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Verlorene Stadt

von Tokou
Kurzbeschreibung
GeschichteKrimi, Romance / P18 / Het
13.02.2022
07.03.2023
8
26.044
6
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Dieses Kapitel
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13.02.2022 3.897
 
Livs Handy vibrierte.
Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal.
Verwirrt beendete Liv den Satz und griff nach dem Störenfried, der unter einigen Notizbüchern begraben lag. Auf dem Display wurden ihr mehrere Nachrichten in dem Chatroom „Lissy“ an-gezeigt.
Liv verzog ihre Lippen zu einem kleinen Schmunzeln. Bereits die bloße Anwesenheit der Nach-richten verriet ihr, dass ihre bessere Hälfte wieder einmal den Vorsatz gefasst hatte ihre Freundin von einer dieser Ideen zu überzeugen, die Liv am Ende des Tages – mit hoher Wahrscheinlichkeit – bereuen würde.

„Hey“
„Henri hat heute seinen freien Tag.“
„20 Uhr. Fall Angels?“
„Ist ein neuer Club im Viertel.“
„Ich weiß das du bis dahin Feierabend machst.“
„Ausreden werden nicht akzeptiert!“


Alissa Roberts – von den Meisten schlicht „Lissy“ genannt – kannte sich in der Clubszene von Claas aus wie keine andere. Dazu besaß sie das außergewöhnliche Talent zu wissen wann wo ein neuer Club aufmachte. Letzteres verleitete die junge Studentin steht’s zu der einzigen – in ihren Augen durchaus mit einer gewissen Logik behafteten – Schlussfolgerung:  Ausgehen und Spaß haben.
Doch für Alissa war es gewissermaßen unmöglich diesen Spaß alleine zu genießen. Deswegen hatte sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht diese „Freude“ auch in das Leben ihrer Freunde zu bringen, weswegen Henri und Liv meistens Alissa auf ihren nächtlichen Abenteuern begleiten mussten – sehr zum Leidwesen der meist recht leeren Geldbeutel dieser.
Erneut vibrierte Livs Handy und eine weitere Nachricht leuchtete auf dem Display auf.

„Ich warte auf deine Antwort, Süße.“

Liv schnaubte amüsiert und schüttelte sachte ihren Kopf über die Hartnäckigkeit, die ihre Freundin zeigte. Bis sie nicht Livs Einwilligung bekam, würde sie Liv mit dem größten Vergnügen von ihrer Arbeit abhalten.

„Schick mir die genaue Adresse.“
„Ich werde versuchen pünktlich zu sein.“


Bevor Alissa eine Antwort senden konnte, schaltete Liv ihr Handy auf lautlos und legte es abseits auf ihren Schreibtisch, verborgen hinter ihren dicken Exemplaren der Enzyklopädien der Geschichte.
Konzentriert heftete sie ihren Blick wieder auf ihren Text, der besten Falls bis zum Feierabend auf dem Schreibtisch ihres Chefs liegen musste.  
Noch einmal den letzten Satz überfliegend, fuhr sie mit ihrem Finger über die enggeschriebene Seite ihres Notizbuches um die entsprechende Stelle des Interviews wiederzufinden, bevor sie sich dem nächsten Abschnitt widmete.
Während des Abtippens musste Liv sich unweigerlich an eine Diskussion erinnern, die sich im Verlauf ihres Studiums regelmäßig wiederholt hatte. Es ging stehts um die Verwertbarkeit von Augenzeugenberichten und den Nutzen dieser in der Geschichtswissenschaft.
Besonders einer ihrer Dozenten wurde es nie müde zu betonen, dass jeder Mensch eine andere Wahrnehmung besaß, abhängig ihres sozialen Status, Erfahrungen und Alters. Dazu spielte der Faktor „Zeit“ bei dem Prozess des Erinnerns stehts eine große – und oft unterschätze – Rolle. Bestimmte Dinge werden ausgeblendet oder hinzugedichtet, besonders bei traumatisierenden Erinnerungen, die für die Betroffenen nur schwer zu verarbeiten waren.
Daher hatte der Dozent keine Gelegenheit ausgelassen, um seine Studenten einzuschärfen bei der Verwendung solcher Aufzeichnungen vorsichtig vorzugehen und die Aussagen stehts kritisch zu reflektieren.
Liv war sich sicher, dass ihr ehemaliger Dozent einiges zu sagen wüsste, wenn er erfahren würde das die historische Abteilung des Senders und Verlages „CITY NEWS“ – die monatlich die Zeitschrift „CITY history“ veröffentlichte – sich häufig allein auf solches Material verließ und dieses nicht zwingend hinterfragte.
Ein leises, amüsiertes Glucksen drang aus Livs Kehle während sie sich ausmalte, wie ihr Dozent lauthals zu Zedern begann, gefolgt von einigen weniger schmeichelhaften Flüchen und Verwünschungen, bevor er seine Ermahnungen erneut mit eindringlicher Stimme vortragen würde.
Jedoch kann Liv – als Neuling in der Branche – wenig an dieser Arbeitsweise verändern. Sie besaß einen mühsam erreichten passablen Abschluss einer unbedeutenden Universität einer kleinen Bergstadt und eine Berufserfahrung, die gegen Null tentierte.
Niemand würde ihren Vorschlägen zuhören oder ernst nehmen.

Daher sollte sie für jeden langweiligen Auftrag dankbar sein, ihn mit Hingabe erledigen und sich die Idee aus dem Kopf schlagen erfahrenen Journalisten vorschreiben zu wollen wie diese ihre Arbeit erledigen sollten.
Nach dieser Ermahnung an sich selber wandte Liv ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Text zu, bis ihr Chef das Bedürfnis verspürte Liv aus ihrer Arbeit reißen zu müssen. „Wie weit bist du mit dem Interview?“
Liv drehte sich mit einem erstickten Schreckenslaut zu ihrem Vorgesetzten um, fegte bei der Gelegenheit jedoch den Großteil ihrer gestapelten Unterlagen vom Schreibtisch. Großzügig verteilten sich lose Blätter, rot korrigierte Entwürfe, Stifte und drei Notizbücher über den Boden.
„Oh!“, keuchte Liv mit glühenden Wangen, „Mr. Davenport.“
Sie sprang von ihrem Stuhl und hockte sich eilig auf den Boden, um das Chaos zu beseitigen.
„E-Es tut mir wirklich – Wirklich! – leid, Mr. Davenport.“ Unbeholfen raffte sie einige ihre Dokumente zusammen und richtete sich angespannt wieder auf, bemüht den Stapel nicht erneut fallen zu lassen.
„Unsinn.“, lachte Mr. Davenport. „Ich hätte mich bemerkbar machen müssen.“ Er bemühte sich sein amüsiertes Schmunzeln zu verstecken – mit wenig Erfolg, zu Livs Ärger – und reichte ihr eine Seite von einem Dokument, dass Liv in ihrer Eile übersehen hatte.
Ein „Danke“ murmelnd nahm Liv die Seite entgegen, bevor sich ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen ausbreitete.
„Liviana?“, fragte Mr. Davenport schließlich.
„J-Ja?“, fragte Liv unsicher, was der abwartende Blick ihres Chefs bedeuten könnte, der ungerührt auf ihr lag.
„Das Interview?“, wiederholte Mr. Davenport seine Frage.
Liv blinzelte verwirrt.
„Oh! Richtig. Interview!“, rief sie nach einigen Sekunden grübeln und strahlte ihren Vorgesetzten im nächsten Moment zufrieden an. „Ich bin so gut wie fertig. Geben Sie mir dreißig Minuten und Sie haben es auf Ihrem Schreibtisch liegen.“
„Beeindruckende Geschwindigkeit, Liviana. Du hättest bis morgen Mittag Zeit gehabt, aber umso schneller du bist, umso eher kann Miriam ihren Artikelentwurf fertigstellen.“

Das Lob kam ähnlich unerwartet wie Livs Chef selber und mit geröteten Wangen zupfte Liv an der Papierecke eines zerknitterten Notizblattes.
„Sie haben es doch noch nicht einmal überprüft. Kann sein das ich trotzdem bis morgen Zeit brauche um meine Arbeit noch einmal zu überprüfen.“, warf sie nervös ein.
Doch Mr. Davenport klopfte ihr gutgelaunt auf die Schulter. „Ich bin von deinem Talent überzeugt, Liviana. Du würdest mich niemals enttäuschen.“
Liv hatte auf einmal das Gefühl, als würde ihr jemand eine unerträglich schwere Last auf die Schultern laden. Dieses Gefühl begann hartnäckig an ihr zu nagen, selbst als Mr. Davenport sei-ne Aufmerksamkeit auf Miriam Goldsteins Arbeitsfortschritt richtete.
„Zieh nicht so ein Gesicht, Livi.“ Sonya Cormac, eine Frau Ende zwanzig und bereits seit mehreren Jahren Mitarbeiter der historischen Abteilung, lehnte sich an Livs Schreibtisch.
„Was für ein Gesicht?“, fragte Liv betont unschuldig und ließ sich eilig auf ihrem Schreibtischstuhl fallen. Stirnrunzelnd beobachtete sie wie Sonya ihr eine Packung Gummibärchen auf den Schreibtisch legte.
„Gegen die Falten.“ Sonya zeigte auf die Stelle zwischen ihre Augenbrauen und grinste dabei verschmitzt.
Ihre langen Ohrringe klirrten leise, als Sonya in die Richtung von Mr. Davenport nickte, während sie sich ein Gummibärchen aus der Packung nahm.
„Er gibt solche Sachen am fließenden Band leichtfertig von sich und denkt selten darüber nach, welche Erwartungen sein Gequatsche bei seinem Gegenüber auslösen könnte.“ Sie sah Liv wie-der an und lächelte milde. „Also hör nicht so genau hin, wenn er den Mund aufmacht. Tun die wenigsten in diesem Haus.“
„Miss Cormac. Wenn das Ihre fünfte Kaffeepause innerhalb der letzten zwei Stunden werden soll, sollten Sie sich langsam einen neuen Arbeitsgeber suchen. Ich bezahle Sie nicht fürs herumquatschen.“, rief Mr. Davenport in der Tür zu seinem Büro und warf Sonya einen düsteren Blick zu.

Augenzwinkernd wandte sich Sonya ihrem Chef zu. „Wenn wir es genau betraten, bezahlen Sie mich nicht, Mr. Davenport, und wenn wir bereits dabei sind, dann erhalte ich mein Gehalt fürs herumquatschen.“, widersprach Sonya spitz und sichtlich erheitert über die verkniffene Miene ihres Chefs. „Zudem müssten Sie Ersatz für mich finden sollte ich gehen, und die Liste der Bewerber für diese Abteilung ist nicht besonders lang, wie Ihnen sicherlich selber bewusst ist.“, fügte sie mit einem vielsagenden Grinsen hinzu.
„Sie wissen was ich meine und jetzt ab mit Ihnen.“ „Jawohl, Sir.“ Sonya salutierte und marschierte, hocherhobenen Hauptes, zu ihrem Schreibtisch zurück.
Liv unterdrückte ein Grinsen.
Sonya und Mr. Davenport kamen – laut des internen Tratsches – bereits seit Beginn ihrer Zusammenarbeit nicht gut miteinander aus. Mr. Davenport konnte mit der wenig ernsten Persönlichkeit Sonyas nicht umgehen und nahm ihre Späße als Kritik an seiner Person auf. Zudem warf er ihr vor, nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit ihre Arbeit zu erledigen.
Obwohl Sonya seine Meinung kannte, schien sie ihn bewusst regelmäßig mit ihren Späßen und Sticheleien herauszufordern, als wollte sie prüfen wie weit sie bei ihm gehen könnte. Doch Liv hatte an manchen Tagen das Gefühl, dass die gegenseitige Abneigung der Beiden auf etwas anderem beruhte. Leider hatte sie bisher nicht herausfinden können, was der wahre Grund war, denn Sonya wechselte das Thema sobald Liv sie darauf ansprach und Mr. Davenport wagte sie nicht zu fragen. Mittlerweile hatte sie den Punkt erreicht nicht weiter nachzubohren, da Liv Sonya mittlerweile als eine Art „Freundin“ sah, die ihr regelmäßig bei der Arbeit half – auch wenn sie dadurch ihre eigenen Aufgaben vernachlässigte und sich ein Tadel von Mr. Davenport ein-handelte.
Liv beobachtete Sonya mit einem nachdenklichen Blick, bevor sie sich wieder ihrer Abschrift des Interviews zuwandte und das Rätsel um die rätselhafte Beziehung ihrer Kollegin zu ihrem Chef vorerst beiseiteschob.

Dreißig Minuten später streckte sich Liv zufrieden, während sie darauf wartete, dass das Dokument über den internen Server verschickt wurde.
Als sich das kleine Fenster – das sie bat sich bitte einen Moment zu gedulden – endlich schloss, griff sie nach einem der letzten Gummibärchen aus der Packung und erhob sich, um Mr. Davenport in seinem kleinen Büro aufzusuchen.
„Liviana. Was gibt es?“, begrüßte Mr. Davenport sie, nachdem sie kurz an die Tür geklopft hatte und eingetreten war.
Er entließ seine mit Dokumenten beladene Assistentin, eine Studentin die die Stelle als Nebenjob ausübte, bevor er seine Aufmerksamkeit Liv zuwandte.
„Sie sollten das Interview in Ihrer Mail haben.“, erklärte Liv und nagte leicht nervös an ihrer Unterlippe.
„Warte…Ja. Ja, es ist da.“ Mr. Davenport nickte, nachdem er kurz auf seinem Bildschirm geschaut hatte und sah wieder auf das Dokument vor ihm.
Als ihm nach einer Minute bewusst wurde das Liv keine Anstalten machte sein Büro zu verlassen, hob er seinen Blick jedoch wieder und runzelte fragend seine Stirn. „Gibt es noch was, Liviana?“
„Naja. Ich wollte fragen, ob ich heute vielleicht etwas früher…“, begann Liv mit der festen Absicht Mr. Davenport zu fragen, ob sie für heute Feierabend machen durfte. Doch sie kam nicht mal dazu ihren Satz zu beenden, da Max Reed – ein Kollege mit erstaunlich hoher Arbeitsmotivation und Karriereaussichten – unaufgefordert in das Büro platzte.
Keuchend nach Luft ringend und verschwitzt, deutete alles daraufhin das Max statt des bequemen Fahrstuhls wieder einmal die zahlreichen Treppen in die fünfte Etage in Anspruch genommen hatte.

„Boss!“, brüllte er beinah, während er sich schwankend an den Türrahmen stützte, als habe er Angst seine Beine würden bei einer falschen Gewichtverlagerung nachgeben.
Mr. Davenport zuckte bei der unerwarteten Unterbrechung nicht einmal mit seinen Wimpern, sondern runzelte seine Stirn und sah seinen Mitarbeiter gelassen an.
„Um Himmelswillen, Max. Was im Namen der Göttin ist denn jetzt wieder in dich gefahren?“, fragte er mit einer bewundernswerten stoischen Ruhe.
Livs Augen wanderten zwischen ihrem Kollegen mit dem wirren Haaren und ihrem Chef im schief zugeknöpften Anzug, unsicher ob sie bei diesem Gespräch anwesend sein sollte. Was auch immer Max für aufregende Nachrichten hatte, theoretisch sollte es sie nichts angehen.
Mit nachdenklichen Blick starrte sie an die weiße Decke.
Diese Unterhaltung könnte einige Zeit dauern. Vielleicht sollte sie sich die Zeit bei einem Kaffee in der Cafeteria vertreiben und später einen erneuten Versuch starten mit Mr. Davenport zu sprechen.
Gerade als Liv sich leise aus dem Büro stehlen wollte, erklang die ernste Stimme von Mr. Davenport. „Liviana.“
„J-Ja?“ Als sei sie ein ertapptes Kind, fuhr Liv zusammen und ärgerte sich in derselben Sekunde über ihre in die Höhe gerutschte Stimme.
Mr. Davenport registrierte es ebenfalls sichtlich irritiert von der unerwarteten Reaktion. Aber statt sie darauf anzusprechen, beschränkte er sich auf eine schlichte Wiederholung seiner Frage, die Liv – tief in ihren Gedanken versunken – nicht wahrgenommen hatte. „Würdest du bitte, zusammen mit Max, zum alten Rathaus fahren?“
„Zum alten Rathaus?“, wiederholte Liv verwirrt.
„Hast du mir etwa gerade nicht zugehört?“, rief Max beleidigt aus. „Wer kann es ihr verübeln.“, murmelte Mr. Davenport, räusperte sich jedoch eilig, als Max ihn einen düsteren Blick zuwarf. „Ich meine, ja. Zum alten Rathaus.“
„Und wieso sollte ich zum…“ „Du hast wirklich nicht zugehört!“, schnaubte Max empört und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Er erinnerte Liv in diesem Moment mehr an einen kleinen Schuljungen, als an einen Mann in den Dreißigern, der in weniger als drei Monaten vor den Altar treten wollte.
„Heute findet auf den Platz vor dem Rathaus eine Pressemitteilung des Polizeipräsidenten, Oberbürgermeisters und des Abgeordneten Hubert Hill statt.“, erklärte Mr. Davenport geduldig.
„Eine Pressemitteilung?“ „Verflucht noch mal, Liviana. Willst du jetzt alles immer wieder wiederholen wie ein Papagei?“, brauste Max ungeduldig auf und sah genervt in Richtung Uhr.
Livs Gesicht verdüsterte sich.
„Nana. Jetzt beruhigt ihr beide euch mal wieder.“, unterbrach Mr. Davenport und sah Max ernst an. „Max. Es gibt durchaus Menschen in dieser Stadt, die mit dieser abscheulichen Nachricht noch nicht in Berührung kamen.“ „Ja. Wenn sie unter einem Stein leben.“, knurrte Max.
Liv warf ihm einen abschätzenden Blick zu.
Bereits seit ihrer ersten Woche, stand Max nicht besonders hoch in ihrer Sympathie und umso mehr sie mit ihm zu tun hatte, umso weiter sank er in dieser. Lieber hätte sie eine solche Aufgabe mit Sonya oder Miriam erledigt, die ihren reichen Erfahrungsschatz Liv nicht andauernd unter die Nase rieben.
„Um zum Thema zurückzukommen: Es geht um einen Mord im Hafenviertel, der vor zwei Ta-gen öffentlich bekannt wurde. Heute findet die erste, offizielle Pressemitteilung dazu statt und Max besitzt – wie auch immer er es geschafft hat– die Erlaubnis von der Redaktion der Tageszeitung und darf darüber berichten. Deswegen wird er daran teilnehmen. Mit dir als seiner Assistentin.“

Sprachlos öffnete Liv ihren Mund, während sie versuchte das Gehörte zu verarbeiten.
Obwohl Liv in der historischen Abteilung von „CITY NEWS“ arbeitete, kam sie privat selten mit Nachrichten in Berührung. Vermutlich wusste sie deswegen nichts von einem Mord im Hafen-viertel. Andererseits waren Morde in Claas keine Seltenheit. Daher – als Liv Max und Mr. Davenport verstohlen beobachtete – konnte sie das Interesse, das sich in den Augen der Männer widerspiegelte, nicht nachvollziehen.
„Aber wieso ist Max dafür zuständig? Solche Aufgaben machen doch die Mitarbeiter der Nachrichtenredaktion stehts unter sich aus.“ Mr. Davenport zuckte mit den Achseln und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück. „Budgetkürzungen und vermehrte Krankheitsausfälle. Die klauen mittlerweile jeden halbwegs fähigen Mitarbeiter aus den anderen Abteilungen. Diesbezüglich sind sie mittlerweile wie die Geier.“ In seiner Stimme schwang deutlich sein Ärger mit, was Angesicht des geradezu chronischen Personalmangels der historischen Abteilung nicht verwunderlich war.
Liv startete einen letzten Versuch Mr. Davenport von seiner Idee abzubringen. „Aber wäre jemand mit mehr Erfahrung nicht besser geeignet?“ Ihre eigene Unerfahrenheit anzusprechen, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack.
„Unsinn.“, winkte Mr. Davenport ab. „Das ist deine Chance Erfahrungen zu sammeln und von der eintönigen Arbeit wegzukommen, die ebenso gut von unserer Hilfskraft erledigt werden kann.“
Liv schwankte kurz, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ihrer Arbeit war, gab sich jedoch dem Willen ihres Chefs geschlagen. „Ich hole meine Sachen.“
„Beeile dich. Wir müssen in einer dreiviertel Stunde beim Rathaus sein. Ich hol schon mal den Wagen. Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig.“, rief Max ihr ungeduldig hinterher.
Liv verdrehte die Augen.
Zurück an ihrem Schreibtisch packte Liv gedankenverloren ihrer Tasche. Sie beschlich die düstere Vorahnung, dass sie es vermutlich nicht mehr schaffen wird, vor dem Treffen mit Alissa nach Hause zu fahren, sich umzuziehen und sich den Schweiß des Sommertages abzuwaschen.  
Seufzens schulterte sie ihre Tasche und steuerte den Fahrstuhl an. Sonya zwinkerte ihr aufmunternd zu, bevor sich die Fahrstuhltüren schlossen und Liv auf den Weg ins Erdgeschoss war.
In der verspiegelten Wand betrachtete sie kritisch ihr Äußeres. Ihr rotblondes Haar – das sie seit ihrem Schulabschluss als kinnlangen, asymmetrischen Bob trug – war zerzaust und ihr hellgrünes, provokant geschnittenes Sommerkleid vom Sitzen zerknittert. Sie wirkte nicht wie eine professionelle Journalistin – ja, nicht einmal wie eine halbwegs passable Assistentin.
Zudem beschlich sie der Verdacht das ihre dunkelgrünen High Heels ihr noch einige Probleme auf dem mittelalterlichen Pflaster des Platzes vor dem alten Rathause bereiten würde. Bei ihrem Glück, würde dieser spontane Auftrag für sie mit einem verstauchten Knöchel enden.

Aber vielleicht würde dieses momentan noch hypothetische Unglück dafür sorgen, dass ein charmanter Polizeibeamter oder ein intelligenter Journalist auf sie aufmerksam wurde. Immerhin konnten sich tausende Liebesfilme und Romane sich dieses Motiv nicht nur ausgedacht haben, um möglichst viele Käufer anzulocken. Wenigstens war das die stille Hoffnung von Liv, die bei ihrer eigenen Liebesgeschichte mittlerweile nur noch auf ein Wunder hoffte.
In ihrer Schulzeit hatte sie sich an ihr nicht vorhandenen Liebesleben nicht gestört. Im Gegenteil. Sie kannte die meisten Anwärter schlicht und einfach viel zu lange, um romantische Gefühle für diese entwickeln zu können.
Daher hatte sie das Projekt „Liebe“ erst wieder in ihrer Zeit an der Universität aufgenommen. Aber auch hier musste sie dieses Projekt frühzeitig als „gescheitert“ einstufen.
In jedem ihrer Studienfächer hatte Liv die Erfahrung sammeln dürfen, dass besonders ihre Fächerkombinationen dazu neigten realitätsferne und sozial eingeschränkte Personen anzuziehen. Mehr als einmal war sie während einer Vorlesung zu dem Schluss gelangt von der neuen Generation psychopathischen Serienmördern umgeben zu sein.
Liv letzte Hoffnung jemanden kennenzulernen der in ihr Leben passte, war ihr Arbeitsleben gewesen. Aber so wie es im Moment aussah, würde sie erneut einsehen müssen, dass ihr die berühmte „Liebe“ selbst hier nicht über den Weg laufen würde. Entweder waren die wenigen männlichen Kollegen vergeben, zu stark karriereorientiert oder schlichtweg zwanzig Jahre zu alt.
Deprimiert stieß sie die Luft aus und lehnte sich frustriert gegen die Fahrstuhlwand.
Mit einem leisen Geräusch, schwangen die Türen wieder auf und sie verließ den Fahrstuhl in Richtung des Hintereingangs, der zu den Mitarbeiterparkplätzen führte.
Während ihres Weges grübelte sie weiter über ihr Problem mit der Liebe.
Es konnte nicht daran liegen, dass sie zu hohe Anforderungen an ihren zukünftigen Partner besaß – immerhin besaß jeder eine klare Vorstellung über sein Idealbild – und Liv hatte genügen Frauen mit realitätsferneren Anforderungen an ihre Partner kennengelernt, die trotzdem mittler-weile glücklich vergeben waren.
Vor allem wenn sie Leute, wie Max Reed, kennenlernte – dessen Ansichten häufig von dem modernen Frauenbild abwich – die bereits seit mehreren Jahren glücklich vergeben waren, sah Liv sich immer mehr als alte Jungfer enden, die jedes Liebespaar, das ihren Weg kreuzte, mit Blicken zu töten versuchte.
Ein ungeduldiges Hupen riss Liv aus ihren düsteren Zukunftsprognosen und erinnerte sie unsanft daran, dass sie aktuell andere Probleme hatte, als sich ihren Kopf über das Liebesglück anderer zu zerbrechen.
Zum Beispiel wie die Zusammenarbeit mit Max nicht damit endete, dass sie ihm den Hals um-drehte.

✿ ✿ ✿

Bedächtig blies Ryan den Zigarettenqualm aus.
Seine grauen Augen waren starr auf drei Männer gerichtet, die auf einem eilig zusammengezimmerten Podium auf dem Platz vor dem alten Rathaus standen und zu der beachtlich großen Reportermeute sprachen. Bei deren hohen Anzahl musste jeder Verlag der Stadt Claas und der näheren Umgebung einen Vertreter geschickt haben, um die Schlagzeile in der morgigen Ausgabe auf sämtlichen Titelblätter präsentieren zu können.
Alle drei Männer waren Ryan bekannt.
Der Oberbürgermeister Shepherd war ein schweigsamer Mann, der seiner Politik treu bleibend nur wortkarg auf direkt an ihn adressierte Fragen antwortete.
Das Reden überließ er Polizeipräsidenten Balder, der immer wieder mit stoischer Ignoranz die Reporter darauf hinwies ihre Fragen aus Ermittlungstechnischen Gründen nicht beantworten zu können, bevor er mit monotoner Stimme fortfuhr, die weniger relevanten Fakten und die Sachlage zu erläutern.  
Der Repräsentant des Bezirkes im Regierungsrat, Abgeordneter Hubert Hill, nickte ihm immer wieder übereifrig zustimmend zu, während er sich mit seinem Stofftaschentuch den Schweiß von der hohen Stirn tupfte.

Ryans Blick lag vor allem auf Polizeipräsidenten Balder. Die Jahrzehnte auf den Straßen von Claas hatten ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Seine ganze Haltung, die von seiner hünenhaften Gestalt verstärkt wurde, schüchterte jeden Menschen bei klarem Verstand ein und spiegelte die Härte wieder dank der er bis zu diesen Punkt in seinem Leben gelangen konnte.
Doch diese Ausstrahlung schien an den hartnäckigen Reportern abzuperlen, die immer wieder unsinnige und bereits gestellte Fragen dazwischenwarfen, in dem stümperhaften Versuch ihm doch noch Informationen zu entlocken, die er dermaßen hartnäckig verschwieg.
Bisher waren ihre Bemühungen von keinem Erfolg gekrönt.
Ryan nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette und ließ seinen Blick abschätzend über die Reporter gleiten. Seit über einer Stunde beobachtete er dieses Theater bereits, verborgen im kühlen Schatten einer Hausecke und in einer seltsamen sadistischen Art und Weise amüsierte es ihn.
Er erachtete Reporter als Idioten, die schlicht und einfach mehr an einer emotional aufgeladenen Schlagzeile interessiert waren, als an der Wahrheit und er tat normalerweise sein Bestes um diesen Geiern aus dem Weg zu gehen.
Doch etwas an diesen vor kurzen bekannt gewordenen Fall hatte sein Interesse geweckt, weswegen er die naive Hoffnung gehegt hatte bei der Pressemitteilung Näheres erfahren zu können, ohne seinen Kindheitsfreund und Kriminalbeamten Rafe Scott dazu ausfragen zu müssen.
Aber Polizeipräsident Balder wusste, wie er etwas sagen konnte ohne Informationen preiszugeben. Ein Talent das Ryan widerwillig anerkennen musste und bei Rafe ebenfalls mehrfach bereits beobachten konnte.
Gerade als er den Qualm erneut bedächtig ausstieß, blieb sein Blick bei einem ungleichen Paar in der Menge hängen. Der Mann stellte eifrig ähnlich dämliche Fragen wie der Rest der Mannschaft.
Seine Begleiterin dagegen war untypisch still.

Sie beobachtete offenkundig nur die Pressemitteilung und machte sich handschriftliche Notizen in einem unscheinbaren Büchlein. Ihr Sommerkleid besaß einen provokativ tiefen Ausschnitt am Rücken, der nur teilweise von Schnüren verdeckt wurde und den Ryan von seinem Standort aus bequem bewundern konnte. Sie wirkte mehr als wollte sie zu einem Date gehen oder einen One-Night-Stand für die Nacht suchen.
Ryan schmunzelte leicht und kam zu dem Schluss das die Frau ein Neuling der Brunche sein musste. Keine Journalistin, die ernst genommen werden wollte, würde eine solche Kleiderordnung für einen beruflichen Auftritt wählen.
Sein Handy vibrierte in seiner Hosentasche.
Ohne den Blick von der jungen Frau zu nehmen, nahm er den Anruf an.
„Wo bist du?“, knurrte eine männliche Stimme harsch.
Ryans Lächeln verschwand.
Kade Cunningham – ein möglicher Erbe des Familienunternehmens, der es für nötig hielt sich bereits jetzt wie der Boss aufspielen zu müssen. Dabei war er nur ein nerviger Bastard, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte besonders Ryan mit seinen Aufträgen den letzten Nerv zu rauben, wie es die jüngsten Mitarbeiter der Firma zu nennen pflegten.
„Egal. Beweg deinen Arsch her. Es gibt Arbeit.“ „Wüsste nicht, dass ich für dich arbeiten würde.“, knurrte Ryan schlechtgelaunt und mit der Überlegung spielend einfach aufzulegen.
„Du arbeitest für den Clan, also auch für mich. Beweg-dich-her. Ich wiederhole mich nicht noch einmal.“ Kade legte auf und Ryan warf gereizt seine Zigarette auf den Boden.
Verfickter Scheißkerl.
Auch wenn er der Neffe des Bosses war, so war es eine äußerst befriedigenden Phantasie von Ryan sich vorzustellen ihm einfach eine Kugel in den Kopf zu jagen.
„Verflucht. Wenn das nichts Wichtiges ist, dann soll der Teufel ihn holen.“, fluchte Ryan düster und warf der fremden Frau im Sommerkleid einen letzten Blick zu.
Zwar reizte etwas an ihr ihn und schien ihn verheißungsvoll zu sich zu locken, aber die Chance das sie sich in einer Großstadt wie Claas wieder treffen würde, war nicht besonders hoch.
Nein.
Es wäre bereits Zeitverschwendung einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden.
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