Two out of Three ain't bad
von rheingoldweg12a
Kurzbeschreibung
Das hier ist eine Sammlung an Oneshots und kleineren Stories rund um eine polyamore AU zwischen Alberich x Boerne + Boerne x Thiel. Mal wird es h/c-lastig und mal sehr humorvoll. Mal werde ich mehr AxB betonen und mal mehr BxT. Und es wird auch Stories geben, die tatsächlich AxBxT sind. Das Rating wechselt auch. Diese Sammlung hat kein Verfallsdatum. Die Grenze ist nur mein Einfallsreichtum. Die Stories sind eher lose zusammenhängend und nicht chronologisch. Dennoch gehören sie alle in ein AU. In den Author's Notes werden ich etwas über meine headcanons zu diesem AU schreiben. Es gibt keinen bestimmten Update-Rhythmus. Immer wenn mir etwas einfällt, kommt ein Kapitel dazu.
SammlungSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P18 / Div
Kriminalhauptkommissar Frank Thiel
Rechtsmediziner Professor Karl Friedrich Boerne
Rechtsmedizinerin Silke Haller
01.02.2022
06.03.2023
9
43.469
6
17.06.2022
11.228
A/N: Hier das mehr oder weniger klärende Gespräch zwischen Alberich und Thiel, das sich einige gewünscht haben. Es ist zeitlich verschoben zu „Eifersucht“. Das bedeutet, die Stories passen zeitlich hier nicht eins zu eins zusammen. Aber es ist dasselbe AU. Außerdem gibt’s auch jede Menge AxB-Content und Ellie hat einen größeren Gastauftritt. Alles aus Alberichs PoV dieses Mal.
Zeitlich bewegen wir uns hier etwa während der Ereignisse von „Zwischen den Ohren“. Ellie ist um die Zeit von „Höllenfahrt“ geboren. Also hier solide 2,5 Jahre alt. Eine Rückblende ist auch wieder mit dabei, die zeitlich zwischen „Spargelzeit“ und „Herrenabend“ angesiedelt ist. Folgenbezug gibt es aber keinen. Ergeben hat sich die Polybeziehung vermutlich zwischen „Der Fluch der Mumie“ und „Spargelzeit“.
So viel zur Timeline. In den Notes am Ende gibt’s wieder einen Einblick in meine Headcanons zu diesem AU. Thema sind dieses Mal verstärkt die Kinder.
Heimkommen – Festhalten, nicht loslassen
Ihre Schritte hallten laut auf den langen Fluren des Krankenhauses wieder. Es war gespenstisch still. Nun sie hatte diese späte Uhrzeit nicht ohne Hintergedanken gewählt. Das geschäftige Treiben des Tages war verstummt und dieser merkwürdigen Ruhe gewichen. Sie hoffte nur, die Kolleginnen würden eine Ausnahme für sie machen und sie auch nach der offiziellen Besuchszeit zu ihm lassen.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als auch schon die Nachtschwester aus einem Zimmer trat und sie verwundert musterte. Ah, Nina. Perfekt. Sie kannte die junge Frau gut. Silke erinnerte sich mit diebischer Freude an die viel zu kurzen drei Monate, die die taffe Schwesternschülerin bei ihnen in der Rechtsmedizin für das Hospitationspraktikum verbracht hatte.
Ihrem Professor hatten schon nach einer Woche ordentlich die Ohren geschlackert. War er von ihr schon einiges gewöhnt in Sachen scharfer Konterkultur, spielte Nina Pabst nochmal in einer ganz anderen Liga. Die junge Frau nahm absolut kein Blatt vor den Mund. Silke bezweifelte, dass Nina wusste, wie man Taktgefühl oder Rücksichtnahme vor Autoritäten schrieb.
Frank und sie hatten jedenfalls drei Monate lang eine helle Freude daran gehabt, ihrem Partner beim verbalen Spießrutenlauf mit der angehenden Krankenschwester zuzusehen. Das laute Gezeter zuhause hatten sie beide dafür mehr als gern in Kauf genommen. Mehr als einmal hatten sie sich vielsagende Blicke zugeworfen und sich hinter dem Rücken des aufgebrachten Rechtsmediziners heimlich abgeklatscht.
Sie grinste versonnen vor sich hin. Frank wohnte noch nicht lange bei ihnen. Es hatte auch wirklich ewig gedauert, ihn davon zu überzeugen. Was hatte der Professor auf ihn eingeredet, ihn manchmal so lang verbal traktiert, bis der wortkarge Kriminalhauptkommissar sich murrend verzogen hatte. Einer dieser Abende war ihr besonders im Gedächtnis geblieben.
***
„Ich versteh‘s nicht, Alberich. Das ist die ideale Lösung. Und das ist doch wirklich witzlos. Er muss lediglich über den Flur ziehen und nicht ans andere Ende der Stadt. Aber natürlich für das träge Gemüt unseres werten Herrn Kriminalhauptkommissars ist sogar das zu viel.“ Beschwerte sich ihr Göttergatte abends laut klagend bei ihr, nachdem der andere Mann nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung zu dem Thema Wohnen wieder in seine eigenen vier Wände jenseits des Flures geflohen war.
Frustriert raufte sich der Rechtsmediziner die dunklen Haare, während sie die unruhige Ellie versuchte zu überreden, endlich zu schlafen.
Ihre Tochter war gerade 2 Jahre alt geworden. Schläfrig kauerte sich das Mädchen eng an sie gekuschelt auf ihrem Schoß und verfolgte das Gespräch der Erwachsenen. „Er braucht eben seine Zeit. Das weißt du doch. Ich glaube, er weiß einfach immer noch nicht, wo sein Platz hier eigentlich ist. Ich befürchte, er hat noch immer Angst, dass du…dass wir es uns anders überlegen.“ Flüsterte sie ihrem Mann seufzend zu. Gedankenverloren strich sie Ellie über das weiche, braune Haar.
„Was!“ Stieß der Professor entsetzt aus und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ellie zuckte in ihren Armen zusammen. Verärgert warf sie ihm einen Blick deswegen zu. Kurz blitzten seine Augen schuldbewusst auf. Dann wisperte er schon aufgeregt weiter. „Warum sollte ich? Zwei Jahre, Alberich. Ganze zwei Jahre habe ich mich gequält und unter Einsatz meiner ganzen Verführungskunst endlich das ermöglicht, was undenkbar war.“
Keck hob sie eine Augenbraue, während sie ihrer Tochter beruhigend über den Rücken streichelte. Du warst das? Das habe ich aber anders in Erinnerung. Verunsichert blinzelte er ihr zu. Dann ließ er die Schultern hängen und lenkte zähneknirschend ein. „Gut, ohne deine unermüdliche Hilfe und Unterstützung wäre das nichts geworden.“
Auch diese Beschreibung der Ereignisse stimmte nicht so ganz. Aber mehr würde sie wohl heute nicht aus ihm herausbekommen. Also gab sie sich damit zu frieden und vergrub lieber wissentlich lächelnd ihr Gesicht in den Haaren ihrer Tochter, die kurz davor war endlich einzuschlafen.
Erschöpft ließ sich Boerne auf die Coach ihr gegenüber fallen. Mit gesenktem Kopf betrachtete er seine nervösen Finger und begann mit seinem Ehering zu spielen. Eine Angewohnheit, die sie noch immer zum Schmunzeln brachte. „Was ich sagen will, Alberich. Warum sollte ich das wegwerfen? Welchen Grund hätte ich denn? Nach allem, was passiert ist, nach allem, was ich…“ Er sah auf und ihr stockte kurz der Atem. „…was WIR fast verloren hätten.“
„Ich weiß.“ Hauchte sie ihm nur leise zu. Ein weiterer reumütiger Blick aus kieferngrünen Augen traf sie genau dort, wo es auch nach all diesen Jahren noch immer am meisten wehtat. Mit hängendem Kopf griff er nach ihrer freien Hand und sie verstand.
Er schämte sich noch immer. Er bereute aus tiefstem Herzen. Dabei war ihm längst vergeben. Von ihr, von Frank, sogar von Ellie.
All diese Überheblichkeit, all seine Großspurigkeit. Sie täuschten nicht darüber hinweg, wie sehr er noch immer unter dieser Schuld litt. Sie musste es wissen. Sie begleitete ihn oft in den Nächten, in denen sich diese Schuld besonders vehement in seinen Albträumen Bahn brach. In denen er sie danach so fest an seinen von kaltem Angstschweiß überströmten Körper presste, dass sie glaubte, er würde sie wohl nie wieder gehen lassen. Und trotzdem erschütterte er sie immer wieder aufs Neue damit.
10 Jahre mit ihm, 4 Jahre bedingungslose Liebe, vor fast einem Jahr nochmal alles auf Anfang. So viel buntes, wildes und doch so schönes Leben dazwischen. Der lebende Beweis dafür lag doch gerade friedlich schlafend an ihrer Brust.
Und dennoch trafen sie seine Blicke manchmal noch immer so unvorbereitet wie am ersten Tag. Dieser hier war so verzweifelt, so traurig, dass es ihr fast das Herz brach. Auch darin war er mit den Jahren bedauerlicherweise nur versierter geworden und ihr dickes Fell deutlich dünner.
Ihre Abwehr hatte sie bereits vor Jahren aufgegeben. Ihre schwere Rüstung für ihn abgelegt, sodass er sie sehen konnte mit allem, was sie war. Mit allen Vorzügen und Unzulänglichkeiten. Hatte sich ihm todesmutig, ungeschützt und voller blindem Vertrauen präsentiert nur mit dieser Hoffnung in ihrem Herzen, es möge genug sein. Und das war es gewesen.
Und heute? Sie blickte kurz auf das schlummernde Menschenknäul auf ihrem Schoß. Sie bereute diesen Schritt nicht, nicht für eine einzige Sekunde. Auch das letzte Jahr nicht. Ja, es war schmerzhaft gewesen. Sie war so oft kurz davor gewesen aufzugeben, ihn gehen zu lassen. Wie konnte sie auch nicht?
Es war doch so einfach, so simpel. Sie liebte ihn. So sehr, so tief. Sie war bereit gewesen, dafür alles zu opfern, auch ihre Beziehung, ihre Ehe, wenn es bedeutet hätte, dass er glücklich war. Denn in diesen dunklen Monaten hatte sie endlich verstanden, warum Liebe die reinste Form von Selbstlosigkeit war.
Dennoch. Die Lehre war hart erkämpft gewesen. Aber sie hatte gelernt, ihn zu lieben, ohne zu besitzen. Hatte verstanden, was es hieß zu begehren, ohne zu zerstören. Hatte begriffen, warum jeder Moment mit ihm wertvoll war, ganz egal, wie und unter welchen Umständen sie ihn verbrachten.
Ja, er hatte Mist gebaut. Frank und sie so tief dabei verletzt, dass sie für eine Weile geglaubt hatte, dass sie das unmöglich überwinden könnten. Und das alles nur, weil er einmal in seinem Leben es nicht fertiggebracht hatte, seine Zähne auseinanderzubekommen. Er, der sonst nie wusste, wann man besser den Mund halten sollte.
Doch einmal mehr hatte sich gezeigt wie stur, wie belastbar, wie stark dieses Ding zwischen ihnen war. Es trotzte allem, ließ sich nicht unterkriegen. Sie erinnerte sich an seinen markerschütternden Aufschrei, als sie auch nur angedeutet hatte, dass sie das Feld räumen könnte. Dass sie ihm und Frank von Herzen nur das Beste wünschte. Dass sie tapfer sein konnte, dass sie ja noch Ellie und die Arbeit hatten. Dass sie doch immer noch verbunden sein würden, nur eben kein Paar mehr.
Niemals würde sie seinen panischen, angsterfüllten Blick vergessen oder die Arme, die sich wie ein Schraubstock um ihren zitternden Körper geklammert hatten. Sein Gesicht war tränennass gewesen, als er es vor ihr kniend in ihre Halsbeuge gepresst hatte. „Nein, nein, nein. Bitte nicht.“ Hatte er schwer atmend hervor gepresst. „Bitte verlass mich nicht. Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.“
Ruckartig hatte er seinen Kopf hochgerissen und sie mit diesem wilden, verzweifelten Blick regelrecht festgenagelt. Seine Arme hatten sich noch etwas enger um sie gelegt, sodass ihr das Atmen schwer geworden war. Dann war all diese Furcht mit einmal aus ihm herausgebrochen.
„Ich weiß, ich habe dich verletzt. Gott, ich kann mir kaum ausmalen, wie sehr das schmerzen muss. Ich wollte das nicht. Ich wollte das hier nicht zerstören. Aber ich kann das in Ordnung bringen, Alberich. Ich verspreche es dir. Wir bekommen das hin. Aber bitte…Gib mir noch eine Chance dafür. Nur eine einzige. Ich werde ihm sagen, dass das keine Zukunft hat. Ich werde…“
Schnell hatte sie ihm einen Finger auf den sprudelnden Mund gelegt. Traurig hatte sie ihn angelächelt. Mit Tränen in den Augen hatte sie sein geliebtes Gesicht in ihre Hände genommen. „Nein, das wirst du nicht. Ich werde nicht zulassen, dass du meinetwegen leidest, dass du wegen mir noch einen Menschen so verletzt.“
Ungläubig hatte er sie angeblinzelt. Es zerrte noch immer an ihrem Herzen, dass er es einfach nicht verstand, wie das funktionierte. Dass er es verdiente geliebt zu werden, selbst wenn er es so richtig verbockte. Selbst wenn er ihnen allen tausend Mal die Herzen brach.
Und dann war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Es war doch so klar gewesen, wohin das führen musste, wohin es sie letztlich auch geführt hatte. Es war so lächerlich offensichtlich gewesen, dass sie laut angefangen hatte zu lachen.
Sein verwirrtes Gesicht war so niedlich gewesen, dass sie sich nur schnell hinuntergebeugt hatte, um es zu küssen. „Du hast recht. Wir bekommen das hin. Aber ICH werde es sein, die alles wieder richtet und in Ordnung bringt. So wie immer also.“ Dann hatte sie nur noch einen liebevollen Kuss auf seiner Nasenspitze hinterlassen und war direkt ans Werk gegangen.
Es hatte gedauert, war anstrengend und mühselig gewesen. Aber nichts hatte sich mehr gelohnt in ihrem Leben und nun waren sie hier. Ein gutes Jahr später und aus zwei war plötzlich drei geworden. Sogar vier, wenn man es ganz genau nahm. Denn Ellie war ebenso sehr in Frank Thiel vernarrt, wie alle in dem Hause Haller-Boerne.
Und sie waren glücklich. So unfassbar glücklich, dass ihr manchmal schwindelig wurde. Dass sie nicht selten mitten am Tag fröhlich zu pfeifen begann. Dass sie manchmal spontan zu tanzen anfingen, wenn der Professor in ganz besonderer Hochstimmung war. Dass auch sie das breite Grinsen oft nicht unterdrücken konnte, wenn ein gewisser Kriminalhauptkommissar im Institut vorbeikam.
Dennoch sie verstand auch die Frustration ihres Partners. Mit einem tiefen Seufzen betrachtete sie den unglücklich aussehenden Mann. Das ging wirklich nicht mehr so weiter.
Das ständige Herumgeziehe von Wohnung zu Wohnung zerrte auch an ihren Nerven. Zumal es in den letzten Monaten oft genug vorgekommen war, dass Frank nach ihrer Erste-Hilfe-Verarztung – wenn die Verbrecherjagd ihrer beiden Draufgänger mal wieder ausgeartet war – auf ihrer Coach versackt war.
Sie dachte dabei auch an Ellie. Die Kleine war es inzwischen so gewohnt den Kommissar um sich zu haben, dass sie abends oft lautstark nach ihm für ihre Gute Nacht Geschichte verlangte. Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten und schaute auf ihre Tochter hinunter. Vielleicht war das sogar die Lösung.
Behutsam drückte sie Boernes Hand. „Ich glaube, ich habe eine Idee.“ Fragend hob er den Kopf. Ein freches Grinsen umspielte ihre Lippen. „Lass mich nur machen.“ Er legte forschend den Kopf schief. „Tue ich das nicht immer irgendwie.“
Herausfordernd schob sie das Kinn nach vorn und fixierte ihn mit einem entschlossenen Blick. „Und es hat dir bisher ja wohl auch nicht geschadet, oder?“ Leise lachend schüttelte er den Kopf. Dann stand er auf und nahm ihr die schlafende Ellie aus dem Arm.
Leise murmelnd rollte sich ihre Tochter an seiner Brust zusammen, aber sie wachte nicht auf. Das konnte er wirklich gut. Aber das hatte sie immer gewusst. All seinen Befürchtungen zum Trotz war er ein exzellenter Vater. Nichts ging ihm über Ellies Wohlbefinden und Glück.
Jeder Tag, an dem er ihr kleines Wunder nicht wenigstens fünfmal zum Lachen brachte, war ein verlorener für ihn. Das wusste sie nur zu gut, weil er nicht müde wurde, ihr diese zum Glück sehr rar gesäten Augenblicke ausgiebig in aller Theatralik vorzuheulen.
Jetzt lächelte er versonnen auf seine Tochter hinab. Ein Anblick, der nichts von seiner Wirkung verloren hatte. Ihr Herz machte einen kleinen begeisterten Hüpfer, als würde es klatschen. Wärme flutete ihren gesamten Körper. An das sehnsüchtige Ziehen in ihrer Brust würde sie sich wohl nie ganz gewöhnen. Im Stillen hoffte sie aber eigentlich schon, dass dieses Gefühl niemals etwas von seinem Zauber verlieren würde.
Verschmitzt warf er ihr noch einen Blick zu. Dann kam sie ihm schon entgegen. Zärtlich ließ er seine Lippen kurz auf ihren ruhen, immer darauf bedacht das kleine schlafende Monster zwischen ihnen nicht zu wecken. Behutsam flüsterte er danach direkt gegen ihren Mund. „Nein, wenig hat mir bisher mehr Freude und Glück gebracht.“
Dann verschwand er zügig mit Ellie im Kinderzimmer.
***
Sein Vertrauen in ihre Menschenkenntnis und Fähigkeiten sollten sich auch dieses Mal auszahlen. Keine drei Monate später hatte Frank seinen Widerstand aufgegeben und war zu ihnen gezogen. Der Plan war denkbar simpel gewesen, wenn auch etwas perfide.
Ein bisschen nagte noch immer das schlechte Gewissen an ihr, dass sie ihre kleine Tochter so instrumentalisiert hatte. Aber manchmal heiligte der Zweck eben doch die Mittel. Spätestens als Ellie das erste Mal „Danke, Pops.“ beim Einschlafen genuschelt hatte, war es um den Kriminalhauptkommissar geschehen.
Völlig aufgelöst war er ohne ein weiteres Wort in seine Wohnung gestürmt und hatte eine halbe Stunde später mit zwei Koffern wieder vor der Tür gestanden. Der Kopf gesenkt vor Verlegenheit, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. „Ich geb‘ auf.“ Hatte er leise geraunt. Dann hatte sie ihn schon zu sich hinunter in eine warme Umarmung gezogen und mit einem „Willkommen Zuhause, Frank“ begrüßt. Das selbstgefällige Grinsen des Professors in ihrem Rücken hatte sie ausnahmsweise mal unkommentiert gelassen.
Seitdem war alles Schlag auf Schlag gegangen. Das Gästezimmer hatte sich innerhalb einer knappen Woche in Franks persönliches Refugium verwandelt. Sie musste immer noch schallernd lachen, wenn sie an den irritierten Gesichtsausdruck ihres Partners dachte, als er die überdimensionale St-Pauli-Fahne an der Wand entdeckt hatte.
Fast unheimlich schnell waren sie in eine reibungslose Routine gefallen. Es wirkte alles so eingespielt, so natürlich, als würden sie das schon immer so machen, als wäre das alles Bestimmung gewesen. Sie störte sich nie an der Gegenwart des anderen Mannes. Im Gegenteil. Sie überkam oft eine tiefe Melancholie, wenn mal einer der beiden nicht da war. Es fühlte sich oft so an, als würde ein Stück fehlen in einem Bild, das plötzlich unvollständig war und keinen Sinn mehr ergab.
Und obwohl sich Frank nahtlos in ihren Alltag eingefügt hatte – so war es nun oft er, der Ellie in die Kita brachte – hatte er eine Bedingung gehabt. Eine einzige. Seine Wohnung blieb. Sie durfte nicht anderweitig vermietet werden.
Sie konnte das nur zu gut verstehen. Die Vorstellung musste gruselig für ihn gewesen sein. Alles aufzugeben. Jegliche Rückzugsoption über Bord zu werfen. Zumal es – sehr auch zu ihrer Freude – immer öfter vorkam, dass Lukas ihn besuchte. Da war so eine zusätzliche Wohnung direkt gegenüber mehr als praktisch.
Der Professor hatte das zunächst ganz anders gesehen. Natürlich hatte er diskutiert und über die verschwendete Miete geschimpft. Bis er schließlich nach einer besonders intensiven Debatte mit ihr grummelnd eingewilligt hatte. Ihr kam in den Sinn wie hitzig sie gestritten hatten. Frank nur der stumme Zeuge in der Ecke.
Zunächst hatte sie nicht begriffen, warum ihr das eigentlich so wichtig gewesen war. Warum sie diesen Kampf für den Kriminalhauptkommissar so vehement und unnachgiebig geführt hatte. Warum sie so hart und uneinsichtig geblieben war. Sie, der eigentlich immer ein goldener Mittelweg einfiel.
Sie hatte erst befürchtet, dass da doch wieder ihre eigene Unsicherheit und Eifersucht anklopfen würden. Mittlerweile wusste sie es besser. Sie schluckte schwer. Nein, da hatte sich etwas ganz anderes gemeldet, dass sie bis vor einigen Tagen noch sehr erfolgreich verdrängt hatte. Doch damit war es jetzt endgültig vorbei.
Ihr schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht. Ihr wurde plötzlich unangenehm warm und ihr Puls beschleunigte sich. Verlegen räusperte sie sich, um ihre aufgepeitschten Nerven wieder in den Griff zu bekommen. Das hier war nicht der Ort, um den Kopf über ein paar verwirrte Emotionen zu verlieren. Und doch konnte sie das seltsame Gefühl in ihrem Magen nicht verleugnen, dass sich verräterisch nach einer Horde wild gewordener Schmetterlinge anfühlte.
Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Hatte es vor gut 10 Jahren das letzte Mal in dieser überraschenden Intensität gespürt, als ein junger stellvertretender Leiter des Instituts für Rechtsmedizin sie mit einem spitzen Spruch grinsend über seine Brille hinweg betrachtet hatte. Damals hatte sie es auf ein paar flattrige Nerven am ersten Arbeitstag geschoben. Heute wusste sie es besser. Heute teilte sie sich mit ihm nicht nur den Arbeitsplatz, sondern auch eine Wohnung, eine manchmal reichlich turbulente Ehe und eine zauberhafte Tochter.
Vehement schüttelte sie den Kopf. Das hier war anders. Das MUSSTE anders sein. Das war nur das Adrenalin, die Erleichterung, dass es ihm inzwischen besser ging. Auch wenn es bereits ein paar Tage zurücklag. Die zermürbende Sorge um Frank nach der schiefgegangenen Auflösung einer Geiselnahme saß ihr noch immer in den Knochen.
Vor allem die quälenden Stunden, in denen sie keine Information bekommen hatten, was mit ihm passiert war. Ob er überhaupt noch lebte, hatte sich tief bei ihr eingebrannt. Boerne war naturgemäß schier die Wände hochgegangen. Hatte lautstark jeden verfügbaren Polizisten nach Antworten angeherrscht. Niemand hatte welche für den aufgebrachten Professor gehabt.
Sie hatte nur dagesessen. Mit dröhnendem Kopf und dieser beißenden Leere in ihrem Magen. Orientierungslos hatte sie vor sich hingestarrt. Die salzigen Tränen auf ihrem Gesicht hatte sie erst bemerkt, als der Professor sie grob an sich gedrückt hatte.
„Keine Angst, Alberich. Das ist Frank Thiel und nicht irgend so ein naiver Provinzpolizist, der noch ganz grün hinter den Ohren ist. Er schafft das schon. Er kommt da raus. Du wirst schon sehen. In ein paar Stunden sitzen wir wieder alle hundemüde an unserem Frühstückstisch.“ Hatte er ihr ins Haar gewispert, während er sie beide sanft vor und zurückgewogen hatte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass er damit nicht nur sie hatte beruhigen wollen.
Also hatte sie nur stumm genickt und ihre Finger in seine Brust gekrallt. Festhalten, nicht loslassen. Das schien wirklich ihr Motto zu sein. Und auch dieses Mal sollte es sich auszahlen, als Stunden später ihr schwer angeschlagener aber doch sehr lebendiger Freund endlich in einen der Krankenwagen verfrachtet wurde.
Sie erinnerte sich an sein erschöpftes Lächeln sehr genau. Denn es war dieser Augenblick gewesen. Exakt diese Sekunde, als sie die Erkenntnis wie ein Blitz getroffen hatte. Als ihr sorgfältig gebautes Kartenhaus aus Ausreden und Ausflüchten ganz leise in sich zusammengefallen war. Als schlagartig all diese merkwürdigen Momente und Empfindungen der letzten Monate einen Sinn ergeben hatten.
Sie war verliebt. Verliebt in zwei Menschen zur gleichen Zeit. Denn auch das wurde ihr plötzlich klar. Diese Offenbarung änderte rein gar nichts daran, wie stark sie für Boerne empfand. Im Gegenteil. Es schien fast als wäre ihr Herz einfach nur ein wenig größer geworden, um Platz zu schaffen für diese neuen Gefühle, die wenn sie ehrlich war sich gar nicht so neu und fremd anfühlten, wie sie sollten.
Wie in Trance hatte sie die Szene beobachtet. Das wild flackernde Blaulicht um sie herum. Boerne der zärtlich Franks Hand in seine genommen hatte. Das weiche Lächeln auf dem Gesicht des Professors. Sie hätte in diesem Moment alles darum gegeben, direkt neben ihm zu sein. Franks andere Hand zu halten und ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn zu drücken.
Aber das war nicht ihr Platz. Das war nicht die Rolle, die sie spielen sollte. Also hatte sie ihre Sehnsucht und ihr Verlangen in den folgenden Tagen geschluckt. War nur mit ihrem Partner zusammen ins Krankenhaus gegangen, wenn er den Kommissar besucht hatte. Hatte sich vornehm im Hintergrund gehalten. Die Distanz zu dem kantigen Mann aus Hamburg, der im Grunde zu ihr und Ellie meist sanft wie ein Lamm war, gesucht, um ihr emotionales Gleichgewicht wiederzufinden.
Sie hatte das gebraucht. Diese Bedenkzeit für sich. Sonst könnte sie ihnen das niemals erklären. Sonst würde sie niemals in der Lage sein, ihnen ihren Entschluss mitzuteilen. Ihnen diesen heimlichen Wunsch zu erfüllen, den Boerne ihr betrunken vor einigen Monaten anvertraut hatte.
‚Alberich, lass uns eine richtige Familie werden.‘ Noch immer hallte dieser Satz in ihrem Kopf nach. Bisher hatte sie es kaum geschafft, dieses Thema mit Frank auch nur anzuschneiden. Ihr eigener chaotischer Gemütszustand verkomplizierte das Ganze nun zusätzlich.
Dennoch war sie weder taub noch blind. Ihr entgingen Franks sehnsüchtige Blicke nicht, wenn er Ellie beim Spielen zusah. Sie hörte das kaum unterdrückte Verlangen, wenn er von Lukas Abreisen und Telefonaten berichtete. Wie konnte sie ihm das nur verwehren, wenn es dafür eine scheinbar logische Lösung gab? Wie konnte sie sich sperren, nur weil dieser tiefe Wunsch von ihm für sie gerade mehr als unpässlich kam?
Nein, sie musste endlich mit ihm darüber sprechen. Ohne, dass ihnen ihr großer Kindskopf dabei in die Quere kam. Ohne, dass sie jemand ablenken konnte. Vor allem nach dem bizarren Telefonat mit dem Krankenhaus heute Morgen. Sie konnte es nicht länger aufschieben oder künstlich hinauszögern. Nein, es musste jetzt sein, genau jetzt, wenn die Gefahr, dass sie jemand stören würde, so gering wie möglich war.
Und wie viel sie dabei preisgab, welche Karten sie offen auf den Tisch legte und welche sie für sich behalten würde, nun das würde sich zeigen, das war ihr überlassen. Mit diesem Gedanken rollte sie bestimmt ihre Schultern zurück und trat entschlossen auf Nina zu, die sie schon mit einem süffisanten Grinsen empfing.
„Na, diesen Blick kenne ich doch noch. Hat sich der Professor mal wieder ganz besonders viel Mühe gegeben, ja? Ich hoffe doch, dass Sie voll auf Ihre Kosten gekommen sind, Frau Haller. Wie man so hört, müssen Sie ihn sich ja seit einiger Zeit teilen.“ Die junge Frau lachte boshaft auf und warf den Kopf in den Nacken, sodass ihre schwarz-rosa gefärbten Haare flogen.
Absolut kein Filter. So war Nina eben. Silke kannte das schon und sie wusste, dass die Kommentare der jungen Frau sehr viel liebevoller gemeint waren, als so manch anderes gehässiges Getuschel, das sie sich anhören mussten, seitdem sie aus ihrer etwas unkonventionellen Beziehungskonstellation kein Geheimnis mehr machten.
Erstaunlicherweise hatte Frank damit die wenigstens Schwierigkeiten. Silke vermutete schon eine Weile, dass da eine gewisse Staatsanwältin ihre Finger im Spiel hatte und die weniger positiven Konsorten im Präsidium einmal ordentlich eingenordet hatte. Immerhin war Frau Klemms bedingungsloser Beistand in den besonders harten Phasen goldwert für die Rechtsmedizinerin gewesen.
Wie viele Nächte hatte sie sich bei der älteren Frau ausgeweint, nur um mit ihren ruppigen Sprüchen wieder auf Kurs gebracht zu werden. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Frau Haller. Sind Sie eine Kämpferin, oder nicht? Sie werden es doch wohl schaffen, diese beiden Pappenheimer in die Spur zu bringen. Sie sind mehr Frau als diese beiden Feiglinge jemals Männer sein könnten. Also los, zeigen Sie den Biss, den ich von Ihnen gewohnt bin.“
Schmunzelnd dachte sie an die flammenden Reden der Staatsanwältin zurück. Immer mit einer unangezündeten Zigarette im Mundwinkel, die nur darauf bettelte endlich verbraucht zu werden. Es war vermutlich wirklich Wilhelmine Klemm zu verdanken, dass sie sich nicht geschlagen gegeben hatte.
Ihr und Franks erfrischend unangepasstem Vater, der Silke unermüdlich in ihrem schwierigen Unterfangen unterstützt hatte, die beiden Männer davon zu überzeugen, dass es eine Zukunft auch zu dritt geben kann. Ständig hatte sich Herbert Thiel auch rührend um Ellie gekümmert, wenn Silke jegliche Kraft dafür gefehlt hatte, ihren tiefen Kummer vor ihrer Tochter zu verbergen. Seitdem war auch er aus Ellies Leben nicht mehr wegzudenken.
Zwar hatte sich der lässige Taxifahrer die üblichen anzüglichen Sprüche nicht nehmen lassen. Aber ohne ihn und Frau Klemm hätte sie wohl sehr schnell die Hoffnung verloren. Vielleicht hatte sie deshalb so giftig auf Franks Aktion reagiert, als er seinen Vater wegen ein paar Spargelstangen in U-Haft genommen hatte.
Kurz dachte sie daran wie ungnädig der Kriminalkommissar und der Professor manchmal mit den beiden Seniormitgliedern ihrer kleinen Familie umgingen. Wenn sie nur erahnen könnten, wie viel sie ihnen zu verdanken hatten, vielleicht würden sich die beiden Sturköpfe deutlich mehr beherrschen, mehr Nachsicht walten lassen und sich in Geduld üben. Andererseits meist hatten ihre beiden Chaoten zumindest gegen die adrette Staatsanwältin eh nicht den Hauch einer Chance.
Ein weiteres Lachen von Nina holte sie aus ihren Gedanken. Noch immer lachend legte die Schwesternschülerin das schwarze Klemmbrett beiseite und richtete ihre vergnügt funkelnden Augen auf die kleine Rechtsmedizinerin. „Oder hat es die Nervensäge vom Dienst mal wieder zu bunt getrieben und Sie sind hier auf Rachefeldzug?“
Vielsagend zuckte die junge Frau mit dem Kopf Richtung Flur. „Ich könnt’s verstehen. Dieser Thiel ist schon echt ein feiner Kerl. Ein bisschen mürrisch und wortkarg vielleicht für meinen Geschmack. Aber Sie haben ja den perfekten Gegensatz gleich auf dem Sofa zuhause zu sitzen. Bisschen Abwechslung tut ja auch mal ganz gut, nicht wahr? Und der hier ist so schön bodenständig im Vergleich zu dem Herrn Professor. Thiel schwärmt jedenfalls nur in höchsten Tönen von Ihnen. Also wenn er sich dann mal zu mehr als ein paar Drei-Wort-Sätzen hinreißen lässt. Den scheint irgendwas ganz schön zu beschäftigen. Aber wenn es um Sie oder Ihre Tochter geht, dann blüht der richtig auf. Man könnte fast meinen, er ist in Sie statt in den Prof verschossen. Naja praktisch, dass die beiden zu ihrem Haushalt gehören. Win-Win würde ich sagen. Wie ist das denn so, wenn man gleich von zwei Männern derart angehimmelt wird? Stell ich mir auch irgendwie stressig vor.“
Silke schwirrte leicht der Kopf und sie war froh, dass die Krankenschwester ihren Monolog scheinbar beendet hatte. Nina war eben mit allen Wassern gewaschen. Sie kannte keine Scheu oder rote Linien. Das hatte ihr schon immer imponiert an der jungen Frau und sie ein bisschen an den Professor selbst erinnert, der da ganz ähnlich tickte, auch wenn er das natürlich vehement abstreiten würde. Manchmal fragte sie sich, was ihr da noch mit Ellie blühen würde. So bezaubernd sie diese Angewohnheit auch fand, heute war ihr das einfach etwas zu viel.
Sie rang sich daher nur zu einem schiefen Lächeln durch und legte verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Na, ich seh schon. Aus Ihnen ist auch nichts rauszuholen. Dieses Sphinx-Lächeln kommt mir auch noch sehr bekannt vor. Ein Versuch war’s wert. Irgendwer muss ja den Gossip-Chanal in diesem Laden am Leben erhalten und mit pikanten News füttern.“
Reumütig zuckte Silke mit den Schultern. Als wollte sie sagen. Tut mir leid, aber das hier ist sehr heikel und privat. In Ninas graublauen Augen las sie jedoch wie immer keinen Groll. Noch etwas, das sie an der jungen Frau so schätzte. Selten war ihr jemand begegnet, der vorurteilsfreier und offener durch die Welt schritt. Da konnten sich selbst Frank und ihr Partner noch etwas abgucken.
„Na, dann kommen Sie mal. Ich denke, er wird noch nicht schlafen. Sie kennen den Drill. Keine laute Musik oder wilden Parties. Es ist immerhin nach 22 Uhr und lassen Sie sich nicht von einem anderen Patienten erwischen. Und tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde.“ Keck zwinkerte ihr die junge Frau nochmal zu. „Ich bin vorn, wenn Sie was brauchen.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich die junge Schwesternschülerin und lief pfeifend den Gang zurück.
Mit einem flauen Gefühl im Bauch stand sie nun allein vor der vertrauten Zimmertür. Einzelzimmer. Natürlich. Darauf hatte der Professor bestanden. Sie verfluchte sich kurz selbst. Es war doch nur Frank. Wovor hatte sie denn solche Angst? Sie allein entschied, wie ehrlich sie heute Nacht sein würde. Entschieden nickte sie und klopfte sacht an die Tür. Dann trat sie mit leicht wackligen Beinen ein.
Das Zimmer lag im Halbdunkeln. Die Lampe am Bett war noch an. Nina hatte recht behalten. Der Kriminalhauptkommissar schlief noch nicht. Stattdessen stand er mit dem Rücken zu ihr am Fenster und blickte in die Nacht hinaus.
Er drehte sich nicht verwundert zu ihr um. Stattdessen seufzte er nur tief, um ihr zu signalisieren, dass er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte. Also doch. Er wusste Bescheid. Ahnte vermutlich, warum sie gekommen war, warum sie allein hier war. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit auf sie gewartet.
Völlig erschöpft setzte sie sich auf den Rand des Betts und wartete einfach nur ab. „Was machst du hier, Silke?“ Durchbrach er schließlich mit gedämpfter Stimme nach einigen Minuten die Stille ohne sie anzusehen.
Augenblicklich brannten ihr die Augen und so richtig wusste sie nicht mal wieso. Vielleicht lag es an dem traurigen Ton in seiner Stimme. Vielleicht war es aber auch, dass er immer noch vorgab von nichts zu wissen, sich aber nicht mal die Mühe machte, zu verbergen, dass er längst genesen war. Dass er längst hätte nach Hause kommen können und es aus irgendeinem Grund nicht tat.
„Das weißt du ganz genau, Frank.“ Flüsterte sie daher nur tränenschwer zurück. Mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen beobachtete sie ihn, wie er sich langsam zu ihr drehte.
Als ihre Blicke sich trafen, traten sie in einen stummen Kampf ein. Sie war entschlossen nicht nachzugeben, nicht zu verlieren. Egal, was das genau bedeutete. Sie war hier, um Antworten zu bekommen und sie würde nicht eher gehen, bis er ihr das alles erklärt hatte. Bis sie verstand, warum das Krankenhaus ihr mitgeteilt hatte, dass er seit knapp einer Woche eigentlich hätte entlassen werden können, aber er das ablehnte.
„Warum?“ Fragte sie daher nur. Dabei lag die Antwort doch auf der Hand. Sie lag in seinen tieftraurigen Augen.
Sein Blick tat weh. Seine himmelblauen Augen waren voller Scham und Schuld. Das Blau getränkt in Hoffnungslosigkeit und Schmerz. Es erschloss sich ihr nicht. Was war nur passiert, dass es ihm so schlecht ging? Warum versteckte er sich hier vor ihnen? Sie waren doch glücklich gewesen oder etwa nicht? War das alles nur eine Illusion gewesen?
Eine Lüge, die sie sich in ihrer eigenen vertrackten Situation immer und immer wieder erzählt hatte, sodass sie sich nicht der Wahrheit stellen musste. Der Wahrheit, dass er unglücklich war. Dass er mehr wollte und dass sie es war, die diesem Mehr im Weg stand. Wie konnte sie nur glauben, dass ein Kind das ändern würde. Wie hatte sie nur so töricht sein können, zu glauben, dass sie Teil der Lösung sein konnte.
Nein, in seinen Augen war sie nur Teil des Problems. Noch schlimmer. Sie war das Problem. Und er wollte ihr dennoch nicht wehtun. Wollte sie und vor allem den Professor schützen. Sie beide abschirmen vor all diesem Kummer, diesem Sehnen, das er mit sich herumtrug. Er wollte selbstlos sein. Er wollte loslassen.
Aber das konnte, das durfte er nicht tun. Festhalten, nicht loslassen. Das war nicht länger nur das Lebensmotto von Boerne und ihr. Nein, es gehörte unweigerlich nun zu ihnen dreien.
„Nein.“ Stieß sie daher schluchzend hervor, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte. „Nein, du darfst das nicht tun, Frank. Wir finden eine Lösung. Wir haben doch immer einen Weg gefunden.“
Er lachte verbittert auf. „Welcher Weg soll das sein, Silke? Hm? Wie stellst du dir das vor?“ Er schüttelte unwirsch den Kopf. Sie kramte verzweifelt in ihrem Kopf. Sie musste etwas sagen. Irgendetwas tun. Sie konnte ihn nicht verlieren. Unter keinen Umständen. Schon wegen Boerne nicht. Dann sprachen sie beide gleichzeitig.
„Du wirst ihm das Herz brechen. Und mir auch.“
„Soll ich meinen Job an den Nagel hängen?“
Verwirrt sahen sie sich an. Und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie bei aller Vertrautheit gerade schwer aneinander vorbei kommunizierten. Irritiert zog sie die Stirn kraus. Dann öffnete sie den Mund. Doch erneut sprachen sie zur selben Zeit.
„Wie bitte?“
„Wa?“
Die Verblüffung hielt sich nur für einen kurzen Moment. Dann brachen sie in nervöses Gelächter aus und durchschnitten die Spannung im Raum. Langsam ging er zu ihr und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Vorsichtig nahm er ihre Hand in seine und legte sie in seinen Schoß.
„Ich glaube, wir haben da einiges zu klären und aufzuarbeiten, Frau Haller.“ Flüsterte er ihr amüsiert zu und stupste sachte mit seiner Schulter an ihre. „Was Sie nicht sagen, Herr Thiel.“ Antwortete sie und ließ sich auf das Spiel ein. Kurz verfielen sie wieder in Schweigen. Hingen ihren Gedanken nach.
Wo nur anfangen? Wo genau hatten sie den Faden eigentlich verloren? An welcher Stelle war er nur anders abgebogen als sie und warum? Denn dass er weglaufen wollte, dass konnte er nicht verleugnen. Nicht nach diesen letzten Minuten.
Also wiederholte sie nur ihre Frage von vorhin. „Warum?“ Nur ein Wort. Ein einziges Wort mit dem sie hundert Fragen gleichzeitig stellte. Warum willst du weglaufen? Warum ist das nicht länger genug? Warum willst du dich ausgerechnet jetzt abwenden, wenn ich gerade erst begriffen habe, wie sehr auch ich dich will, selbst wenn du nicht genauso fühlst? Was soll denn nur aus uns werden? Was ist mit ihm? Wie soll ich diese Wunde ganz allein heilen? Kann ich das überhaupt? Wie soll ich das Ellie erklären?
Er ließ sich Zeit. Fing an mit ihrem Fingern zu spielen. Eine Angewohnheit, die er sich offensichtlich von dem Professor abgeschaut hatte. Traurig lächelte sie vor sich hin. Es war schon erstaunlich, wie sehr Boerne bereits auf ihn abgefärbt hatte. Wie sehr sie sich alle verändert hatten in diesem einen Jahr. Wie konnte er das nur alles hinter sich lassen wollen?
„Ich kann nicht so weiter machen.“ Dieser Satz bohrte sich wie eine feine heiße Nadel in ihre Brust. Sie versuchte gegen den Schmerz anzukämpfen. Es gelang ihr kaum. In ihren Ohren rauschte es, sodass sie seine nächsten Sätze zunächst kaum verstand.
„Ich will ihn nicht verletzen. Und dich auch nicht, schon gar nicht Ellie. Verdammt, das ist das Allerletzte, was ich will. Weißt du ich…ich liebe ihn wirklich. Ich liebe ihn so sehr.“ Flüsterte er leise. Trostlos lachte er auf. „Ich glaub‘, ich hab‘ das noch nie so deutlich gesagt. Nicht mal zu ihm.“ Verständnisvoll nickte sie ihm zu.
Boerne hatte ihr nur vage davon berichtet, dass es Frank immer noch schwerfiel über seine Gefühle ganz offen und ohne Schuld zu sprechen. Sie hatte eigentlich gedacht, dass auch das mit der Zeit sich finden würde. Geduld und Zeit. Damit hatte sie geglaubt alles heilen zu können. Wie falsch sie nur gelegen hatte.
„Und ich glaub…“ Setzte er zögerlich fort und blickte sie vorsichtig an. „Ich glaub, ich liebe euch auch. Ich kann mir das gar nicht mehr vorstellen ohne euch.“ Sie holte scharf Luft. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als sei ihr Herz stehen geblieben. Aber sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Dann folgte ein weiteres bitteres Lachen von ihm.
„Klar, dass mir das jetzt einfällt, wenn es keine Rolle mehr spielt.“ Er schüttelte traurig den Kopf. Dann seufzte er schwer und ließ ihre Hand los. Sie spürte den Verlust seiner Nähe bis in ihre Haarspitzen. Dennoch hielt sie ihre Hand eisern in ihrem Schoß und widerstand dem Drang, nach ihm zu greifen.
„Aber ich kann auch nicht einfach aufhören Polizist zu sein. Und die Mordkommission. Das ist nun mal mein Leben. Ich kenne nichts anderes. Ich habe nichts anderes gelernt. Dort fühle ich mich zuhause. Und ich weiß, es ist egoistisch.“ Gedankenverloren blickte er wieder zum Fenster. Dann trat ein entschlossener, harter Blick in seine sonst so weichen, himmelblauen Augen.
„Sie haben mich bedroht. Das ist nicht mal das Problem. Das kenne ich schon. Das kommt eben mit dem Job. Was aber schwerer wiegt. Sie wussten von euch. Sie wussten von Ellie. Sie haben mich gesehen mit ihr, wenn ich sie zur Kita gebracht habe und sie haben mir Fotos gezeigt, wie du sie wieder abgeholt hast.“ Müde schüttelte er mit dem Kopf. Dann drehte er sich langsam wieder zu ihr.
„Ich will…ich kann euch nicht weiter gefährden. Ich hatte Zeit, als ich hier gelegen habe. Zeit nachzudenken und ich denke…es ist besser, wenn ich mich fernhalte ab jetzt. Es ist noch nicht zu spät. Also werde ich mich versetzen lassen. Zurück nach Hamburg.“ Rasch wandte er sich wieder von ihr ab. Er schien ihren Blick kaum ertragen zu können.
Entsetzt sah sie ihn an. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte sich also wirklich geirrt. Es ging gar nicht um sie oder dass sie einer Zukunft mit Boerne im Weg stand. Sie war nie der Grund gewesen. Jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie sie gedacht hatte. Er hatte einfach Angst. Doch sie glaubte nicht mal für eine Sekunde, dass es wirklich etwas mit seinem Job zu tun hatte.
Verdammt nochmal er hatte ihr gerade gesagt, dass er sie und ihre Tochter ebenfalls liebte. Auch wenn er es vermutlich nicht so meinte, wie sie es sich manchmal wünschte. Es war Liebe. Das war ihr genug. Genug, um darum zu kämpfen. Koste es, was es wolle.
„So, denkst du das? Und wann hattest du vor, das mit Karl und mir zu besprechen? Wie wolltest du Ellie, deiner Tochter, das mitteilen. Und wag es nicht, jetzt zu sagen, dass sie das nicht ist.“ Verärgert hob sie drohend ihren rechten Zeigefinger. So langsam stieg die Wut in ihr hoch. Zornig sprang sie vom Bett und begann vor ihm auf und ab zu laufen.
„Wer bringt sie jeden Morgen in die Kita? Von wem will sie unbedingt ihre Gute-Nachtgeschichte hören? Weißt du überhaupt was in den letzten Tagen zuhause los war, weil ihr Pops nicht da war, um all diese Dinge zu tun.“ Sie wurde immer lauter. Schweratmend ging sie auf ihn zu und bohrte ihm ihren vor Wut bebenden Finger in die Brust.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal zu dir sage. Aber du bist ein Feigling Frank Thiel. Ich werde nicht zulassen, dass du das tust. Ich werde dir nicht gestatten, unserem kleinen Engel die Flügel zu brechen, weil du plötzlich kalte Füße bekommst. Hörst du mich. Und du wirst ganz sicher nicht dem Mann…“ Sie musste sich kurz räuspern. „Dem Mann, den ich liebe, derart das Herz brechen.“
Plötzlich stiegen ihr die Tränen erneut in die Augen und die Wut wich ein Stück. Erschöpft ließ sie ihre Hand sinken. „Hast du das denn alles schon wieder vergessen? Was wir durchgemacht haben, um hier anzukommen. Soll es das jetzt gewesen sein? Soll das alles umsonst gewesen sein? Willst du das letzte Jahr wirklich dafür wegwerfen, weil du…weil du dich fürchtest? Ist denn die Angst wirklich so viel stärker als das hier, als wir?“ Sie hielt sich die Hand auf die Brust, während ihr die Tränen unkontrolliert die Wangen hinunterliefen.
„Sind wir das denn nicht auch? Dein Leben? Dein Zuhause? Das ist es doch, wovor du dich eigentlich so fürchtest, nicht wahr? Dieser Gedanke, dass du nie ganz dazu gehören wirst.“ Flüsternd trat sie ganz dicht an ihn heran. Aber der Kriminalkommissar weigerte sich, sie anzusehen und blickte stattdessen mit gesenktem Kopf auf seine Hände.
„Ich wollte nicht grausam sein.“ Wisperte er leise zurück. Dann blickte er endlich auf. Seine Augen immer noch so schrecklich trüb. „Im Gegenteil. Ich weiß, ich bin manchmal grob und hart. Reden is auch nich so mein Ding, wie du weißt. Aber das hier…“
Er machte eine vage Geste in ihre Richtung. „Es sollte eigentlich sowas wie…wie Zuneigung sein. Denn sei doch mal ehrlich, Silke. Auf wen könnt ihr am ehesten verzichten? Ihr seid auch ohne mich schon eine Familie. Das ward ihr davor und das werdet ihr auch nach mir sein. Ihr seid bereits komplett. Ihr braucht mich dafür nicht.“ Sie sah, wie er schwer schluckte. Dann wiederholte er mit zittriger Stimme. „Ihr braucht mich nicht.“
Ungläubig und sprachlos starrte sie ihn an und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie hatte geahnt, womit er haderte. Aber nicht, dass seine Unsicherheit so tief ging. Er hatte immerhin nicht mal versucht, seine Geschichte von den angeblichen Gefahren seines Berufs für ihre Familie, aufrechtzuerhalten. Allein das sprach Bände. Seufzend setzte sie sich wieder neben ihn. Dieses Mal griff sie nach seiner Hand.
Sie wusste, dass sie jetzt behutsam mit ihm sein musste. Die harte Kante würde sie dieses Mal nicht weiterbringen. „Du glaubst das wirklich, nicht wahr?“ Fragte sie daher vorsichtig. Er antwortete nicht, sondern blickte weiter stur nach unten. „Sieh mich an.“ Forderte sie ihn so sanft, wie möglich auf. Doch er drehte den Kopf nur noch weiter weg. Aber sie würde jetzt nicht aufgeben.
Sie rief sich nochmal die Worte von Frau Klemm vor all diesen Monaten in Erinnerung. Sie konnte das. Sie war eine Kämpferin und wenn das letzte Jahr eines bewiesen hatte, dann das sie stärker war als all die Zweifel und Ängste dieser beiden komplizierten Männer. „Sieh mich an, Frank.“ Sagte sie daher nochmal bestimmter und drückte seine Hand.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber sie konnte warten. Deshalb war sie hier. Sie würde nicht länger davon laufen. Dann spielte sie eben alle Karten aus, setzte nochmal alles aufs Spiel. Wenn es das gewünschte Resultat brachte, war es das wert. Endlich blickte er sie an. Sein gequälter Blick machte ihr zu schaffen, aber er spornte sie auch an. Sie musste das jetzt hier richtig machen. Ehrlich sein. Zu sich und zu ihm.
„Wir gehören zusammen, Frank Thiel. Wie kannst du das nicht verstehen? Du fehlst überall. Jeden verdammten Morgen, an dem du nicht an dem Frühstückstisch kommst, um Karls Toast zu stehlen, fehlst du. Jeden Abend, wenn du Ellie nicht ins Bett bringst, fehlst du. Jeden Sonntagnachmittag, an dem Karl und du mir nicht mit euren kindischen Zankereien auf den Zeiger geht, weil ihr euch zu Tode langweilt ohne einen Fall, fehlst du. Und es sind erst drei Monate. Drei Monate, Frank.“
Mit ihrer freien Hand griff sie nach seinem Gesicht. Zärtlich legte sie sie an seine Wange und fuhr ihm mit dem Daumen über das Gesicht. Seine Haut fühlte sich so anders an als Boernes. Anders warm, anders rau und doch irgendwie weich. Anders und doch so vertraut.
„Wir sind nicht komplett, wenn du nicht da bist. Verstehst du? Ich habe das erst jetzt so richtig begriffen. Wir sind nur zu dritt ganz. Wenn einer fehlt, dann ist das nicht mehr richtig. Und ich…ich kann…ich kann nicht…ich kann das nicht mehr ohne dich stemmen. Also hör auf mir zu erzählen, dass wir bereits eine Familie wären. Das sind wir nämlich nicht. Nicht mehr. Nicht ohne dich.“ Sie atmete einmal tief ein.
„Komm einfach nach Hause. Bitte.“ Flüsterte sie leise. „Wir vermissen dich. Er vermisst dich und Ellie schläft so schlecht, seitdem du hier bist und ich…ich vermisse dich auch.“ Mit einem wässrigen Lächeln betrachtete sie ihn.
Geduldig zeichnete sie mit ihren Augen seine Gesichtszüge nach. Musterte das aschblonde Haar, von dem Boerne ihr immer noch berichtete, dass es überraschend weich war. Sie blieb an seiner leicht gebogenen Nase hängen, die Ellie so gern mit ihren kleinen Fingern stupste und danach jedes Mal laut loskicherte. Sie fuhr mit ihren Augen seine Lippen ab, die so verschmitzt grinsen konnten, wenn sie beide Boerne neckten.
Dann verlor sie sich kurz in seinen himmelblauen Augen, die immer so leuchteten, wann immer er Ellie laut lachend auf den Schultern durch die Wohnung trug. Diese Augen, von denen sie selbst schon viel zu oft geträumt hatte. Die so viel Wärme ausstrahlten, wenn er seinen Partner irgendwo erblickte. Und die sie immer so betrachteten, als wäre sie ein kleines Wunder.
Es stand außer Frage. Frank Thiel war ein besonderer Mann. Und er gehörte zu ihnen und deshalb würde sie ihn jetzt auch nicht gehen lassen. Diesen stillen, sonderbaren Mann, der erst ihrem Professor das Herz gestohlen und sich dann ganz heimlich, ganz still und leise auch in ihres geschlichen hatte. Sie würde ihn jetzt nicht verlieren. Nicht deshalb. Festhalten, nicht loslassen. Rief sie sich nochmal in Erinnerung und schloss die Augen.
„Silke…“ Raunte er zaghaft. Aber sie ließ ihn erst gar nicht richtig zu Wort kommen. Sie war im Kampfmodus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie ihn wollte, dann musste sie alles auf eine Karte setzen. Das hatte schon mal funktioniert. Das würde auch jetzt klappen. Es musste. Davon hing nicht mehr nur ihr eigenes Glück ab.
„Ich will die IVF!“ Rief sie daher plötzlich laut. Schweratmend öffnete sie wieder ihre Augen und blickte in seine. „Wa?“ Fragte er verwirrt. Dann legte sich ein Schatten über sein Gesicht und er riss sich von ihr los. Nun war er es, der sich wütend von der Bettkante erhob. „Er hat es dir erzählt.“ Knurrte er ihr regelrecht entgegen.
Zornig zog er seine Augenbrauen zusammen und ballte seine rechte Hand zu einer Faust. „Ich hab’s gewusst. Dieser aufgeblasene, arrogante Besserwisser. Nie kann er sich irgendwo raushalten. Muss ja immer überall seine Finger im Spiel haben und Gott bewahre, dass seine Hochwürden mal seine verdammte Klappe hält.“ Tobte er halblaut vor sich hin. „Wenn ich den in die Finger kriege…“
Sie hatte endgültig genug von diesem Affentheater und fuhr ihm über den Mund. „Ich weiß Bescheid, Frank. Dafür brauche ich Karl nicht. Ich habe selbst Augen im Kopf.“ Ging sie energisch dazwischen. „Ich seh doch, wie du Ellie ansiehst. Ich höre, wie sehr du Lukas vermisst, wenn er wieder weg ist. Und ich will das auch nicht, weil ich damit irgendwelche Beziehungsprobleme zwischen dir und Karl flicken will.“
Seufzend zeigte sie ihm an, dass er zu ihr kommen sollte. Als er nah genug war, griff sie wieder nach seiner Hand. „Ich weiß schon lang, dass du dir Kinder mit ihm wünschst. Und warum solltet ihr euch durch all diese komplizierten Verfahren quälen, die eine Adoption bedeuten würden? Warum jemand Fremden mit in diese Situation bringen, wenn ich da bin. Und vielleicht…“ Sie lächelte ihn zaghaft an. „Vielleicht bringt uns das beide auch noch etwas näher.“ Beruhigend strich sie ihm über den Handrücken.
„Warum solltest du das tun? Warum solltest du das riskieren für mich? Ellies Geburt war kein Sparziergang gewesen, soweit ich weiß.“ Er sah sie durchdringend an. Sie widerstand dem Drang ihren Blick abzuwenden. Alles oder nichts. Jetzt zählt es.
Sie schluckte schwer. Alles an ihr zog sich zusammen. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Kurz befürchtete sie, dass ihr Mut sie ausgerechnet jetzt im Stich lassen würde. Doch dann stellte sie es sich kurz vor, wie es sein würde, wenn er sie nicht ablehnen würde. Wenn er es einfach akzeptierte. So wie er bisher alle Sonderbarkeiten an ihrem chaotischen Leben akzeptiert hatte.
Sie dachte an sein lautes Lachen, wann immer ihr ein besonders guter Konter gegenüber Boerne in seiner Gegenwart gelang. Ihr kam sein anerkennendes Zwinkern in den Sinn, wenn sie einen wichtigen Beitrag zu ihren Mordermittlungen beitrug. Sie rief sich in Erinnerung, wie oft er sie in den Arm nahm. An Geburtstagen, nach einem erfolgreich abgeschlossenen Fall und manchmal einfach nur so, weil er sie vermisst hatte. Und wie sicher sie sich bei all diesen Gelegenheiten gefühlt hatte.
Und hatte er ihr nicht vor nicht mal zehn Minuten gesagt, dass er sie schon liebte. Irgendwie zumindest. Was also hatte sie noch zu verlieren? Was außer ihre Würde? Und die würde Frank Thiel niemals leichtfertig verletzen.
Nein, sie hatte nichts zu befürchten. Nicht von ihm. Also nahm sie ihren Mut zusammen und sah ihn an. „Musst du das wirklich noch fragen?“ Flüsterte sie ihm zu. Ihre Stimme wankte leicht, aber sie war dennoch froh, wie fest sie in ihren Ohren klang. Er sollte an ihrer Zuneigung nicht länger zweifeln.
Einen Moment lang sah er sie nur unverständlich an. Dann fiel der Groschen. Seine Augen weiteten sich und er zog scharf die Luft ein. „Wie lang schon? Und was ist mit Boerne?“ Wisperte er ungläubig zurück und trat noch etwas dichter zu ihr. Sie atmete erleichtert auf. Immerhin. Er hielt noch immer ihrer Hand in seiner. Festhalten, nicht loslassen. Redete sie sich mental gut zu und hielt sich noch etwas mehr an ihm fest.
Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Es ist einfach passiert. Aber ich erwarte rein gar nichts von dir. Ich will das auch nicht nur deshalb. Ich will es, weil es sich richtig anfühlt. Ich will, dass wir eine Familie sind. Und was Karl angeht.“ Schniefend wischte sie sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Es hat sich rein gar nichts verändert daran, was oder wie tief ich für ihn empfinde. Ich habe eher das Gefühl, dass ich ihm dadurch noch näher bin und ihn irgendwie noch mehr liebe. Keine Ahnung, ob das Sinn ergibt.“ Erneut zuckte sie mit den Schultern.
„Weißt du, ich habe mir das immer gewünscht. Ein Haus voller Kinder. Ein lautes, buntes Zuhause. Ein bisschen aufregendes Leben. Warum also nicht so? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als all das mit zwei Menschen zu haben, die ich…“ Sie holte nochmal tief Luft. Dann blickte sie ihm direkt in die Augen. „Die ich liebe.“
Das war es also. Ihre Wahrheit. Die letzte Karte. Sie hatte sie ihm auf den Tisch gelegt. So offen und deutlich, dass er sie nicht mehr übersehen konnte. Jetzt konnte sie nur abwarten. Warten und hoffen. So wie damals. So wie mit dem Professor.
Es dauerte schier ewig. Für eine Weile schien der Mann vor ihr wie in Schockstarre. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Das war eine Menge zu verarbeiten. Doch dann streckte er langsam, fast in Zeitlupe seine freie Hand nach ihrer anderen aus und nahm auch diese in seine.
„Silke, ich…“ Flüsterte er leise und blickte auf ihre Hände hinunter. „Ich will das auch. Und ich kann nicht leugnen, dass ich…“ Vorsichtig hob er seinen Kopf. „..dass ich ebenfalls tiefe Gefühle für dich habe. Ich meine, ich war vorhin ja auch nicht gerade zurückhaltend.“ Er lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Aber ich weiß nicht, was das heißt, wohin das führt. Ich weiß nur, dass es nicht nur Boerne ist, von dem ich mich mit einem schweren Herzen verabschiedet hätte.“ Verunsichert blickte er sie an.
Sie stieß erleichtert einen Atemstoß aus. In ihrem Kopf schwirrte es. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr leicht schwindlig wurde. Aber sie musste sich jetzt zusammenreißen. Er hatte sie nicht abgelehnt. Im Gegenteil. Er hatte die Tür einen Spalt geöffnet. Das musste sie nutzen.
Rasch entwirrte sie ihre rechte Hand und griff erneut nach seinem Gesicht. „Dann lass es sein und bleib. Lass uns das zusammen herausfinden, wohin uns dieser Weg führt.“ Wisperte sie nachdrücklich auf ihn ein.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er all die Möglichkeiten abwog. Wie er seinem berühmt berüchtigten Bauchgefühl nachspürte. Dann endlich nickte er. „Ok, ok.“ Flüsterte er. „Was ist mit Boerne? Wir müssen es ihm sagen. Ideen?“ Fragend hob er eine Augenbraue.
Leicht grinsend ließ sie ihn wieder los. „Keinen blassen Schimmer. Aber das werden wir schon noch herausfinden. Wir haben uns unseren Professor doch bisher immer irgendwie zurecht gebogen.“ Losgelöst lachte er plötzlich laut auf. „Ja, das stimmt wohl. Und immerhin auf dich ist immer irgendwie Verlass, was unseren Schnösel angeht. Und ich glaub‘ so schwer wird das dieses Mal gar nicht.“
Schmunzelnd legte sie ihren Kopf schief. „So?“ Fragte sie amüsiert nach und genoss einfach diese zurückgekehrte Leichtigkeit zwischen ihnen. Es fühlte sich wie nach einem kräftigen Gewittersturm an. Irgendwie lag diese frische, hoffnungsvolle Atmosphäre in der Luft. „Joa, ich hab‘ da so ein Bauchgefühl.“ Gab er mit einem frechen Feixen zurück.
Lachend schlug sie ihm leicht mit der Hand auf die Brust. „Wenn das so ist. Dann sollten wir auf der sicheren Seite sein. Das thielische Bauchgefühl hat uns bisher ja nie im Stich gelassen.“ Dann wurde sie für einen Moment wieder ernst. „Und Frank.“ Sie wartete ab, bis sie wieder seine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Keine Dummheiten mehr, ja? Wenn dich etwas belastet, wenn du den Drang zur Flucht erneut spürst, dann rede mit mir. Ich werde da sein. Gefühle hin oder her. Ich werde immer da sein und zuhören.“ Sprach sie sanft aber bestimmt auf ihn ein.
„Ich weiß.“ Gab er seufzend zurück. Beschämt ließ er erneut den Kopf hängen. „Gut. Dann vergiss es nicht wieder. Und vor allem hau nicht wieder gedanklich nach Hamburg ab. Deine Familie. Sie ist hier und sie braucht dich. Ich brauche dich.“ Ihre Stimme wurde zum Ende wieder leicht brüchig, aber sie hielt.
Abrupt riss er den Kopf bei ihrem letzten Satz nach oben. Durchdringend sah er sie an. „Nein, tust du nicht.“ Sagte er schließlich. Und sie musste gestehen. Er hatte recht. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte auch Boerne nicht. Das gehörte eben auch zu dieser Wahrheit dazu. Sie konnte ohne die beiden leben. Aber sie wollte es nicht.
Also erwiderte sie nur ernst. „Stimmt. Aber ich will dich. Ich will euch beide. Und Ellie und Lukas und jedes Kind, das wir noch in diese kunterbunte Truppe bringen werden. Vielleicht ist das ja eines Tages genug.“
Er holte einmal tief Luft. Dann war er es, der ihr sanft eine Hand auf die Wange legte. „Das ist es schon.“ Gab er leise zurück. „Das ist es schon.“ Behutsam lächelte er sie an. Dann zog er sie sanft zu sich und schloss sie in eine seiner warmen Umarmungen. Zärtlich presste er ihr einen Kuss auf ihren goldblonden Schopf.
Und sie ließ sich fallen in dieses Gefühl aus Wärme und Geborgenheit, das sie immer mit diesen Umarmungen verband. In dieses Gefühl von Zuhause. Festhalten, nicht loslassen.Mit diesem Gedanken schlang sie ebenfalls ihre Arme um seine Hüfte und hielt ihn einfach nur fest.
Eine Weile verharrten sie in dieser Position. Als sie sich voneinander lösten, schlug eine von den vielen Kirchtürmen der Stadt und zeigte ihnen an, dass es bereits auf Mitternacht zuging. „Ich sollte losmachen. Karl ist sicher schon am Verzweifeln mit Ellie.“ Sie warf ihm ein Augenrollen zu, was er nur mit einem schuldigen gequälten Lächeln erwiderte.
„Ich bin morgen zurück.“ Verlegen schob er seine Hände in die Hosentaschen. Sie sprang vom Bett hinunter und richtete kurz ihre Kleidung. Dann nahm sie ihre Tasche. „Versprochen?“ Musste sie trotz der letzten Minuten nochmal nachhaken. So ganz hatte sich der Schreck noch nicht gelegt. Der bloße Gedanke, wenn sie heute Nacht nicht gekommen wäre…er jagte ihr noch immer Angst ein.
Doch dann legte er ihr beide Hände auf die Schultern und lächelte auf sie hinab. „Versprochen. Und sag Boerne, er soll es mal mit einer Geschichte von ‚Ernest & Célestine‘ versuchen. Ich glaub, Ellie mag die mit ‚Célestines‘ Fragen“ am liebsten.“ Amüsiert sah sie ihn an. Mit leicht geröteten Wangen zuckte er mit den Schultern. „Ich glaub, die beiden erinnern sie an uns. Sie ruft immer laut ‚Pops,‘ wenn Ernest etwas mürrisch ist und ‚Mama‘, wenn Célestine besonders mutig auftritt.“
Seine leicht verstolperte Erläuterung machte ihr zufriedenes Grinsen nur noch breiter. Stöhnend riss er die Hände hoch. „Ja, ja, ja. Ich weiß...aber du hast es doch selbst gesagt. Sie ist irgendwie auch meine Tochter. Väter wissen sowas. Genauso wie Boerne weiß, was ihr Lieblingsessen ist und was sie sich zum Geburtstag wünscht, obwohl sie das bisher kaum in richtige Sätze packen kann.“
Immer noch feixend griff sie erneut nach seiner Hand. „Nicht irgendwie. Sie ist deine Tochter, Frank. Was glaubst du, warum Karl so am Durchdrehen ist, dass sie plötzlich immer ganz aufmerksam zuhört, wenn du von den Fußballspielen erzählst? Ich gebe ihr noch zwei oder drei Jahre, dann will sie unbedingt mit.“ Herausfordernd hob sie eine Augenbraue. Aber er war so klug und widersprach nicht länger.
Stattdessen nickte er nur ergeben und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr eine seiner üblichen harmlosen Küsse auf die Wange zu geben. Es war purer Instinkt, reinste Routine zwischen ihnen und doch spürte sie in letzter Sekunde sein Zögern. Irgendwie fühlte sich doch mit einem Mal alles anders zwischen ihnen an.
Sie seufzte schwer und drehte leicht ihren Kopf, um stattdessen ihm einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. „Gute Nacht, Frank. Bis morgen.“ Hauchte sie ihm zu, bevor er sich wieder erhob.
Mit einem leicht verunsicherten Blick sah er sie an. „Gute Nacht, Silke.“ Raunte er dennoch zurück. Mit einem letzten kleinen Lächeln drückte sie nochmal seine Hand. Dann verschwand sie durch die Tür in den dunklen Flur hinaus.
Ihr war bewusst, dass sie noch so viel klären mussten. Es würde dauern. Vielleicht nochmal ein ganzes Jahr oder auch länger. Aber sie mussten das erst für sich klären, bevor überhaupt daran zu denken war, mit Boerne darüber zu sprechen. Erst musste er sich darüber klar werden, was er fühlte, was er wollte.
Sie würde ihm diese Zeit geben. Sie würde warten. Egal wie lang es auch dauern mochte. Egal was er am Ende entschied. Wie ihre Zukunft auch letztlich aussehen mochte. Sie würde warten. Immerhin. Ihre Geduld hatte sich schon einmal ausgezahlt.
Mit einem versonnenen Lächeln blickte sie auf ihren Ehering hinab, als sie in ihr Auto gestiegen war. Ja, das hatte sich mehr als gelohnt. Das würde es auch dieses Mal. Seufzend kramte sie ihr Handy aus der Handtasche.
Natürlich. Ging es ihr vergnügt durch den Kopf, als sie das Display betrachtete, in dessen hellem Schein ihre belustigtes Gesicht nun getaucht wurde. Ihre Schultern erzitterten leicht unter dem leisen Lachen, das sie nicht unterdrücken konnte, während sie durch die Benachrichtigungen scrollte.
‚10 verpasste Anrufe und 10 Nachrichten von Karl-Friedrich Boerne.‘ Las sie dort. Die Nachrichten alle so authentisch, dass sie seine Stimme inklusive verschiedener Stimmungen in ihrem Kopf hören konnte.
„Wo bist du?“
„Geh an dein Handy ran!“
„Alberich, das gibt ein Donnerwetter, das sich gewaschen hat. *roter Wutsmiley*“
„Ellie fragt nach dir…und nach Frank.Sie braucht mich nicht mehr. *Heulsmiley.*“
„Wo bist du? Ich mache mir Sorgen.“
„Was ist los?“
„Melde dich doch bei mir? Bitte. *trauriger Smiley*“
„Bitte, komm einfach nach Hause.“
„Ich vermisse dich. Die Wohnung ist so kalt ohne euch beide.“
„Ich liebe dich. Ich hoffe, du weißt das.“
Trotz ihrer Heiterkeit kamen ihr dennoch erneut vor Rührung die Tränen. Zärtlich strich sie mit dem Finger über die Buchstaben der letzten Nachricht. Ihr Herz schien sich noch einmal zu weiten. „Ich liebe dich auch.“ Hauchte sie mit zittriger Stimme, auch wenn er sie gar nicht hören konnte.
Mit einem heiseren Lachen wischte sie sich erneut die Tränen aus dem Gesicht. Unfassbar. Selbst nach all diesen Jahren konnte er es noch. Mit nur einem Funken seines unbestechlichen Charmes, seiner niedlichen Unbeholfenheit, seiner schier endlosen Zuneigung. Mehr brauchte es nicht. Nur einen Funken und sie war wie neu entflammt. Brannte so sehr vor Liebe für ihn, dass es fast unmöglich schien, dass sie jemand anderen genauso stark und intensiv lieben konnte.
Vorsichtig warf sie einen Blick durch die Windschutzscheibe nach oben in Richtung der nun vollständig dunklen Fenster des Krankenhauses. Aber es war passiert. Sie liebte Frank Thiel ebenso sehr. Vielleicht nicht auf die gleiche Art und Weise. Diese Gefühle waren viel ruhiger, viel leiser. Sie fühlten sich eher wie weiches Wasser im Mondschein an. Während ihre Gefühle für den Professor schon immer etwas von hellem Sturm und Feuer gehabt hatten.
Und vielleicht ging es genau deshalb. Es waren keine Gegensätze, die sich abstießen. Es waren eher komplementäre Puzzleteile, die nur zusammen ein Ganzes ergaben. Vielleicht fühlte sie sich deshalb nur komplett, wenn sie alle zusammen waren. Vielleicht hatte sie wirklich nie eine Wahl gehabt. Vielleicht hatte es wirklich alles so kommen müssen. Und zum ersten Mal verstand sie wirklich, was Boerne in diesen einen Jahr hatte durchmachen müssen.
Aber wenn das nun auch ihr Schicksal war. Dann würde sie es annehmen und das Beste daraus machen. So wie sie es immer getan hatte. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen von all den Hürden, die da vor ihnen lagen. Von all den Schwierigkeiten, die sie noch zusammen meistern mussten.
Sie machten ihr keine Angst mehr. Nicht nach heute Nacht. Denn es zählte nur eins. Er hatte sie nicht abgelehnt. Im Gegenteil. Er hatte die Tür geöffnet. Nur einen Spalt. Aber sie war offen. Die Saat war gesät. Die Chance war da. Jetzt würde die Zeit zeigen, was daraus werden würde. Und damit konnte sie erstaunlich gut leben.
Mit diesem beruhigenden Gedanken wählte sie endlich Boernes Nummer. Er nahm sofort nach dem erstem Klingeln ab. Ein klares Zeichen, dass er den Schmollmodus bereits hinter sich gelassen und jetzt in den Panikmodus umgeschaltet hatte. Auch wenn seine grobe Antwort etwas anderes vermuten ließ.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wo bist du?“ Zeterte er ihr ohne eine weitere Begrüßung sofort ins Ohr. „Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe bestimmt tausend Mal versucht, dich zu erreichen.“ Mit einem vergnügten Augenrollen lauschte sie seinen theatralischen Übertreibungen. Sie wusste wohl, dass das nur Ausdruck seiner Sorge und Panik war. Sie kannte ihn einfach viel zu gut.
„Aber Madame konnte sich ja nicht dazu herablassen, mir auch nur eine Nachricht zu schicken.“ Sie ließ ihn noch etwas keifen, dann fiel sie ihm ins Wort. Sie wusste, es brauchte nur einen einzigen Satz, um ihn zum Schweigen zu bringen.
„Ich liebe dich auch.“ Sprach sie daher in bewusst ruhigem Ton in den Apparat. Wie erwartet, verstummte er abrupt. Zufrieden lachte sie in sich hinein. Mister ‚Ich-bin-nicht-berechenbar-ich-stecke-immer-noch-voller-Überraschungen‘ war eben doch beruhigend durchschaubar für sie. Wie ein offenes Buch, das sie nicht müde wurde zu lesen, zu studieren, auswendig zu lernen und hier und da um ein paar Seiten zu ergänzen, wenn er es schaffte, sie doch mal zu verblüffen.
„Ich…also ich…Alberich…“ Versuchte er sich zu einer Antwort zu stottern. Amüsiert biss sie sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Das würde ihn nur kränken in diesem Moment. „Ist schon gut, mein Herz.“ Säuselte sie stattdessen.
Sie hörte wie er scharf die Luft am anderen Ende einsog. Auch das wusste sie. Dieser Kosename würde niemals seine Wirkung bei ihm verfehlen, egal wie oft sie ihn verwendete. Er weigerte sich bisher standhaft ihr zu erklären, warum ihn das so zuverlässig traf. Aber auch dieses Mysterium würde sie eines Tages noch lüften.
Nur eben nicht heute Nacht. Heute Nacht wollte sie nur noch nach Hause. „Ich bin bald da. Gib mir 15 Minuten.“ Erklärte sie ihrem sichtlich immer noch um Worte ringenden Gatten. Alles weitere konnte sie ihm auch später noch erklären. „Ok.“ Schaffte er schließlich nur in einer merkwürdig dünnen Stimmer hervorzupressen. „Bis gleich und…“ Versuchte er noch zu ergänzen, aber sie kam ihm zuvor.
„Ich fahr‘ vorsichtig. Bis gleich.“ Würgte sie ihn möglichst sanft ab und legte auf. Denn sie wusste, dieser ungewöhnlich deutliche Ausdruck an Fürsorge und Besorgnis würde ihm nachher noch unangenehm genug sein. Also tat sie das, was sie am besten konnte und nahm ihm ein Stück davon ab. Kam ihm ein paar Meter entgegen, sodass er nicht den ganzen beschwerlichen Weg allein gehen musste.
War das manchmal ungerecht, dass sie so oft die meiste Last in dieser verzwickten Beziehung trug? Dass sie oft diejenige war, die den Weg für ihn freiräumen musste? Dass er sich so blind auf ihre Zuneigung und Treue verließ, dass er sich so schnell verlor, wenn sie ihm mal entzogen wurde?
Vielleicht. Vielleicht war das für andere nicht fair. Aber sie hatte sich dafür entschieden aus freien Stücken und mit ihrem ganzen Herzen. Sie entschied sich jeden Tag dafür. Für ihn, für Ellie und jetzt eben auch für Frank, einfach für dieses laute, komplizierte, bunte Leben, das sie führte.
Für sie war das keine Last. Kein kleineres Übel, das sie gewählt hatte. Für sie war es das einzige Leben, das sie sich vorstellen konnte. Das einzige Glück, das sie haben wollte. Und sie würde es immer und immer wieder wählen.
Mit dieser tiefen Überzeugung schickte sie ihm noch eine kurze Nachricht als Antwort, bevor sie in die Nacht brauste. Nur vier kleine Worte, weil es meist nicht mehr zwischen ihnen brauchte, um zu verstehen, um alte Wunden zu heilen, um Geborgenheit zu geben.
‚Ich weiß, mein Herz.‘
A/N: Ok, das war mal wieder sehr lang. Sorry, not sorry. Und die Storyline geht auch noch weiter. Ich habe bereits eine Geschichte so gut wie fertig, die direkt auf diese aufbaut, jedoch nur halb so lang ist. Und dann gibt’s noch eine dritte, die noch in der Rohfassung steckt. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich sie bald in einen Zustand bekomme, dass ich sie fertig schreiben kann. Jetzt aber erstmal wieder ein paar versprochene Headcanons zu diesem AU.
Ich habe mir überlegt, dass ich euch in diesen drei Stories, die Kinder etwas näher vorstelle. Wir beginnen mit Ellie, weil sie die älteste ist und wir sie schon näher kennengelernt haben, als die anderen beiden.
Kind Nr. 1: Elisabeth Lilian Haller-Boerne, kurz Ellie, ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dennoch ist sie vom Wesen eine gesunde Mischung aus boerneschem Selbstbewusstsein, hallerischer Sanftmut und bodenständigem Thiel. Sie ist ziemlich clever und liebt es sich mit Onkel Mirko in nerdigem Computerzeug zu vertiefen. (Ja, Mirko ist hier in diesem AU dabei. Vermutlich noch sehr jung). Sowieso ist der coolste Mensch auf dieser Welt ihr Patenonkel Mirko. Im Gegensatz zu ihren Eltern fühlt sie sich eher den künstlerischen und kreativen Fächern zugewandt, was ihrem Vater manchmal missfällt. Dennoch teilt sie seine Leidenschaft für’s Klavier und Cello. Da sie zudem eine außerordentlich gute Stimme wie er hat, singen die beiden gern mal auch mit Thiel ein Ständchen. Meist zu Geburts- und Feiertagen.
Zudem hat sie das außergewöhnliche Sprachentalent ihres Vaters geerbt, was sie auch gern in ihrer Freizeit ausbaut. Das spielt, je älter sie wird, auch immer wieder eine Rolle in Boernes und Thiels Ermittlungen. Ellie ist von Natur aus sehr neugierig und mischt gern überall mit. So kommt es vor, dass sie und ihre Geschwister unter ihrer Führung immer wieder in die Lösung der Fälle involviert sind, was vor allem ihrer Mutter zu schaffen macht.
Ellie ist jedoch wie Alberich eine sehr willensstarke Persönlichkeit, die zwar den großen unschuldigen Augenausdruck ihrer Mutter geerbt hat, aber es sonst auch faustdick hinter den Ohren haben kann. Mit Vorliebe guckt sie sich die Einschmeicheltaktiken ihres Vaters ab und entwickelt sie weiter. Ihren Pops liebt sie abgöttisch. Nichts macht so viel Spaß als mit ihm über Fußball, gutes Essen, Gott und die Welt zu philosophieren. Dass der sonst so wortkarge Kommissar gerade bei ihr auftaut, macht ihre Mutter unfassbar stolz und entlockt ihrem Vater regelmäßig ein Augenrollen.
So viel zu Ellie – Kind Nr. 1. In der nächsten Story dann mehr zu Kind Nr. 2. Und noch dicke Dankeschön-Credits an die liebe khaladriel für ein paar sehr wichtige Teile von Alberichs Monologen.
Zeitlich bewegen wir uns hier etwa während der Ereignisse von „Zwischen den Ohren“. Ellie ist um die Zeit von „Höllenfahrt“ geboren. Also hier solide 2,5 Jahre alt. Eine Rückblende ist auch wieder mit dabei, die zeitlich zwischen „Spargelzeit“ und „Herrenabend“ angesiedelt ist. Folgenbezug gibt es aber keinen. Ergeben hat sich die Polybeziehung vermutlich zwischen „Der Fluch der Mumie“ und „Spargelzeit“.
So viel zur Timeline. In den Notes am Ende gibt’s wieder einen Einblick in meine Headcanons zu diesem AU. Thema sind dieses Mal verstärkt die Kinder.
Heimkommen – Festhalten, nicht loslassen
Ihre Schritte hallten laut auf den langen Fluren des Krankenhauses wieder. Es war gespenstisch still. Nun sie hatte diese späte Uhrzeit nicht ohne Hintergedanken gewählt. Das geschäftige Treiben des Tages war verstummt und dieser merkwürdigen Ruhe gewichen. Sie hoffte nur, die Kolleginnen würden eine Ausnahme für sie machen und sie auch nach der offiziellen Besuchszeit zu ihm lassen.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als auch schon die Nachtschwester aus einem Zimmer trat und sie verwundert musterte. Ah, Nina. Perfekt. Sie kannte die junge Frau gut. Silke erinnerte sich mit diebischer Freude an die viel zu kurzen drei Monate, die die taffe Schwesternschülerin bei ihnen in der Rechtsmedizin für das Hospitationspraktikum verbracht hatte.
Ihrem Professor hatten schon nach einer Woche ordentlich die Ohren geschlackert. War er von ihr schon einiges gewöhnt in Sachen scharfer Konterkultur, spielte Nina Pabst nochmal in einer ganz anderen Liga. Die junge Frau nahm absolut kein Blatt vor den Mund. Silke bezweifelte, dass Nina wusste, wie man Taktgefühl oder Rücksichtnahme vor Autoritäten schrieb.
Frank und sie hatten jedenfalls drei Monate lang eine helle Freude daran gehabt, ihrem Partner beim verbalen Spießrutenlauf mit der angehenden Krankenschwester zuzusehen. Das laute Gezeter zuhause hatten sie beide dafür mehr als gern in Kauf genommen. Mehr als einmal hatten sie sich vielsagende Blicke zugeworfen und sich hinter dem Rücken des aufgebrachten Rechtsmediziners heimlich abgeklatscht.
Sie grinste versonnen vor sich hin. Frank wohnte noch nicht lange bei ihnen. Es hatte auch wirklich ewig gedauert, ihn davon zu überzeugen. Was hatte der Professor auf ihn eingeredet, ihn manchmal so lang verbal traktiert, bis der wortkarge Kriminalhauptkommissar sich murrend verzogen hatte. Einer dieser Abende war ihr besonders im Gedächtnis geblieben.
***
„Ich versteh‘s nicht, Alberich. Das ist die ideale Lösung. Und das ist doch wirklich witzlos. Er muss lediglich über den Flur ziehen und nicht ans andere Ende der Stadt. Aber natürlich für das träge Gemüt unseres werten Herrn Kriminalhauptkommissars ist sogar das zu viel.“ Beschwerte sich ihr Göttergatte abends laut klagend bei ihr, nachdem der andere Mann nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung zu dem Thema Wohnen wieder in seine eigenen vier Wände jenseits des Flures geflohen war.
Frustriert raufte sich der Rechtsmediziner die dunklen Haare, während sie die unruhige Ellie versuchte zu überreden, endlich zu schlafen.
Ihre Tochter war gerade 2 Jahre alt geworden. Schläfrig kauerte sich das Mädchen eng an sie gekuschelt auf ihrem Schoß und verfolgte das Gespräch der Erwachsenen. „Er braucht eben seine Zeit. Das weißt du doch. Ich glaube, er weiß einfach immer noch nicht, wo sein Platz hier eigentlich ist. Ich befürchte, er hat noch immer Angst, dass du…dass wir es uns anders überlegen.“ Flüsterte sie ihrem Mann seufzend zu. Gedankenverloren strich sie Ellie über das weiche, braune Haar.
„Was!“ Stieß der Professor entsetzt aus und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Ellie zuckte in ihren Armen zusammen. Verärgert warf sie ihm einen Blick deswegen zu. Kurz blitzten seine Augen schuldbewusst auf. Dann wisperte er schon aufgeregt weiter. „Warum sollte ich? Zwei Jahre, Alberich. Ganze zwei Jahre habe ich mich gequält und unter Einsatz meiner ganzen Verführungskunst endlich das ermöglicht, was undenkbar war.“
Keck hob sie eine Augenbraue, während sie ihrer Tochter beruhigend über den Rücken streichelte. Du warst das? Das habe ich aber anders in Erinnerung. Verunsichert blinzelte er ihr zu. Dann ließ er die Schultern hängen und lenkte zähneknirschend ein. „Gut, ohne deine unermüdliche Hilfe und Unterstützung wäre das nichts geworden.“
Auch diese Beschreibung der Ereignisse stimmte nicht so ganz. Aber mehr würde sie wohl heute nicht aus ihm herausbekommen. Also gab sie sich damit zu frieden und vergrub lieber wissentlich lächelnd ihr Gesicht in den Haaren ihrer Tochter, die kurz davor war endlich einzuschlafen.
Erschöpft ließ sich Boerne auf die Coach ihr gegenüber fallen. Mit gesenktem Kopf betrachtete er seine nervösen Finger und begann mit seinem Ehering zu spielen. Eine Angewohnheit, die sie noch immer zum Schmunzeln brachte. „Was ich sagen will, Alberich. Warum sollte ich das wegwerfen? Welchen Grund hätte ich denn? Nach allem, was passiert ist, nach allem, was ich…“ Er sah auf und ihr stockte kurz der Atem. „…was WIR fast verloren hätten.“
„Ich weiß.“ Hauchte sie ihm nur leise zu. Ein weiterer reumütiger Blick aus kieferngrünen Augen traf sie genau dort, wo es auch nach all diesen Jahren noch immer am meisten wehtat. Mit hängendem Kopf griff er nach ihrer freien Hand und sie verstand.
Er schämte sich noch immer. Er bereute aus tiefstem Herzen. Dabei war ihm längst vergeben. Von ihr, von Frank, sogar von Ellie.
All diese Überheblichkeit, all seine Großspurigkeit. Sie täuschten nicht darüber hinweg, wie sehr er noch immer unter dieser Schuld litt. Sie musste es wissen. Sie begleitete ihn oft in den Nächten, in denen sich diese Schuld besonders vehement in seinen Albträumen Bahn brach. In denen er sie danach so fest an seinen von kaltem Angstschweiß überströmten Körper presste, dass sie glaubte, er würde sie wohl nie wieder gehen lassen. Und trotzdem erschütterte er sie immer wieder aufs Neue damit.
10 Jahre mit ihm, 4 Jahre bedingungslose Liebe, vor fast einem Jahr nochmal alles auf Anfang. So viel buntes, wildes und doch so schönes Leben dazwischen. Der lebende Beweis dafür lag doch gerade friedlich schlafend an ihrer Brust.
Und dennoch trafen sie seine Blicke manchmal noch immer so unvorbereitet wie am ersten Tag. Dieser hier war so verzweifelt, so traurig, dass es ihr fast das Herz brach. Auch darin war er mit den Jahren bedauerlicherweise nur versierter geworden und ihr dickes Fell deutlich dünner.
Ihre Abwehr hatte sie bereits vor Jahren aufgegeben. Ihre schwere Rüstung für ihn abgelegt, sodass er sie sehen konnte mit allem, was sie war. Mit allen Vorzügen und Unzulänglichkeiten. Hatte sich ihm todesmutig, ungeschützt und voller blindem Vertrauen präsentiert nur mit dieser Hoffnung in ihrem Herzen, es möge genug sein. Und das war es gewesen.
Und heute? Sie blickte kurz auf das schlummernde Menschenknäul auf ihrem Schoß. Sie bereute diesen Schritt nicht, nicht für eine einzige Sekunde. Auch das letzte Jahr nicht. Ja, es war schmerzhaft gewesen. Sie war so oft kurz davor gewesen aufzugeben, ihn gehen zu lassen. Wie konnte sie auch nicht?
Es war doch so einfach, so simpel. Sie liebte ihn. So sehr, so tief. Sie war bereit gewesen, dafür alles zu opfern, auch ihre Beziehung, ihre Ehe, wenn es bedeutet hätte, dass er glücklich war. Denn in diesen dunklen Monaten hatte sie endlich verstanden, warum Liebe die reinste Form von Selbstlosigkeit war.
Dennoch. Die Lehre war hart erkämpft gewesen. Aber sie hatte gelernt, ihn zu lieben, ohne zu besitzen. Hatte verstanden, was es hieß zu begehren, ohne zu zerstören. Hatte begriffen, warum jeder Moment mit ihm wertvoll war, ganz egal, wie und unter welchen Umständen sie ihn verbrachten.
Ja, er hatte Mist gebaut. Frank und sie so tief dabei verletzt, dass sie für eine Weile geglaubt hatte, dass sie das unmöglich überwinden könnten. Und das alles nur, weil er einmal in seinem Leben es nicht fertiggebracht hatte, seine Zähne auseinanderzubekommen. Er, der sonst nie wusste, wann man besser den Mund halten sollte.
Doch einmal mehr hatte sich gezeigt wie stur, wie belastbar, wie stark dieses Ding zwischen ihnen war. Es trotzte allem, ließ sich nicht unterkriegen. Sie erinnerte sich an seinen markerschütternden Aufschrei, als sie auch nur angedeutet hatte, dass sie das Feld räumen könnte. Dass sie ihm und Frank von Herzen nur das Beste wünschte. Dass sie tapfer sein konnte, dass sie ja noch Ellie und die Arbeit hatten. Dass sie doch immer noch verbunden sein würden, nur eben kein Paar mehr.
Niemals würde sie seinen panischen, angsterfüllten Blick vergessen oder die Arme, die sich wie ein Schraubstock um ihren zitternden Körper geklammert hatten. Sein Gesicht war tränennass gewesen, als er es vor ihr kniend in ihre Halsbeuge gepresst hatte. „Nein, nein, nein. Bitte nicht.“ Hatte er schwer atmend hervor gepresst. „Bitte verlass mich nicht. Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid.“
Ruckartig hatte er seinen Kopf hochgerissen und sie mit diesem wilden, verzweifelten Blick regelrecht festgenagelt. Seine Arme hatten sich noch etwas enger um sie gelegt, sodass ihr das Atmen schwer geworden war. Dann war all diese Furcht mit einmal aus ihm herausgebrochen.
„Ich weiß, ich habe dich verletzt. Gott, ich kann mir kaum ausmalen, wie sehr das schmerzen muss. Ich wollte das nicht. Ich wollte das hier nicht zerstören. Aber ich kann das in Ordnung bringen, Alberich. Ich verspreche es dir. Wir bekommen das hin. Aber bitte…Gib mir noch eine Chance dafür. Nur eine einzige. Ich werde ihm sagen, dass das keine Zukunft hat. Ich werde…“
Schnell hatte sie ihm einen Finger auf den sprudelnden Mund gelegt. Traurig hatte sie ihn angelächelt. Mit Tränen in den Augen hatte sie sein geliebtes Gesicht in ihre Hände genommen. „Nein, das wirst du nicht. Ich werde nicht zulassen, dass du meinetwegen leidest, dass du wegen mir noch einen Menschen so verletzt.“
Ungläubig hatte er sie angeblinzelt. Es zerrte noch immer an ihrem Herzen, dass er es einfach nicht verstand, wie das funktionierte. Dass er es verdiente geliebt zu werden, selbst wenn er es so richtig verbockte. Selbst wenn er ihnen allen tausend Mal die Herzen brach.
Und dann war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Es war doch so klar gewesen, wohin das führen musste, wohin es sie letztlich auch geführt hatte. Es war so lächerlich offensichtlich gewesen, dass sie laut angefangen hatte zu lachen.
Sein verwirrtes Gesicht war so niedlich gewesen, dass sie sich nur schnell hinuntergebeugt hatte, um es zu küssen. „Du hast recht. Wir bekommen das hin. Aber ICH werde es sein, die alles wieder richtet und in Ordnung bringt. So wie immer also.“ Dann hatte sie nur noch einen liebevollen Kuss auf seiner Nasenspitze hinterlassen und war direkt ans Werk gegangen.
Es hatte gedauert, war anstrengend und mühselig gewesen. Aber nichts hatte sich mehr gelohnt in ihrem Leben und nun waren sie hier. Ein gutes Jahr später und aus zwei war plötzlich drei geworden. Sogar vier, wenn man es ganz genau nahm. Denn Ellie war ebenso sehr in Frank Thiel vernarrt, wie alle in dem Hause Haller-Boerne.
Und sie waren glücklich. So unfassbar glücklich, dass ihr manchmal schwindelig wurde. Dass sie nicht selten mitten am Tag fröhlich zu pfeifen begann. Dass sie manchmal spontan zu tanzen anfingen, wenn der Professor in ganz besonderer Hochstimmung war. Dass auch sie das breite Grinsen oft nicht unterdrücken konnte, wenn ein gewisser Kriminalhauptkommissar im Institut vorbeikam.
Dennoch sie verstand auch die Frustration ihres Partners. Mit einem tiefen Seufzen betrachtete sie den unglücklich aussehenden Mann. Das ging wirklich nicht mehr so weiter.
Das ständige Herumgeziehe von Wohnung zu Wohnung zerrte auch an ihren Nerven. Zumal es in den letzten Monaten oft genug vorgekommen war, dass Frank nach ihrer Erste-Hilfe-Verarztung – wenn die Verbrecherjagd ihrer beiden Draufgänger mal wieder ausgeartet war – auf ihrer Coach versackt war.
Sie dachte dabei auch an Ellie. Die Kleine war es inzwischen so gewohnt den Kommissar um sich zu haben, dass sie abends oft lautstark nach ihm für ihre Gute Nacht Geschichte verlangte. Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten und schaute auf ihre Tochter hinunter. Vielleicht war das sogar die Lösung.
Behutsam drückte sie Boernes Hand. „Ich glaube, ich habe eine Idee.“ Fragend hob er den Kopf. Ein freches Grinsen umspielte ihre Lippen. „Lass mich nur machen.“ Er legte forschend den Kopf schief. „Tue ich das nicht immer irgendwie.“
Herausfordernd schob sie das Kinn nach vorn und fixierte ihn mit einem entschlossenen Blick. „Und es hat dir bisher ja wohl auch nicht geschadet, oder?“ Leise lachend schüttelte er den Kopf. Dann stand er auf und nahm ihr die schlafende Ellie aus dem Arm.
Leise murmelnd rollte sich ihre Tochter an seiner Brust zusammen, aber sie wachte nicht auf. Das konnte er wirklich gut. Aber das hatte sie immer gewusst. All seinen Befürchtungen zum Trotz war er ein exzellenter Vater. Nichts ging ihm über Ellies Wohlbefinden und Glück.
Jeder Tag, an dem er ihr kleines Wunder nicht wenigstens fünfmal zum Lachen brachte, war ein verlorener für ihn. Das wusste sie nur zu gut, weil er nicht müde wurde, ihr diese zum Glück sehr rar gesäten Augenblicke ausgiebig in aller Theatralik vorzuheulen.
Jetzt lächelte er versonnen auf seine Tochter hinab. Ein Anblick, der nichts von seiner Wirkung verloren hatte. Ihr Herz machte einen kleinen begeisterten Hüpfer, als würde es klatschen. Wärme flutete ihren gesamten Körper. An das sehnsüchtige Ziehen in ihrer Brust würde sie sich wohl nie ganz gewöhnen. Im Stillen hoffte sie aber eigentlich schon, dass dieses Gefühl niemals etwas von seinem Zauber verlieren würde.
Verschmitzt warf er ihr noch einen Blick zu. Dann kam sie ihm schon entgegen. Zärtlich ließ er seine Lippen kurz auf ihren ruhen, immer darauf bedacht das kleine schlafende Monster zwischen ihnen nicht zu wecken. Behutsam flüsterte er danach direkt gegen ihren Mund. „Nein, wenig hat mir bisher mehr Freude und Glück gebracht.“
Dann verschwand er zügig mit Ellie im Kinderzimmer.
***
Sein Vertrauen in ihre Menschenkenntnis und Fähigkeiten sollten sich auch dieses Mal auszahlen. Keine drei Monate später hatte Frank seinen Widerstand aufgegeben und war zu ihnen gezogen. Der Plan war denkbar simpel gewesen, wenn auch etwas perfide.
Ein bisschen nagte noch immer das schlechte Gewissen an ihr, dass sie ihre kleine Tochter so instrumentalisiert hatte. Aber manchmal heiligte der Zweck eben doch die Mittel. Spätestens als Ellie das erste Mal „Danke, Pops.“ beim Einschlafen genuschelt hatte, war es um den Kriminalhauptkommissar geschehen.
Völlig aufgelöst war er ohne ein weiteres Wort in seine Wohnung gestürmt und hatte eine halbe Stunde später mit zwei Koffern wieder vor der Tür gestanden. Der Kopf gesenkt vor Verlegenheit, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. „Ich geb‘ auf.“ Hatte er leise geraunt. Dann hatte sie ihn schon zu sich hinunter in eine warme Umarmung gezogen und mit einem „Willkommen Zuhause, Frank“ begrüßt. Das selbstgefällige Grinsen des Professors in ihrem Rücken hatte sie ausnahmsweise mal unkommentiert gelassen.
Seitdem war alles Schlag auf Schlag gegangen. Das Gästezimmer hatte sich innerhalb einer knappen Woche in Franks persönliches Refugium verwandelt. Sie musste immer noch schallernd lachen, wenn sie an den irritierten Gesichtsausdruck ihres Partners dachte, als er die überdimensionale St-Pauli-Fahne an der Wand entdeckt hatte.
Fast unheimlich schnell waren sie in eine reibungslose Routine gefallen. Es wirkte alles so eingespielt, so natürlich, als würden sie das schon immer so machen, als wäre das alles Bestimmung gewesen. Sie störte sich nie an der Gegenwart des anderen Mannes. Im Gegenteil. Sie überkam oft eine tiefe Melancholie, wenn mal einer der beiden nicht da war. Es fühlte sich oft so an, als würde ein Stück fehlen in einem Bild, das plötzlich unvollständig war und keinen Sinn mehr ergab.
Und obwohl sich Frank nahtlos in ihren Alltag eingefügt hatte – so war es nun oft er, der Ellie in die Kita brachte – hatte er eine Bedingung gehabt. Eine einzige. Seine Wohnung blieb. Sie durfte nicht anderweitig vermietet werden.
Sie konnte das nur zu gut verstehen. Die Vorstellung musste gruselig für ihn gewesen sein. Alles aufzugeben. Jegliche Rückzugsoption über Bord zu werfen. Zumal es – sehr auch zu ihrer Freude – immer öfter vorkam, dass Lukas ihn besuchte. Da war so eine zusätzliche Wohnung direkt gegenüber mehr als praktisch.
Der Professor hatte das zunächst ganz anders gesehen. Natürlich hatte er diskutiert und über die verschwendete Miete geschimpft. Bis er schließlich nach einer besonders intensiven Debatte mit ihr grummelnd eingewilligt hatte. Ihr kam in den Sinn wie hitzig sie gestritten hatten. Frank nur der stumme Zeuge in der Ecke.
Zunächst hatte sie nicht begriffen, warum ihr das eigentlich so wichtig gewesen war. Warum sie diesen Kampf für den Kriminalhauptkommissar so vehement und unnachgiebig geführt hatte. Warum sie so hart und uneinsichtig geblieben war. Sie, der eigentlich immer ein goldener Mittelweg einfiel.
Sie hatte erst befürchtet, dass da doch wieder ihre eigene Unsicherheit und Eifersucht anklopfen würden. Mittlerweile wusste sie es besser. Sie schluckte schwer. Nein, da hatte sich etwas ganz anderes gemeldet, dass sie bis vor einigen Tagen noch sehr erfolgreich verdrängt hatte. Doch damit war es jetzt endgültig vorbei.
Ihr schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht. Ihr wurde plötzlich unangenehm warm und ihr Puls beschleunigte sich. Verlegen räusperte sie sich, um ihre aufgepeitschten Nerven wieder in den Griff zu bekommen. Das hier war nicht der Ort, um den Kopf über ein paar verwirrte Emotionen zu verlieren. Und doch konnte sie das seltsame Gefühl in ihrem Magen nicht verleugnen, dass sich verräterisch nach einer Horde wild gewordener Schmetterlinge anfühlte.
Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Hatte es vor gut 10 Jahren das letzte Mal in dieser überraschenden Intensität gespürt, als ein junger stellvertretender Leiter des Instituts für Rechtsmedizin sie mit einem spitzen Spruch grinsend über seine Brille hinweg betrachtet hatte. Damals hatte sie es auf ein paar flattrige Nerven am ersten Arbeitstag geschoben. Heute wusste sie es besser. Heute teilte sie sich mit ihm nicht nur den Arbeitsplatz, sondern auch eine Wohnung, eine manchmal reichlich turbulente Ehe und eine zauberhafte Tochter.
Vehement schüttelte sie den Kopf. Das hier war anders. Das MUSSTE anders sein. Das war nur das Adrenalin, die Erleichterung, dass es ihm inzwischen besser ging. Auch wenn es bereits ein paar Tage zurücklag. Die zermürbende Sorge um Frank nach der schiefgegangenen Auflösung einer Geiselnahme saß ihr noch immer in den Knochen.
Vor allem die quälenden Stunden, in denen sie keine Information bekommen hatten, was mit ihm passiert war. Ob er überhaupt noch lebte, hatte sich tief bei ihr eingebrannt. Boerne war naturgemäß schier die Wände hochgegangen. Hatte lautstark jeden verfügbaren Polizisten nach Antworten angeherrscht. Niemand hatte welche für den aufgebrachten Professor gehabt.
Sie hatte nur dagesessen. Mit dröhnendem Kopf und dieser beißenden Leere in ihrem Magen. Orientierungslos hatte sie vor sich hingestarrt. Die salzigen Tränen auf ihrem Gesicht hatte sie erst bemerkt, als der Professor sie grob an sich gedrückt hatte.
„Keine Angst, Alberich. Das ist Frank Thiel und nicht irgend so ein naiver Provinzpolizist, der noch ganz grün hinter den Ohren ist. Er schafft das schon. Er kommt da raus. Du wirst schon sehen. In ein paar Stunden sitzen wir wieder alle hundemüde an unserem Frühstückstisch.“ Hatte er ihr ins Haar gewispert, während er sie beide sanft vor und zurückgewogen hatte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass er damit nicht nur sie hatte beruhigen wollen.
Also hatte sie nur stumm genickt und ihre Finger in seine Brust gekrallt. Festhalten, nicht loslassen. Das schien wirklich ihr Motto zu sein. Und auch dieses Mal sollte es sich auszahlen, als Stunden später ihr schwer angeschlagener aber doch sehr lebendiger Freund endlich in einen der Krankenwagen verfrachtet wurde.
Sie erinnerte sich an sein erschöpftes Lächeln sehr genau. Denn es war dieser Augenblick gewesen. Exakt diese Sekunde, als sie die Erkenntnis wie ein Blitz getroffen hatte. Als ihr sorgfältig gebautes Kartenhaus aus Ausreden und Ausflüchten ganz leise in sich zusammengefallen war. Als schlagartig all diese merkwürdigen Momente und Empfindungen der letzten Monate einen Sinn ergeben hatten.
Sie war verliebt. Verliebt in zwei Menschen zur gleichen Zeit. Denn auch das wurde ihr plötzlich klar. Diese Offenbarung änderte rein gar nichts daran, wie stark sie für Boerne empfand. Im Gegenteil. Es schien fast als wäre ihr Herz einfach nur ein wenig größer geworden, um Platz zu schaffen für diese neuen Gefühle, die wenn sie ehrlich war sich gar nicht so neu und fremd anfühlten, wie sie sollten.
Wie in Trance hatte sie die Szene beobachtet. Das wild flackernde Blaulicht um sie herum. Boerne der zärtlich Franks Hand in seine genommen hatte. Das weiche Lächeln auf dem Gesicht des Professors. Sie hätte in diesem Moment alles darum gegeben, direkt neben ihm zu sein. Franks andere Hand zu halten und ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn zu drücken.
Aber das war nicht ihr Platz. Das war nicht die Rolle, die sie spielen sollte. Also hatte sie ihre Sehnsucht und ihr Verlangen in den folgenden Tagen geschluckt. War nur mit ihrem Partner zusammen ins Krankenhaus gegangen, wenn er den Kommissar besucht hatte. Hatte sich vornehm im Hintergrund gehalten. Die Distanz zu dem kantigen Mann aus Hamburg, der im Grunde zu ihr und Ellie meist sanft wie ein Lamm war, gesucht, um ihr emotionales Gleichgewicht wiederzufinden.
Sie hatte das gebraucht. Diese Bedenkzeit für sich. Sonst könnte sie ihnen das niemals erklären. Sonst würde sie niemals in der Lage sein, ihnen ihren Entschluss mitzuteilen. Ihnen diesen heimlichen Wunsch zu erfüllen, den Boerne ihr betrunken vor einigen Monaten anvertraut hatte.
‚Alberich, lass uns eine richtige Familie werden.‘ Noch immer hallte dieser Satz in ihrem Kopf nach. Bisher hatte sie es kaum geschafft, dieses Thema mit Frank auch nur anzuschneiden. Ihr eigener chaotischer Gemütszustand verkomplizierte das Ganze nun zusätzlich.
Dennoch war sie weder taub noch blind. Ihr entgingen Franks sehnsüchtige Blicke nicht, wenn er Ellie beim Spielen zusah. Sie hörte das kaum unterdrückte Verlangen, wenn er von Lukas Abreisen und Telefonaten berichtete. Wie konnte sie ihm das nur verwehren, wenn es dafür eine scheinbar logische Lösung gab? Wie konnte sie sich sperren, nur weil dieser tiefe Wunsch von ihm für sie gerade mehr als unpässlich kam?
Nein, sie musste endlich mit ihm darüber sprechen. Ohne, dass ihnen ihr großer Kindskopf dabei in die Quere kam. Ohne, dass sie jemand ablenken konnte. Vor allem nach dem bizarren Telefonat mit dem Krankenhaus heute Morgen. Sie konnte es nicht länger aufschieben oder künstlich hinauszögern. Nein, es musste jetzt sein, genau jetzt, wenn die Gefahr, dass sie jemand stören würde, so gering wie möglich war.
Und wie viel sie dabei preisgab, welche Karten sie offen auf den Tisch legte und welche sie für sich behalten würde, nun das würde sich zeigen, das war ihr überlassen. Mit diesem Gedanken rollte sie bestimmt ihre Schultern zurück und trat entschlossen auf Nina zu, die sie schon mit einem süffisanten Grinsen empfing.
„Na, diesen Blick kenne ich doch noch. Hat sich der Professor mal wieder ganz besonders viel Mühe gegeben, ja? Ich hoffe doch, dass Sie voll auf Ihre Kosten gekommen sind, Frau Haller. Wie man so hört, müssen Sie ihn sich ja seit einiger Zeit teilen.“ Die junge Frau lachte boshaft auf und warf den Kopf in den Nacken, sodass ihre schwarz-rosa gefärbten Haare flogen.
Absolut kein Filter. So war Nina eben. Silke kannte das schon und sie wusste, dass die Kommentare der jungen Frau sehr viel liebevoller gemeint waren, als so manch anderes gehässiges Getuschel, das sie sich anhören mussten, seitdem sie aus ihrer etwas unkonventionellen Beziehungskonstellation kein Geheimnis mehr machten.
Erstaunlicherweise hatte Frank damit die wenigstens Schwierigkeiten. Silke vermutete schon eine Weile, dass da eine gewisse Staatsanwältin ihre Finger im Spiel hatte und die weniger positiven Konsorten im Präsidium einmal ordentlich eingenordet hatte. Immerhin war Frau Klemms bedingungsloser Beistand in den besonders harten Phasen goldwert für die Rechtsmedizinerin gewesen.
Wie viele Nächte hatte sie sich bei der älteren Frau ausgeweint, nur um mit ihren ruppigen Sprüchen wieder auf Kurs gebracht zu werden. „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Frau Haller. Sind Sie eine Kämpferin, oder nicht? Sie werden es doch wohl schaffen, diese beiden Pappenheimer in die Spur zu bringen. Sie sind mehr Frau als diese beiden Feiglinge jemals Männer sein könnten. Also los, zeigen Sie den Biss, den ich von Ihnen gewohnt bin.“
Schmunzelnd dachte sie an die flammenden Reden der Staatsanwältin zurück. Immer mit einer unangezündeten Zigarette im Mundwinkel, die nur darauf bettelte endlich verbraucht zu werden. Es war vermutlich wirklich Wilhelmine Klemm zu verdanken, dass sie sich nicht geschlagen gegeben hatte.
Ihr und Franks erfrischend unangepasstem Vater, der Silke unermüdlich in ihrem schwierigen Unterfangen unterstützt hatte, die beiden Männer davon zu überzeugen, dass es eine Zukunft auch zu dritt geben kann. Ständig hatte sich Herbert Thiel auch rührend um Ellie gekümmert, wenn Silke jegliche Kraft dafür gefehlt hatte, ihren tiefen Kummer vor ihrer Tochter zu verbergen. Seitdem war auch er aus Ellies Leben nicht mehr wegzudenken.
Zwar hatte sich der lässige Taxifahrer die üblichen anzüglichen Sprüche nicht nehmen lassen. Aber ohne ihn und Frau Klemm hätte sie wohl sehr schnell die Hoffnung verloren. Vielleicht hatte sie deshalb so giftig auf Franks Aktion reagiert, als er seinen Vater wegen ein paar Spargelstangen in U-Haft genommen hatte.
Kurz dachte sie daran wie ungnädig der Kriminalkommissar und der Professor manchmal mit den beiden Seniormitgliedern ihrer kleinen Familie umgingen. Wenn sie nur erahnen könnten, wie viel sie ihnen zu verdanken hatten, vielleicht würden sich die beiden Sturköpfe deutlich mehr beherrschen, mehr Nachsicht walten lassen und sich in Geduld üben. Andererseits meist hatten ihre beiden Chaoten zumindest gegen die adrette Staatsanwältin eh nicht den Hauch einer Chance.
Ein weiteres Lachen von Nina holte sie aus ihren Gedanken. Noch immer lachend legte die Schwesternschülerin das schwarze Klemmbrett beiseite und richtete ihre vergnügt funkelnden Augen auf die kleine Rechtsmedizinerin. „Oder hat es die Nervensäge vom Dienst mal wieder zu bunt getrieben und Sie sind hier auf Rachefeldzug?“
Vielsagend zuckte die junge Frau mit dem Kopf Richtung Flur. „Ich könnt’s verstehen. Dieser Thiel ist schon echt ein feiner Kerl. Ein bisschen mürrisch und wortkarg vielleicht für meinen Geschmack. Aber Sie haben ja den perfekten Gegensatz gleich auf dem Sofa zuhause zu sitzen. Bisschen Abwechslung tut ja auch mal ganz gut, nicht wahr? Und der hier ist so schön bodenständig im Vergleich zu dem Herrn Professor. Thiel schwärmt jedenfalls nur in höchsten Tönen von Ihnen. Also wenn er sich dann mal zu mehr als ein paar Drei-Wort-Sätzen hinreißen lässt. Den scheint irgendwas ganz schön zu beschäftigen. Aber wenn es um Sie oder Ihre Tochter geht, dann blüht der richtig auf. Man könnte fast meinen, er ist in Sie statt in den Prof verschossen. Naja praktisch, dass die beiden zu ihrem Haushalt gehören. Win-Win würde ich sagen. Wie ist das denn so, wenn man gleich von zwei Männern derart angehimmelt wird? Stell ich mir auch irgendwie stressig vor.“
Silke schwirrte leicht der Kopf und sie war froh, dass die Krankenschwester ihren Monolog scheinbar beendet hatte. Nina war eben mit allen Wassern gewaschen. Sie kannte keine Scheu oder rote Linien. Das hatte ihr schon immer imponiert an der jungen Frau und sie ein bisschen an den Professor selbst erinnert, der da ganz ähnlich tickte, auch wenn er das natürlich vehement abstreiten würde. Manchmal fragte sie sich, was ihr da noch mit Ellie blühen würde. So bezaubernd sie diese Angewohnheit auch fand, heute war ihr das einfach etwas zu viel.
Sie rang sich daher nur zu einem schiefen Lächeln durch und legte verlegen eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Na, ich seh schon. Aus Ihnen ist auch nichts rauszuholen. Dieses Sphinx-Lächeln kommt mir auch noch sehr bekannt vor. Ein Versuch war’s wert. Irgendwer muss ja den Gossip-Chanal in diesem Laden am Leben erhalten und mit pikanten News füttern.“
Reumütig zuckte Silke mit den Schultern. Als wollte sie sagen. Tut mir leid, aber das hier ist sehr heikel und privat. In Ninas graublauen Augen las sie jedoch wie immer keinen Groll. Noch etwas, das sie an der jungen Frau so schätzte. Selten war ihr jemand begegnet, der vorurteilsfreier und offener durch die Welt schritt. Da konnten sich selbst Frank und ihr Partner noch etwas abgucken.
„Na, dann kommen Sie mal. Ich denke, er wird noch nicht schlafen. Sie kennen den Drill. Keine laute Musik oder wilden Parties. Es ist immerhin nach 22 Uhr und lassen Sie sich nicht von einem anderen Patienten erwischen. Und tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde.“ Keck zwinkerte ihr die junge Frau nochmal zu. „Ich bin vorn, wenn Sie was brauchen.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich die junge Schwesternschülerin und lief pfeifend den Gang zurück.
Mit einem flauen Gefühl im Bauch stand sie nun allein vor der vertrauten Zimmertür. Einzelzimmer. Natürlich. Darauf hatte der Professor bestanden. Sie verfluchte sich kurz selbst. Es war doch nur Frank. Wovor hatte sie denn solche Angst? Sie allein entschied, wie ehrlich sie heute Nacht sein würde. Entschieden nickte sie und klopfte sacht an die Tür. Dann trat sie mit leicht wackligen Beinen ein.
Das Zimmer lag im Halbdunkeln. Die Lampe am Bett war noch an. Nina hatte recht behalten. Der Kriminalhauptkommissar schlief noch nicht. Stattdessen stand er mit dem Rücken zu ihr am Fenster und blickte in die Nacht hinaus.
Er drehte sich nicht verwundert zu ihr um. Stattdessen seufzte er nur tief, um ihr zu signalisieren, dass er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte. Also doch. Er wusste Bescheid. Ahnte vermutlich, warum sie gekommen war, warum sie allein hier war. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit auf sie gewartet.
Völlig erschöpft setzte sie sich auf den Rand des Betts und wartete einfach nur ab. „Was machst du hier, Silke?“ Durchbrach er schließlich mit gedämpfter Stimme nach einigen Minuten die Stille ohne sie anzusehen.
Augenblicklich brannten ihr die Augen und so richtig wusste sie nicht mal wieso. Vielleicht lag es an dem traurigen Ton in seiner Stimme. Vielleicht war es aber auch, dass er immer noch vorgab von nichts zu wissen, sich aber nicht mal die Mühe machte, zu verbergen, dass er längst genesen war. Dass er längst hätte nach Hause kommen können und es aus irgendeinem Grund nicht tat.
„Das weißt du ganz genau, Frank.“ Flüsterte sie daher nur tränenschwer zurück. Mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen beobachtete sie ihn, wie er sich langsam zu ihr drehte.
Als ihre Blicke sich trafen, traten sie in einen stummen Kampf ein. Sie war entschlossen nicht nachzugeben, nicht zu verlieren. Egal, was das genau bedeutete. Sie war hier, um Antworten zu bekommen und sie würde nicht eher gehen, bis er ihr das alles erklärt hatte. Bis sie verstand, warum das Krankenhaus ihr mitgeteilt hatte, dass er seit knapp einer Woche eigentlich hätte entlassen werden können, aber er das ablehnte.
„Warum?“ Fragte sie daher nur. Dabei lag die Antwort doch auf der Hand. Sie lag in seinen tieftraurigen Augen.
Sein Blick tat weh. Seine himmelblauen Augen waren voller Scham und Schuld. Das Blau getränkt in Hoffnungslosigkeit und Schmerz. Es erschloss sich ihr nicht. Was war nur passiert, dass es ihm so schlecht ging? Warum versteckte er sich hier vor ihnen? Sie waren doch glücklich gewesen oder etwa nicht? War das alles nur eine Illusion gewesen?
Eine Lüge, die sie sich in ihrer eigenen vertrackten Situation immer und immer wieder erzählt hatte, sodass sie sich nicht der Wahrheit stellen musste. Der Wahrheit, dass er unglücklich war. Dass er mehr wollte und dass sie es war, die diesem Mehr im Weg stand. Wie konnte sie nur glauben, dass ein Kind das ändern würde. Wie hatte sie nur so töricht sein können, zu glauben, dass sie Teil der Lösung sein konnte.
Nein, in seinen Augen war sie nur Teil des Problems. Noch schlimmer. Sie war das Problem. Und er wollte ihr dennoch nicht wehtun. Wollte sie und vor allem den Professor schützen. Sie beide abschirmen vor all diesem Kummer, diesem Sehnen, das er mit sich herumtrug. Er wollte selbstlos sein. Er wollte loslassen.
Aber das konnte, das durfte er nicht tun. Festhalten, nicht loslassen. Das war nicht länger nur das Lebensmotto von Boerne und ihr. Nein, es gehörte unweigerlich nun zu ihnen dreien.
„Nein.“ Stieß sie daher schluchzend hervor, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte. „Nein, du darfst das nicht tun, Frank. Wir finden eine Lösung. Wir haben doch immer einen Weg gefunden.“
Er lachte verbittert auf. „Welcher Weg soll das sein, Silke? Hm? Wie stellst du dir das vor?“ Er schüttelte unwirsch den Kopf. Sie kramte verzweifelt in ihrem Kopf. Sie musste etwas sagen. Irgendetwas tun. Sie konnte ihn nicht verlieren. Unter keinen Umständen. Schon wegen Boerne nicht. Dann sprachen sie beide gleichzeitig.
„Du wirst ihm das Herz brechen. Und mir auch.“
„Soll ich meinen Job an den Nagel hängen?“
Verwirrt sahen sie sich an. Und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie bei aller Vertrautheit gerade schwer aneinander vorbei kommunizierten. Irritiert zog sie die Stirn kraus. Dann öffnete sie den Mund. Doch erneut sprachen sie zur selben Zeit.
„Wie bitte?“
„Wa?“
Die Verblüffung hielt sich nur für einen kurzen Moment. Dann brachen sie in nervöses Gelächter aus und durchschnitten die Spannung im Raum. Langsam ging er zu ihr und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Vorsichtig nahm er ihre Hand in seine und legte sie in seinen Schoß.
„Ich glaube, wir haben da einiges zu klären und aufzuarbeiten, Frau Haller.“ Flüsterte er ihr amüsiert zu und stupste sachte mit seiner Schulter an ihre. „Was Sie nicht sagen, Herr Thiel.“ Antwortete sie und ließ sich auf das Spiel ein. Kurz verfielen sie wieder in Schweigen. Hingen ihren Gedanken nach.
Wo nur anfangen? Wo genau hatten sie den Faden eigentlich verloren? An welcher Stelle war er nur anders abgebogen als sie und warum? Denn dass er weglaufen wollte, dass konnte er nicht verleugnen. Nicht nach diesen letzten Minuten.
Also wiederholte sie nur ihre Frage von vorhin. „Warum?“ Nur ein Wort. Ein einziges Wort mit dem sie hundert Fragen gleichzeitig stellte. Warum willst du weglaufen? Warum ist das nicht länger genug? Warum willst du dich ausgerechnet jetzt abwenden, wenn ich gerade erst begriffen habe, wie sehr auch ich dich will, selbst wenn du nicht genauso fühlst? Was soll denn nur aus uns werden? Was ist mit ihm? Wie soll ich diese Wunde ganz allein heilen? Kann ich das überhaupt? Wie soll ich das Ellie erklären?
Er ließ sich Zeit. Fing an mit ihrem Fingern zu spielen. Eine Angewohnheit, die er sich offensichtlich von dem Professor abgeschaut hatte. Traurig lächelte sie vor sich hin. Es war schon erstaunlich, wie sehr Boerne bereits auf ihn abgefärbt hatte. Wie sehr sie sich alle verändert hatten in diesem einen Jahr. Wie konnte er das nur alles hinter sich lassen wollen?
„Ich kann nicht so weiter machen.“ Dieser Satz bohrte sich wie eine feine heiße Nadel in ihre Brust. Sie versuchte gegen den Schmerz anzukämpfen. Es gelang ihr kaum. In ihren Ohren rauschte es, sodass sie seine nächsten Sätze zunächst kaum verstand.
„Ich will ihn nicht verletzen. Und dich auch nicht, schon gar nicht Ellie. Verdammt, das ist das Allerletzte, was ich will. Weißt du ich…ich liebe ihn wirklich. Ich liebe ihn so sehr.“ Flüsterte er leise. Trostlos lachte er auf. „Ich glaub‘, ich hab‘ das noch nie so deutlich gesagt. Nicht mal zu ihm.“ Verständnisvoll nickte sie ihm zu.
Boerne hatte ihr nur vage davon berichtet, dass es Frank immer noch schwerfiel über seine Gefühle ganz offen und ohne Schuld zu sprechen. Sie hatte eigentlich gedacht, dass auch das mit der Zeit sich finden würde. Geduld und Zeit. Damit hatte sie geglaubt alles heilen zu können. Wie falsch sie nur gelegen hatte.
„Und ich glaub…“ Setzte er zögerlich fort und blickte sie vorsichtig an. „Ich glaub, ich liebe euch auch. Ich kann mir das gar nicht mehr vorstellen ohne euch.“ Sie holte scharf Luft. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als sei ihr Herz stehen geblieben. Aber sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Dann folgte ein weiteres bitteres Lachen von ihm.
„Klar, dass mir das jetzt einfällt, wenn es keine Rolle mehr spielt.“ Er schüttelte traurig den Kopf. Dann seufzte er schwer und ließ ihre Hand los. Sie spürte den Verlust seiner Nähe bis in ihre Haarspitzen. Dennoch hielt sie ihre Hand eisern in ihrem Schoß und widerstand dem Drang, nach ihm zu greifen.
„Aber ich kann auch nicht einfach aufhören Polizist zu sein. Und die Mordkommission. Das ist nun mal mein Leben. Ich kenne nichts anderes. Ich habe nichts anderes gelernt. Dort fühle ich mich zuhause. Und ich weiß, es ist egoistisch.“ Gedankenverloren blickte er wieder zum Fenster. Dann trat ein entschlossener, harter Blick in seine sonst so weichen, himmelblauen Augen.
„Sie haben mich bedroht. Das ist nicht mal das Problem. Das kenne ich schon. Das kommt eben mit dem Job. Was aber schwerer wiegt. Sie wussten von euch. Sie wussten von Ellie. Sie haben mich gesehen mit ihr, wenn ich sie zur Kita gebracht habe und sie haben mir Fotos gezeigt, wie du sie wieder abgeholt hast.“ Müde schüttelte er mit dem Kopf. Dann drehte er sich langsam wieder zu ihr.
„Ich will…ich kann euch nicht weiter gefährden. Ich hatte Zeit, als ich hier gelegen habe. Zeit nachzudenken und ich denke…es ist besser, wenn ich mich fernhalte ab jetzt. Es ist noch nicht zu spät. Also werde ich mich versetzen lassen. Zurück nach Hamburg.“ Rasch wandte er sich wieder von ihr ab. Er schien ihren Blick kaum ertragen zu können.
Entsetzt sah sie ihn an. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte sich also wirklich geirrt. Es ging gar nicht um sie oder dass sie einer Zukunft mit Boerne im Weg stand. Sie war nie der Grund gewesen. Jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie sie gedacht hatte. Er hatte einfach Angst. Doch sie glaubte nicht mal für eine Sekunde, dass es wirklich etwas mit seinem Job zu tun hatte.
Verdammt nochmal er hatte ihr gerade gesagt, dass er sie und ihre Tochter ebenfalls liebte. Auch wenn er es vermutlich nicht so meinte, wie sie es sich manchmal wünschte. Es war Liebe. Das war ihr genug. Genug, um darum zu kämpfen. Koste es, was es wolle.
„So, denkst du das? Und wann hattest du vor, das mit Karl und mir zu besprechen? Wie wolltest du Ellie, deiner Tochter, das mitteilen. Und wag es nicht, jetzt zu sagen, dass sie das nicht ist.“ Verärgert hob sie drohend ihren rechten Zeigefinger. So langsam stieg die Wut in ihr hoch. Zornig sprang sie vom Bett und begann vor ihm auf und ab zu laufen.
„Wer bringt sie jeden Morgen in die Kita? Von wem will sie unbedingt ihre Gute-Nachtgeschichte hören? Weißt du überhaupt was in den letzten Tagen zuhause los war, weil ihr Pops nicht da war, um all diese Dinge zu tun.“ Sie wurde immer lauter. Schweratmend ging sie auf ihn zu und bohrte ihm ihren vor Wut bebenden Finger in die Brust.
„Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal zu dir sage. Aber du bist ein Feigling Frank Thiel. Ich werde nicht zulassen, dass du das tust. Ich werde dir nicht gestatten, unserem kleinen Engel die Flügel zu brechen, weil du plötzlich kalte Füße bekommst. Hörst du mich. Und du wirst ganz sicher nicht dem Mann…“ Sie musste sich kurz räuspern. „Dem Mann, den ich liebe, derart das Herz brechen.“
Plötzlich stiegen ihr die Tränen erneut in die Augen und die Wut wich ein Stück. Erschöpft ließ sie ihre Hand sinken. „Hast du das denn alles schon wieder vergessen? Was wir durchgemacht haben, um hier anzukommen. Soll es das jetzt gewesen sein? Soll das alles umsonst gewesen sein? Willst du das letzte Jahr wirklich dafür wegwerfen, weil du…weil du dich fürchtest? Ist denn die Angst wirklich so viel stärker als das hier, als wir?“ Sie hielt sich die Hand auf die Brust, während ihr die Tränen unkontrolliert die Wangen hinunterliefen.
„Sind wir das denn nicht auch? Dein Leben? Dein Zuhause? Das ist es doch, wovor du dich eigentlich so fürchtest, nicht wahr? Dieser Gedanke, dass du nie ganz dazu gehören wirst.“ Flüsternd trat sie ganz dicht an ihn heran. Aber der Kriminalkommissar weigerte sich, sie anzusehen und blickte stattdessen mit gesenktem Kopf auf seine Hände.
„Ich wollte nicht grausam sein.“ Wisperte er leise zurück. Dann blickte er endlich auf. Seine Augen immer noch so schrecklich trüb. „Im Gegenteil. Ich weiß, ich bin manchmal grob und hart. Reden is auch nich so mein Ding, wie du weißt. Aber das hier…“
Er machte eine vage Geste in ihre Richtung. „Es sollte eigentlich sowas wie…wie Zuneigung sein. Denn sei doch mal ehrlich, Silke. Auf wen könnt ihr am ehesten verzichten? Ihr seid auch ohne mich schon eine Familie. Das ward ihr davor und das werdet ihr auch nach mir sein. Ihr seid bereits komplett. Ihr braucht mich dafür nicht.“ Sie sah, wie er schwer schluckte. Dann wiederholte er mit zittriger Stimme. „Ihr braucht mich nicht.“
Ungläubig und sprachlos starrte sie ihn an und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie hatte geahnt, womit er haderte. Aber nicht, dass seine Unsicherheit so tief ging. Er hatte immerhin nicht mal versucht, seine Geschichte von den angeblichen Gefahren seines Berufs für ihre Familie, aufrechtzuerhalten. Allein das sprach Bände. Seufzend setzte sie sich wieder neben ihn. Dieses Mal griff sie nach seiner Hand.
Sie wusste, dass sie jetzt behutsam mit ihm sein musste. Die harte Kante würde sie dieses Mal nicht weiterbringen. „Du glaubst das wirklich, nicht wahr?“ Fragte sie daher vorsichtig. Er antwortete nicht, sondern blickte weiter stur nach unten. „Sieh mich an.“ Forderte sie ihn so sanft, wie möglich auf. Doch er drehte den Kopf nur noch weiter weg. Aber sie würde jetzt nicht aufgeben.
Sie rief sich nochmal die Worte von Frau Klemm vor all diesen Monaten in Erinnerung. Sie konnte das. Sie war eine Kämpferin und wenn das letzte Jahr eines bewiesen hatte, dann das sie stärker war als all die Zweifel und Ängste dieser beiden komplizierten Männer. „Sieh mich an, Frank.“ Sagte sie daher nochmal bestimmter und drückte seine Hand.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber sie konnte warten. Deshalb war sie hier. Sie würde nicht länger davon laufen. Dann spielte sie eben alle Karten aus, setzte nochmal alles aufs Spiel. Wenn es das gewünschte Resultat brachte, war es das wert. Endlich blickte er sie an. Sein gequälter Blick machte ihr zu schaffen, aber er spornte sie auch an. Sie musste das jetzt hier richtig machen. Ehrlich sein. Zu sich und zu ihm.
„Wir gehören zusammen, Frank Thiel. Wie kannst du das nicht verstehen? Du fehlst überall. Jeden verdammten Morgen, an dem du nicht an dem Frühstückstisch kommst, um Karls Toast zu stehlen, fehlst du. Jeden Abend, wenn du Ellie nicht ins Bett bringst, fehlst du. Jeden Sonntagnachmittag, an dem Karl und du mir nicht mit euren kindischen Zankereien auf den Zeiger geht, weil ihr euch zu Tode langweilt ohne einen Fall, fehlst du. Und es sind erst drei Monate. Drei Monate, Frank.“
Mit ihrer freien Hand griff sie nach seinem Gesicht. Zärtlich legte sie sie an seine Wange und fuhr ihm mit dem Daumen über das Gesicht. Seine Haut fühlte sich so anders an als Boernes. Anders warm, anders rau und doch irgendwie weich. Anders und doch so vertraut.
„Wir sind nicht komplett, wenn du nicht da bist. Verstehst du? Ich habe das erst jetzt so richtig begriffen. Wir sind nur zu dritt ganz. Wenn einer fehlt, dann ist das nicht mehr richtig. Und ich…ich kann…ich kann nicht…ich kann das nicht mehr ohne dich stemmen. Also hör auf mir zu erzählen, dass wir bereits eine Familie wären. Das sind wir nämlich nicht. Nicht mehr. Nicht ohne dich.“ Sie atmete einmal tief ein.
„Komm einfach nach Hause. Bitte.“ Flüsterte sie leise. „Wir vermissen dich. Er vermisst dich und Ellie schläft so schlecht, seitdem du hier bist und ich…ich vermisse dich auch.“ Mit einem wässrigen Lächeln betrachtete sie ihn.
Geduldig zeichnete sie mit ihren Augen seine Gesichtszüge nach. Musterte das aschblonde Haar, von dem Boerne ihr immer noch berichtete, dass es überraschend weich war. Sie blieb an seiner leicht gebogenen Nase hängen, die Ellie so gern mit ihren kleinen Fingern stupste und danach jedes Mal laut loskicherte. Sie fuhr mit ihren Augen seine Lippen ab, die so verschmitzt grinsen konnten, wenn sie beide Boerne neckten.
Dann verlor sie sich kurz in seinen himmelblauen Augen, die immer so leuchteten, wann immer er Ellie laut lachend auf den Schultern durch die Wohnung trug. Diese Augen, von denen sie selbst schon viel zu oft geträumt hatte. Die so viel Wärme ausstrahlten, wenn er seinen Partner irgendwo erblickte. Und die sie immer so betrachteten, als wäre sie ein kleines Wunder.
Es stand außer Frage. Frank Thiel war ein besonderer Mann. Und er gehörte zu ihnen und deshalb würde sie ihn jetzt auch nicht gehen lassen. Diesen stillen, sonderbaren Mann, der erst ihrem Professor das Herz gestohlen und sich dann ganz heimlich, ganz still und leise auch in ihres geschlichen hatte. Sie würde ihn jetzt nicht verlieren. Nicht deshalb. Festhalten, nicht loslassen. Rief sie sich nochmal in Erinnerung und schloss die Augen.
„Silke…“ Raunte er zaghaft. Aber sie ließ ihn erst gar nicht richtig zu Wort kommen. Sie war im Kampfmodus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Wenn sie ihn wollte, dann musste sie alles auf eine Karte setzen. Das hatte schon mal funktioniert. Das würde auch jetzt klappen. Es musste. Davon hing nicht mehr nur ihr eigenes Glück ab.
„Ich will die IVF!“ Rief sie daher plötzlich laut. Schweratmend öffnete sie wieder ihre Augen und blickte in seine. „Wa?“ Fragte er verwirrt. Dann legte sich ein Schatten über sein Gesicht und er riss sich von ihr los. Nun war er es, der sich wütend von der Bettkante erhob. „Er hat es dir erzählt.“ Knurrte er ihr regelrecht entgegen.
Zornig zog er seine Augenbrauen zusammen und ballte seine rechte Hand zu einer Faust. „Ich hab’s gewusst. Dieser aufgeblasene, arrogante Besserwisser. Nie kann er sich irgendwo raushalten. Muss ja immer überall seine Finger im Spiel haben und Gott bewahre, dass seine Hochwürden mal seine verdammte Klappe hält.“ Tobte er halblaut vor sich hin. „Wenn ich den in die Finger kriege…“
Sie hatte endgültig genug von diesem Affentheater und fuhr ihm über den Mund. „Ich weiß Bescheid, Frank. Dafür brauche ich Karl nicht. Ich habe selbst Augen im Kopf.“ Ging sie energisch dazwischen. „Ich seh doch, wie du Ellie ansiehst. Ich höre, wie sehr du Lukas vermisst, wenn er wieder weg ist. Und ich will das auch nicht, weil ich damit irgendwelche Beziehungsprobleme zwischen dir und Karl flicken will.“
Seufzend zeigte sie ihm an, dass er zu ihr kommen sollte. Als er nah genug war, griff sie wieder nach seiner Hand. „Ich weiß schon lang, dass du dir Kinder mit ihm wünschst. Und warum solltet ihr euch durch all diese komplizierten Verfahren quälen, die eine Adoption bedeuten würden? Warum jemand Fremden mit in diese Situation bringen, wenn ich da bin. Und vielleicht…“ Sie lächelte ihn zaghaft an. „Vielleicht bringt uns das beide auch noch etwas näher.“ Beruhigend strich sie ihm über den Handrücken.
„Warum solltest du das tun? Warum solltest du das riskieren für mich? Ellies Geburt war kein Sparziergang gewesen, soweit ich weiß.“ Er sah sie durchdringend an. Sie widerstand dem Drang ihren Blick abzuwenden. Alles oder nichts. Jetzt zählt es.
Sie schluckte schwer. Alles an ihr zog sich zusammen. Sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Kurz befürchtete sie, dass ihr Mut sie ausgerechnet jetzt im Stich lassen würde. Doch dann stellte sie es sich kurz vor, wie es sein würde, wenn er sie nicht ablehnen würde. Wenn er es einfach akzeptierte. So wie er bisher alle Sonderbarkeiten an ihrem chaotischen Leben akzeptiert hatte.
Sie dachte an sein lautes Lachen, wann immer ihr ein besonders guter Konter gegenüber Boerne in seiner Gegenwart gelang. Ihr kam sein anerkennendes Zwinkern in den Sinn, wenn sie einen wichtigen Beitrag zu ihren Mordermittlungen beitrug. Sie rief sich in Erinnerung, wie oft er sie in den Arm nahm. An Geburtstagen, nach einem erfolgreich abgeschlossenen Fall und manchmal einfach nur so, weil er sie vermisst hatte. Und wie sicher sie sich bei all diesen Gelegenheiten gefühlt hatte.
Und hatte er ihr nicht vor nicht mal zehn Minuten gesagt, dass er sie schon liebte. Irgendwie zumindest. Was also hatte sie noch zu verlieren? Was außer ihre Würde? Und die würde Frank Thiel niemals leichtfertig verletzen.
Nein, sie hatte nichts zu befürchten. Nicht von ihm. Also nahm sie ihren Mut zusammen und sah ihn an. „Musst du das wirklich noch fragen?“ Flüsterte sie ihm zu. Ihre Stimme wankte leicht, aber sie war dennoch froh, wie fest sie in ihren Ohren klang. Er sollte an ihrer Zuneigung nicht länger zweifeln.
Einen Moment lang sah er sie nur unverständlich an. Dann fiel der Groschen. Seine Augen weiteten sich und er zog scharf die Luft ein. „Wie lang schon? Und was ist mit Boerne?“ Wisperte er ungläubig zurück und trat noch etwas dichter zu ihr. Sie atmete erleichtert auf. Immerhin. Er hielt noch immer ihrer Hand in seiner. Festhalten, nicht loslassen. Redete sie sich mental gut zu und hielt sich noch etwas mehr an ihm fest.
Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau. Es ist einfach passiert. Aber ich erwarte rein gar nichts von dir. Ich will das auch nicht nur deshalb. Ich will es, weil es sich richtig anfühlt. Ich will, dass wir eine Familie sind. Und was Karl angeht.“ Schniefend wischte sie sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. „Es hat sich rein gar nichts verändert daran, was oder wie tief ich für ihn empfinde. Ich habe eher das Gefühl, dass ich ihm dadurch noch näher bin und ihn irgendwie noch mehr liebe. Keine Ahnung, ob das Sinn ergibt.“ Erneut zuckte sie mit den Schultern.
„Weißt du, ich habe mir das immer gewünscht. Ein Haus voller Kinder. Ein lautes, buntes Zuhause. Ein bisschen aufregendes Leben. Warum also nicht so? Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als all das mit zwei Menschen zu haben, die ich…“ Sie holte nochmal tief Luft. Dann blickte sie ihm direkt in die Augen. „Die ich liebe.“
Das war es also. Ihre Wahrheit. Die letzte Karte. Sie hatte sie ihm auf den Tisch gelegt. So offen und deutlich, dass er sie nicht mehr übersehen konnte. Jetzt konnte sie nur abwarten. Warten und hoffen. So wie damals. So wie mit dem Professor.
Es dauerte schier ewig. Für eine Weile schien der Mann vor ihr wie in Schockstarre. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Das war eine Menge zu verarbeiten. Doch dann streckte er langsam, fast in Zeitlupe seine freie Hand nach ihrer anderen aus und nahm auch diese in seine.
„Silke, ich…“ Flüsterte er leise und blickte auf ihre Hände hinunter. „Ich will das auch. Und ich kann nicht leugnen, dass ich…“ Vorsichtig hob er seinen Kopf. „..dass ich ebenfalls tiefe Gefühle für dich habe. Ich meine, ich war vorhin ja auch nicht gerade zurückhaltend.“ Er lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Aber ich weiß nicht, was das heißt, wohin das führt. Ich weiß nur, dass es nicht nur Boerne ist, von dem ich mich mit einem schweren Herzen verabschiedet hätte.“ Verunsichert blickte er sie an.
Sie stieß erleichtert einen Atemstoß aus. In ihrem Kopf schwirrte es. Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr leicht schwindlig wurde. Aber sie musste sich jetzt zusammenreißen. Er hatte sie nicht abgelehnt. Im Gegenteil. Er hatte die Tür einen Spalt geöffnet. Das musste sie nutzen.
Rasch entwirrte sie ihre rechte Hand und griff erneut nach seinem Gesicht. „Dann lass es sein und bleib. Lass uns das zusammen herausfinden, wohin uns dieser Weg führt.“ Wisperte sie nachdrücklich auf ihn ein.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie er all die Möglichkeiten abwog. Wie er seinem berühmt berüchtigten Bauchgefühl nachspürte. Dann endlich nickte er. „Ok, ok.“ Flüsterte er. „Was ist mit Boerne? Wir müssen es ihm sagen. Ideen?“ Fragend hob er eine Augenbraue.
Leicht grinsend ließ sie ihn wieder los. „Keinen blassen Schimmer. Aber das werden wir schon noch herausfinden. Wir haben uns unseren Professor doch bisher immer irgendwie zurecht gebogen.“ Losgelöst lachte er plötzlich laut auf. „Ja, das stimmt wohl. Und immerhin auf dich ist immer irgendwie Verlass, was unseren Schnösel angeht. Und ich glaub‘ so schwer wird das dieses Mal gar nicht.“
Schmunzelnd legte sie ihren Kopf schief. „So?“ Fragte sie amüsiert nach und genoss einfach diese zurückgekehrte Leichtigkeit zwischen ihnen. Es fühlte sich wie nach einem kräftigen Gewittersturm an. Irgendwie lag diese frische, hoffnungsvolle Atmosphäre in der Luft. „Joa, ich hab‘ da so ein Bauchgefühl.“ Gab er mit einem frechen Feixen zurück.
Lachend schlug sie ihm leicht mit der Hand auf die Brust. „Wenn das so ist. Dann sollten wir auf der sicheren Seite sein. Das thielische Bauchgefühl hat uns bisher ja nie im Stich gelassen.“ Dann wurde sie für einen Moment wieder ernst. „Und Frank.“ Sie wartete ab, bis sie wieder seine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Keine Dummheiten mehr, ja? Wenn dich etwas belastet, wenn du den Drang zur Flucht erneut spürst, dann rede mit mir. Ich werde da sein. Gefühle hin oder her. Ich werde immer da sein und zuhören.“ Sprach sie sanft aber bestimmt auf ihn ein.
„Ich weiß.“ Gab er seufzend zurück. Beschämt ließ er erneut den Kopf hängen. „Gut. Dann vergiss es nicht wieder. Und vor allem hau nicht wieder gedanklich nach Hamburg ab. Deine Familie. Sie ist hier und sie braucht dich. Ich brauche dich.“ Ihre Stimme wurde zum Ende wieder leicht brüchig, aber sie hielt.
Abrupt riss er den Kopf bei ihrem letzten Satz nach oben. Durchdringend sah er sie an. „Nein, tust du nicht.“ Sagte er schließlich. Und sie musste gestehen. Er hatte recht. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte auch Boerne nicht. Das gehörte eben auch zu dieser Wahrheit dazu. Sie konnte ohne die beiden leben. Aber sie wollte es nicht.
Also erwiderte sie nur ernst. „Stimmt. Aber ich will dich. Ich will euch beide. Und Ellie und Lukas und jedes Kind, das wir noch in diese kunterbunte Truppe bringen werden. Vielleicht ist das ja eines Tages genug.“
Er holte einmal tief Luft. Dann war er es, der ihr sanft eine Hand auf die Wange legte. „Das ist es schon.“ Gab er leise zurück. „Das ist es schon.“ Behutsam lächelte er sie an. Dann zog er sie sanft zu sich und schloss sie in eine seiner warmen Umarmungen. Zärtlich presste er ihr einen Kuss auf ihren goldblonden Schopf.
Und sie ließ sich fallen in dieses Gefühl aus Wärme und Geborgenheit, das sie immer mit diesen Umarmungen verband. In dieses Gefühl von Zuhause. Festhalten, nicht loslassen.Mit diesem Gedanken schlang sie ebenfalls ihre Arme um seine Hüfte und hielt ihn einfach nur fest.
Eine Weile verharrten sie in dieser Position. Als sie sich voneinander lösten, schlug eine von den vielen Kirchtürmen der Stadt und zeigte ihnen an, dass es bereits auf Mitternacht zuging. „Ich sollte losmachen. Karl ist sicher schon am Verzweifeln mit Ellie.“ Sie warf ihm ein Augenrollen zu, was er nur mit einem schuldigen gequälten Lächeln erwiderte.
„Ich bin morgen zurück.“ Verlegen schob er seine Hände in die Hosentaschen. Sie sprang vom Bett hinunter und richtete kurz ihre Kleidung. Dann nahm sie ihre Tasche. „Versprochen?“ Musste sie trotz der letzten Minuten nochmal nachhaken. So ganz hatte sich der Schreck noch nicht gelegt. Der bloße Gedanke, wenn sie heute Nacht nicht gekommen wäre…er jagte ihr noch immer Angst ein.
Doch dann legte er ihr beide Hände auf die Schultern und lächelte auf sie hinab. „Versprochen. Und sag Boerne, er soll es mal mit einer Geschichte von ‚Ernest & Célestine‘ versuchen. Ich glaub, Ellie mag die mit ‚Célestines‘ Fragen“ am liebsten.“ Amüsiert sah sie ihn an. Mit leicht geröteten Wangen zuckte er mit den Schultern. „Ich glaub, die beiden erinnern sie an uns. Sie ruft immer laut ‚Pops,‘ wenn Ernest etwas mürrisch ist und ‚Mama‘, wenn Célestine besonders mutig auftritt.“
Seine leicht verstolperte Erläuterung machte ihr zufriedenes Grinsen nur noch breiter. Stöhnend riss er die Hände hoch. „Ja, ja, ja. Ich weiß...aber du hast es doch selbst gesagt. Sie ist irgendwie auch meine Tochter. Väter wissen sowas. Genauso wie Boerne weiß, was ihr Lieblingsessen ist und was sie sich zum Geburtstag wünscht, obwohl sie das bisher kaum in richtige Sätze packen kann.“
Immer noch feixend griff sie erneut nach seiner Hand. „Nicht irgendwie. Sie ist deine Tochter, Frank. Was glaubst du, warum Karl so am Durchdrehen ist, dass sie plötzlich immer ganz aufmerksam zuhört, wenn du von den Fußballspielen erzählst? Ich gebe ihr noch zwei oder drei Jahre, dann will sie unbedingt mit.“ Herausfordernd hob sie eine Augenbraue. Aber er war so klug und widersprach nicht länger.
Stattdessen nickte er nur ergeben und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr eine seiner üblichen harmlosen Küsse auf die Wange zu geben. Es war purer Instinkt, reinste Routine zwischen ihnen und doch spürte sie in letzter Sekunde sein Zögern. Irgendwie fühlte sich doch mit einem Mal alles anders zwischen ihnen an.
Sie seufzte schwer und drehte leicht ihren Kopf, um stattdessen ihm einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. „Gute Nacht, Frank. Bis morgen.“ Hauchte sie ihm zu, bevor er sich wieder erhob.
Mit einem leicht verunsicherten Blick sah er sie an. „Gute Nacht, Silke.“ Raunte er dennoch zurück. Mit einem letzten kleinen Lächeln drückte sie nochmal seine Hand. Dann verschwand sie durch die Tür in den dunklen Flur hinaus.
Ihr war bewusst, dass sie noch so viel klären mussten. Es würde dauern. Vielleicht nochmal ein ganzes Jahr oder auch länger. Aber sie mussten das erst für sich klären, bevor überhaupt daran zu denken war, mit Boerne darüber zu sprechen. Erst musste er sich darüber klar werden, was er fühlte, was er wollte.
Sie würde ihm diese Zeit geben. Sie würde warten. Egal wie lang es auch dauern mochte. Egal was er am Ende entschied. Wie ihre Zukunft auch letztlich aussehen mochte. Sie würde warten. Immerhin. Ihre Geduld hatte sich schon einmal ausgezahlt.
Mit einem versonnenen Lächeln blickte sie auf ihren Ehering hinab, als sie in ihr Auto gestiegen war. Ja, das hatte sich mehr als gelohnt. Das würde es auch dieses Mal. Seufzend kramte sie ihr Handy aus der Handtasche.
Natürlich. Ging es ihr vergnügt durch den Kopf, als sie das Display betrachtete, in dessen hellem Schein ihre belustigtes Gesicht nun getaucht wurde. Ihre Schultern erzitterten leicht unter dem leisen Lachen, das sie nicht unterdrücken konnte, während sie durch die Benachrichtigungen scrollte.
‚10 verpasste Anrufe und 10 Nachrichten von Karl-Friedrich Boerne.‘ Las sie dort. Die Nachrichten alle so authentisch, dass sie seine Stimme inklusive verschiedener Stimmungen in ihrem Kopf hören konnte.
„Wo bist du?“
„Geh an dein Handy ran!“
„Alberich, das gibt ein Donnerwetter, das sich gewaschen hat. *roter Wutsmiley*“
„Ellie fragt nach dir…und nach Frank.Sie braucht mich nicht mehr. *Heulsmiley.*“
„Wo bist du? Ich mache mir Sorgen.“
„Was ist los?“
„Melde dich doch bei mir? Bitte. *trauriger Smiley*“
„Bitte, komm einfach nach Hause.“
„Ich vermisse dich. Die Wohnung ist so kalt ohne euch beide.“
„Ich liebe dich. Ich hoffe, du weißt das.“
Trotz ihrer Heiterkeit kamen ihr dennoch erneut vor Rührung die Tränen. Zärtlich strich sie mit dem Finger über die Buchstaben der letzten Nachricht. Ihr Herz schien sich noch einmal zu weiten. „Ich liebe dich auch.“ Hauchte sie mit zittriger Stimme, auch wenn er sie gar nicht hören konnte.
Mit einem heiseren Lachen wischte sie sich erneut die Tränen aus dem Gesicht. Unfassbar. Selbst nach all diesen Jahren konnte er es noch. Mit nur einem Funken seines unbestechlichen Charmes, seiner niedlichen Unbeholfenheit, seiner schier endlosen Zuneigung. Mehr brauchte es nicht. Nur einen Funken und sie war wie neu entflammt. Brannte so sehr vor Liebe für ihn, dass es fast unmöglich schien, dass sie jemand anderen genauso stark und intensiv lieben konnte.
Vorsichtig warf sie einen Blick durch die Windschutzscheibe nach oben in Richtung der nun vollständig dunklen Fenster des Krankenhauses. Aber es war passiert. Sie liebte Frank Thiel ebenso sehr. Vielleicht nicht auf die gleiche Art und Weise. Diese Gefühle waren viel ruhiger, viel leiser. Sie fühlten sich eher wie weiches Wasser im Mondschein an. Während ihre Gefühle für den Professor schon immer etwas von hellem Sturm und Feuer gehabt hatten.
Und vielleicht ging es genau deshalb. Es waren keine Gegensätze, die sich abstießen. Es waren eher komplementäre Puzzleteile, die nur zusammen ein Ganzes ergaben. Vielleicht fühlte sie sich deshalb nur komplett, wenn sie alle zusammen waren. Vielleicht hatte sie wirklich nie eine Wahl gehabt. Vielleicht hatte es wirklich alles so kommen müssen. Und zum ersten Mal verstand sie wirklich, was Boerne in diesen einen Jahr hatte durchmachen müssen.
Aber wenn das nun auch ihr Schicksal war. Dann würde sie es annehmen und das Beste daraus machen. So wie sie es immer getan hatte. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen von all den Hürden, die da vor ihnen lagen. Von all den Schwierigkeiten, die sie noch zusammen meistern mussten.
Sie machten ihr keine Angst mehr. Nicht nach heute Nacht. Denn es zählte nur eins. Er hatte sie nicht abgelehnt. Im Gegenteil. Er hatte die Tür geöffnet. Nur einen Spalt. Aber sie war offen. Die Saat war gesät. Die Chance war da. Jetzt würde die Zeit zeigen, was daraus werden würde. Und damit konnte sie erstaunlich gut leben.
Mit diesem beruhigenden Gedanken wählte sie endlich Boernes Nummer. Er nahm sofort nach dem erstem Klingeln ab. Ein klares Zeichen, dass er den Schmollmodus bereits hinter sich gelassen und jetzt in den Panikmodus umgeschaltet hatte. Auch wenn seine grobe Antwort etwas anderes vermuten ließ.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Wo bist du?“ Zeterte er ihr ohne eine weitere Begrüßung sofort ins Ohr. „Warum hast du dich nicht gemeldet? Ich habe bestimmt tausend Mal versucht, dich zu erreichen.“ Mit einem vergnügten Augenrollen lauschte sie seinen theatralischen Übertreibungen. Sie wusste wohl, dass das nur Ausdruck seiner Sorge und Panik war. Sie kannte ihn einfach viel zu gut.
„Aber Madame konnte sich ja nicht dazu herablassen, mir auch nur eine Nachricht zu schicken.“ Sie ließ ihn noch etwas keifen, dann fiel sie ihm ins Wort. Sie wusste, es brauchte nur einen einzigen Satz, um ihn zum Schweigen zu bringen.
„Ich liebe dich auch.“ Sprach sie daher in bewusst ruhigem Ton in den Apparat. Wie erwartet, verstummte er abrupt. Zufrieden lachte sie in sich hinein. Mister ‚Ich-bin-nicht-berechenbar-ich-stecke-immer-noch-voller-Überraschungen‘ war eben doch beruhigend durchschaubar für sie. Wie ein offenes Buch, das sie nicht müde wurde zu lesen, zu studieren, auswendig zu lernen und hier und da um ein paar Seiten zu ergänzen, wenn er es schaffte, sie doch mal zu verblüffen.
„Ich…also ich…Alberich…“ Versuchte er sich zu einer Antwort zu stottern. Amüsiert biss sie sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Das würde ihn nur kränken in diesem Moment. „Ist schon gut, mein Herz.“ Säuselte sie stattdessen.
Sie hörte wie er scharf die Luft am anderen Ende einsog. Auch das wusste sie. Dieser Kosename würde niemals seine Wirkung bei ihm verfehlen, egal wie oft sie ihn verwendete. Er weigerte sich bisher standhaft ihr zu erklären, warum ihn das so zuverlässig traf. Aber auch dieses Mysterium würde sie eines Tages noch lüften.
Nur eben nicht heute Nacht. Heute Nacht wollte sie nur noch nach Hause. „Ich bin bald da. Gib mir 15 Minuten.“ Erklärte sie ihrem sichtlich immer noch um Worte ringenden Gatten. Alles weitere konnte sie ihm auch später noch erklären. „Ok.“ Schaffte er schließlich nur in einer merkwürdig dünnen Stimmer hervorzupressen. „Bis gleich und…“ Versuchte er noch zu ergänzen, aber sie kam ihm zuvor.
„Ich fahr‘ vorsichtig. Bis gleich.“ Würgte sie ihn möglichst sanft ab und legte auf. Denn sie wusste, dieser ungewöhnlich deutliche Ausdruck an Fürsorge und Besorgnis würde ihm nachher noch unangenehm genug sein. Also tat sie das, was sie am besten konnte und nahm ihm ein Stück davon ab. Kam ihm ein paar Meter entgegen, sodass er nicht den ganzen beschwerlichen Weg allein gehen musste.
War das manchmal ungerecht, dass sie so oft die meiste Last in dieser verzwickten Beziehung trug? Dass sie oft diejenige war, die den Weg für ihn freiräumen musste? Dass er sich so blind auf ihre Zuneigung und Treue verließ, dass er sich so schnell verlor, wenn sie ihm mal entzogen wurde?
Vielleicht. Vielleicht war das für andere nicht fair. Aber sie hatte sich dafür entschieden aus freien Stücken und mit ihrem ganzen Herzen. Sie entschied sich jeden Tag dafür. Für ihn, für Ellie und jetzt eben auch für Frank, einfach für dieses laute, komplizierte, bunte Leben, das sie führte.
Für sie war das keine Last. Kein kleineres Übel, das sie gewählt hatte. Für sie war es das einzige Leben, das sie sich vorstellen konnte. Das einzige Glück, das sie haben wollte. Und sie würde es immer und immer wieder wählen.
Mit dieser tiefen Überzeugung schickte sie ihm noch eine kurze Nachricht als Antwort, bevor sie in die Nacht brauste. Nur vier kleine Worte, weil es meist nicht mehr zwischen ihnen brauchte, um zu verstehen, um alte Wunden zu heilen, um Geborgenheit zu geben.
‚Ich weiß, mein Herz.‘
A/N: Ok, das war mal wieder sehr lang. Sorry, not sorry. Und die Storyline geht auch noch weiter. Ich habe bereits eine Geschichte so gut wie fertig, die direkt auf diese aufbaut, jedoch nur halb so lang ist. Und dann gibt’s noch eine dritte, die noch in der Rohfassung steckt. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich sie bald in einen Zustand bekomme, dass ich sie fertig schreiben kann. Jetzt aber erstmal wieder ein paar versprochene Headcanons zu diesem AU.
Ich habe mir überlegt, dass ich euch in diesen drei Stories, die Kinder etwas näher vorstelle. Wir beginnen mit Ellie, weil sie die älteste ist und wir sie schon näher kennengelernt haben, als die anderen beiden.
Kind Nr. 1: Elisabeth Lilian Haller-Boerne, kurz Ellie, ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dennoch ist sie vom Wesen eine gesunde Mischung aus boerneschem Selbstbewusstsein, hallerischer Sanftmut und bodenständigem Thiel. Sie ist ziemlich clever und liebt es sich mit Onkel Mirko in nerdigem Computerzeug zu vertiefen. (Ja, Mirko ist hier in diesem AU dabei. Vermutlich noch sehr jung). Sowieso ist der coolste Mensch auf dieser Welt ihr Patenonkel Mirko. Im Gegensatz zu ihren Eltern fühlt sie sich eher den künstlerischen und kreativen Fächern zugewandt, was ihrem Vater manchmal missfällt. Dennoch teilt sie seine Leidenschaft für’s Klavier und Cello. Da sie zudem eine außerordentlich gute Stimme wie er hat, singen die beiden gern mal auch mit Thiel ein Ständchen. Meist zu Geburts- und Feiertagen.
Zudem hat sie das außergewöhnliche Sprachentalent ihres Vaters geerbt, was sie auch gern in ihrer Freizeit ausbaut. Das spielt, je älter sie wird, auch immer wieder eine Rolle in Boernes und Thiels Ermittlungen. Ellie ist von Natur aus sehr neugierig und mischt gern überall mit. So kommt es vor, dass sie und ihre Geschwister unter ihrer Führung immer wieder in die Lösung der Fälle involviert sind, was vor allem ihrer Mutter zu schaffen macht.
Ellie ist jedoch wie Alberich eine sehr willensstarke Persönlichkeit, die zwar den großen unschuldigen Augenausdruck ihrer Mutter geerbt hat, aber es sonst auch faustdick hinter den Ohren haben kann. Mit Vorliebe guckt sie sich die Einschmeicheltaktiken ihres Vaters ab und entwickelt sie weiter. Ihren Pops liebt sie abgöttisch. Nichts macht so viel Spaß als mit ihm über Fußball, gutes Essen, Gott und die Welt zu philosophieren. Dass der sonst so wortkarge Kommissar gerade bei ihr auftaut, macht ihre Mutter unfassbar stolz und entlockt ihrem Vater regelmäßig ein Augenrollen.
So viel zu Ellie – Kind Nr. 1. In der nächsten Story dann mehr zu Kind Nr. 2. Und noch dicke Dankeschön-Credits an die liebe khaladriel für ein paar sehr wichtige Teile von Alberichs Monologen.