Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
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Dieses Kapitel
1 Review
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06.06.2022
4.206
So, meine Lieben, hier kommt das neue Kapitel zu meiner Geschichte rund um das Adam-Leo-Pia-Imperium. Ich weiß, es verkommt alles allmählich zu einem Und-täglich-grüßt-das-Murmeltier-Plot, aber ich verspreche, dass nicht die ganze Geschichte im Kosmos von Adams Wohnung und seinem Schlafzimmer spielen wird. Bald wird die Handlung ein wenig Fahrt aufnehmen, das versichere ich Euch, aber eben jetzt leider noch nicht ;-).
Euch in jedem Fall vielen Dank fürs Dranbleiben, viel Vergnügen mit diesem Kapitel und schöne Pfingsten noch!
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Kapitel 8 – Auf dem Boden
Nachweihnachts-/Vorsilvesterbrunch bei mir? Morgen? Übermorgen?
Unter der breiten Krempe der Weihnachtsmannmütze ringelte sich nicht einmal eine von Manus Locken hervor, so streng hatte sie sie zurückgebunden, das weiße Band so tief über ihre Nase gezogen, dass es auf ihrer Oberlippe schoppte. Die nach oben gezogenen Mundwinkel verbargen sich unter dem Filz, ihre hochgereckten Daumen ersetzten die Bögen. In das Holster eingehängte Zuckerstangen, Handschellen mit Mistelzweig – woher der Weihnachtsfanatismus ihrer zupackenden Freundin rührte, hatte Pia sich nie erklären können. Streifenfahrten, bevorzugt am Bahnhof, um dann bei einem Glühwein über das rotnasige Rentier zu grölen …
Ein schnaubendes Lachen vor sich her schiebend, tippte sie: Süße Einladung, aber …
Mit dem tiefen Atemzug, der poetische Inspiration einzuholen suchte, hob es ihren Kopf von der Brust, sie schob sich hoch, schmiegte den Nacken an die Rückenlehne des Sofas. Die Decke war makellos, kein Riss, keine Abdrücke von Fliegenfüßen, kein Spinnennetz, noch nicht einmal Schattenkanten verunstalteten die reine Weiße.
Adam würde es wahrscheinlich gar nicht bemerken, wenn sie sich morgen für ein paar Stunden davonstehlen würde, geschweige denn, dass es ihm etwas ausmachen würde. Vielleicht täte es ihm sogar gut. Vielleicht war sie ja der Grund, warum er bis auf das Atmen alles eingestellt hatte. Vielleicht brauchte er einfach mehr Freiraum – zur Entfaltung …
Ein Lachen stolperte ihr aus der Kehle, brach sich, als sie sich gerade aufsetzte. Genau, Adam und Feng Shui, der Weg der inneren Harmonie. Sie angelte nach ihrem Handy, das ihr aus der Hand geglitten war, aber das regelmäßige Blinken in Orange zog ihre Aufmerksamkeit ab. Adam hatte seinen Laptop heute Morgen ja einfach zugeklappt, der Akku war offenbar gut, erst jetzt setzte er einen Hilferuf ab. Im Schneidersitz kam sie nicht bis an den Computer heran, sie setzte die Füße auf den Teppich, klappte den Deckel hoch. Kein Rauschen, das das Hochfahren ankündigte. Womöglich hielt der Akku noch bis morgen durch – oder sollte sie einfach Adam Bescheid geben? Als ob es darauf ankäme. Es wäre ihm mit Sicherheit gleich, ein Schulterzucken, mir scheißegal. Sie drückte den Anschaltknopf, gehorsam flammte der Bildschirm auf, Firefox-Explorer.
Lorscheider, Wolfgang, das Gesicht, das sie aus der Videoaufnahme kannte, Adams Stimme, ein unverständliches Zischen, ein aufbrausender Buschbrand. Esther hatte die Sequenz bestimmt vier-, fünfmal abgespielt, die Lautstärke zuletzt auf Rechtsanschlag. Du sagst uns jetzt sofort alles, du Arschloch, oder ich lasse dich Methoden spüren, die seit Jahrhunderten vergessen sind, die du aber nie wieder vergessen wirst, verlass dich drauf. Das Poltern eines Stuhls auf dem Linoleum, in Stereoqualität durch die Nähe zum Mikrofon, hatte sie zusammenschrecken lassen, dass Leo den Namen seines Partners in den Raum gerufen hatte, mahnend, besänftigend, bezähmend, war in dem Tumult aus Schritten und Türenknallen beinahe untergegangen, die Flammen in Esthers Blick hatten auch ihr in der Brust gelodert. Und dann Adams Disziplinarverfahren. War es eigentlich ausgesetzt? Cold Case. Genauso wie Lorscheider. Status: Flüchtig. Dass er ausgebrochen war, hatte Leo ihnen eröffnet, vor drei Wochen musste das gewesen sein, ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Seitdem hatten sie nichts mehr gehört.
Die Seite flackerte, schloss sich gehorsam. Jaschke, Reiner. Die Muskeln an ihrem Nasenrücken hoben sich, ihre Augenbrauen wanderten zusammen. Was hatte Adam damit zu schaffen? Das war – ja, vor seiner Zeit bei ihnen gewesen. Was –
Ihre Augen versenkten sich in dem Papierwust auf dem Boden, Eselsohren, die Kanten kreuz und quer übereinandergeworfen. Leos Disziplinarverfahren. Ein tonloses Lachen entfuhr ihr, sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Ernsthaft?
Die gehorsame Maschine schluckte ihr Seufzen, als sie auf das Kreuzchen klickte.
Wo ist Sibylle (14)? Ein pausbäckiges Mädchen lachte genauso glücklich in die Kamera wie Minnie Maus auf ihrer Brust. Bei einer Fahrradtour am Spreeufer vermisst.
Das Fenster schmolz in sich zusammen. Marija, 18, Köpenick. Mia, 16, Spandau.
Saarländische Polizei sprengt Ring von Menschenhändlern. Und Polizist wird k.-o.-getropft, verprügelt, krankenhausreif geschlagen.
Polizei bittet um Mithilfe: Hannelore T. zuletzt am 22.11.2020 gegen 22.30 Uhr auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus Saarlouis gesehen.
Neuneinhalb Jahre Haft für Mario K. (52). Ruhe für Köln vor einem brutalen Sextäter.
Erst jetzt fiel Pia der Pfeil rechts von den geöffneten Tabs auf. 42 Tabs schließen?
Zwei Sekunden Verzögerung, bis der Desktop erschien, dankbares Hauchen, als der Bildschirm erlosch. Ihr Gesicht schwebte als teigiger Umriss auf dem Mattschwarz.
Ihr Handy war unter ihren Oberschenkel gerutscht, sie vertippte sich auf der warmen Oberfläche. Süße Einladung, danke, aber geht leider nicht, sorry. Melde mich bald
Das Licht lief an der Kante entlang, als sei es flüssig geworden. Es zog einen flüchtigen Film über die gerade Linie, tropfte auf den Boden, breitete sich zu einer Lache aus, einer scharf umgrenzten Pfütze, die nicht bis zum Bett reichte. Der weiße Deckenberg warf jeden Schimmer zurück, ragte auf wie eine eingeschneite Packeisscholle. Nichts regte sich, der blasse Schein störte Adam nicht auf, ließ ihn sich nicht umwenden. Pia lauschte. Es war, als sause ein übergroßes Schlaguhrpendel in ihrer Brust in die Tiefe. Man hörte ihn noch nicht einmal atmen – natürlich nicht.
Am Fußteil vorbei schlich sie auf ihre Seite. Während sie ihren Pyjama unter dem Kopfkissen hervorkramte, schielte sie zu Adam. Nur ein paar blonde Spitzen ragten aus einer der Klüfte heraus, ein Bündel Seegras, das es bis ins arktische Eis geschafft hatte. Wahrscheinlich zitterten sie unter dem Auf und Ab des Schneebergs, das war im schwachen Gegenlicht nicht zu erkennen. Schon fielen die weißen Hügel wieder in sich zusammen, kümmerten sich nicht um ihre tapsenden Schritte im Tanz um die Konturen des Bettrahmens, im Flur. Der Lichtschalter mischte sich ein, gab ein dunkles Klacken von sich. Pia brachte ihre Kleidung einfach dem Boden vor dem Schrank zum Opfer dar, zog sich ihren Pyjama über, dann tastete sie sich blind an der Spiegelkante entlang, streckte die Arme vor sich aus wie eine Schlafwandlerin. Kein Atemzug, der ihr Kompass gewesen wäre. Ihre Hand fand das lackierte Holz, zum ersten Mal fühlte sie die filigrane Maserung. Blind Date mit einem Möbelstück, das sie um sich herumführte, immer an der kühlen Kante entlang. Die Matratze gab unter ihren Händen nach.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Genauso gut hätte sie in eine Krypta hinabsteigen können oder in Frau Wenzels Arbeitsstätte. Ihr rechtes Knie folgte dem Druck ihrer Hände, das andere auch. Das Rascheln von Stoff ließ sie im Vierfüßerstand einfrieren. Die Eishöhle öffnete sich, ihre Finger umfassten die Kante der Bettdecke, die sich ihr näherte, als sie ihr Einlass gewährte. Ihren Oberschenkel fand Adam als Erstes, das rechte Bein hatte sie vorgeschoben. Sein Bauch an ihrem Schoß, seine Brust an ihrem Bauch, seine Hand machte nicht den Umweg über ihre Taille, sondern verschmolz sofort mit der Wölbung ihres unteren Rückens. Nur ein Handgriff, ihr Körper ruckte über die Matratze, es presste ihr die Luft aus den Lungen, die ganze Länge seines Körpers an ihrem. Sein Arm war eine Eisenklammer um ihre Niere. Das Zittern, Flattern seines Brustkorbs über ihrem Bauchnabel, ein feuchtheißer Hauch im gleichen Rhythmus an ihrem Hals. Die Schraubzwinge schloss sich enger, seine gespreizte Hand zwischen ihren Schulterblättern, seine Nasenspitze zog eine kalte Linie über ihren Hals, seine weiche Wange an ihrer Haut, sein Bart kitzelte.
So leise, als sei es verboten, holte sie den Atem nach, den ihr die letzten Sekunden verwehrt hatten. Ihre Gedanken rasten um ihr Bewusstsein wie Modellwagen auf einer Autorennbahn, jetzt, da Adam vollkommen reglos lag, als habe er nicht gehetzt versucht, an ihr aufzugehen. Die Wärme seines Körpers schien direkt unter ihre Haut zu fließen, seine Fingerspitzen prägten kreisrunde Male in ihren Rücken, die Kante seines Rippenbogens bedrängte ihren Hüftknochen. Sie war nur noch Oberfläche, Quadratmillimeter, Quadratnanometer, Milliarden Sinneszellen, die unter dem taktilen Reiz feuerten, dessen Intensität sich so wenig wie der Abstand zwischen ihnen verringerte, nicht zunahm, nicht schwankte. Adam lag wie eine Erweiterung ihrer selbst, sein Aftershave löste die Verankerung ihres Verstands mit ihrem Körper, ließ ihn sich aufmachen in andere, leichtere Gefilde. Und doch prallte er sofort in voller Erdenschwere wieder auf. Adam atmete viel zu schnell in die Senke unter ihrem Kiefer, unter dem er sein Gesicht halb vergraben hatte.
Ihn in ihrer Umfassung zur Ruhe bringen, hierbehalten – ihre Arme lagen ausgestreckt an ihren Körper gepresst, machtlos unter Adams Klammergriff. Sie drückte gegen seinen Arm, ließ nach, schob nach, sein Widerstand fiel in sich zusammen, er hob sich auf ihren Arm unter seinem Hals, schob sich unter ihren Arm über seiner Schulter. Ihre Hüfte kippte unter dem Hebel seiner Hand an ihrem Steißbein zu ihm, sein Oberschenkel drang zwischen ihre Knie vor. Seine Atemzüge tosten an ihrer Brust, wehten ihr den Geruch von Bettwärme, Waschmittel und noch vom Bügeln steifer Kochwäsche in die Nase. Ihre Finger liefen an seinem Nacken zusammen, zeichneten den steilen Grat nach, gruben sich in den zu beiden Seiten versenkten Stahl, kapitulierten vor seiner Unbezwingbarkeit, glitten zu seinem Schultergürtel, fuhren hin und wieder, fühlten alles versteinern, als sie sich weiterschoben, Wirbel für Wirbel entlangruckelten, sich unter dem Überhang seines Schulterblatts einzunisten versuchten.
Ihre Lippen spielten mit der nachtgoldenen Seide vor sich, küssten sich Strähne für Strähne entlang, verschlossen sich jedem Laut. Die Schieferebene neben seiner Wirbelsäule gab unter ihrer Hand nach, die oberste Schicht löste sich, ließ die anderen darunter bröckeln und in das Rollen der Wellen an ihrem Hals hinabstürzen, ein stetiges Kommen und Gehen, Kommen und Gehen.
Eine Haarsträhne hatte sich in ihren Wimpern verfangen. Sie hob die Hand und strich sich über die Stirn, da bäumte sich die Unterlage auf, in die sich ihr Ellbogen gebohrt hatte.
»Tschuldige.« Sie legte ihren Arm wieder ab, streichelte über Adams Brust, leicht und gleichmäßig, ihre Finger tasteten nach der Narbe. Vielleicht wäre sie doch durch seinen Pullover, sein T-Shirt hindurch zu erspüren. Sie glitt über seine Rippen, folgte der Achse seines Brustbeins. Mit Sicherheit war sein Körper direkt hier geöffnet worden, Notoperation, keine Zeit für minimalinvasives Vorgehen.
Die Linie von Adams schönem Profil zerstäubte ihre Gedanken, entschädigte ihre Augen, als sie sich dazu durchrang, sie aufzuschlagen. Kein Zucken lief über seine glatten Wangen, kein Blinzeln deutete sich im Augenwinkel an. Sie hielt die Luft an, horchte auf das leise Rauschen in ihrem Rücken. Der Regen überdeckte Adams Atemzüge, die sich nur durch die Bewegungen seines Brustkorbs unter ihrer Hand andeuteten.
Im Versuch, die Last nicht an ihn weiterzugeben, drückte sie sich von der Matratze ab, näherte ihre Lippen seiner Wange. »Mor-«
Adam riss den Kopf zur Seite, sein Körper folgte langsamer, doch schnell genug, dass sie einfach abrutschte. Über seine Schulter rollte sein Husten zu ihr, der sich tief in seiner Brust überschlug. Sie schob sich an ihn heran, zog mit der Rückseite von Zeige- und Mittelfinger eine federleichte Spur über seinen Arm und fühlte doch bis in ihre Hand, an ihrer Brust, die an seinen Rücken geschmiegt war, wie der Husten ihn schüttelte. Sie stemmte sich hoch, überwand die Sperre seiner Schulter. Seine Wange war heiß unter ihren Lippen, an ihrer Haut, als sie ihr Gesicht an seines legte.
»Ach, Adam«, wisperte sie, führte ihre Hand seinen Arm zurück, drückte sich von ihm ab, als sein Husten erneut aufbrandete. Ihre Augen folgten ihren Fingerspitzen, die seinen festen Trapezmuskel nachvollzogen. Das Glühen seines Körpers drang durch seinen Pullover bis an ihre Haut. Am Graben seiner Wirbelsäule blieb ihre Hand reglos liegen, ihr Atem verharrte, als sie ihre Finger in Zeitlupe von seinem Körper löste, der Knoten in ihrem Inneren nahm Adams Zusammenschrecken vorweg, doch nichts geschah. Sein Husten ebbte ab, er schlug die Decke enger um sich und rollte sich ein bisschen zusammen.
»Du Armer.« Sie hauchte einen Kuss auf die Daunen, wo sie seinen Oberarm vermutete, ließ das Gesicht dagegen sinken, strich über seine Ellenbeuge.
»Nich’ so schlimm.«
Aber er versäumte natürlich keinen Programmpunkt, versuchte, sich trotzdem nichts anmerken zu lassen. Mittlerweile kannte sie ihn jedoch, diesen Zug, der auf sein Gesicht trat, wenn er Schmerzen hatte, die er tatsächlich einmal auch wahrnahm. Er vermied jedes Umdrehen, hielt seine Gliedmaßen so gestreckt wie möglich, wiegelte ab, verweigerte Tee wie Suppe, ließ sich nur dann und wann zu einem Schluck Wasser hinreißen. Mittelohrentzündung, diagnostizierte sie zwei Tage später. Adam bestätigte den Befund zwischen Zähneklappern, als er von Dr. Schlüters Sprechstunde wieder in ihr vorgeheiztes Auto stieg.
Seit eineinviertel Stunden sprang sie ein paar Seiten nach vorn, blätterte zurück, weil sie überlesen hatte, wann Dr. Lancaster das Funkgerät in der Schneewehe verloren haben musste, wie Molly ihn in der Einsamkeit des aufgelassenen Atomlagers aufgefunden hatte. Was für eine bescheuerte Idee. Ein Krimi – ausgerechnet? Ihr sinnloses Herumharken auf den ersten vierundfünfzig Seiten hatte nur einen Knick auf dem Buchrücken hinterlassen.
Wahrscheinlich fügte sie noch einen im Einband hinzu, als sie hochfuhr und das Buch gegen die Rückenlehne des Sofas sausen ließ, über die hinweg Adams bellender Husten sie überfallen hatte. Vor der Tür klang es gleich noch einmal bedrohlicher, es lag der Unterton eines Brodelns tief in der Brust darunter. Sie konnte sich gar nicht erinnern, dass sie die Tür nur angelehnt hatte, und trotzdem konnte sie das Wischen ihrer Hand, das Rascheln unter ihrem Fuß nicht unterdrücken, zwei Laute zu viel, die doppelt verstärkt und einmal auf sie, einmal auf Adam zurückgeworfen zu werden schienen, nun, da er für den Moment ausgehustet hatte. Mit einem langen, rauen Ausatmen legte er sich zurecht und versuchte, dem Deckenberg beizukommen, ihn enger um sich zu schlingen. Er hätte genauso gut mit dem Gesicht zum Fenster liegen können, das hätte keinen Unterschied gemacht, so tief, wie er sich vergraben hatte. Seine angestrengten Atemzüge veränderten sich nicht, als sie hinter ihm auf die Matratze kletterte, unter die Decke tauchte, sich an ihn heranschob.
Dass ihre Wange auf seine traf, entlockte ihm einen erstickten, unwilligen Laut. »Du steckst dich nur an.« Die übliche helle Klangfarbe seiner Stimme war nur mehr zu erahnen, er sprach mindestens eine Oktave tiefer als sonst. Schwach drückte er gegen sie an, sie setzte sich auf, als er sich zurechtlegte, schmiegte sich sofort wieder an.
»Du hast immer noch so hohes Fieber.«
»Mhm.« An sein Minimum an sprachlicher Entgegnung schloss sich sein Husten an, vor dem Pia zurückwich, nur ihre Hand glitt über seinen Rücken. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte dem Klang nach vermuten müssen, dass Adam kurz vor dem Ersticken stand. Schon lag er aber wieder still, zog die Nase hoch. »Das ist der Grund, warum ich es vermeide, Urlaub zu nehmen.«
Der Hauch seines Schmunzelns, unter dem seine Stimme aufgeglänzt hatte, sprang in ihren Mundwinkel, zerfiel dort, ohne Wirkung zu zeigen. Sie zeichnete seine Konturen mit ihrem Körper nach, wagte sich mit den Lippen vor, bis sie ihm einen Kuss auf den Haaransatz drücken konnte, bevor sie die Nasenspitze darin vergrub. Da war er, der Duft seines Shampoos, eine Ahnung seines Aftershaves, und doch, auch wenn sie es an nichts Konkretem festmachen konnte, roch Adam krank.
»Du hättest nicht mir zuliebe mitkommen müssen«, murmelte sie in die Naht seines Pullovers. »Und es gab keinen Grund für ein schlechtes Gewissen, weder davor noch danach.«
Sie ahnte mehr, als dass sie es spürte, wie Adams Körper sich versteifte. »Es ist immer dasselbe.« Seine plötzlich so klare Stimme ging wie der Schnitt einer Eisscherbe durch ihr Bewusstsein. »Jetzt schon wieder.«
Durch seinen Rücken hindurch erfasste das Pulsieren des Knotens in seinem Inneren Pias Brust, lähmte sie mit jedem Ruck ein wenig mehr. Wie durch flüssiges Eis hindurch drückte sie sich hoch, küsste ihn auf die glühende Wange, näherte ihren Mund seinem Ohr. »Es ist okay, Adam. Schlaf jetzt.«
Sein Rücken an ihrer Brust, die Hitze, die er abstrahlte, er ließ sie gewähren, als sie ihren Arm unter seinem hindurchschob, ihre flache Hand auf seiner Brust, die sich hob und senkte, lange still lag, hob und senkte.
Das Vibrieren fuhr durch Pias Körper, sie riss die Augen auf. Das wirre Dunkelgold direkt vor ihr, der Sandelholzgeruch drang durch ihren Blick in ihre Seele. Sie hielt den Atem an, ließ das nächste Vibrieren über sie, über Adam hinwegperlen. Es schien ihn nicht zu kümmern, seine Brust schwoll an, ignorierte den Ruck, mit dem ihre Hand in Richtung seiner Schlüsselbeine gefegt war. Aus dem Flur klapperte es leise, sie musste ihr Handy auf dem Dielenschrank liegen gelassen haben, es wurde penetranter in seinem Heischen nach Aufmerksamkeit, das Vibrieren lauter, eindringlicher. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe. Adams Finger umfassten ihr Handgelenk, sein Arm bildete ihren kongruent ab. Mit einem zentimeterweisen Rotieren befreite sie sich aus seinem leichten Griff, zog ihren Arm zurück, hielt inne, als er tief Luft holte. Gerade als sich der Winkel seines Arms öffnete, weil er ein wenig vornüber kippte und sich halb auf den Bauch legte, hob sie ihre Berührung auf, zog sich rückwärts weiter zurück, ließ die Decke vorsichtig auf ihn niedersinken, als sie darunter hinausschlüpfte.
Der Teppich schluckte ihre Schritte, sie brauchte die Türklinke nicht hinunterzudrücken, sie hatte die Tür nur angelehnt, doch jetzt nutzte das Klingeln den Spalt, um vorwitzig in das Schlafzimmer zu stolpern. Pia riss die Tür auf und drückte sie gerade zu, als es erneut metallisch schnarrte. In einer übereilten Lebensmüdigkeit wollte ihr Smartphone um ein Haar ihren Finger entwischen und sich in die Tiefe stürzen. Sie sah schon das Display splittern, da fischte sie es gerade noch mit den Fingerspitzen heran und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo, Leo.« Wenigstens aus der Küche drang kein Laut nach draußen, der Türgriff war hier elastischer als beim Schlafzimmer.
Die von ihr nach ihren zwei Worten ausgesandte Stille durchtränkte die Leitung. »Warum flüsterst du?« durchbrach Leo sie dann statt einer Begrüßung nach zwei, drei Sekunden, in Tonlage und Lautstärke ihr angenähert. Bestimmt gingen seine blaugrauen Augen wieder millimeterweise hin und her. Sie wurden stets tiefer unter seiner Sorge, ein bisschen wie zwei Bergseen in der schroffen isländischen Steinwüste, gingen in Deckung, blickten unterwürfig zu ihr auf.
Pia hob den Stuhl an, als sie ihn zurückzog. »Adam schläft.«
Das Rauschen stand eine Sekunde zu lang zwischen ihnen. »Das ist doch gut.« Oder? Jetzt maß Leos scharfer Blick, vor dem sich keine Kante eines Stiefelabdrucks, kein Kratzer im Möbellack, kein versprengter und eilig fortgewischter Blutspritzer verbergen konnte, mit Sicherheit die Digitalanzeige am Fernseher, die Uhrzeit als Indiz engrammierend.
»Na ja.« Sie zog einen Fuß auf die Sitzfläche, die helle Naht an ihrer Jeans knisterte unter ihrem Fingernagel. »Er ist krank.«
Sogar das regelmäßige, dumpfe Klopfen in der Leitung setzte für eine Sekunde aus. »Scheiße.« Ein dunkler Atemzug folgte dem lang gezogenen Stoßseufzer. »Wie geht’s ihm?«
»Beschissen.« Pia schlang den Arm um ihr Knie, atmete gegen den Widerstand ihres Beins an, gab es auf, stellte mehr Abstand her. »Er kann sich vor Gelenkschmerzen kaum rühren und hat ‘ne Mittelohrentzündung. Dr. Schlüter hat gemeint, es dauert wahrscheinlich …«
»Okay, wenn ihr sogar beim Arzt wart, sieht’s wirklich übel aus.«
»Mit Silvester wird’s also wohl leider nichts.« Sie legte das Kinn auf ihr Knie, ihr Blick holperte die Chromschienen an den Küchenschränken entlang. »Außer ihr seid auch mit ‘ner Viertelstunde zufrieden.« Ihre Stimme kam so flach gedrückt, wie ihre Kehle war.
»So schlimm? Soll ich vorbeikommen?«
Hätte sie ihn darum gebeten, Leo wäre sofort aufgebrochen, den glitzernden Pulverschnee, kulinarische Leckerbissen und Caro hinter sich lassend. Wie oft sich seine Alarmbereitschaft wohl als richtig erwiesen hatte, damals, als er der Einzige gewesen war, der Adam wirklich gekannt hatte? Wobei – hatte sich daran etwas geändert?
»Pia?«
»Nein, nein.« Sie fummelte den Zopfgummi aus ihrem Knoten, das Gewirr ihrer Haare brach auf ihre Schultern hinab. »Aber er hat eben total hohes Fieber, da glaube ich kaum, dass er übermorgen schon wieder fit genug ist, um die Nacht durchzumachen.«
»Verstehe.« Es raschelte, mit einem Mal war Leos Stimme umfassender, dunkler. »Sag ihm auf jeden Fall gute Besserung von mir – okay? Ich ruf wieder an, bei uns gibt’s jetzt Abendessen, sorry.« Bestimmt war Caro durchs Zimmer gegangen, stellte unmissverständlich ihre Ballerinas neben ihren Stiefeln ab, in die sie unter seinen Blicken schlüpfte.
»Gar nicht. Guten Appetit euch und eine schöne Zeit noch, ja?«
»Danke. Ich melde mich. Tschau!«
Sein Lächeln verschränkte sich im schmalen Kanal der Leitung mit seiner Sorge. Pia tippte mit dem Smartphone gegen ihren Lippen, zog sich dann doch das Arktisverbrechen wieder heran. Es wurde immer surrealer, Worte wie Bilder von Dalí, Schlittenhundspuren im Kreis um die Hütte, in der Molly seit vier Tagen allein war.
Es war ihr gleich, dass das Buch mit einem dumpfen Pochen auf den Boden glitt, als sie aufstand. Adam lag noch ganz genauso wie zuvor, ruckte und zuckte weder auf ihre Ansprache noch auf ihr Streicheln über seine Schulter. Als sie die Lampe auf dem Nachttisch anknipste, atmete er in der gleichen Intensität geräuschvoll weiter, die Luft stieß sich am Gebirge des Kissens, in das er das Gesicht halb vergraben hatte.
Das Zischen der Aspirintablette, ihr Klopfen auf dem soliden Glasboden, wenn sie nach einer aufgestiegenen Blase zurückfiel, war der viel zitierte Sturm im Wasserglas, der jedoch nicht zu Adam vordrang. In der Höhlung seines Bauchs, um die herum er sich ein wenig zusammengerollt hatte, ließ sie sich auf die Matratze sinken. Ihre Finger an seinem Hals, seinem Kiefer, seiner Wange begannen mit Samtberührungen, wurden aufdringlicher. Sein Gesicht suchte Zuflucht im Kissen.
»Adam.« War es ihr Flüstern, waren es ihr unentwegtes Streicheln, seine Bewegungen wurden zielgerichteter, er schob sich unter ihren Berührungen von ihr fort. »Trink wenigstens mal was, ja?« Keine Reaktion. »Ich hab hier ‘ne aufgelöste Aspirin.« Ihre Finger schlossen sich um das kühle Glas, hoben es an. »Hey.« Unter seinen geschlossenen Augenlidern konnte er ihr Lächeln nicht sehen, aber es hätte auch nichts geändert. Damit hätte sie ihn kaum locken können, denn – ja, tatsächlich: Adam war in den vergangenen drei Tagen nicht einmal zum Rauchen aufgestanden. Auch jetzt lag er wieder, als habe er sie nicht gehört, atmete tief und lang weiter.
Sie schob das Glas auf die Ablagefläche des Nachtkästchens. Moment. Wann hatte Adam es hierhin gestellt? Das hatte sie gar nicht mitbekommen. Die ganze Zeit über, da er ihr seine Seite zum Schlafen überlassen hatte, hatte er sich nicht darum gekümmert, dass es zurückgeblieben war. Warum hatte er sie jetzt nicht darum gebeten, ihm zu helfen? Ihr entwich ein tiefer Atemzug, ein Seufzer beinahe. Als habe Adam sie jemals um ihre Hilfe gebeten.
Trotz der vielen Stunden Schlaf in den letzten Tagen hoben sich seine Augenringe bläulich-violett von seiner hellen Haut ab. Ihre Fingerspitze flog dreist darüber, versuchte, die dunkle Färbung zu verwirbeln, da löste sich der Kontakt mit seiner Haut auf. Es war kein Zurückschrecken, in seine Züge hatte sich keine Furcht gegraben, aber sie hatten sich versteift. Offenbar bereitete jede ihrer Berührungen ihm Schmerzen. Ein Liebkosen seiner Wange mit nur einem Finger, das Streifen seines Halses, als sie ihre Hand über seine Schulter gleiten ließ: Was sie auch versuchte, er entzog sich ihr sofort, bis schließlich, als noch die letzten Nachzüglerraketen knallten, er in den ersten Minuten des neuen Jahres an sie heranrutschte, sich die Krümmung seines Rückens in die Höhle schmiegte, die ihr Körper bildete. Er ließ es sogar geschehen, dass sie den Arm um ihn legte und nach seiner Hand tastete, holte nur lang Atem, als sie mit der Nasenspitze in den dafür geschaffenen Ort seines Haaransatzes stupste und in Vertretung dem Kragen seines Pullovers einen Kuss gab. Ihr Herzschlag fing sich an Adams breitem Rücken, kehrte in einer willkommenden heißenden Schleife an ihr Ohr zurück, langsamer und langsamer werdend.
Euch in jedem Fall vielen Dank fürs Dranbleiben, viel Vergnügen mit diesem Kapitel und schöne Pfingsten noch!
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Kapitel 8 – Auf dem Boden
Nachweihnachts-/Vorsilvesterbrunch bei mir? Morgen? Übermorgen?
Unter der breiten Krempe der Weihnachtsmannmütze ringelte sich nicht einmal eine von Manus Locken hervor, so streng hatte sie sie zurückgebunden, das weiße Band so tief über ihre Nase gezogen, dass es auf ihrer Oberlippe schoppte. Die nach oben gezogenen Mundwinkel verbargen sich unter dem Filz, ihre hochgereckten Daumen ersetzten die Bögen. In das Holster eingehängte Zuckerstangen, Handschellen mit Mistelzweig – woher der Weihnachtsfanatismus ihrer zupackenden Freundin rührte, hatte Pia sich nie erklären können. Streifenfahrten, bevorzugt am Bahnhof, um dann bei einem Glühwein über das rotnasige Rentier zu grölen …
Ein schnaubendes Lachen vor sich her schiebend, tippte sie: Süße Einladung, aber …
Mit dem tiefen Atemzug, der poetische Inspiration einzuholen suchte, hob es ihren Kopf von der Brust, sie schob sich hoch, schmiegte den Nacken an die Rückenlehne des Sofas. Die Decke war makellos, kein Riss, keine Abdrücke von Fliegenfüßen, kein Spinnennetz, noch nicht einmal Schattenkanten verunstalteten die reine Weiße.
Adam würde es wahrscheinlich gar nicht bemerken, wenn sie sich morgen für ein paar Stunden davonstehlen würde, geschweige denn, dass es ihm etwas ausmachen würde. Vielleicht täte es ihm sogar gut. Vielleicht war sie ja der Grund, warum er bis auf das Atmen alles eingestellt hatte. Vielleicht brauchte er einfach mehr Freiraum – zur Entfaltung …
Ein Lachen stolperte ihr aus der Kehle, brach sich, als sie sich gerade aufsetzte. Genau, Adam und Feng Shui, der Weg der inneren Harmonie. Sie angelte nach ihrem Handy, das ihr aus der Hand geglitten war, aber das regelmäßige Blinken in Orange zog ihre Aufmerksamkeit ab. Adam hatte seinen Laptop heute Morgen ja einfach zugeklappt, der Akku war offenbar gut, erst jetzt setzte er einen Hilferuf ab. Im Schneidersitz kam sie nicht bis an den Computer heran, sie setzte die Füße auf den Teppich, klappte den Deckel hoch. Kein Rauschen, das das Hochfahren ankündigte. Womöglich hielt der Akku noch bis morgen durch – oder sollte sie einfach Adam Bescheid geben? Als ob es darauf ankäme. Es wäre ihm mit Sicherheit gleich, ein Schulterzucken, mir scheißegal. Sie drückte den Anschaltknopf, gehorsam flammte der Bildschirm auf, Firefox-Explorer.
Lorscheider, Wolfgang, das Gesicht, das sie aus der Videoaufnahme kannte, Adams Stimme, ein unverständliches Zischen, ein aufbrausender Buschbrand. Esther hatte die Sequenz bestimmt vier-, fünfmal abgespielt, die Lautstärke zuletzt auf Rechtsanschlag. Du sagst uns jetzt sofort alles, du Arschloch, oder ich lasse dich Methoden spüren, die seit Jahrhunderten vergessen sind, die du aber nie wieder vergessen wirst, verlass dich drauf. Das Poltern eines Stuhls auf dem Linoleum, in Stereoqualität durch die Nähe zum Mikrofon, hatte sie zusammenschrecken lassen, dass Leo den Namen seines Partners in den Raum gerufen hatte, mahnend, besänftigend, bezähmend, war in dem Tumult aus Schritten und Türenknallen beinahe untergegangen, die Flammen in Esthers Blick hatten auch ihr in der Brust gelodert. Und dann Adams Disziplinarverfahren. War es eigentlich ausgesetzt? Cold Case. Genauso wie Lorscheider. Status: Flüchtig. Dass er ausgebrochen war, hatte Leo ihnen eröffnet, vor drei Wochen musste das gewesen sein, ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Seitdem hatten sie nichts mehr gehört.
Die Seite flackerte, schloss sich gehorsam. Jaschke, Reiner. Die Muskeln an ihrem Nasenrücken hoben sich, ihre Augenbrauen wanderten zusammen. Was hatte Adam damit zu schaffen? Das war – ja, vor seiner Zeit bei ihnen gewesen. Was –
Ihre Augen versenkten sich in dem Papierwust auf dem Boden, Eselsohren, die Kanten kreuz und quer übereinandergeworfen. Leos Disziplinarverfahren. Ein tonloses Lachen entfuhr ihr, sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. Ernsthaft?
Die gehorsame Maschine schluckte ihr Seufzen, als sie auf das Kreuzchen klickte.
Wo ist Sibylle (14)? Ein pausbäckiges Mädchen lachte genauso glücklich in die Kamera wie Minnie Maus auf ihrer Brust. Bei einer Fahrradtour am Spreeufer vermisst.
Das Fenster schmolz in sich zusammen. Marija, 18, Köpenick. Mia, 16, Spandau.
Saarländische Polizei sprengt Ring von Menschenhändlern. Und Polizist wird k.-o.-getropft, verprügelt, krankenhausreif geschlagen.
Polizei bittet um Mithilfe: Hannelore T. zuletzt am 22.11.2020 gegen 22.30 Uhr auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus Saarlouis gesehen.
Neuneinhalb Jahre Haft für Mario K. (52). Ruhe für Köln vor einem brutalen Sextäter.
Erst jetzt fiel Pia der Pfeil rechts von den geöffneten Tabs auf. 42 Tabs schließen?
Zwei Sekunden Verzögerung, bis der Desktop erschien, dankbares Hauchen, als der Bildschirm erlosch. Ihr Gesicht schwebte als teigiger Umriss auf dem Mattschwarz.
Ihr Handy war unter ihren Oberschenkel gerutscht, sie vertippte sich auf der warmen Oberfläche. Süße Einladung, danke, aber geht leider nicht, sorry. Melde mich bald
Das Licht lief an der Kante entlang, als sei es flüssig geworden. Es zog einen flüchtigen Film über die gerade Linie, tropfte auf den Boden, breitete sich zu einer Lache aus, einer scharf umgrenzten Pfütze, die nicht bis zum Bett reichte. Der weiße Deckenberg warf jeden Schimmer zurück, ragte auf wie eine eingeschneite Packeisscholle. Nichts regte sich, der blasse Schein störte Adam nicht auf, ließ ihn sich nicht umwenden. Pia lauschte. Es war, als sause ein übergroßes Schlaguhrpendel in ihrer Brust in die Tiefe. Man hörte ihn noch nicht einmal atmen – natürlich nicht.
Am Fußteil vorbei schlich sie auf ihre Seite. Während sie ihren Pyjama unter dem Kopfkissen hervorkramte, schielte sie zu Adam. Nur ein paar blonde Spitzen ragten aus einer der Klüfte heraus, ein Bündel Seegras, das es bis ins arktische Eis geschafft hatte. Wahrscheinlich zitterten sie unter dem Auf und Ab des Schneebergs, das war im schwachen Gegenlicht nicht zu erkennen. Schon fielen die weißen Hügel wieder in sich zusammen, kümmerten sich nicht um ihre tapsenden Schritte im Tanz um die Konturen des Bettrahmens, im Flur. Der Lichtschalter mischte sich ein, gab ein dunkles Klacken von sich. Pia brachte ihre Kleidung einfach dem Boden vor dem Schrank zum Opfer dar, zog sich ihren Pyjama über, dann tastete sie sich blind an der Spiegelkante entlang, streckte die Arme vor sich aus wie eine Schlafwandlerin. Kein Atemzug, der ihr Kompass gewesen wäre. Ihre Hand fand das lackierte Holz, zum ersten Mal fühlte sie die filigrane Maserung. Blind Date mit einem Möbelstück, das sie um sich herumführte, immer an der kühlen Kante entlang. Die Matratze gab unter ihren Händen nach.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Genauso gut hätte sie in eine Krypta hinabsteigen können oder in Frau Wenzels Arbeitsstätte. Ihr rechtes Knie folgte dem Druck ihrer Hände, das andere auch. Das Rascheln von Stoff ließ sie im Vierfüßerstand einfrieren. Die Eishöhle öffnete sich, ihre Finger umfassten die Kante der Bettdecke, die sich ihr näherte, als sie ihr Einlass gewährte. Ihren Oberschenkel fand Adam als Erstes, das rechte Bein hatte sie vorgeschoben. Sein Bauch an ihrem Schoß, seine Brust an ihrem Bauch, seine Hand machte nicht den Umweg über ihre Taille, sondern verschmolz sofort mit der Wölbung ihres unteren Rückens. Nur ein Handgriff, ihr Körper ruckte über die Matratze, es presste ihr die Luft aus den Lungen, die ganze Länge seines Körpers an ihrem. Sein Arm war eine Eisenklammer um ihre Niere. Das Zittern, Flattern seines Brustkorbs über ihrem Bauchnabel, ein feuchtheißer Hauch im gleichen Rhythmus an ihrem Hals. Die Schraubzwinge schloss sich enger, seine gespreizte Hand zwischen ihren Schulterblättern, seine Nasenspitze zog eine kalte Linie über ihren Hals, seine weiche Wange an ihrer Haut, sein Bart kitzelte.
So leise, als sei es verboten, holte sie den Atem nach, den ihr die letzten Sekunden verwehrt hatten. Ihre Gedanken rasten um ihr Bewusstsein wie Modellwagen auf einer Autorennbahn, jetzt, da Adam vollkommen reglos lag, als habe er nicht gehetzt versucht, an ihr aufzugehen. Die Wärme seines Körpers schien direkt unter ihre Haut zu fließen, seine Fingerspitzen prägten kreisrunde Male in ihren Rücken, die Kante seines Rippenbogens bedrängte ihren Hüftknochen. Sie war nur noch Oberfläche, Quadratmillimeter, Quadratnanometer, Milliarden Sinneszellen, die unter dem taktilen Reiz feuerten, dessen Intensität sich so wenig wie der Abstand zwischen ihnen verringerte, nicht zunahm, nicht schwankte. Adam lag wie eine Erweiterung ihrer selbst, sein Aftershave löste die Verankerung ihres Verstands mit ihrem Körper, ließ ihn sich aufmachen in andere, leichtere Gefilde. Und doch prallte er sofort in voller Erdenschwere wieder auf. Adam atmete viel zu schnell in die Senke unter ihrem Kiefer, unter dem er sein Gesicht halb vergraben hatte.
Ihn in ihrer Umfassung zur Ruhe bringen, hierbehalten – ihre Arme lagen ausgestreckt an ihren Körper gepresst, machtlos unter Adams Klammergriff. Sie drückte gegen seinen Arm, ließ nach, schob nach, sein Widerstand fiel in sich zusammen, er hob sich auf ihren Arm unter seinem Hals, schob sich unter ihren Arm über seiner Schulter. Ihre Hüfte kippte unter dem Hebel seiner Hand an ihrem Steißbein zu ihm, sein Oberschenkel drang zwischen ihre Knie vor. Seine Atemzüge tosten an ihrer Brust, wehten ihr den Geruch von Bettwärme, Waschmittel und noch vom Bügeln steifer Kochwäsche in die Nase. Ihre Finger liefen an seinem Nacken zusammen, zeichneten den steilen Grat nach, gruben sich in den zu beiden Seiten versenkten Stahl, kapitulierten vor seiner Unbezwingbarkeit, glitten zu seinem Schultergürtel, fuhren hin und wieder, fühlten alles versteinern, als sie sich weiterschoben, Wirbel für Wirbel entlangruckelten, sich unter dem Überhang seines Schulterblatts einzunisten versuchten.
Ihre Lippen spielten mit der nachtgoldenen Seide vor sich, küssten sich Strähne für Strähne entlang, verschlossen sich jedem Laut. Die Schieferebene neben seiner Wirbelsäule gab unter ihrer Hand nach, die oberste Schicht löste sich, ließ die anderen darunter bröckeln und in das Rollen der Wellen an ihrem Hals hinabstürzen, ein stetiges Kommen und Gehen, Kommen und Gehen.
Eine Haarsträhne hatte sich in ihren Wimpern verfangen. Sie hob die Hand und strich sich über die Stirn, da bäumte sich die Unterlage auf, in die sich ihr Ellbogen gebohrt hatte.
»Tschuldige.« Sie legte ihren Arm wieder ab, streichelte über Adams Brust, leicht und gleichmäßig, ihre Finger tasteten nach der Narbe. Vielleicht wäre sie doch durch seinen Pullover, sein T-Shirt hindurch zu erspüren. Sie glitt über seine Rippen, folgte der Achse seines Brustbeins. Mit Sicherheit war sein Körper direkt hier geöffnet worden, Notoperation, keine Zeit für minimalinvasives Vorgehen.
Die Linie von Adams schönem Profil zerstäubte ihre Gedanken, entschädigte ihre Augen, als sie sich dazu durchrang, sie aufzuschlagen. Kein Zucken lief über seine glatten Wangen, kein Blinzeln deutete sich im Augenwinkel an. Sie hielt die Luft an, horchte auf das leise Rauschen in ihrem Rücken. Der Regen überdeckte Adams Atemzüge, die sich nur durch die Bewegungen seines Brustkorbs unter ihrer Hand andeuteten.
Im Versuch, die Last nicht an ihn weiterzugeben, drückte sie sich von der Matratze ab, näherte ihre Lippen seiner Wange. »Mor-«
Adam riss den Kopf zur Seite, sein Körper folgte langsamer, doch schnell genug, dass sie einfach abrutschte. Über seine Schulter rollte sein Husten zu ihr, der sich tief in seiner Brust überschlug. Sie schob sich an ihn heran, zog mit der Rückseite von Zeige- und Mittelfinger eine federleichte Spur über seinen Arm und fühlte doch bis in ihre Hand, an ihrer Brust, die an seinen Rücken geschmiegt war, wie der Husten ihn schüttelte. Sie stemmte sich hoch, überwand die Sperre seiner Schulter. Seine Wange war heiß unter ihren Lippen, an ihrer Haut, als sie ihr Gesicht an seines legte.
»Ach, Adam«, wisperte sie, führte ihre Hand seinen Arm zurück, drückte sich von ihm ab, als sein Husten erneut aufbrandete. Ihre Augen folgten ihren Fingerspitzen, die seinen festen Trapezmuskel nachvollzogen. Das Glühen seines Körpers drang durch seinen Pullover bis an ihre Haut. Am Graben seiner Wirbelsäule blieb ihre Hand reglos liegen, ihr Atem verharrte, als sie ihre Finger in Zeitlupe von seinem Körper löste, der Knoten in ihrem Inneren nahm Adams Zusammenschrecken vorweg, doch nichts geschah. Sein Husten ebbte ab, er schlug die Decke enger um sich und rollte sich ein bisschen zusammen.
»Du Armer.« Sie hauchte einen Kuss auf die Daunen, wo sie seinen Oberarm vermutete, ließ das Gesicht dagegen sinken, strich über seine Ellenbeuge.
»Nich’ so schlimm.«
Aber er versäumte natürlich keinen Programmpunkt, versuchte, sich trotzdem nichts anmerken zu lassen. Mittlerweile kannte sie ihn jedoch, diesen Zug, der auf sein Gesicht trat, wenn er Schmerzen hatte, die er tatsächlich einmal auch wahrnahm. Er vermied jedes Umdrehen, hielt seine Gliedmaßen so gestreckt wie möglich, wiegelte ab, verweigerte Tee wie Suppe, ließ sich nur dann und wann zu einem Schluck Wasser hinreißen. Mittelohrentzündung, diagnostizierte sie zwei Tage später. Adam bestätigte den Befund zwischen Zähneklappern, als er von Dr. Schlüters Sprechstunde wieder in ihr vorgeheiztes Auto stieg.
Seit eineinviertel Stunden sprang sie ein paar Seiten nach vorn, blätterte zurück, weil sie überlesen hatte, wann Dr. Lancaster das Funkgerät in der Schneewehe verloren haben musste, wie Molly ihn in der Einsamkeit des aufgelassenen Atomlagers aufgefunden hatte. Was für eine bescheuerte Idee. Ein Krimi – ausgerechnet? Ihr sinnloses Herumharken auf den ersten vierundfünfzig Seiten hatte nur einen Knick auf dem Buchrücken hinterlassen.
Wahrscheinlich fügte sie noch einen im Einband hinzu, als sie hochfuhr und das Buch gegen die Rückenlehne des Sofas sausen ließ, über die hinweg Adams bellender Husten sie überfallen hatte. Vor der Tür klang es gleich noch einmal bedrohlicher, es lag der Unterton eines Brodelns tief in der Brust darunter. Sie konnte sich gar nicht erinnern, dass sie die Tür nur angelehnt hatte, und trotzdem konnte sie das Wischen ihrer Hand, das Rascheln unter ihrem Fuß nicht unterdrücken, zwei Laute zu viel, die doppelt verstärkt und einmal auf sie, einmal auf Adam zurückgeworfen zu werden schienen, nun, da er für den Moment ausgehustet hatte. Mit einem langen, rauen Ausatmen legte er sich zurecht und versuchte, dem Deckenberg beizukommen, ihn enger um sich zu schlingen. Er hätte genauso gut mit dem Gesicht zum Fenster liegen können, das hätte keinen Unterschied gemacht, so tief, wie er sich vergraben hatte. Seine angestrengten Atemzüge veränderten sich nicht, als sie hinter ihm auf die Matratze kletterte, unter die Decke tauchte, sich an ihn heranschob.
Dass ihre Wange auf seine traf, entlockte ihm einen erstickten, unwilligen Laut. »Du steckst dich nur an.« Die übliche helle Klangfarbe seiner Stimme war nur mehr zu erahnen, er sprach mindestens eine Oktave tiefer als sonst. Schwach drückte er gegen sie an, sie setzte sich auf, als er sich zurechtlegte, schmiegte sich sofort wieder an.
»Du hast immer noch so hohes Fieber.«
»Mhm.« An sein Minimum an sprachlicher Entgegnung schloss sich sein Husten an, vor dem Pia zurückwich, nur ihre Hand glitt über seinen Rücken. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte dem Klang nach vermuten müssen, dass Adam kurz vor dem Ersticken stand. Schon lag er aber wieder still, zog die Nase hoch. »Das ist der Grund, warum ich es vermeide, Urlaub zu nehmen.«
Der Hauch seines Schmunzelns, unter dem seine Stimme aufgeglänzt hatte, sprang in ihren Mundwinkel, zerfiel dort, ohne Wirkung zu zeigen. Sie zeichnete seine Konturen mit ihrem Körper nach, wagte sich mit den Lippen vor, bis sie ihm einen Kuss auf den Haaransatz drücken konnte, bevor sie die Nasenspitze darin vergrub. Da war er, der Duft seines Shampoos, eine Ahnung seines Aftershaves, und doch, auch wenn sie es an nichts Konkretem festmachen konnte, roch Adam krank.
»Du hättest nicht mir zuliebe mitkommen müssen«, murmelte sie in die Naht seines Pullovers. »Und es gab keinen Grund für ein schlechtes Gewissen, weder davor noch danach.«
Sie ahnte mehr, als dass sie es spürte, wie Adams Körper sich versteifte. »Es ist immer dasselbe.« Seine plötzlich so klare Stimme ging wie der Schnitt einer Eisscherbe durch ihr Bewusstsein. »Jetzt schon wieder.«
Durch seinen Rücken hindurch erfasste das Pulsieren des Knotens in seinem Inneren Pias Brust, lähmte sie mit jedem Ruck ein wenig mehr. Wie durch flüssiges Eis hindurch drückte sie sich hoch, küsste ihn auf die glühende Wange, näherte ihren Mund seinem Ohr. »Es ist okay, Adam. Schlaf jetzt.«
Sein Rücken an ihrer Brust, die Hitze, die er abstrahlte, er ließ sie gewähren, als sie ihren Arm unter seinem hindurchschob, ihre flache Hand auf seiner Brust, die sich hob und senkte, lange still lag, hob und senkte.
Das Vibrieren fuhr durch Pias Körper, sie riss die Augen auf. Das wirre Dunkelgold direkt vor ihr, der Sandelholzgeruch drang durch ihren Blick in ihre Seele. Sie hielt den Atem an, ließ das nächste Vibrieren über sie, über Adam hinwegperlen. Es schien ihn nicht zu kümmern, seine Brust schwoll an, ignorierte den Ruck, mit dem ihre Hand in Richtung seiner Schlüsselbeine gefegt war. Aus dem Flur klapperte es leise, sie musste ihr Handy auf dem Dielenschrank liegen gelassen haben, es wurde penetranter in seinem Heischen nach Aufmerksamkeit, das Vibrieren lauter, eindringlicher. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe. Adams Finger umfassten ihr Handgelenk, sein Arm bildete ihren kongruent ab. Mit einem zentimeterweisen Rotieren befreite sie sich aus seinem leichten Griff, zog ihren Arm zurück, hielt inne, als er tief Luft holte. Gerade als sich der Winkel seines Arms öffnete, weil er ein wenig vornüber kippte und sich halb auf den Bauch legte, hob sie ihre Berührung auf, zog sich rückwärts weiter zurück, ließ die Decke vorsichtig auf ihn niedersinken, als sie darunter hinausschlüpfte.
Der Teppich schluckte ihre Schritte, sie brauchte die Türklinke nicht hinunterzudrücken, sie hatte die Tür nur angelehnt, doch jetzt nutzte das Klingeln den Spalt, um vorwitzig in das Schlafzimmer zu stolpern. Pia riss die Tür auf und drückte sie gerade zu, als es erneut metallisch schnarrte. In einer übereilten Lebensmüdigkeit wollte ihr Smartphone um ein Haar ihren Finger entwischen und sich in die Tiefe stürzen. Sie sah schon das Display splittern, da fischte sie es gerade noch mit den Fingerspitzen heran und nahm den Anruf entgegen.
»Hallo, Leo.« Wenigstens aus der Küche drang kein Laut nach draußen, der Türgriff war hier elastischer als beim Schlafzimmer.
Die von ihr nach ihren zwei Worten ausgesandte Stille durchtränkte die Leitung. »Warum flüsterst du?« durchbrach Leo sie dann statt einer Begrüßung nach zwei, drei Sekunden, in Tonlage und Lautstärke ihr angenähert. Bestimmt gingen seine blaugrauen Augen wieder millimeterweise hin und her. Sie wurden stets tiefer unter seiner Sorge, ein bisschen wie zwei Bergseen in der schroffen isländischen Steinwüste, gingen in Deckung, blickten unterwürfig zu ihr auf.
Pia hob den Stuhl an, als sie ihn zurückzog. »Adam schläft.«
Das Rauschen stand eine Sekunde zu lang zwischen ihnen. »Das ist doch gut.« Oder? Jetzt maß Leos scharfer Blick, vor dem sich keine Kante eines Stiefelabdrucks, kein Kratzer im Möbellack, kein versprengter und eilig fortgewischter Blutspritzer verbergen konnte, mit Sicherheit die Digitalanzeige am Fernseher, die Uhrzeit als Indiz engrammierend.
»Na ja.« Sie zog einen Fuß auf die Sitzfläche, die helle Naht an ihrer Jeans knisterte unter ihrem Fingernagel. »Er ist krank.«
Sogar das regelmäßige, dumpfe Klopfen in der Leitung setzte für eine Sekunde aus. »Scheiße.« Ein dunkler Atemzug folgte dem lang gezogenen Stoßseufzer. »Wie geht’s ihm?«
»Beschissen.« Pia schlang den Arm um ihr Knie, atmete gegen den Widerstand ihres Beins an, gab es auf, stellte mehr Abstand her. »Er kann sich vor Gelenkschmerzen kaum rühren und hat ‘ne Mittelohrentzündung. Dr. Schlüter hat gemeint, es dauert wahrscheinlich …«
»Okay, wenn ihr sogar beim Arzt wart, sieht’s wirklich übel aus.«
»Mit Silvester wird’s also wohl leider nichts.« Sie legte das Kinn auf ihr Knie, ihr Blick holperte die Chromschienen an den Küchenschränken entlang. »Außer ihr seid auch mit ‘ner Viertelstunde zufrieden.« Ihre Stimme kam so flach gedrückt, wie ihre Kehle war.
»So schlimm? Soll ich vorbeikommen?«
Hätte sie ihn darum gebeten, Leo wäre sofort aufgebrochen, den glitzernden Pulverschnee, kulinarische Leckerbissen und Caro hinter sich lassend. Wie oft sich seine Alarmbereitschaft wohl als richtig erwiesen hatte, damals, als er der Einzige gewesen war, der Adam wirklich gekannt hatte? Wobei – hatte sich daran etwas geändert?
»Pia?«
»Nein, nein.« Sie fummelte den Zopfgummi aus ihrem Knoten, das Gewirr ihrer Haare brach auf ihre Schultern hinab. »Aber er hat eben total hohes Fieber, da glaube ich kaum, dass er übermorgen schon wieder fit genug ist, um die Nacht durchzumachen.«
»Verstehe.« Es raschelte, mit einem Mal war Leos Stimme umfassender, dunkler. »Sag ihm auf jeden Fall gute Besserung von mir – okay? Ich ruf wieder an, bei uns gibt’s jetzt Abendessen, sorry.« Bestimmt war Caro durchs Zimmer gegangen, stellte unmissverständlich ihre Ballerinas neben ihren Stiefeln ab, in die sie unter seinen Blicken schlüpfte.
»Gar nicht. Guten Appetit euch und eine schöne Zeit noch, ja?«
»Danke. Ich melde mich. Tschau!«
Sein Lächeln verschränkte sich im schmalen Kanal der Leitung mit seiner Sorge. Pia tippte mit dem Smartphone gegen ihren Lippen, zog sich dann doch das Arktisverbrechen wieder heran. Es wurde immer surrealer, Worte wie Bilder von Dalí, Schlittenhundspuren im Kreis um die Hütte, in der Molly seit vier Tagen allein war.
Es war ihr gleich, dass das Buch mit einem dumpfen Pochen auf den Boden glitt, als sie aufstand. Adam lag noch ganz genauso wie zuvor, ruckte und zuckte weder auf ihre Ansprache noch auf ihr Streicheln über seine Schulter. Als sie die Lampe auf dem Nachttisch anknipste, atmete er in der gleichen Intensität geräuschvoll weiter, die Luft stieß sich am Gebirge des Kissens, in das er das Gesicht halb vergraben hatte.
Das Zischen der Aspirintablette, ihr Klopfen auf dem soliden Glasboden, wenn sie nach einer aufgestiegenen Blase zurückfiel, war der viel zitierte Sturm im Wasserglas, der jedoch nicht zu Adam vordrang. In der Höhlung seines Bauchs, um die herum er sich ein wenig zusammengerollt hatte, ließ sie sich auf die Matratze sinken. Ihre Finger an seinem Hals, seinem Kiefer, seiner Wange begannen mit Samtberührungen, wurden aufdringlicher. Sein Gesicht suchte Zuflucht im Kissen.
»Adam.« War es ihr Flüstern, waren es ihr unentwegtes Streicheln, seine Bewegungen wurden zielgerichteter, er schob sich unter ihren Berührungen von ihr fort. »Trink wenigstens mal was, ja?« Keine Reaktion. »Ich hab hier ‘ne aufgelöste Aspirin.« Ihre Finger schlossen sich um das kühle Glas, hoben es an. »Hey.« Unter seinen geschlossenen Augenlidern konnte er ihr Lächeln nicht sehen, aber es hätte auch nichts geändert. Damit hätte sie ihn kaum locken können, denn – ja, tatsächlich: Adam war in den vergangenen drei Tagen nicht einmal zum Rauchen aufgestanden. Auch jetzt lag er wieder, als habe er sie nicht gehört, atmete tief und lang weiter.
Sie schob das Glas auf die Ablagefläche des Nachtkästchens. Moment. Wann hatte Adam es hierhin gestellt? Das hatte sie gar nicht mitbekommen. Die ganze Zeit über, da er ihr seine Seite zum Schlafen überlassen hatte, hatte er sich nicht darum gekümmert, dass es zurückgeblieben war. Warum hatte er sie jetzt nicht darum gebeten, ihm zu helfen? Ihr entwich ein tiefer Atemzug, ein Seufzer beinahe. Als habe Adam sie jemals um ihre Hilfe gebeten.
Trotz der vielen Stunden Schlaf in den letzten Tagen hoben sich seine Augenringe bläulich-violett von seiner hellen Haut ab. Ihre Fingerspitze flog dreist darüber, versuchte, die dunkle Färbung zu verwirbeln, da löste sich der Kontakt mit seiner Haut auf. Es war kein Zurückschrecken, in seine Züge hatte sich keine Furcht gegraben, aber sie hatten sich versteift. Offenbar bereitete jede ihrer Berührungen ihm Schmerzen. Ein Liebkosen seiner Wange mit nur einem Finger, das Streifen seines Halses, als sie ihre Hand über seine Schulter gleiten ließ: Was sie auch versuchte, er entzog sich ihr sofort, bis schließlich, als noch die letzten Nachzüglerraketen knallten, er in den ersten Minuten des neuen Jahres an sie heranrutschte, sich die Krümmung seines Rückens in die Höhle schmiegte, die ihr Körper bildete. Er ließ es sogar geschehen, dass sie den Arm um ihn legte und nach seiner Hand tastete, holte nur lang Atem, als sie mit der Nasenspitze in den dafür geschaffenen Ort seines Haaransatzes stupste und in Vertretung dem Kragen seines Pullovers einen Kuss gab. Ihr Herzschlag fing sich an Adams breitem Rücken, kehrte in einer willkommenden heißenden Schleife an ihr Ohr zurück, langsamer und langsamer werdend.