine Sorge, mache ich nicht.“
Dann verschwindet sie aus Fabers Büro.
Faber ist froh, als Martina ihm kurz darauf mitteilt, dass Jessica auf dem Weg ist. Denn seine Gedanken sind unaufhörlich um Birger und dessen ominöses, noch nicht bestätigtes, sich aber durch Indizien ganz klar abzeichnendes Problem gekreist.
Als Faber in den Flur mit den Vernehmungsräumen kommt, ist er erstaunt. Denn nicht nur Jessica ist gekommen, sondern auch ihre Mutter Katrin. Während Martina Bönisch die Vernehmung führt, steht Faber mit Katrin im Nebenraum und verfolgt den Verlauf. Und Faber muss sich eingestehen, dass er das niemals zugelassen hätte, wenn ihm Katrin nicht so gefallen würde.
„Wie oft haben Sie mit ihm geschlafen?“*, fragt Bönisch Jessica gerade.
Jessica schüttelt den Kopf. „Darum geht's doch gar nicht“* , wehrt sie ab.
„Wie oft?“*, hakt Martina nach. Jessica reagiert nicht. „Was hat er Ihnen erzählt?“*, fragt Bönisch herausfordernd.
In jeder anderen Situation hätte Faber die Schose, die Bönisch jetzt fährt, genossen, aber jetzt gerade tun ihm sowohl die Tochter im Vernehmungsraum als auch die Mutter neben sich einfach nur leid.
„Meine Ehe ist am Ende? Meine Frau versteht mich nicht? Du und ich, das ist was ganz Großes? Ich wünschte, ich hätte dich schon früher kennengelernt?“*
Während Martina spricht, wendet sich Faber Katrin zu. Es geht ihr sehr nahe, was da gerade hinter der Scheibe passiert, verdammt nahe, beinahe schon zu nahe. Bönisch macht unbarmherzig mit der Vernehmung weiter.
Faber ist total überrumpelt, als Katrin bei Jessicas Ausruf „Ich habe ihn geliebt! Und er hat mich geliebt!“* in den Vernehmungsraum stürzt.
„Was redest du denn? Er war doch verheiratet!“*, sagt Katrin merklich aufgebracht.
Jessica ist inzwischen aufgestanden. Sie sagt ihrer Mutter wütend ins Gesicht: „Er wollte seine Frau verlassen. Wir wollten beide aus Dortmund weg, uns 'n neues Leben aufbau'n.“*
„Er wollte seine Frau nicht verlassen. Er hat das alles nur erzählt, um sie 'rumzukriegen“*, sagt Bönisch eiskalt.
Wo ist nur die einfühlsame Frau Bönisch hin?
„Er war 'n Pick-Up-Artist. Die schlafen einmal mit 'ner Frau und das war's“*, fügt Bönisch erklärend hinzu.
Jessica schüttelt ungläubig den Kopf. „Das stimmt nicht“*, bringt sie leise hervor.
„Hat er mit Ihnen mehrmals geschlafen?“*, fragt Martina nach.
Weinend flüchtet Jessica aus dem Raum. Mit einem „Ich mach das!“* läuft Bönisch hinterher. Faber blickt Katrin an und hofft, dass Martinas Gereiztheit ihrer Anwesenheit zu verdanken ist und sie nun sanftere Töne mit Jessica anschlägt. Überrascht ist Faber nur ob der Tatsache, dass auch Katrin nach dieser Offenbarung – oder besser gesagt, den Offenbarungen: also der Zukunftspläne ihrer Tochter und der Enthüllung über Nicolas' wahre Absichten – sichtlich mitgenommen ist.
„Komm“, sagt Faber einfühlsam, „wir geh'n in mein Büro und da trinkst du erst 'mal 'was.“
Aus der Teeküche holt er ihr ein Glas Wasser.
„Danke“*, sagt Katrin noch immer mitgenommen und nippt am Glas.
„Du kannst Jessica nicht ewig beschützen“*, meint Faber einfühlsam und setzt sich auf die Schreibtischkante, als Bönisch gerade zurückkehrt.
„Ja, puch...esss“*, setzt Katrin an. Sie starrt vor sich hin, da kommt Bönisch zu ihnen herüber.
„Katrin, du hast mir doch gesagt, dein Ex lebt mit seiner neuen Frau in Bayern, richtig?“*
„Ja“*, bestätigt Katrin.
Etwas ungehalten entgegnet Bönisch: „Jessica sagt, ihr Vater is' tot.“*
Faber wendet seinen Blick von Martina zu Katrin. Sie starrt mit offenem Mund vor sich hin, gestikuliert. Rosa würde vermutlich ihre wahre Freude an der Szene haben, leider ist sie nicht hier.
„Harald is' nicht Jessicas Vater“*, erklärt Katrin dann nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Aber Harald und du, ihr wart doch damals 'n Paar“*, bohrt Martina weiter.
Faber steht vom Schreibtisch auf. Katzenkampf, so hat Stern das damals genannt und Faber hat irgendwie das Gefühl, dass sich das hier zwischen den beiden Damen zu einem entwickelt und er hat keine Ahnung, was er dagegen tun kann. Möglicherweise führt das ja auch zu irgendetwas.
„Martina, bitte, das is' so lange her. Ich möcht' da jetzt nicht drüber reden...“*
Während sie gesprochen hat, ist Katrins Stimme immer leiser geworden. Aber davon lässt sich Martina nicht beeindrucken.
„Wusste Harald, dass er nicht der Vater is'?“*
Faber hat sich inzwischen hinter seinen Schreibtisch gesetzt und der Polizist in ihm blickt Katrin interessiert an. Sie steht abrupt auf und wendet sich zum Gehen.
„Ich will's nur verstehen!“*, sagt Martina Bönisch lauter.
Sie stehen sich jetzt genau gegenüber. Katrin wendet Martina ihr Gesicht zu.
„Weißt du was? Damals wolltest du nix mit mir zu tun haben, ja? Da...da hätt' ich echt 'ne Freundin gebrauchen können. Und jetzt is' es einfach zu spät.“*
Mit diesen Worten geht Katrin. Martina sagt noch etwas, aber Faber hört nicht zu. Denn Katrins Worte, die haben ihn daran erinnert, dass auch er einen Freund hat, der ihn braucht. Und Faber will nicht, dass Birger irgendwann zu ihm sagt: „Damals hätte ich dich gebraucht. Jetzt ist es zu spät.“
Martina trinkt den Rest von Katrins Wasser. „Also, dann 'mal los!“
„Was? Wohin denn?“, fragt Faber verwirrt.
„Das vorgeschriebene Schießtraining?“, entgegnet Martina Bönisch.
„Ach ja.“ Faber erhebt sich.
Fandom: Tatort Dortmund
Episodenbezug: Masken
Rating: P 16
Genre: Freundschaft, Kollegialität
Länge: 6950 Wörter
Beta: nein
Zusammenfassung: Faber hat beim Fall des überfahrenen Kollegen, Nicolas Schlüter, nicht nur mit seinen Gefühlen gegenüber Katrin Steinmann zu kämpfen, sondern auch mit Martina Bönisch. Und dann sitzt plötzlich Besuch, der sein ganz eigenes Päckchen zu tragen hat, vor der Tür.
A/N: Es ist einmal mehr ein Monster von einem Kapitel geworden (15k *hust*), von daher gibt es die zweite Hälfte nächsten Sonntag.
* kennzeichnet Zitate aus „Masken“
Warnung: Depressionen
Die Bürden des Lebens Teil I
Scheiße!
Faber dreht den Schlüssel erneut im Schloss. Wieder gibt der Manta nicht ein einziges Geräusch von sich und das, obwohl er ihn doch erst vor drei Wochen aus der Werkstatt geholt hat. Fast schon routiniert fischt er das Kärtchen mit den Kontaktdaten aus dem Armaturenfach auf der Beifahrerseite. Warum er ihn jetzt in die gleiche Werkstatt wie beim letzten Mal bringen will? Na ja, sie machen gute Arbeit, haben ihn beim Abholen schon darauf hingewiesen, dass er vermutlich nicht zum letzten Mal da gewesen ist und... einige Kontakte sollte man sich warmhalten, auch wenn es welche in die Dortmunder Unterwelt sind.
Faber schlägt die Beifahrertür des Abschleppwagens zu und fragt dann Meyer, der sich seiner angenommen hat: „Wo ist denn der Boss?“
Jürgen Meyer grinst und erkundigt sich dann: „Privat oder beruflich?“
Faber räuspert sich und antwortet dann: „Beruflich.“
Meyer hebt kurz in einer Art „Aha, so ist das“-Entgegnung das Kinn und meint: „Im Clubhaus.“ Faber läuft über den Hof der Werkstatt und betritt dann die heiligen Hallen von SAMDOR.
Im Hauptraum ist niemand zu sehen und da Faber Feierabend hat – zumindest dann, wenn nicht doch noch eine Leiche auftauchen sollte –, muss er ja nicht hetzen. Sein Blick fällt auf die Membergallerie. Er streift das schwarz-weiße Foto des ehemaligen Präsidenten und dann heftet sich sein Blick auf das des damals auch verstorbenen Prospects. Faber spürt einen Kloß im Hals. Nicht nur, weil die Erinnerung an die damalige Ermittlung immer ein ganzes Konglomerat an Gefühlen an die Oberfläche spült, sondern vor allem deswegen, weil sich seit dem letzten Besuch in Bezug auf Hannes Jensen viel verändert hat.
Faber sieht ihn vor seinem inneren Auge ganz deutlich vor sich, damals bei der ersten Befragung im Präsidium: Ein Häufchen Elend, das seinen Ziehvater verloren hat, den einzigen Menschen, der ihn aus der „Afghanistanscheiße“, wie er es damals selbst formuliert hat, herausreißen konnte. Wie hätte Jensen wohl auf die Bilder des letzten Monats reagiert? Er war nach seinem Einsatz dort vollkommen am Ende gewesen. Wie hätte er es aufgenommen, dass 20 Jahre im Grunde genommen umsonst gewesen sind? Dass er und einige seiner Kameraden für nichts seelisch wie körperlich zu Krüppeln gemacht worden sind? Faber kann sich diese Fragen nicht beantworten. Aber irgendwie ist er froh, dass Jensen das jetzt nicht hat sehen müssen, das alles: den schnellen Einmarsch der Taliban, die Entrechtung der Frauen und Mädchen sowie die chaotische Evakuierungsaktion, bei der sich völlig verzweifelte Menschen an ein startendes Flugzeug geklammert haben und dann kurz nach dem Start wie kleine schwarze Punkte hinabgefallen sind als sei dies alles ein Zeichentrickfilm.
Faber schließt die Augen und drückt mit Zeigefinger und Daumen der rechten Hand gegen die geschlossenen Lider. Und er wird jetzt für den Autotraum seiner Jugend erneut vermutlich eine hohe dreistellige Summe auf den Tisch legen, die eine Familie in Afghanistan was weiß er wie lange ernähren könnte. Wie heißt dieses neumodische Wort dafür, das er letztens in einem Podcast gehört hat, noch? Ach ja: First-World-Problem. Und dieses Erste-Welt-Problems wird sich jetzt durch Jürgen Meyer angenommen.
„Herr Faber?“, erschallt eine Stimme in seinem Rücken.
Faber nimmt die Hand von den Augen, öffnet diese und dreht sich um. „Tach, Herr Stern, Tach, Herr Phan“, grüßt Faber ganz formell.
Stern grinst. „Hat der Manta wieder schlapp gemacht?“, erkundigt er sich.
Faber nickt nur.
Phan schaut seinen Freund und Boss mit sorgenvollem Blick an und meint dann zu Faber: „Aber deswegen sind Sie nicht hier drin, oder?“
„Nein“, bestätigt Faber, „es geht um die Frau meines Kollegen.“
Phan legt Stern eine Hand auf die Schulter. „Ich mach' das. Fahr du zu deiner Frau und deinem Kind!“
Stern nickt merklich besorgt und sagt dann leise: „Is' wohl besser so.“
Faber erkennt die Stimmlage; was immer es ist, es ist ernst. „Haben sie sich mit Corona angesteckt?“, fragt er mitfühlend.
Stern lacht, aber es klingt abfällig, ja beinahe zynisch. Dann antwortet er: „So 'was in der Art. Noodles war ja nur ein paar Monate Feindbild Nummer eins, jetzt bin ich es eben wieder.“ Er wendet sich zum Gehen und meint in Richtung Phan: „Kannst ihm ruhig alles erzählen.“
Dann ist der Präsident der Sons auch schon verschwunden.
Faber befeuchtet sich die Lippen. „Wie hat er das gemeint?“
Keno Phan räuspert sich. „Am Anfang der Pandemie war ich als Asiate das Feindbild, jetzt ist er es wieder, als Jude.“ Phan blickt düster in den Raum. „Mit dem einzigen Unterschied, dass es immer schlimmer wird.“
„Seine Familie wurde bedroht?“, hakt Faber nach.
„Ich würde ganz eindeutig sagen ja, aber das Rechtssystem sieht es wohl anders.“
„Was ist passiert?“, erkundigt sich Faber mit belegter Stimme.
„Wenn jede Woche Zigtausende auf die Straße gehen und zwar mit Transparenten wie 'Damals die Juden, heute die Ungeimpften' oder 'Coronadiktatur', dann kann man sich als Angehöriger einer Familie, in deren Großelterngeneration nur ein Mitglied überlebt hat, weil sich – Zitat von Sterni – 'die anderen sprichwörtlich in Rauch aufgelöst haben' schon bedroht fühlen. Und wenn Leute aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft dann mit solchen Leuten demonstrieren und sich gegenüber der...“ Hier macht Phan pantomimische Gänsefüßchen in die Luft. „...'Lügenpresse' äußern, sie seien nicht für, aber auch nicht gegen Nazis, dann kann man 'mal verdammt viel Bammel kriegen. Mal ganz zu schweigen davon, dass 'Jude' heute wieder ein gebräuchliches Schimpfwort auf Schulhöfen in diesem Land ist. Zu meiner Zeit war es 'Schwuchtel'. Auch nicht besser, aber 'mal ehrlich: Warum geht die Regierung des Staates nicht dagegen vor? Das ist ganz eindeutig Verharmlosung des Holocausts!“
„Ich glaube, da ist gerade 'was in der Mache“, entgegnet Faber kleinlaut. Denn als Repräsentant dieses Staates fühlt er sich jetzt hundeelend.
Phan atmet tief durch. „Aber genug jetzt davon. Sie sind wegen Pawlaks Frau hier.“
Faber nickt. „Genau.“
Phan schüttelt den Kopf. „Leider nichts Neues. Wir haben überall, wo es uns möglich ist, Erkundigungen eingezogen. Aber wir halten natürlich weiterhin die Augen offen.“
„Danke“, entgegnet Faber und tritt wieder hinaus an die frische Luft.
„Bezüglich des Wagens“, erklingt plötzlich die Stimme von Meyer, „melden wir uns in 'ner guten Woche.“
„Erst in 'ner Woche?“, fragt Faber geschockt.
„Sie wollen doch ein ordentliches originales Ersatzteil“, erklärt Meyer, „das dauert.“
Faber lässt den Blick zum Clubhaus schweifen und blickt dann Meyer wieder an. „Und da kann man nicht so 'n bisschen was deichseln?“, fragt er nach.
Meyer hat genau verstanden, was er meint. Er grinst. „Is' nicht unser Metier.“
Faber seufzt. „Ist gut. Also in 'ner guten Woche dann.“ Faber hebt zum Abschied die Hand und ruft sich ein Taxi.
Zu Hause besieht er sich die neue beigefarbene Schlafcouch. Zumindest da ist der Schritt in ein neues Leben getan, aber von seiner Kleidung, da kann er sich immer noch nicht trennen. Es fühlt sich so an, als würde er damit auch ein Stück von Susanne und Leonie aus seinem Leben verbannen. Faber überlegt, ob er Birger anrufen soll. Die Begegnung eben im Clubhaus hat ihn ziemlich 'runtergezogen, und Birger kann ihn einfach gut aufheitern oder aber zumindest die schlechten Gefühle mit ihm gut zu zweit ertragen. Aber er war ja erst vor einem Monat hier und beim letzten Telefonat vor drei Wochen hat er ziemlich angespannt geklungen und was von Stress im Job gemurmelt. Aber vielleicht kann Faber ja wenigstens Frau Bönisch Bescheid geben und fragen, ob sie ihn morgen früh abholen kann. Genau das macht er dann auch.
Das frühe Klingeln seines Handy am nächsten Morgen und Rosas Mitteilung geben ihm zu verstehen, dass es ein langer Tag werden wird. Keine Zeit für 'nen Kaffee, zumindest für keinen selbstgekochten. Faber absolviert das morgendliche Programm im Schnelldurchlauf und holt sich dann unten an dem Kiosk einen Coffee-to-go. Mit dem heißen Becher wartet er auf Martina Bönisch, die kurz darauf in ihrem Dienstwagen vor ihm hält.
„Morgen“, grüßt er und steigt ein.
„Morgen“, entgegnet sie. Es klingt nicht gerade fröhlich.
„'N Kollege also, ja?“, hakt Faber nach, um irgendwie ein Gespräch zu beginnen. Denn er hat von Rosa im Grunde genommen schon alle Infos erhalten.
„Mhm“, brummt Frau Bönisch nur.
Offensichtlich ist ihr nicht nach Reden zumute. Faber seufzt.
Dann eben nicht.
Er nippt vorsichtig an seinem Kaffee.
Es dämmert.
Zeit loszugehen!, denkt Faber voller Tatendrang.
Der Tag ist ermittlungstechnisch zwar nicht gerade aufschlussreich gewesen, aber in vielen anderen Belangen. Da ist zum Beispiel das komische Verhältnis von Katrin Steinmann und Martina Bönisch, das Faber nicht ergründen kann. Und er kann sich die Frage nicht beantworten, ob er es sich aus beruflichem Interesse mental notiert hat, dass sich Martina und Katrin morgen um acht privat treffen wollen. Der Termin jetzt, der ist ganz eindeutig ein Mix aus privat und beruflich. Vielleicht hat Katrin ja etwas herausbekommen und außerdem findet er sie sympathisch. Dass sie sich kämpferisch vor ihre Leute gestellt hat, das hat ihm gefallen.
Hat 'was von Martina, denkt das verliebte Ich ganz automatisch.
Und mit Haller ist sie außer Reichweite, setzt der Rationalist dagegen.
Dann 'mal los!
In der Stadt dauert es nicht lange, bis er sie gefunden hat. Überrascht ist sie ihrem Gesichtsausdruck nach über sein Erscheinen nicht, was Katrin dann auch verbal bestätigt.
„Ich hätt' Sie ja eher erwartet.“*
„Und? Was 'rausgefunden?“*, erkundigt Faber sich.
„Nee“*, entgegnet sie, aber es klingt nicht unfreundlich.
„Was war denn Nicolas Schlüter für einer?“*, fragt Faber nach.
„Der hatte ständig das Gefühl, sich beweisen zu müssen.“*
Das kennst du doch irgendwoher, meint die innere Stimme.
Um sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen und sich außerdem Zeit für eine bessere Antwort zu verschaffen, erwidert Faber daraufhin lediglich: „Hm.“*
„Das sagt man übrigens auch über Sie“*, erklärt Katrin daraufhin schmunzelnd. Na super.
Also wieder das gleiche Spiel, dieses Mal ist Fabers Entgegnung darauf ein simples: „Aha.“* Aber ihre Art lässt Faber mutiger werden und so fragt er nach: „Und was sagt der Polizeifunk sonst noch über mich?“*
„Na ja, das Sie 'n Knall haben und dass man mit Ihnen nicht arbeiten kann.“*
Faber bleibt stehen und hebt warnend den rechten Zeigefinger. „Moment, das stimmt nicht. Ich hab' 'nen Riesenknall“*, verbessert er sie gut gelaunt,
„Na dann“*, meint sie lachend und läuft in Richtung Streifenwagen.
Hast du da eben geflirtet?, hakt die innere Stimme nach und Faber hört ganz deutlich Birgers schwedischen Akzent in dieser mitschwingen.
Nee, wehrt er zum Glück nur in Gedanken ab.
Lögnare!, entgegnet die Birgerstimme.
Ich bin kein Lügner!, erwidert er erneut in Gedanken und öffnet die Beifahrertür des Streifenwagens.
Katrin startet den Wagen und Faber ist froh, dass sich sein Arbeits-Ich wieder meldet. Da ist etwas, das Katrin eben gesagt hat, das irgendwie nicht passt. Ah ja, Rosa hat heute berichtet, dass Paul Lohse bei der Beförderung übergangen worden ist. Merkwürdig, denn aus seiner eigenen Erfahrung und seinen Psychositzungen mit Lich weiß Faber ja, dass diese Eigenschaft, sich immer beweisen zu müssen, nicht gerade gut bei einem Führungsposten ist.
„Warum haben Sie Nicolas Schlüter zur Beförderung vorgeschlagen und nicht Paul Lohse?“*, erkundigt er sich also.
„Nicolas war engagierter“*, entgegnet Katrin knapp.
Das bringt Faber auch nicht weiter. „Mochten Sie ihn?“*, bohrt er nach.
„War'n guter Teamplayer... hatte Führungsqualitäten“*, entgegnet sie, erneut kurz angebunden.
Aber dieses Mal hilft Faber zumindest ihre Antwort, denn ein ganz eindeutiges Nein spricht daraus.
Sie blickt ihn an. „Aus dem hätte richtig 'was werden können.“* Die anschließende Kopfbewegung fügt ihren Worten ein nonverbales „Aber so...“ hinzu.
Bevor Faber sich noch intensiver mit den erhaltenen Antworten beschäftigen kann, meldet sich das Funkgerät.
„Hier ist die Leitstelle, in der Burgunderstraße haben Nachbarn Schreie aus einer Wohnung gemeldet.“*
„Bei Wolfberg?“*, hakt Katrin nach.
„Ja“*, kommt die Bestätigung irgendwie fatalistisch aus dem Funkgerät.
„Danke.“*
Die Tür zur Wohnung der Wolfbergs schließt sich wieder hinter ihnen. Und plötzlich ist Faber erneut glasklar, warum er damals zur Kripo gewechselt ist. Weil man da erst kommt, wenn alles vorbei ist, weil man da nicht mit ansehen muss, wie ein Leben Stück für Stück ausgehaucht wird und man gegen dieses schleichende Aushauchen nichts tun kann, weil das Opfer die Hilfe verweigert. Streife ist schon das Härteste, was die Polizei zu bieten hat. Aber zum Glück für Faber übernimmt wieder das Kriminaler-Ich. Mal sehen, ob er so noch etwas über Katrin in Erfahrung bringen kann.
„Also, dass die den Kerl nicht' zum Teufel jagt und sich immer wieder verprügeln lässt..also...pff... unglaublich...“*, sagt Faber also, während sie aus dem Haus treten und in den Wagen einsteigen.
Sie schnallen sich an und Katrin fährt los. Auf das Gesagte reagiert sie nicht. Also setzt Faber noch einen drauf.
„Gut, die hat halt 'ne Riesenangst alleine zu sein. Sonst hätt' die sich doch schon längst von dem Arschloch befreit.“*
Es wirkt. Katrin reagiert. „Sie mein', die Schuld liegt bei ihr, weil sie zu schwach ist, sich zu trennen, oder ?“*, hakt sie nach.
„Na ja, was heißt, die Schuld liegt bei ihr... ja, nein, weiß ich nich'... Was meinen Sie denn?“*, fragt er.
Schließlich geht es hier nicht um ihn und das ist absolut nicht seine Meinung dazu.
„Ich?“* Katrin zuckt mit den Schultern. „Ich seh' einfach nur, was da is': Da is' 'ne Frau, die wurde körperlich verletzt und leidet drunter, und 'n Typ, unversehrt und fühlt sich auch noch im Recht.“*
Wahrscheinlich hält man es nur so aus, kommt Faber spontan in den Sinn.
„Alles andere ist doch Psychoquark, nichts als Spekulation. Da ist die Grenze zwischen Opfer und Täter einfach verwischt. Ne?“*, meint Katrin und will sich so offenbar rückversichern.
Faber hätte darauf eine Menge zu entgegnen, aber schließlich geht es hier nicht um ihn und so reagiert er nicht darauf.
„Ich...ich hab' das gehört, von Ihrer Frau und Ihrer Tochter. Das tut mir sehr leid“*, sagt Katrin und es klingt ehrlich.
Wär' ja auch 'n Wunder gewesen, wenn der Polizeifunk das Psychowrack Faber ausgespart hätte...
Faber bringt auf die Schnelle lediglich ein Nicken zustande und ein „Hmm...“.*
„Hilft das jetzt, wo Graf tot ist? Hilft das?“*, erkundigt sie sich.
Auch dazu hätte Faber eine Menge zu sagen, aber ihre Reaktion eben hat ihm gezeigt, dass er damit bei ihr an der falschen Adresse ist.
„Aha, na, weiß ich noch nich'“*, sagt er also bloß.
„Pessimist, hm?“*, meint sie.
„Realist“*, verbessert er und ist selbst überrascht. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er gesagt, dass sein Glas immer halb leer ist.
„Keine Träume mehr?“*, bohrt Katrin weiter.
„Träume? Kann mich an keine erinnern... Und selber?“*, hakt Faber das Thema durch die Gegenfrage relativ kurz ab.
„Hm. Wozu?“*, erwidert sie.
„Pessimistin?“*, meint er schmunzelnd, ihre eigenen Worte an sie selbst richtend.
„Nee, Realistin“*, antwortet sie prompt und sie lächeln sich an und lachen.
Kurze Zeit später setzt sie ihn vor seinem Wohnblock ab.
„Nette Gegend“, meint sie ironisch.
„Ja“, er lacht verlegen, „kann ich echt nur empfehlen.“
Auf dem Weg in seine Wohnung grübelt Faber fieberhaft darüber nach, warum er eben bei Katrins Aussage so etwas wie ein Schamgefühl empfunden hat. Verdammt, es hat ihn doch noch nie interessiert, was Leute über seine Wohngegend denken.
Er tritt aus dem Fahrstuhl und schließt seine Wohnungstür auf. Auf dem Weg nach oben hat sich ein inneres Unruhegefühl eingestellt. Er setzt sich aufs Sofa und versucht, an nichts zu denken. Was natürlich nicht funktioniert. Aber eins verändert sich: Das Unruhegefühl wandelt sich mehr und mehr zu einer kleinen Panik, in die sich Tropfen von Angst mischen. Durch lange Gespräche mit Lich weiß Faber inzwischen, was da passiert. Dass heute einfach zu viele seiner empfindlichen Knöpfe gedrückt wurden und er könnte sie auch benennen und sagen woher die Angst, die von längst vergangenen Ereignissen gespeist wird, kommt, aber dann wäre das Gefühl immer noch da. Er macht eine mit Lich antrainierte Atemübung und steht auf. Es ist schon besser, aber nur etwas besser.
Faber könnte, um sich abzulenken, Lich anrufen. Aber ein Notfall ist das nicht und da Lich nun pandemiebedingt alle Hände und Ohren voll zu tun hat, will er sich nicht wegen einer Kleinigkeit bei ihm melden. Er könnte Martina anrufen und ihr seine Ermittlungsergebnisse mitteilen, aber dann erinnert er sich daran, wer heute bei ihr ist. Schließlich hat er die mündliche Verabredung heute Morgen am Tatort und das körperliche Zusammentreffen heute Abend vor dem Präsidium ja hautnah mitbekommen. Bleibt nur einer. Er wählt Birgers Nummer, aber niemand nimmt ab.
Faber geht auf die Toilette und wäscht sich anschließend die Hände, benetzt sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Im Apothekenschrank neben der Badtür findet er eine alte, angebrochene Packung Tavor.
Die würde sicherlich helfen.
Aber auch in seinen schlimmsten Zeiten ist das nur für den Notfall gewesen. Dann würde er morgen höchstwahrscheinlich nicht einmal hochkommen. Er nimmt die Packung heraus.
Abgelaufen.
Das macht die Sache auch nicht besser.
Tun Sie etwas, das Ihnen guttut, kommt plötzlich Lichs Stimme in Fabers Kopf auf.
Na schön.
Im Inneren des Kühlschranks begrüßen ihn einige Flaschen Bier, aber ansonsten ist der Inhalt ganz ordentlich. Faber ist stolz darauf, dass er den mit Birger vereinbarten Einkaufsrhythmus und auch den Inhalt seines Warenkorbes bis jetzt eingehalten hat. Er nimmt sich eine kleine Rolle Marabou-Schokolade und schließt die Tür. Dann bleibt sein Blick auf Birgers selbstgemachter Kräutermischung hängen. Also, es ist nicht Birgers, Maja, dessen Freundin, hat sie gemischt.
„So 'n Wohlfühltee“, hatte Birger beim letzten Besuch erklärt.
Faber nimmt die Dose aus dem Regal und besieht sich den kleinen Post-it-Zettel mit der Zubereitungsanweisung. Offenbar hat Maja sämtliche Bekannten damit versorgt, denn es ist alles auf Schwedisch. Aber Faber kann inzwischen genug, um sich die Hauptinfos übersetzen zu können. Er trinkt den Tee und isst ganz bewusst drei Drops der Schokolade.
Achtsamkeit nennt sich das und damit wird zunehmend Geld gemacht. Und das ärgert Faber. Denn mit dem Leid der Leute bzw. genauer gesagt mit dem Wunsch der Leute, dieses zu lindern, sollte man kein Geld machen. Aber was denkt er denn da? Schließlich verdient er mit dem Leid anderer Leute sein täglich Brot. Also: Achtsam sein. Und wenn es hilft... Verdammt, wenn es helfen würde, würde er auch Affenhoden essen.
Ob es der Tee ist, weiß Faber nicht, aber als er schließlich ins Bett krabbelt, tut er es mit einem guten Gefühl.
Am nächsten Tag kommen sie was die Ermittlungsarbeit betrifft gut voran. Das Auto, welches Nicolas Schlüter überfahren hat, wurde gefunden und ist sein eigenes. Außerdem haben Rosa und Pawlak die private erotische Filmsammlung von Schlüter auf dessen Laptop entdeckt. Offenbar hat er die halbe weibliche Polizei von ganz Dortmund flachgelegt. Das Essen mit Martina Bönisch in der Kantine ist...intensiv gewesen. Was nicht zuletzt an Hallers Anwesenheit und Fabers Gespräch mit dem Kollegen Klaus Wildner vom Betrugsdezernat, mit dessen Frau Schlüter ebenfalls geschlafen hat, gelegen hat.
Gerade hat er dessen Alibi überprüft. Wie von Wildner beim Mittag ausgesagt ist dieser im Büro gewesen und wie von diesem ausgesagt trinkt er auch nicht mehr. Dafür spricht zumindest die von ihm virtuell um diese Zeit besuchte Gruppe der AA. Warum er sich dort mit dem Dienstinternet eingewählt hat, weiß Faber nicht, höchstwahrscheinlich ist das Internet in seinem Wohnort einfach zu schlecht für Videokonferenzen. Aber das alles muss er seinen Teamkollegen ja nicht mitteilen.
Vom Flur aus geht er direkt in Bönischs Büro. Sie blickt genervt vom Laptop auf.
„Ich kann den Scheiß nicht mehr sehen!“*
Faber erspart sich einen Kommentar hierzu. Schließlich hat er sie ja wegen ihrer Fachkompetenz darauf angesetzt, auch wenn er ihr diesen Grund nicht mitgeteilt hat und es auch nicht tun wird.
„Tja, Wildner können wir abhaken“, erklärt er stattdessen, „hab' sein Alibi gecheckt.“*
Vom Flur ist Pawlaks Stimme zu hören. „Gut, aber... keine Ahnung, nur weil er jetzt ein bisschen unsicher gewirkt hat. Was genau willste denn da jetzt gesehen haben?“*, fragt er bei Rosa nach.
Diese antwortet prompt. „Atemstocken, Anfeuchten der Lippen,Vermeidung von Blickkontakt. Typische Anzeichen dafür, dass jemand lügt. Paul Lohse liebt Simone Schlüter noch“*, erklärt Rosa mit Nachdruck.
„Typische Anzeichen“, hakt Faber nach, „was sind typische Anzeichen?“*
„Erhöhter Schweißausbruch, Blinzeln“*, zählt Rosa weiter auf, bevor Faber ihr erneut ins Wort fällt:
„Blinzeln auch? Vielleicht hat er seine Augentropfen nich' genomm'.“*
„Sie halten Körpersignale für überbewertet?“*, fragt Rosa etwas spitz.
Da ist er dann doch wieder einmal etwas zu weit gegangen. Der alte Faber hätte noch einen drauf gesetzt, der neue präferiert die Deeskalation.
„Ach, nein, Quatsch“, entgegnet er reumütig, „überhaupt nicht. Hier, da gibt's so viele auffällige Intimpartnerinnen des Opfers, massenhaft Körpersignale. Schmeißen Sie sich drauf, weil Frau Bönisch – ich zitiere – 'kann den Scheiß nicht mehr seh'n.'“*
Deeskaliert und 'ner anderen Kollegin Arbeitserleichterung verschafft, machst dich ja ganz gut, meint der innere Kritiker.
„Aber die hier übernehm' ich jetzt doch noch“*, erklärt Frau Bönisch.
„Wieso?“, erkundigt sich Faber erstaunt und auch Rosa und Pawlak blicken fragend in Martinas Richtung.
Sie wendet den Laptop und sagt nur zwei Worte: „Jessica Steinmann.“
Faber zieht sich in sein Büro zurück. Er überlegt angestrengt, ob er die Anzeichen, die Rosa aufgezählt hat, an Katrin Steinmann bemerkt hat. Sie ist gefahren, also hat sie natürlich nicht ständig Blickkontakt halten können, aber auch so war ihr Gesicht ziemlich ausdruckslos. Die ganze Zeit über bei der Befragung und später hat sie ja auch gelächelt, aber da ging es um Privates. Beim Gedanken daran schleicht sich auch jetzt ein Lächeln auf Fabers Gesicht. Aber dann denkt er an das Gespräch mit Jessica gestern auf der Hördewache zurück und wird wieder ernst. Denn die hat ihn definitiv angelogen, als sie beteuert hat, sie hätte nichts mit Schlüter gehabt. Wie sehr er auch seine kleinen grauen Zellen bemüht, an ihre Mimik kann er sich wahrlich nicht erinnern. Immer Blickkontakt gehalten hat sie nicht, aber sie hat auch geweint, und wollte offenbar nicht, dass er das sieht. Faber wartet noch Bönischs Bericht zum Verhör mit Jessica ab und macht sich dann auf den Heimweg.
Zu Hause ist Faber hin und her gerissen. Soll er oder soll er nicht? Die Adresse ist ihm ja bekannt.
Du könntest einen entscheidenden Hinweis für die Ermittlungen finden, drängt ihn das Arbeits-Ich zum Aufbruch.
Und Zeit mit Katrin und mit... Martina verbringen, führt das private Ich einen, nein zwei weitere Gründe zum Besuch bei Katrin an.
„Na schön, dann...dann geh' ich“, murmelt Faber, so als müsste er sich selbst Mut zusprechen, und das muss er auch, das merkt der private Teil von ihm ganz deutlich.
Während er von der Bahn zu Katrins Haus schlendert, bemerkt er, dass Birger angerufen hat – und er bemerkt, dass der Akku im roten Bereich ist. Mailboxabhören ist also nicht drin, genauso wenig wie Anrufen oder Nachrichtschreiben.
„Shit“, flüstert Faber und biegt zu Katrins Haus ein.
Es ist kurz nach acht. Er fühlt den leichten Schweißfilm an seiner Fingerkuppe und sein Herz schlägt eindeutig zu schnell. Er nimmt einen tiefen Atemzug und drückt den Klingelknopf. Das Zusammentreffen mit den beiden Frauen ist unbeschreiblich. Faber fühlt sich in seine Kindheit zurückversetzt, es fühlt sich an, als sei man nicht zu einem Geburtstag eingeladen, trotzdem erschienen und als würde das die anderen Besucher stören, aber das Geburtstagskind nicht.
Als Katrin ihm anbietet, zum Essen zu bleiben, nimmt er gerne an und als sie dann den komischen Namen des Essens sagt, den er noch nie gehört hat, da kommt automatisch die Verbindung zu Birger, bei dem er wohl die meisten Speisen, die er vom Namen nicht gekannt hat, gegessen hat.
Nachdem er also kurz mit Frau Bönisch gesprochen hat, ruft er in Richtung Küche: „Ah, kann ich 'mal kurz mein Handy irgendwo aufladen?“*
„Ja, hier in der Küche“*, ruft Katrin zurück.
Mit einem „Super!“ folgt Faber der Stimme. Als er die Küche betritt, mixt Katrin gerade ein Dressing.
Das komische Wort ist also Salat, aber noch 'was, oder?
„Da, neben der Magnettafel sind Steckdosen“, informiert Katrin ihn und nickt zum Bereich hinter sich.
Faber fischt Ladekabel und Handy aus den Tiefen seines Parkas hervor und schließt das Gerät an das Stromnetz an. Als er sich zu Katrin umdreht, bemerkt er eine Arzneimittelpackung auf dem Tresen, wo Katrin gerade das Dressing unter den Salat hebt, und schluckt innerlich.
Tavor. Also anderer Name, aber gleicher Inhalt.
Faber hofft, dass man ihm seinen Schock nicht ansieht, als er, seine Emotionen überspielend, versucht, mehr darüber zu erfahren.
„Dienst an der Waffe is' mit den Dingern aber nicht drin. Das weiß ich aus eigener Erfahrung“*, sagt er locker.
Während er gesprochen hat, hat er die Packung unbewusst an sich genommen. Katrin greift danach und meint: „Ach, die gehören Jessica. Sie hatte emotionale Probleme.“* Sie legt die Packung in das Regal hinter ihnen, blickt ihn beschwichtigend an und ergänzt: „Sie hat's jetzt im Griff.“*
Dieses Mal braucht Faber nicht Rosas Mimiklesekünste zu bemühen, er weiß auch so, dass Katrin lügt. Schließlich werden die Dinger nicht einfach so verschrieben, für die emotionalen Probleme, die man 'mal eben wieder im Griff hat. Das sind Hammerteile und sie machen auch verdammt schnell abhängig.
Mit einem unguten Gefühl verlässt er die Küche, aber der Abend wird noch schön und so vergisst Faber nicht nur die Tabletten, sondern auch Birgers Anrufe und Mailboxnachrichten. Schließlich verlassen sie Katrins Haus. Als Faber gerade die andere Straßenseite erreicht hat, fällt ihm etwas ein.
Scheiße, das Handy!
Er geht zurück und klingelt erneut. Kurz darauf blickt Katrin verwundert durch das Glaselement der Haustür. Faber winkt verlegen. Dann öffnet Katrin ihm die Tür.
„Hab' mein Handy vergessen“*, meint er entschuldigend.
„Mhm, bitteschön“*, entgegnet Katrin.
„Danke“*, sagt er und betritt das Haus.
Rasch geht sie in die Küche und übergibt Faber das Handy. Sie lächeln sich an. Dann hebt Katrin ihre Hand und streift damit Fabers Hemd. Er erstarrt. Seine Fluchtinstinkte erwachen.
„Ja, äh, ich muss dann auch 'mal los“, meint er schnell und begibt sich zur Tür.
Ohne sich richtig zu verabschieden, ist er draußen, läuft bis zur Bahn, lässt sich auf einen der Sitzplätze am Bahnsteig fallen. Zig Gedanken rasen durch seinen Kopf. Was wäre passiert, wenn er nicht im wahrsten Sinne des Wortes den Schwanz eingekniffen hätte? Beim bloßen Gedanken daran reagiert Fabers Körper so wie gerade eben bei Katrin im Haus und dann entfaltet sich ein Kopfkino vor ihm.
Er schreckt zusammen. Es ist bereits dunkel. Faber holt das Handy hervor und hört Birgers Mailboxnachrichten ab, schreibt ihm schnell eine Nachricht und steigt in die nächste einfahrende Bahn.
Während der Fahrt gibt er den Namen von Katrins Abendessen, Pfefferpotthast, bei einer bekannten Suchmaschine ein. Sie hat beim Essen ja schon erzählt, dass es eines der wenigen vegetarischen Gerichte ist, die eigentlich aus Fleisch bestehen würden, das ihr in der Version ohne totes Tier besser schmecken würde, aber dass er da heute die Neuinterpretation eines fast waschechten Dortmunder Kochkunsturgesteins vor sich hat, das hätte Faber nicht gedacht.
Bestimmt hat er den Namen damals in der Kindheit und Jugend schon einmal gehört. Dass er es selbst als Dortmunder nie gegessen hat, ist hingegen nicht weiter ungewöhnlich, wenn er genauer darüber nachdenkt. Zwar ist die Familie väterlicherseits schon seit Ewigkeiten hier im Pott verwurzelt, aber es ist immer die Mutter gewesen, die gekocht hat, und da sie aus einer Flüchtlingsfamilie aus den ehemaligen Ostgebieten des einstigen Deutschen Reiches stammt, hat sie die Gerichte ihrer Familie gekocht und nichts Ortstypisches. Und später... später war es uncool, so alte Rezepte zu kochen. Außerdem hat Faber mit Birger die Köstlichkeiten der skandinavischen Küche zu schätzen gelernt und später die der norddeutschen mit seiner Frau.
Die Bahn hält und Faber geht flotten Schrittes zu seinem Zuhause.
Auf dem Weg weiß Faber nicht, wie er es finden soll, dass Birger jetzt hier ist. Gestern hat er sich nichts sehnlicher gewünscht, aber heute...gerade nach dem, was heute Abend passiert oder eben nicht passiert ist.
Als er ihn da so auf den Treppenstufen vor seiner Wohnungstür sitzen sieht, noch bevor sein Kumpel den Blick hebt, ist Faber eher nicht zur Freude darüber zumute. Denn er bemerkt sofort, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Und Faber hat ein wenig Angst davor, dass er jetzt nicht so für Birger da sein kann, wie dieser es vermutlich braucht, so wie er für ihn die letzte Dekade da gewesen ist. Bei der Begrüßung überwiegt allerdings ganz klar die Freude.
Oh Mann, was hat er denn gegessen? Das stinkt ja.
Offenbar nicht besonders viel, denn als Faber ihm ein Pils anbietet, knurrt Birgers Magen unüberhörbar. Faber schaut in sein kleines Tiefkühlfach im oberen Teil des Kühlschranks und holt die Pizzen hervor, tritt zurück ins Wohnzimmer und hält Birger die Packungen hin.
„Was willst du? Tonno oder Tomate-Mozzarella?“
„Fisch“, entgegnet Birger und kommt mit in die kleine Küche.
Während der Ofen vorheizt, erklärt Faber: „Der Manta is' schon wieder inner Werkstatt. Du, der Typ hat uns so was von verarscht.“
Birger schreckt offenbar aus seinen Gedanken auf. „Vad sa du?“
Das hat Faber dann auch mit seinen Schwedischkenntnissen verstanden. „Na, dass der Mantatyp uns verarscht hat. Der Wagen ist schon wieder im Eimer.“
„Shit happens“, entgegnet Birger grinsend und fügt dann wohl, weil er denkt, Faber hört es nicht, da er gerade Backpapier von der Rolle abreißt, hinzu: „And sometimes a lot of it.“
Während des Essens unterhalten sie sich neben der Arbeit auch über andere Themen, aber Faber wird das Gefühl nicht los, dass Birger beim Beruflichen etwas kurz angebunden gewesen ist.
Neuer Versuch, denkt er sich.
Sie räumen gerade den Geschirrspüler ein. „Und sonst bei der Arbeit?“, erkundigt sich Faber. Birger blickt ihn fragend an. „Ach, ich hab' da letztens so 'n Podcast gehört. Da ging es darum, dass ihr gerade in den Vororten der Großstädte echt Probleme mit den Gangs habt.“
Birgers Blick verfinstert sich. „Is' auch so“, meint er nur düster.
Dann folgt Schweigen. Sie beschließen, ins Bett zu gehen.
Als um halb zwei eindeutige Geräusche aus dem Wohnzimmer kommen, hat Faber noch kein Auge zugetan. Er öffnet die Tür. Birger erklärt ihm sein Problem.
Oh Mann, wir werden echt alt!
Er öffnet einladend die Tür und sie legen sich zusammen in das Doppelbett.
„Besser so?“, fragt er.
„Ja, ansonsten wäre ich morgen nicht mehr vom Sofa hochgekommen“, murmelt Birger ins Kopfkissen.
Sie wünschen sich gute Nacht. Auch jetzt kann Faber nicht gut schlafen.
Als er das zweite Mal um halb vier aufwacht, ist es nicht die Blase, die sich meldet, sondern Birger. Er hat offenbar einen Alptraum. Die undeutlich artikulierten Worte kann Faber nicht ansatzweise verstehen, aber Birgers wild um sich schlagende Arme sprechen eine deutliche Sprache. Faber rüttelt vorsichtig an seiner Schulter. Es dauert etwas, dann fährt Birger aus dem Schlaf hoch.
„Vad? Var?“, fragt er schlaftrunken.
„Du hattest einen Albtraum“, erklärt Faber.
Birger fährt sich über die nackenlangen, hellbraunen, ein wenig ins Rötliche gehenden Haare und den Vollbart, der in Teilen grau meliert ist.
„Offensichtlich.“
Es gelingt ihnen beiden wieder einzuschlafen, und weder Albträume noch die Schlafunterlage können Birger dieses Mal wecken.
Faber steht früh auf und kocht Kaffee. Frau Bönisch wird über die ungeplante Verstärkung beim Seminar von Dr. Oberländer nicht gerade begeistert sein, aber Faber braucht das jetzt einfach. Gerade nach gestern Abend, weiß er nicht, wie er das allein durchstehen soll. Er öffnet den Kühlschrank, um Milch für Birger herauszunehmen, als sein Blick auf etwas fällt, das neben dem schwedischen Trinkjoghurt in der Tür definitiv nicht ihm gehört. Er nimmt eine der kleinen, runden Plastikdosen in die Hand. Nun, das erklärt auch Birgers miefigen Atem von gestern Abend.
Aber warum?
Sie haben beide nach der Ausbildung unabhängig voneinander mit dem Rauchen aufgehört. Und auch nicht wieder angefangen.
Und jetzt?
Jetzt konsumiert Birger offenbar wieder Tabak. Faber öffnet die Plastikdose und besieht sich die kleinen, braunen Beutelchen im Inneren. Bei seinem ersten gemeinsamen Ausflug mit Birger nach Schweden hatte er sich über die wenigen Zigarettenkippen auf der Straße gewundert, dafür hatte ihn Birger auf die kleinen Beutelchen auf dem Asphalt aufmerksam gemacht, die nach wie vor einen Oraltabak beinhalten, der Snus heißt.
Als Faber ihn beim Kaffeetrinken auf seinen Vorrat im Kühlschrank anspricht, reagiert Birger äußerst unwirsch. Und das Gefühl in Fabers Magen, dass es seinem Freund nicht gut geht, verschlimmert sich. Und weil er sich dem Umgang damit nicht gewachsen fühlt, geht Faber dann auch lieber auf Birgers Anmerkungen zu seinem Abend gestern bei Katrin ein.
Und jetzt sitzt Faber im Büro. Das Ermitteln beim Seminar von Dr. Oberländer ist gut verlaufen, auch wenn ihm der Arsch auf Grundeis gegangen ist, als Oberländer sich ausgerechnet ihn für seine Demonstration auf der Bühne geschnappt hat. Denn dort hat er die ganze Unsicherheit, die gestern bei Katrin in ihm aufgekommen ist, noch einmal total gespürt. Aber das ist jetzt vorbei. Birger ist mit Mia auf dem Weg in den Zoo, so dass auch Pawlak sich vollends in die Ermittlungen stürzen kann.
Plötzlich klingelt Fabers Handy. Eine Nummer, die mit +46 beginnt, wird angezeigt.
Aus Schweden?
„Ja, Hauptkommissar Faber“, meldet er sich ganz korrekt.
„Peter?“, kommt es etwas zu leise und zögerlich an sein Ohr.
„Ja, wer ist denn da?“
„Maja ist hier“, erklärt die Stimme, „ich habe versucht, Birger zu anrufen, aber sein Mobil ist abgeschalten.“
„Du, Maja, alles gut, der ist hier unterwegs.“
Genießt seinen Urlaub, will Faber eigentlich hinzufügen, aber eine innere Stimme hält ihn davon ab.
„Ah“, kommt es aus dem Hörer.
„Alles gut bei euch?“, erkundigt sich Faber.
„Ja, alles gut mit uns“, bestätigt Maja, „und du klingst auch bättre, Peter.“
Dieser Satz macht Faber stutzig. Warum sollte er „besser“ klingen? Nicht nur der Polizist in ihm sagt ihm, dass hier etwas ganz gewaltig nicht stimmt.
„Ja, mir geht es besser“, bestätigt er vorsichtig, um mehr Informationen zu bekommen.
„Bra, Birger var rädd igår. Han sa att han måste flyga strax.“
Je mehr Maja erzählt, und das auch wieder auf Deutsch, desto verwirrter wird Faber. Offenbar hatte Birger also gestern Angst und zwar um ihn und ist dann sofort, wie Maja betont hat, losgeflogen.
Oje, da liegt 'was Großes im Argen.
„Ja, das war echt heftig, also jätte heftig“, erklärt Faber und hofft, dass Maja aufgrund seines eingestreuten schwedischen Wortes von weiteren Nachfragen absieht. Das tut sie. Faber beendet das Telefonat.
Eines steht fest, etwas ist verdammt noch 'mal nicht in Ordnung, aber nicht bei ihm selbst, sondern bei Birger. Faber geht die Begegnung mit ihm gestern durch. Ja, er hat geblinzelt, als er erzählt hat, er hätte Urlaub und ja, er hat ihn nicht immer angeschaut, als er von seinem letzten Fall erzählt hat. Das mulmige Gefühl in Fabers Magengegend nimmt zu, aber das muss jetzt warten, denn Pawlak ruft:
„Kommt ihr 'mal!“
Also begibt er sich mit allen anderen zu Pawlaks Schreibtisch.
„Der Investmentbänker hat das Alibi vom Oberländer bestätigt“, erklärt Pawlak, „der war tatsächlich gestern früh noch bei ihm in der Praxis, also...“* Er schnalzt mit der Zunge.
Nix mit Mörder, übersetzt Faber in Gedanken.
Plötzlich sagt Rosa: „'Number close, kiss close, sex close.' Paul Lohse hat diesen Pick-up-Scheiß bei mir abgezogen.“*
„Wie ernsthaft jetzt?“*, hakt Faber nach. Rosa nickt. „Und wie weit ist er gekommen?“*, fragt Faber ein wenig belustigt.
In Wahrheit ist er mit der Situation überfordert, denn anhand von Rosas Reaktion hat er bemerkt, wie nahe ihr das gegangen ist.
Rosa lacht verlegen. „Der hat nicht 'mal meine Handynummer bekommen“*, erklärt sie gespielt schlagfertig, aber auch hier erkennt Faber ihr Bemühen, schlagfertig zu erscheinen.
„Was ist, wenn Jessica 'rausgefunden hat, dass Nicolas so 'n Pick-Up-Artist war?“*, stellt Martina Bönisch eine Vermutung in den Raum und blickt Faber direkt in die Augen.
„Dann hätt' se 'n echt starkes Motiv“, entgegnet Faber, „also bitte, Frau Bönisch, bitten Sie sie doch noch 'mal her.“
Bönisch grinst. „Mit dem größten Vergnügen.“
Faber wendet sich an Rosa. „Könnten Se noch 'mal kurz zu mir 'rüberkomm'?“, bittet er sie.
„Äh, ja klar.“
Als Faber hinter ihr die Schiebetür zu Bönischs Büro schließt, blickt Rosa ihn unsicher an. Er schüttelt den Kopf.
„Is' 'was Privates“, erklärt er. Rosa sieht ihn nur an. „Wegen dieser Anzeichen beim Lügen, von denen Sie gestern gesprochen haben...“
Rosa lacht. „Da gab's nicht so viele auf den Videos.“
„Nee, is' zwar was Privates, aber um Pornos geht es nicht“, erklärt Faber.
Erst jetzt merkt er, dass er sich damit unter Umständen schon in Teufelsküche gebracht hat: Er als heterosexueller Mann ist mit einer weiblichen Untergebenen allein in seinem Büro und redet über Pornos...
Aber Rosa lacht nur und meint grinsend: „So habe ich das auch nicht gemeint.“
Faber lächelt erleichtert. „Na, dann is' ja gut.“ Er räuspert sich. „Also, diese Anzeichen: Schnelles Sprechen gehört auch dazu?“ Rosa nickt. „Und äh... Rückfall in die Muttersprache. Also dass ich 'was erzähle in 'ner Fremdsprache, die ich eigentlich gut kann, aber dann falle ich, ohne es zu merken, in meine Muttersprache zurück?“
„Kann auch passieren.“
„Ah ja, gut, ok, danke.“
Anscheinend guckt Faber sehr entgeistert, denn Rosa fragt: „Alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Faber?“
„Ja, ja, alles gut“, beeilt er sich zu sagen.
Vermutlich merkt sie jetzt, dass er lügt und kann sich denken, um wen es geht, immerhin hat sie Birger samt dessen Sprachkenntnissen heute kennengelernt, aber egal, sie wendet sich um. Da fällt Faber noch etwas ein.
„Und Rosa!“
„Ja?“
„Lassen Sie sich nix gefallen, ja? Schon gar nicht von diesen Aufreißertypen!“
Sie lächelt. „Keine Sorge, mache ich nicht.“
Dann verschwindet sie aus Fabers Büro.
Faber ist froh, als Martina ihm kurz darauf mitteilt, dass Jessica auf dem Weg ist. Denn seine Gedanken sind unaufhörlich um Birger und dessen ominöses, noch nicht bestätigtes, sich aber durch Indizien ganz klar abzeichnendes Problem gekreist.
Als Faber in den Flur mit den Vernehmungsräumen kommt, ist er erstaunt. Denn nicht nur Jessica ist gekommen, sondern auch ihre Mutter Katrin. Während Martina Bönisch die Vernehmung führt, steht Faber mit Katrin im Nebenraum und verfolgt den Verlauf. Und Faber muss sich eingestehen, dass er das niemals zugelassen hätte, wenn ihm Katrin nicht so gefallen würde.
„Wie oft haben Sie mit ihm geschlafen?“*, fragt Bönisch Jessica gerade.
Jessica schüttelt den Kopf. „Darum geht's doch gar nicht“* , wehrt sie ab.
„Wie oft?“*, hakt Martina nach. Jessica reagiert nicht. „Was hat er Ihnen erzählt?“*, fragt Bönisch herausfordernd.
In jeder anderen Situation hätte Faber die Schose, die Bönisch jetzt fährt, genossen, aber jetzt gerade tun ihm sowohl die Tochter im Vernehmungsraum als auch die Mutter neben sich einfach nur leid.
„Meine Ehe ist am Ende? Meine Frau versteht mich nicht? Du und ich, das ist was ganz Großes? Ich wünschte, ich hätte dich schon früher kennengelernt?“*
Während Martina spricht, wendet sich Faber Katrin zu. Es geht ihr sehr nahe, was da gerade hinter der Scheibe passiert, verdammt nahe, beinahe schon zu nahe. Bönisch macht unbarmherzig mit der Vernehmung weiter.
Faber ist total überrumpelt, als Katrin bei Jessicas Ausruf „Ich habe ihn geliebt! Und er hat mich geliebt!“* in den Vernehmungsraum stürzt.
„Was redest du denn? Er war doch verheiratet!“*, sagt Katrin merklich aufgebracht.
Jessica ist inzwischen aufgestanden. Sie sagt ihrer Mutter wütend ins Gesicht: „Er wollte seine Frau verlassen. Wir wollten beide aus Dortmund weg, uns 'n neues Leben aufbau'n.“*
„Er wollte seine Frau nicht verlassen. Er hat das alles nur erzählt, um sie 'rumzukriegen“*, sagt Bönisch eiskalt.
Wo ist nur die einfühlsame Frau Bönisch hin?
„Er war 'n Pick-Up-Artist. Die schlafen einmal mit 'ner Frau und das war's“*, fügt Bönisch erklärend hinzu.
Jessica schüttelt ungläubig den Kopf. „Das stimmt nicht“*, bringt sie leise hervor.
„Hat er mit Ihnen mehrmals geschlafen?“*, fragt Martina nach.
Weinend flüchtet Jessica aus dem Raum. Mit einem „Ich mach das!“* läuft Bönisch hinterher. Faber blickt Katrin an und hofft, dass Martinas Gereiztheit ihrer Anwesenheit zu verdanken ist und sie nun sanftere Töne mit Jessica anschlägt. Überrascht ist Faber nur ob der Tatsache, dass auch Katrin nach dieser Offenbarung – oder besser gesagt, den Offenbarungen: also der Zukunftspläne ihrer Tochter und der Enthüllung über Nicolas' wahre Absichten – sichtlich mitgenommen ist.
„Komm“, sagt Faber einfühlsam, „wir geh'n in mein Büro und da trinkst du erst 'mal 'was.“
Aus der Teeküche holt er ihr ein Glas Wasser.
„Danke“*, sagt Katrin noch immer mitgenommen und nippt am Glas.
„Du kannst Jessica nicht ewig beschützen“*, meint Faber einfühlsam und setzt sich auf die Schreibtischkante, als Bönisch gerade zurückkehrt.
„Ja, puch...esss“*, setzt Katrin an. Sie starrt vor sich hin, da kommt Bönisch zu ihnen herüber.
„Katrin, du hast mir doch gesagt, dein Ex lebt mit seiner neuen Frau in Bayern, richtig?“*
„Ja“*, bestätigt Katrin.
Etwas ungehalten entgegnet Bönisch: „Jessica sagt, ihr Vater is' tot.“*
Faber wendet seinen Blick von Martina zu Katrin. Sie starrt mit offenem Mund vor sich hin, gestikuliert. Rosa würde vermutlich ihre wahre Freude an der Szene haben, leider ist sie nicht hier.
„Harald is' nicht Jessicas Vater“*, erklärt Katrin dann nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Aber Harald und du, ihr wart doch damals 'n Paar“*, bohrt Martina weiter.
Faber steht vom Schreibtisch auf. Katzenkampf, so hat Stern das damals genannt und Faber hat irgendwie das Gefühl, dass sich das hier zwischen den beiden Damen zu einem entwickelt und er hat keine Ahnung, was er dagegen tun kann. Möglicherweise führt das ja auch zu irgendetwas.
„Martina, bitte, das is' so lange her. Ich möcht' da jetzt nicht drüber reden...“*
Während sie gesprochen hat, ist Katrins Stimme immer leiser geworden. Aber davon lässt sich Martina nicht beeindrucken.
„Wusste Harald, dass er nicht der Vater is'?“*
Faber hat sich inzwischen hinter seinen Schreibtisch gesetzt und der Polizist in ihm blickt Katrin interessiert an. Sie steht abrupt auf und wendet sich zum Gehen.
„Ich will's nur verstehen!“*, sagt Martina Bönisch lauter.
Sie stehen sich jetzt genau gegenüber. Katrin wendet Martina ihr Gesicht zu.
„Weißt du was? Damals wolltest du nix mit mir zu tun haben, ja? Da...da hätt' ich echt 'ne Freundin gebrauchen können. Und jetzt is' es einfach zu spät.“*
Mit diesen Worten geht Katrin. Martina sagt noch etwas, aber Faber hört nicht zu. Denn Katrins Worte, die haben ihn daran erinnert, dass auch er einen Freund hat, der ihn braucht. Und Faber will nicht, dass Birger irgendwann zu ihm sagt: „Damals hätte ich dich gebraucht. Jetzt ist es zu spät.“
Martina trinkt den Rest von Katrins Wasser. „Also, dann 'mal los!“
„Was? Wohin denn?“, fragt Faber verwirrt.
„Das vorgeschriebene Schießtraining?“, entgegnet Martina Bönisch.
„Ach ja.“ Faber erhebt sich.