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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
23.05.2022 4.403
 
Jetzt melde ich mich auch einmal wieder zurück. Bitte entschuldigt die längere Pause, ich hatte doch wieder einiges um die Ohren. Weiter geht’s – ich wünsche viel Vergnügen und verspreche, dass die Handlung bald auch wieder an Fahrt aufnehmen wird. Vielen Dank Euch fürs Dranbleiben!
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Kapitel 7 – Treibjagd

Die Luft erzitterte unter dem Dröhnen, der Lampenschirm, der drehbar auf dem Metallstutzen gelagert war, sirrte wie ein unförmiges, überdimensionales Insekt. Pias Herzschlag, dem Verstand vorgeschaltet, reagierte sofort und ließ sie hochfahren. Reifenquietschen, ein wüst aufjaulender Motor. Offenbar verwechselte jemand den zweiten Weihnachtsfeiertag mit dem Auftakt zur Formel-1-Saison.
      Mit einem lauten Pusten fiel sie wieder auf die Matratze zurück. Sie zog die Decke bis zum Kinn, genoss die Bettwärme wie im temperierten Winterfreibad, wo man einen kühlen Kopf bewahrte, ohne frieren zu müssen. Ihre Hände schoben sich aber doch in die morgendliche Frische, strichen ihre Lider aus.
      Sie hatte seltsam geträumt. Manu und sie, in enge Hosen und kurze Tops gezwängt, hatten Currywurst gegessen, das scharfe Licht der Neonanzeige über dem Imbissstand hatte sich im fliederfarbenen Glitzer unter Manus pfeilartig definierten Augenbrauen gefangen. Zu einer Beschattung waren sie geschickt worden, ohne in Erfahrung bringen zu können, auf wen sie überhaupt angesetzt gewesen waren. Da hatten sie genauso gut vom Wurststand aus observieren können, das hatte ihnen einen besseren Überblick verschafft und womöglich sogar Gelegenheiten eröffnet, von denen sie sich nicht hätten träumen lassen. Plötzlich hatte Pia eine Hand an ihrem Gesäß gespürt. Ihr Herz war nicht dem Reflex gefolgt, der ihren Körper in eine ungerichtete Drehung versetzt hatte. Es hatte eisern weiter vor sich hin geklopft, wie es das auch jetzt wieder tat. Dort, wo der Schein der Straßenlaterne nicht mehr hingereicht hatte, hatte sie gerade noch einen dürren Mann im dunklen Anzug verschwinden sehen.
       Pia ließ eine Hand über ihren Augen liegen, doch drückte diese Vorkehrung nicht ihr Grinsen hinunter. Was Esther wohl dazu sagen würde, in welchem Licht ihr Unterbewusstsein Weniger offenbar sah? Und warum gerade ihn? Sie hatte ihn schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen, diesen trockensten aller Kollegen, der in seiner Steifheit und Humorlosigkeit sogar noch den eingestaubten Berger von der OK übertraf. Jetzt entwich Pia doch ein kleines Lachen, sie schüttelte den Kopf in der Kuhle ihres Kissens. Weniger und ihr nachstellen? Oh mein Gott. Welches überspannte Hormon hatte ihr nur diesen Gedanken eingegeben?
      Warum ließ Esther sich überhaupt ausgerechnet mit ihm ein? Sie wusste bis jetzt nicht, was sich genau zwischen ihrer Partnerin und dem Disziplinarbeamten abspielte und das ging sie auch nichts an, aber das half ihr nicht über ihr Unverständnis hinweg. Esther war spröde, scharfzüngig, provokativ in ihrem Auftreten, doch eine Frau von Geschmack und mit Stil – sie hätte leichtes Spiel mit Kollegen aus einer ganz anderen Liga gehabt. Mit Pfeiffer aus der KT zum Beispiel, er war doch ein ganzes Stück jünger als Weniger, drahtig, gespannt, mit diesem eindeutigen Blitzen in seinen dunklen Augen, wenn sie auf Esther lagen. Oder Wieland von der Geldwäsche. Kramer, Schmidberger, Hein – aber gut, offenbar musste es Weniger sein, warum auch immer. Das war ein Gesetz, in das sie keinen Einblick hatte, niemand, der von außen kam.
      Pia setzte sich auf. 8:27 zeigte ihr Wecker, die leere Matratze neben ihr, was ihr Gehirn in einem ihr nicht bewussten Areal abgespeichert hatte. Das Kissen lag zusammengeknüllt und eingedrückt wie eine Theaterrequisite bei einem Krimidinner, das zerknitterte Laken war kalt unter ihren Fingern. Da, war das – nein, es war die Wärme ihrer eigenen Haut, die sie täuschen wollte.
      Sie schlug die Decke zurück, grub die Zehen in den weichen Teppich. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass Adam sich fortgestohlen hatte? Sie hatte doch in seinem Arm gelegen, den Kopf halb auf seiner Schulter, halb auf seiner Brust – wie hatte er es fertiggebracht, sich ihr zu entziehen, ohne sie zu wecken?
      So unpraktisch es manchmal war, so froh war Pia jetzt, dass Adam keinen Spiegel im Schlafzimmer hängen hatte. Sie legte keinen Wert darauf, das Vogelnest auf ihrem Kopf und die Tränensäcke unter ihren Augen vorgehalten zu bekommen. Adam hätte auf Einbrecher und Taschendieb umschulen sollen. So sehr die Feuersbrunst alles auf zwei Kilometern in seinem Umkreis vernichtete, wenn er wieder einmal in seinem Jähzorn in Flammen aufging, so unsichtbar konnte er sich machen, wenn er es für nötig befand, und einfach mit seinem und den Schatten verschmelzen, die ihn umgaben.  
      Pia biss sich auf die Lippe, während sie die Klinke mit beiden Händen hinunterdrückte. Vielleicht schlief Adam ja noch, auf dem Sofa. Sie blickte über die Schulter zurück, als sie die Tür aufzog. Die Wolldecke hatte er aber hiergelassen. War ihm vielleicht wieder übel geworden? Hatten seine Kopfschmerzen ihn aufgejagt? War am Ende doch noch etwas nachgekommen? Leo hatte doch etwas angedeutet, dass sie ein Auge auf ihn haben sollten. Wie lange konnte eine Gehirnerschütterung noch nachwirken?
      An der Wohnzimmerschwelle blieb sie wie hinter einer magischen Linie stehen, dimmte ihren Atem herunter, doch Adam konnte sie nicht überlisten. Sein Blick haftete noch für einen Augenblick am grell erleuchteten Bildschirm, während sein Kopf schon die Drehung in ihre Richtung aufnahm. Da gab er nach, das kalte Blau sprang zu ihr, scharf und stechend. Seine Augen glitten über ihren Körper, nahmen wie zwei Kameralinsen ihr Bild in sich auf, bevor er sich wieder in seine vorherige Position begab, das Kinn so in der Hand vergraben, dass es sein Gesicht zur Hälfte vor ihr verbarg. Er kauerte im Schneidersitz vor seinem Laptop, den er auf dem Couchtisch abgestellt hatte, einem Puppenmöbelstück für ihn.
      »Adam … alles klar?«
      Sein Zeigefinger zeichnete einen Bogen, tippte zweimal auf das Touchpad, dann klappte Adam seinen Laptop zu und schob ihn in die Tischmitte.
      »Warum nicht?«
      In einer halben Sekunde faltete er sich auseinander und stand dann so gerade wie selten. Normalerweise ließ er die Schultern hängen, stauchte sich ein bisschen zusammen, weil er die Hände wahlweise in die Hosen- oder Jackentaschen schob. Jetzt bog er den Rücken durch, als er den noch verbliebenen Schluck Wasser hinunterstürzte, das Glas setzte er wie den Punkt unter dem Ausrufezeichen seiner Bewegung brüsk auf den Tisch. Ihrem Blick, ihrem Arm, den sie nach ihm ausstreckte, wich er geschickt aus, als er an ihr vorbei in den Gang eintauchte. Er schob eine Schulter vor und sich an ihr wie an einem seiner Praktikabilität wegen geduldeten Schuhschrank so dicht vorbei, dass seine Wärme auf Pias Haut prickelte, sein Duft sie umwehte – und die Note scharfen Alkohols. Als sie den Kopf herumwarf, konnte sie gerade noch den verwischten Umriss seiner Gestalt in der Tür zum Schlafzimmer erhaschen. Jetzt roch sie es ganz deutlich. Für eine Sekunde blinzelte sie das Wimmelbild der Stätte von Adams durchwachter Nacht an, dann wagte sie sich vor, hob das Glas an ihre Nase. Kein Wasser.
      Sie hatte gerade die Finger um die Klinke der Badezimmertür gelegt, da hielt Adams Stimme, die blechern über den Gang schallte, sie in ihrer Bewegung zurück.
      »Kannste dir sparen. Mehr als die von gestern Abend hab ich nicht genommen – aber zähl ruhig nach, wenn’s dir Spaß macht.«
      Aus dem Türrahmen beobachtete sie ihn, wie man aus dem Hoffenster auf eine Katze herabsieht, die zwischen den Mülltonnen umherstreicht. Natürlich kümmerte Adam sich genauso wenig darum wie diese grauen Existenzen, von allen geduldet, von niemandem vermisst. Er kramte im Schrank, halb in Deckung hinter der Tür.
      Vergangene Nacht war er nicht aus einem Albtraum hochgeschreckt, da war sie sich sicher. Er schien das Versprechen von Ruhe, das ihren Spätnachmittagsspaziergang durch den Wald mit zaghaften Vogelrufen und der dunklen Schwere des Mooses begleitet hatte, für sich angenommen und sich darauf verlassen zu haben. Als sie sich irgendwann nachts aus seinem Arm herausgeschält hatte, um auf die Toilette zu gehen, hatte er ganz eindeutig geschlafen, und zwar tief. Sie kannte es mittlerweile aus diesen seltenen Phasen, sein langes, samtig wehendes Atmen, das eigentlich mehr zu erahnen als zu hören und außerdem von langen Pausen unterbrochen war, in denen sie immer wieder die Sorge im Nacken packte, sein Körper arbeite gegen ihn, verweigere es, Luft in sich aufzunehmen.
      Stoff raschelte, es pochte dumpf, als Adams Hand gegen die Schrankwand stieß.
      »Du gehst laufen?«
      Ein mieses Alibi für das, was sich eigentlich in ihr regte.
      Was ist los mit dir?
      Welche Gedanken quälen dich?
      Was verbirgst du noch alles vor mir?
      »Kann ich mitkommen?«
      Es dauerte eine Sekunde, bis sein Körper sein Schulterzucken hervorbrachte, dieses Schulterzucken, dem Adam im Gespräch mit Esther einen abschätzigen, in der Rechtsmedizin einen entnervten und in ihrer Gegenwart einen gleichgültigen Anstrich verlieh.
      »Wenn du willst.«
      Als sie sich wie zufällig ein bisschen zu dicht an ihn heranschob, trat er hastig zur Seite, fasste über ihren Kopf hinweg in einem Winkel, der schwer nach Gelenksperre aussah, in das oberste Fach. Sie nahm ihr kompaktes Paket Sportkleidung an sich, das sie in weiser Voraussicht an einem der letzten Arbeitstage des Jahres hier deponiert hatte. Wenige Zentimeter vor ihrer Hand entzog Adams sich ihrer beabsichtigten Berührung, ein weiches, leichtes Gewebe zwischen den Fingern, nach dem er blind getastet hatte.
      Als Pia aus dem Bad trat, wurde ihr Blick sofort von Adams schwarzer Silhouette angezogen, deren Konturen sich scharf vor den im Morgenlicht kränklich blassen Steinen der Terrasse abhoben. Wie ein Weltraumritter stand er da, die Hände in den Jackentaschen vergraben, seine Schultern sackten ab, hoben sich wieder, dann wand er sich um. Seit Langem schon verzichtete Pia darauf, sich für ihr idiotisches Grinsen zu schämen, das in Momenten wie diesen ihr gesamtes Gesicht überzog, und kämpfte auch nicht mehr dagegen an. Adam bot ihr einfach zu viele Anreize. Diese ultraleichten, wasser- und windabweisenden Multifunktionstücher, wie sie von vollkommen natürlich gebauten, mit Anabolika aufgeblasenen Sportmodels als das Nonplusultra angepriesen wurden, hatte sie immer für verzichtbar gehalten. Jetzt, da eines davon in tarnfarbenem Anthrazit locker Adams schlanken Hals umwölkte, wusste sie es besser.
      Er streifte sie nicht einmal mit einem Seitenblick, sogar die Luft um sich her schien er zum Stehen gebracht zu haben, mühelos schob er sich durch die verfestigten Schollen hindurch. Sofort schloss sie zu ihm an der Garderobe auf, schlüpfte sogar schneller als er in ihre Laufschuhe und glitt in den Flur, sowie er die Tür öffnete. Das Klirren der Schlüssel hallte im Gang wider, sie hielt ihm die Eingangstür auf – und sah ihm nach. Das Ritual einiger gemütlicher Schritte zum Einlaufen galt nicht für ihn. Kaum hatte sein Fuß die Schwelle überschritten, war er losgelaufen. Pia rannte ihm nach, kam auf seine Höhe, da zog er an, preschte an ihr vorbei.
      Auch wenn sie sich nur mit Mühe erneut an Adam herankämpfen konnte, musste sie lächeln, als die Bäume sie in ihren Kreis aufnahmen. Ihre Zweige reckten sie unbelaubt und schockgefroren gen Himmel wie eine alte Frau ihre knorrigen Finger in einem Gebet, das niemand mehr verstand. Sonnendurchflutet und schon mit dem zarten Hauch einer Herbstfärbung angetan hatten die Blätter damals um sie her gerauscht, als sie zum ersten Mal Adams Wohnung wieder verlassen hatte.
      Seine Füße trafen beinahe lautlos auf den in den obersten Schichten angefrorenen Waldboden, doch beharkten sie ihn in einem eigenwilligen Rhythmus. 10,9 km/h, 11,6 km/h, 11,4 km/h entnahm sie seitlich schielend dem Ziffernblatt ihrer Fitnessuhr. Die gewaltsam eingesogene, harsche Luft biss ihr zwischen die Rippen, ins Zwerchfell, ein Stechen links, vielleicht eine alte Verklebung, die sich gelöst hatte. Ihre Oberschenkelmuskeln waren gespannte Bögen, ihre Waden schwere Wülste.
      Bis zur ersten Weggabelung hielt sie mit, dann gab sie es auf. Nicht bei der Kälte. Ein stabil hohes Trainingsniveau in Ehren – dass sie ihrem Körper deshalb Gewalt antat, stand nicht dafür. Nicht einmal Adams Augen zuckten zur Seite, als sie sich zurückfallen ließ. Er wandte nicht den Kopf nach ihr, rannte, rannte, rannte einfach. Die Atemwölkchen über seinem Kopf markierten seinen Weg wie der Qualm einer Dampflokomotive, seine Konturen rundeten sich ab, verschwammen diffus mit dem Nebel. Sie konnte nur hoffen, dass die Wege hier nicht zu verwinkelt waren und sie Adam, geschweige denn seine Wohnung, nicht erst nach Stunden wiederfinden würde, wenn sie die richtige Richtung aus der Undurchdringlichkeit geklaubt hätte, die sie unbeteiligt umgab.
      Die Vögel sangen ihre wenige gleichförmige Linien umfassenden Weihnachtslieder, etwas Dunkles huschte über den Weg, ein Eichhörnchen oder ein Marder vielleicht. Ob es hier Rehe gab? Vor einigen Jahren hatten sie an der Saar die jungen Schösslinge mit einem Verbissschutz versehen müssen. Sie hätte doch noch schnell ihre Ohrhörer einstecken sollen. Die Dumpfheit um sie her, die nur ihre Atemzüge auf sie zurückwarf, umschloss ihr Gehör wie ein pralles Federkissen, durch das die Vogelstimmen gedämpft zu ihr vordrangen.
      Links oder rechts? Sie fühlte sich wie das Pferd in Die Schöne und das Biest. Wie hatte es gleich noch einmal geheißen? Philippe, genau. Es hatte Belles Vater in den Wald gebracht und es nur schwer über sich gebracht, seinem Herrn zu gehorchen. Auch sie fühlte sich von dem anheimelnden Weg zwischen lichter stehenden Laubbäumen angezogen, lenkte dann aber ihre Schritte auf den dunklen Pfad zwischen schwer und dräuend Spalier stehenden Fichten und Tannen. Alles flüsterte hier noch Adams Namen.
      Es knackte und raschelte rechts von ihr, ein schwarzer Labrador brach durchs Gehölz, rannte an ihr vorbei, das zugehörige Herrchen, ein Jogger mit Balaklava und verspiegelter Brille, nickte ihr zu. Ein Optimist, ganz klar. Wer sonst kam auf die Idee, im Wald eine Sonnenbrille aufzusetzen?
      Pia schluckte, lief einige Schritte blind, 1 – 2, 1 – 2 – 3, 1 – 2, 1 – 2 – 3. Würde das nie ein Ende nehmen? Würde Adam niemals das Bollwerk seines Schweigens einreißen und ihr Einblick in das Tosen, das Wühlen in seinem Inneren gewähren?
      Zeit. Gib ihm Zeit.
      Aber wie viel? Wann würde er ihr gegenüber äußern können, was er für sich selbst nicht aus dem mit Pech verklebten Knoten in seinem Inneren herauslösen konnte? So lief er weiter davon, vor sich, vor ihr, in ihren Nächten Körper an Körper oder mit Abstand nebeneinanderliegend, in der Kaffeeküche im Präsidium wie in seiner eigenen, hier und jetzt wie gestern und die vielen Tage zuvor. Er spielte mit dem Gedanken, seinen Urlaub zu verkürzen, um sich nicht stellen zu müssen, das spürte sie. Nach kaum zwei Tagen hielt er es nicht mehr aus, sah dem Zeitraum, den sie ihm aufgedrängt hatte, mit eisengepanzerter Brust entgegen, suchte ihr und sich selbst zu entkommen. Das hatte sie nun davon.
      Der undurchdringliche dunkelgrüne Wall zu ihrer Linken wurde spärlicher, dünnte aus, setzte aus, öffnete sich zu einer weiten Wiese, über der in mildesten Farben der Weihnachtsmorgen wogte. Im hohen Gras schlummerte ein angefrorener Nebel, wollte sich nicht über die bereiften Spitzen hinauswagen, die darauf warteten, dass die glühende Sonnenscheibe höher steigen und ihre ganze Kraft entfalten würde. Ein Mann in schwarzer Softshellhose und mit grauem Wollmantel holte gerade über seinem Kopf aus, dann ließ er einen schwer gefüllten Tennisball an einem ramponierten Seil in die Ferne sausen. Die Halme klackten hart gegeneinander wie ein prähistorisches Schlaginstrument, dessen unrhythmische Melodie auf den Horizont hinauszog. Der Dynamik nach hätte es sich um mindestens einen Bernhardiner handeln müssen, aber es war vermutlich nur eines dieser jagdhundähnlichen Exemplare mit Energiereservoirs für einen ganzen Welpenkorb. Das stolze Herrchen fing Pias Lächeln auf und spiegelte es, ein einträchtiges Nicken, schon war sie vorüber.
      Als ihr Magen rumorte, wurde ihr erst bewusst, dass sie noch gar nicht gefrühstückt hatte. Na, wenn Adam sie durch seine stumme Hast schon davon abgehalten hatte, würde er nachher wenigstens einen Brunch über sich ergehen lassen müssen, schließlich mussten sie sich über die Reste hermachen, die ihre Mutter ihnen mitgegeben hatte, wenn sie damit nicht auch noch Caro und Leo an Silvester füttern wollten.
      Der glatte, ausladende Buchenstamm zu ihrer Linken warf ihr Schnauben wie von einem Feuer speienden Kaltblut zurück, ihr Schritt wurde unregelmäßig, ihr Schlucken verkantete sich ihr in der Kehle. Das war Adam, eindeutig. Er stützte sich mit einer Hand schwer auf der Rückenlehne einer Bank ab und stand vornübergebeugt. Jetzt rannte sie, und jetzt sah sie, dass er ins Gras spuckte. Als sie kaum zehn Schritte mehr von ihm trennten, rollte sein schwerer Husten an ihr Ohr.
      »Adam –« Ihre Hand war das Erste, was bei ihm ankam. Sie schlich sich auf sein Schulterblatt, glitt auf seine Wirbelsäule zu, da schnellte Adams Oberkörper in die Senkrechte. Er machte einen Schritt zur Seite, als müsse er sein Gleichgewicht halten, dann spuckte er nochmals aus.  
      »Hey.« Ihre Stimme war hauchig, hechelte sofort gegen das eine ausgestoßene Wort. Wie machte Adam das bei seinem halsbrecherischen Tempo, dass er nicht außer Atem war? Wie hatte sie annehmen können, auch nur ansatzweise mit ihm gleichziehen zu können?
      Sein Bizeps war ein Stein unter ihrer Hand, als er den Reißverschluss seiner Jackentasche öffnete und ein Taschentuch hervorzog. Sein Blick lag im Wegesrand versenkt.
      »Ist dir schlecht?«
      Er hatte ja auch nichts gegessen, vielleicht hatte er wieder einmal seinen Kreislauf überdehnt. Aber er schüttelte nur den Kopf und wischte sich angewidert über die Lippen. Er hustete ein paarmal, während er das zusammengeknäuelte Taschentuch in seiner Jacke versenkte, das raue Geräusch schabte flach an seinem Rachen entlang, doch drang es nicht in sein Bewusstsein vor. Pias Augen folgten Adams Blick über das hoch aufragende Gras. Die Stängel in der Nähe glitzerten, in der Ferne blinkten sie opak wie Speere aus Eis.
      Adams Nasenspitze war rötlich violett verfärbt, seine Lippen schimmerten bläulich, schienen denselben Ton an seine Wangen weiterzugeben. Pia konnte nicht an sich halten, sie glitt vor ihn, ihre Arme legten sich um seinen Hals, ihre Finger fuhren seinen weichen Haaransatz entlang, zogen zu seinem Schultergürtel weiter, der wie aus Gusseisen war. Adam schauderte leicht unter ihrer Berührung, schrak jedoch nicht zurück, bewegte sich dann nicht weiter. Da fühlte sie es ganz deutlich.
      »Hol mal tief Luft.« Sie lauerte auf eine Regung seines Körpers, aber er tat ihr diesen Gefallen nicht. Erst nach zehn, zwanzig Sekunden und ihrer nochmaligen Aufforderung schmiegte sich mit einem Mal ganz leicht seine Hand an ihre Taille.
      »Wenn du mich lässt.« Seine Stimme durchschnitt ihre Umfassung wie eine schartige Sense.
      Pia trat von ihm zurück, als habe sie an einen Elektrozaun gefasst. »Entschuldige.«
      Adam stützte die Hände in die Seiten, wie um sich in die Höhe zu stemmen, denn er richtete sich zu voller Größe auf. Seine Augen flogen über die wie für ein Gemälde konservierte Wiese. Es dauerte noch einmal gut zehn Sekunden, da hob sich Adams Oberkörper ruckartig, sofort stieß er den eingesogenen Luftstrom wieder aus. Dann erst dehnte sich sein Brustkorb langsam, gleichmäßig. Sein Husten spielte seine atonale Melodie auf der Klaviatur von Adams Rippen. Da beugte er sich vor, spuckte einen zähflüssigen, rostrot verfärbten Faden ins Gras.
      »Adam!«
      Er tauchte unter ihrer Bewegung weg, als sie nach seinem Arm fassen wollte, und machte einen Schritt zur Seite, während er sich aufrichtete. Erneut wischte er sich mit dem Taschentuch über den Mund, der sich zäh zu einem schiefen Lächeln verzog. »Keine Sorge.« Er spuckte einmal schnell neben sich, als entledige er sich eines Kirschkerns. »Ich steck dich schon nich’ an, bin ja nich’ schwindsüchtig oder so was.« Er hustete zweimal kurz und schluckte, doch das heisere Schaben im Abgang klammerte sich an seiner Stimme fest. »Das is’ nur ‘ne chronische Bronchitis, das is’ alles.« Sein Blick suchte einen Fluchtweg über die Felder, an den Waldausläufern vorbei, während er die Hände in die Seiten stützte und sich mit Unauffälligkeit bestrich. Doch sein Körper durchbrach die Camouflage, sein Brustkorb zitterte unter dem nächsten Atemzug, seine Verkrampfung hatte sich noch nicht gelöst.
      In einem wie ein Seidentuch vorüberfliegenden Gedanken sah Pia sich seine Brust, seinen Nacken, seinen Rücken weichstreicheln, doch wagte sie es nicht, ihn anders zu berühren, als er es von ihr gewohnt war. Sie bat ihn um Gewährung, ließ die Hand auf die steil abstehende Kante seines Arms sinken und entlockte ihm, wie erwartet, keine Reaktion. Eine Vorwarnung, mehr hatte sie ohnehin nicht geben wollen.
      »Lass uns zurückgehen, ja?«
      Der bläuliche Schatten auf Adams Haut hatte sich verflüchtigt, zurückgeblieben war eine ungesunde Leichenblässe. Bestimmt war ihm schon wieder schlecht, er konnte gar nicht anders als in einen Unterzucker gerutscht sein. Auch wenn sie es ihn nicht hatte spüren lassen, sie hatte natürlich bemerkt, dass er gestern Abend nach ihrem Spaziergang nur ein wenig hier und da von den Resten ihrer Mutter genommen hatte.
      Auf Adams kantiges Nicken hin entsann sie sich ihrer Frage wieder. Sie fühlte in den Fingerspitzen, wie sich sein ganzer Körper anspannte. Da legte sie ihm sofort einen Arm quer vor die Brust.
      »Ich sagte zurückgehen, nicht -laufen«, erläuterte sie ihren Beweggrund seinem finsteren Blick, der jedoch einer vollkommenen Gleichgültigkeit das Feld räumte, sobald sie sich in Bewegung setzten. Fühlte sie schon ihre Muskeln unter der Kälte protestieren, die ihr trotz Thermotrainingshose in die Oberschenkel biss, so hatte Adam eindeutig überzogen. Seine Schritte waren ungeschickt, seine Beine steif wie die eines Zinnsoldaten. Doch natürlich kümmerte es ihn nicht, er sprach kein Wort, und weder Pia noch die Vögel, die sich vorhin noch zögerlich bemerkbar gemacht hatten, wagten es jetzt, die Stille zu durchbrechen. Nur Adams trockener Husten machte sich von Zeit zu Zeit als Begleiter auf ihrem Weg bemerkbar, den er von anderen Spaziergängern zu räumen schien. Ein Rentnerehepaar und zwei Hundefreunde allein wagten es, ihnen bis zu seiner Wohnung zu begegnen.
      Als Adam mit den Schlüsseln an der Eingangstür hantierte, umschloss Pia in einer in ihrer Langsamkeit vorhersehbaren Bewegung seine klamme Hand mit den ihrigen, versuchte, sie zum Schmelzen zu bringen. Sofort überließ Adam ihr den Schlüsselbund. Sie drückte die Tür auf, wartete, aber ihr blieb nichts, als seinem abgehackten Nicken in seine Wohnung Folge zu leisten. Ein, zwei Schritte war sie ihm voraus, und doch glitt er da schon wie ein Schatten an der offenen Küchentür vorüber, als sie den Wasserhahn schloss.
      »Adam!«
      Im Türrahmen prallte sie fast gegen ihn, er hatte lautlos kehrtgemacht. Unter ihrem abrupten Anhalten schwappte das Wasser die Glaswände hinauf.
      »Entschuldige.« Sie wedelte die oberflächlich aufsitzenden Tropfen von seiner Trainingsjacke und hielt ihm das Glas vor. »Hier.«
      Er zeigte keine Gegenwehr, leerte das Wasser mit wenigen Schlucken. Sie fühlte seine Augen auf sich liegen, als sie ans Spülbecken trat.
      »Noch mal.«
      Das Rucken seines Kehlkopfes bei jedem Schluck ließ seinen Hals schneeweiß aufleuchten, seine Finger krampften um das Glas. Die Schokolade war hart, das Knacken peitschte hohl von der Arbeitsplatte wider, als sie eine Rippe abbrach. Sie nahm Adam das Glas aus der Hand und hielt ihm stattdessen die Schokolade wie ein vergessenes Indiz vor.
      »Iss das.«
      Nur seine Kaugeräusche verrieten ihn auf dem Weg ins Bad.

Die Türschwelle schluckte ihren Blick, ihre Augen arbeiteten sich daran ab wie der Schlitten eines Druckers. Dann war es genug, Pia überrumpelte sich selbst mit einem schroffen Atemzug und klopfte zweimal leise. Ihr Atem wehte auf ihr Gesicht zurück, so dicht stand sie vor der dünnen Wand, die sie von Adam trennte. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, ihr Knie knackte, als sie das Gewicht verlagerte, sie fühlte sich wie in einer Kugel, in die kein Geräusch vordrang, kein Duft, kein Licht, weil das Glas, das sie umgab, geschwärzt war. Sie klopfte erneut, einmal nur, schob dann die Tür auf. Der Teppich rauschte leise.
      »Adam?«
      Er lag reglos, wie ein zeitgenössisches Kunstwerk, mit dem Rücken zur Tür, in genau derselben Position, in der sie ihn hier aufgefunden hatte, nachdem sie aus dem Bad gekommen war: den rechten Arm von der Matratze so um den Oberkörper gelegt, dass sich seine Finger um seine Rippen schmiegten, den linken Arm locker darüber gekreuzt, die Hand flach vor sich abgelegt, den rechten Fuß unter dem linken einen Schritt voraus. Das Einzige, was sein menschliches Wesen verriet, war sein schwaches Atmen, das sie im Gegenlicht an seinen Umrissen aber nur schwer ablesen konnte. Noch immer lag er ohne Kissen unter dem Kopf und Decke über seinem langen, schmalen Körper.
      »Adam?« Ihre Stimme war zu einem Wispern herabgesunken. Vielleicht war er mittlerweile ja eingeschlafen – nein. Der Glanz seiner Augen widerlegte ihre These, als sie einen Schritt näher trat. Einige Sekunden beobachtete sie ihn, wie er starr aus dem Fenster blickte, ohne zu blinzeln.
      »Willst du was essen?« zerwarf sie die Stille vor sich wie einen alten Spiegel in Tausende Scherben, doch Adam stieg geschickt dazwischen hindurch, ohne sich zu schneiden. Er lag noch einige Sekunden vollkommen bewegungslos, dann schüttelte er den Kopf, einmal nur, in einer so schwachen Bewegung, dass es aussah, als lege er sich zurecht.
      Pia hielt die Luft an, schloss mit bewusst markant gesetzten Schritten, sowie der Teppich es zuließ, dass sie sich ankündigte, die schmale Lücke zu Adam. Sie streckte die Hand nach ihm aus, seine Schulter war kantig unter ihren Fingerspitzen, sein Körper kalt.
      »Hey – was …«
      »Alles gut.«
      Er sprach ohne jeden Druck auf der Stimme, so leise, dass sie es von der Tür aus wohl kaum verstanden hätte, er balancierte auf einer leicht durchscheinenden Eisdecke mit Haarrissen, die aufbrachen und ihr die Hände zerschnitten, als sich über die zugefrorene Fläche zu ihm heranschieben wollte. Sie gab es auf. Aus dem Schrank nahm sie eine Wolldecke, die sie über ihn breitete, ohne ihn zu berühren, dann zog sie die Tür ins Schloss. Das Klicken, das nicht zu hören war, hallte nur in ihrer Brust wider.
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