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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
09.04.2022 4.341
 
Hallo, meine Lieben, wie schön, dass Ihr weiter dabei seid! Die längere Pause tut mir leid; zuerst war ich beruflich stärker eingespannt, dann habe ich mir Corona eingefangen. Jetzt gibt’s ein neues Kapitel und es geht endlich einmal wieder ein ganz kleines bisschen mehr zur Sache. Passt bitte auf Euch auf: In diesem Kapitel wird körperliche Gewalt erwähnt.
       Euch in jedem Fall viel Vergnügen beim Lesen und weiterhin ein schönes Wochenende!
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Kapitel 6 – Jagdrevier

Geflochtene Schalen mit rostroten, senfgelben, nussbraunen Gewürzen als fein gemahlenes Pulver, in körniger Struktur oder getrockneten Schoten. Ein heillos überladener Karren mit einem davorgespannten Esel. Das hellgraue Fell an den Beckenknochen war schon durchgescheuert. Kinder mit dunklen Knopfaugen und einem Lächeln, wie man es als Erwachsener trotz aller Mühe nicht mehr auf sein Gesicht zaubern konnte. Ein Baum, dessen Krone über dem Einband abgeschnitten war, mit einem knotigen Stamm und einer gelben Frucht, die sie so noch nie –
      Das Vibrieren war gedämpft, das Rütteln klapperte aber durchdringend. Verdammt, wo hatte sie ihr Handy hingelegt? Da – nein, das war Adams. Wenn es das Klingeln nicht besorgte, so würde sie ihn mit dem Tosen der Papiere wecken, als sie sie anhob, durcheinanderbrachte und in den Haufen zurückwarf. Wobei … eine Ordnung schien es auch davor nicht gegeben zu haben. Es waren noch immer die Blätter, die Leo und sie durchforstet hatten, damals – mit Adam, hier, auf diesem Sofa liegend …
      Wie lange war das her? Ein halbes Jahr? Zwei Monate? Drei Tage? Kaum drei Wochen waren vergangen, und doch schien es ihr, als hätten Adam und sie sich schon immer in dieser alltäglichen Stummheit befunden, in ihrem eigenen Kosmos, in dem die Zeit stand, abgesondert von allem, was da draußen vor sich ging.  
      Pias Schmerzenslaut, als sie sich den Zeh am Couchtisch stieß, ging im rhythmischen Schnarren der künstlichen Fahrradklingel unter. Es kam von links. Sie gratulierte sich dazu, dass sie ihr Handy nicht ins Schlafzimmer mitgenommen hatte. Wie blöd konnte man sein, es nicht wenigstens gleich nach dem Aufstehen auszuschalten?
      Natürlich. Die andere Manteltasche.
      »Morgen, Papa.« Ihre Stimme klang, als drücke ihr ein Entführer eine Knarre unters Kinn.
      »Hallo, Pia! Störe ich?«
      Sie lachte leise. Das wäre nicht ihr Vater. »Nein, nein, ich hab nur mein Handy nicht gleich gefunden.«
      »Frohe Weihnachten noch mal – dir und Adam.« Sie glitt wieder auf das Ledersofa, das unter ihr nicht ächzte wie ihre durchgesessene Couch. Als suche sie den Türöffner zu einem Geheimgang, tastete sie nach der Stelle, die noch warm war. »Oder ist er gar nicht bei dir?«
      »Doch, doch – also … ich bin bei ihm.« Und? Wen interessierte das schon? »Ähm –« Sie räusperte sich. Warum klang sie eigentlich noch so verschlafen? Sie war ja seit zwanzig nach acht wach und jetzt war es – sie nahm ihr Smartphone vom Ohr – doch schon halb zwölf. »Auch dir und Mama noch frohe Weihnachten – und Lydi natürlich.« Aber sie hatte eben noch kein Wort gesagt heute, nur eine Waschmaschine gestartet, mit Manu gechattet und sich ihre Beschwerde über die zwei Tonnen angehört, die sie gestern Abend zugenommen hatte, sich im gummiartig glänzenden Blattgewirr tropischer Bäume und einer Kolonie quietschbunt strahlender Papierlaternen vor einem durchdringend schwarzen Nachthimmel verloren und doch die ganze Zeit nur auf ein Geräusch von Adam gewartet. »Ist sie denn schon da?« fiel ihr gerade noch ein, wo sie im Gespräch mit ihrem Vater stehen geblieben war.
      »Mhm.« Sein Brummen hallte im Bogen seines belustigten Grinsens wider. »Sie ist vor einer halben Stunde gekommen statt um zehn.«
      Pia schnaubte und schüttelte den Kopf. Wie gut, dass Lydi nicht lang damit geliebäugelt hatte, es ihr nachzutun und auch zur Polizei zu gehen. Wenn man versuchte, vor acht mit ihr zu reden, bekam man entweder gar nichts oder das Genöle einer 13-Jährigen zur Antwort.
      »Mama und sie werkeln schon in der Küche und Mama lässt fragen, ob ihr zum Mittagessen kommen wollt, so gegen halb zwei, wenn euch das passt.«
      Richtig. Pia kniff die Augen zusammen. Sie hatte ihrer Mutter noch Bescheid geben wollen und es dann glorreich vergessen. Es tschilpte scharf, eine Amsel schoss durch den Strahl Sonnenlicht, der durch die Terrassentür auf den grauen Teppich fiel. Pia schob den Fuß von der Sitzfläche, tauchte mit den Zehenspitzen in die sanfte Wärme. Wie so oft heute Nacht sah sie auch jetzt Adam vor sich, als er sich auf der Terrasse nach ihr umgewandt hatte, mit schmalen, nach vorn gefallenen Schultern und der Angst im Blick, so alt wie er, fortgejagt zu werden für das, was er getan, und besonders für das, was er unterlassen hatte, weil er nichts davon hatte wissen können. Ihre Finger vollzogen die Erhebungen der weißen Buchstaben auf dem mattschwarzen Untergrund nach. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie das Buch wieder vorgenommen und in ihrem Schoß aufgestellt hatte, wie um eine Mauer zwischen Adam und dem zu bringen, was ihm auf den Fersen war.
      »Wir würden uns wirklich freuen«, holte sie die Stimme ihres Vaters aus ihrer Welt zurück, in der noch kein Farbfilm erfunden war. »Und Lydi war ja schwer beeindruckt von Adam.«
      Pia nickte zweimal schnell. »Ja – das hab ich gemerkt.«
      Ihr Vater lachte, genau so, wie sie es bei jedem Stimmabgleich erkennen würde, wie sie es in ihrem Gedächtnis im Herzen trug mit Bildern, die unscharf waren. Nur Sonne und Papas große Hände erkannte sie, der Duft frisch gemähten Rasens, vermischt mit der klebrigen Note von Fingerfarben, wehte durch die milde Luft, der Mörtel zwischen den Terrassensteinen knirschte sandig unter ihren bis aufs Fleisch abgekauten Nägeln, als sie die herabgefallenen Rosenblätter sammelte.
      Ein scharfer Atemzug entkam ihr und fegte durch die Leitung. Hämatome und rote Streifen auf blasser Haut, dunkel schimmerndes Blut aus Platzwunden, nur ein paar Kilometer weiter – andere große Hände.
      »Ich weiß nicht.« Sie versuchte, das Blech in ihrer Stimme hinunterzuschlucken. »Ich glaube … das wird ein bisschen viel.«
      Es tickte im Hintergrund des schwarzen Rauschens, halb Deutschland hing gerade am Netz.
      »Adam hat sich nicht so wohlgefühlt bei uns, oder?«
      Etwas in der Stimme ihres Vaters hüllte ihr Herz in Samt, wollte sie in die Arme nehmen, ihr über den Kopf streichen, wie er es getan hatte, als sie noch nicht gewusst hatte, dass es nicht ihre Kugel gewesen war, die das Baby erwischt hatte. Am Abend danach war sie zu ihren Eltern geflohen, einfach so, das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Es hatten noch ihre Koffer im Flur gestanden, sie waren ja am Nachmittag erst aus Ägypten zurückgekommen. Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie sich ihnen gleich aufdrängen konnte. Aber die Einsamkeit in ihrer Wohnung hatte sie erdrückt, nachdem sie sich ihr schutzlos hatte entgegenstellen müssen. Ohne Adams Hände an ihrer Taille, ohne seinen Nacken, sein Gesicht unter ihrer Hand, ohne seine Lippen an den ihrigen war sie der Stille verwundbar ausgeliefert gewesen. Bis jetzt wusste sie nicht, warum er plötzlich vor ihr zurückgeschreckt und fortgejagt war, sie ihrem Schicksal überlassen hatte. Dem Deichbruch ihrer Tränen hatte er sich entgegengestellt, die ganze Nacht Sandsäcke gestapelt, um sie dann einfach im kalten Landregen stehen zu lassen, der für sie aus Saarbrücken einen morastigen Acker mit stehendem Wasser gemacht hatte, auf dem nur noch sie gewesen war – und ihre Eltern. Adam hatte den Damm provisorisch geflickt, endgültig wiederaufgebaut hatte er ihn erst ein paar Tage später, als er ihr Frau Wenzels frohe Botschaft überbracht hatte, dass sie keine Schuld an dem Querschläger getroffen hatte. Da hatte er sie wieder aufgefangen, sie an seiner warmen Brust geborgen, aber seine eisigen Finger waren am Kragen ihres Pullovers umgekehrt, als habe er es aufgegeben, sie trösten zu können.
      An jenem Abend jedenfalls war es ihr Vater gewesen, der plötzlich seinen Stuhl umgesetzt und sie in den Arm genommen hatte, genau wie früher, als ihre Hände noch zusammen ganz in seine gepasst und noch nicht gewusst hatten, wie man jemanden tötete. Diese Mischung aus Teebaumöl und Niveacreme so nah an ihrem Gesicht, das Streicheln ihrer Mutter an ihrem Rücken – und mit einem Mal war alles aus ihr hervorgebrochen, sie hatte nur noch geweint, genauso wie früher. Die Kante von Adams Kiefer an ihrer Schläfe, seine Wirbel unter ihren Fingern hatten sich ihrem Tosen, ihrem Ausbruch als Hindernis in den Weg geworfen; ihre Kindertränen hatten sie nicht hervorlocken können.
      »Haben wir irgendwas falsch gemacht?«
      »Was?« Pias eigene Stimme riss sie wieder in die Schläfrigkeit der Gegenwart zurück. »Nein«, stieß sie etwas zu laut hervor, »überhaupt nicht! Es …« Ihre Augen suchten an der Decke einen Teleprompter. »Das hat gar nichts mit euch zu tun, wirklich nicht. Er war nur …« – ihre Hand zog Kreise in der Luft, als habe sie ihren Zauberstab verloren – »ein bisschen überfordert von allem, glaube ich.«
      Adam hatte reglos verharrt, nur seine Augen waren zu Lydi gehuscht, als sie die Gabel wie einen Signalgeber für ein unvorhersehbares Unheil auf den Tellerrand hatte fallen lassen. Am liebsten hätte Pia mit den Lippen seine Wange berührt, mit der Hand auf seiner anderen Gesichtshälfte sein Zurückschrecken in Zaum haltend. Sie hatte sie sofort wiedererkannt, diese Gehetztheit, die sich auf seinen Zügen angedeutet hatte. In jener Nacht, in der sein Bewusstsein so umnebelt gewesen war, hatte die Gewissheit, gejagt zu werden, in seinem dunklen Blick gefunkelt, bevor er plötzlich Pia auf seinen Schoß gezogen und sie mit Küssen hatte verschlingen wollen. Die Hitze der Verzweiflung hatte auf seinen Lippen, seiner Haut gebrannt, und doch musste Pia ein Hauchen in die Leitung zurückhalten, als sie unter der Erinnerung an seine Berührungen erschauerte.
      »Es …« Pia schluckte gegen das Sandpapier in ihrer Stimme an. »Es war alles nicht so einfach bei ihm – früher, weißt du? Er hat –«
      Angst. Einfach Angst, ergänzte Pia in Gedanken. Angst vor allem und jedem. Davor, dass alles wieder von vorn losging, jetzt, da er wieder hier war.
      »Weihnachten ist für ihn da –«
      Was? Welche Worte beschrieben, was Fakt war?
      Er hat mich mit seiner Gürtelschnalle über dem Auge erwischt.
      Er hat mir das Brustbein gebrochen.
      Er hat mich unter Wasser gedrückt, bis ich bewusstlos wurde.
      »Es kommt bei ihm alles wieder hoch und – ja, dann …«
      Sie suchte Worte, wo ihr Vater längst verstanden hatte. »Mhm.« Es war ein anderes Brummen als vorhin noch, es spiegelte, was Pias Brust unerbittlich zwischen steifen Fingern hielt. »Na ja.« Aber da war es schon wieder, Papas Lächeln, das ihr Lächeln an der Hand hinter sich herzog. »Das kannst du uns ja irgendwann mal noch erzählen, wenn du möchtest. Jetzt macht euch einen ruhigen Tag.«
      Auf die langsame Bewegung in ihrem Augenwinkel sah Pia sich um. Adam schnitt die Verbindungslinie zwischen ihr und seinem Schreibtisch mitten durch, seine Augen waren groß, sein Gesicht verspannt. Sein Blick hielt sich in einer maschendrahtartigen Starre an ihr fest, die ihr das Gefühl gab, ertappt worden zu sein. Da wandte er den Kopf und stand schon wieder still. Von der Seite sah Pia seine Augen umherwandern, als kenne er sein Wohnzimmer nicht, wie jemand, den man in einem Escape-Room-Spiel dort ausgesetzt hatte. Gegen den schwarzen T-Shirt-Stoff wirkte er noch blasser als sonst, sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Er schien nicht zu wissen, was er jetzt tun sollte.
      »Danke«, buchstabierte Pia zusammen, als sie sich erinnerte, dass sie ihrem Vater noch eine Antwort schuldete. »Ihr euch auch – tschüss!« Sie würgte ihn ab, ließ ihr Smartphone auf den Tisch gleiten und drängte sich gerade rechtzeitig an Adam vorbei, der schon die Tür zur Küche aufdrückte und nach der Uhr am Backofen zu schielen versuchte. Ihre Hand, die nach seinem Haar fasste, unterbrach ihn in seinem Vorsatz, denn kaum hatte sie sich ihm bis auf wenige Zentimeter genähert, da zog er ruckartig den Kopf zurück. Ihre Berührung an der Schulter war ein Kompromiss, den er duldete. Vorgeblich seiner Nähe wegen, diesmal in der Tat, um ein Hindernis in seiner Sichtachse zu bilden, lehnte sie sich ihm leicht entgegen.
      »Guten Morgen.« Den plumpen Versuch, ihm einen Kuss aufzwingen zu wollen, zertrat sie noch als Schössling unter seinem Blick, der die Bodenfliesen zählte. Sehr leicht fuhren ihre Finger nun doch in sein Haar, vollzogen eine Strähne bis in die Spitze nach, strichen ihm alle anderen aus den Augen, als er sich ruhig verhielt.
      »Morgen.« Ein raues Hauchen, mehr nicht.
      »Möchtest du –«
      »Wer war das?«
      Seine Augen sprangen zu ihr, bohrten sich in ihren Blick. Sie waren wie diese Glasnuggets mit matter Politur, die man als bunten Humus in eine Vase mit Kunstblumen schichtete. Pias Hand fuhr an Adams Schulter, suchte Halt. Kam das vom Rohypnol? Oder hatte er vielleicht wieder schlecht geträumt? Sie lächelte ihre Hand an, die seinen spitzen Schulterknochen nachfuhr. Er ließ es über sich ergehen wie ein Möbelstück, an dem man die Unversehrtheit der Lasur prüfte. »Nur mein Vater.« Sofort zog Adam eine Wand in seinem Blick hoch. »Er wollte noch einmal frohe Weihnachten wünschen.«
      Ihr Lächeln fand Adams Gesicht nicht mehr. Seine Augen hatten die Tore hinter ihm zugeschlagen, zu denen Pia keinen Schlüssel hatte.
      »Möchtest du frühstücken?«
      Er drückte sich an ihr vorbei in die Küche, ließ nur sein geschäftsmäßiges Nicken zurück.

Natürlich. Fünf Millimeter, vielleicht sechs, wie immer. Also noch mal von vorn.
      Pia seufzte in den Kühlschrank und nahm die Tupperdosen heraus, eine nach der anderen, stapelte sie in einem stabilen Berg neben dem Ceranfeld. Eigentlich hätte sie Etiketten anbringen müssen bei der Masse, die ihre Mutter ihnen gestern Abend aufgedrückt hatte. Klick, klack, sie öffnete die Kunststoffspangen und zog den Deckel ab. Zitronensaft und Honig, das Dressing nach Omas Rezept für das Rotkraut, Spiegelglanz auf den Christbaumkugeln, die Autorennbahn, die Lydi und sie sich gewünscht hatten.
      Die plötzliche Stille, als das Rauschen der Dusche verebbte, ließ sie wiedererwachen, als habe man sie mit ihrem leeren Akku ans Stromnetz angeschlossen. Na ja, wenigstens brauchten sie heute Abend nicht zu kochen. Und für morgen würde ihre Mutter bestimmt darauf bestehen, dass sie die Reste von heute vorbeibrachte.
      Pias Hände blieben um die Dose geschmiegt, als könne sie sich selbstständig machen, ihre Augen suchten ein wiederkehrendes Muster im Ornamentglas vor ihr, den Schlüssel. Tatsächlich, Adam hatte den ganzen gestrigen Abend und auch heute nicht mit seiner Mutter gesprochen. Das hätte sie mitbekommen müssen, schließlich waren sie die ganze Zeit über zusammen gewesen mit Ausnahme der paar Stunden heute Morgen, in denen Adams Handy ausgeschaltet auf dem Wohnzimmertisch gelegen hatte. Nicht ein Wort? Nicht einmal an Weihnachten?
      Sie drückte den Kunststoffdeckel auf den Kräuterquark, ließ die Paprikastreifen vom Teller in die Schüssel gleiten und den Saft abtropfen, versuchte ihr Glück mit einer neuen Tetristechnik im obersten Kühlschrankfach. Das war ganz allein seine Sache, das ging sie nichts an.
      »Adam!«
      Das Glas schepperte empört, als ihr die Box aus den Fingern glitt und auf dem Einlegeboden aufkam.
      »Adam!!« Ein scharfes Pochen schallte durch die Küche. »Ich weiß, dass du da bist.«
      Pia schlug den Kühlschrank zu, ihr Blick sprang reflexhaft zum Fenster über dem Herd, doch hinter dem trüben Glas hob sich kein Schemen dunkel ab. Die einzelnen Schläge folgten schneller aufeinander, schwollen einen Trommelwirbel gleich an.
      Als Pia durch die Tür ins Wohnzimmer lugte, sah sie ihn sofort, den Mann im Rollstuhl, der auf der Terrasse saß und mit der Faust gegen das Glas hämmerte. Sein Haar war so kurz geschoren, dass sein Schädel wie mit Leder überzogen schien, in dem die tiefen Falten neben seinem Mund, zwischen seinen Augenbrauen, auf seiner Stirn spannten. Die Tür war ihm im Weg, danach, sie zu beseitigen, trachtete sein ganzes Denken und Fühlen, auf die eine oder andere Art, die sein Zorn erdachte, der für ein ganzes Bataillon ausgereicht hätte. Pia kannte sie, diese Wut, sie kannte sie gut, wenn auch nicht in der Farbe, die zäh und vernichtend das Glas hinunterlief.
      Wenige Zentimeter vor der Kollision mit der Scheibe blieb die Faust des Mannes plötzlich in der Luft hängen, als habe jemand sie in einem unsichtbaren Netz gefangen. Seine Augen lagen unbewegt auf ihr, er schien durch ein übermannshohes Fenster das letzte Exemplar einer bald ausgestorbenen Spezies zu betrachten.
      Aber er war kein wissbegieriger Zoobesucher. Er war auf Beute aus, das verhehlte er nicht, als sich sein schiefer Mund zu einem Lächeln verzog, dem Lächeln eines Wolfs mit Zahnlücken. Als hätten seine Hände ein Eigenleben, fanden sie sich in einer fließenden, präzisen Bewegung, die Finger streckten sich, legten sich aufeinander in einer Geste des Bittens oder der Ehrerbietung, Namaste. Das anbiedernd respektvolle Senken des Kopfes nahm nur ein peripherer Teil ihres Gehirns war, ihre Blicke klebten an seinen Fingern wie an einer Venusfliegenfalle, an den Fingern, lang und schlank, blutbefleckt, mit Schwielen übersät unter der unerbittlichen Umklammerung der harten Kante eines Gürtels.
      Erst als ihre Hand sich um den kalten Griff schloss und die Tür aufzog, nahmen ihre Augen die Herausforderung an und setzten seinem bohrenden Blick eine Mauer entgegen.
      Das war er also.
      Pia hoffte, dass in ihrem Gesicht zu lesen war, dass er für sie nichts als ein fetter, haariger Käfer war, über dessen Leib sie mit der Nadel schwebte, um ihn ihrer Sammlung von Insekten seiner Art hinzuzufügen.
      »Ja – bitte?« Mein Name ist Heinrich, ich weiß von nichts.
      Aber natürlich ließ er sich nicht überlisten, und er spielte seine Rolle besser aus, als sie sich ihrerseits darauf verstand. Er wirkte hilflos, eingeschränkt, ein schwacher, alter Mann, der allmählich auch mental abbaute. Doch in seinem scheinbar dümmlichen Lächeln lauerte etwas, es blitzte aus dem Zwielicht, es spiegelten sich die Reißzähne eines blutrünstigen Wolfes darin, die er einem Fuchs durch die Kehle getrieben hatte, und nun schleuderte er den immer weiter erschlaffenden Körper hin und her, des Augenblicks harrend, da seine Beute an ihrem eigenen Blut ersticken würde.
      »Du bist also sein Mädchen.«
      Pia wurde speiübel unter der Anerkennung, die seine Züge verhärtete, und krampfte die Hand fester um den Türgriff, damit sie ihr nicht ausrutschte, als sein glühender Blick ihren Körper abtastete. Ihr Schweigen lockte ihn nicht weiter aus der Deckung, so zog sie die Maske ab und warf sie ihm vor die Füße.
      »Ich muss Sie bitten, zu gehen.«
      »Und wie willst du mich dazu bringen?«
      Das Flackern in seinen Augen jagte ein eisiges Prickeln durch ihren Nacken. Diesen Wahnsinn kannte sie, gespeist von verzweifelter Furcht – nicht von hasserfülltem Vernichtungswillen.
      Das unterdrückte heisere Husten katapultierte sie ins Hier und Jetzt zurück, in dem sich das Schulterzucken schmerzhaft in ihrem Kopf stieß, dieses Schulterzucken, das sie schon Hunderte Male gesehen hatte.
      »Wenn du ein Recht auf meinen Sohn hast, habe ich es ja wohl auch.« Aufhebung der letzten Illusion, Auftakt zum Duell.
      Pia stützte die Linke in den Türrahmen. »Nein, denn anders als bei mir wünscht er es nicht, Sie zu sehen. Gehen Sie jetzt bitte.«
      Sein siegesgewisses Grinsen war brechreizerregend. »Ich weiß ja nicht, welche Lügen er dir über mich erzählt hat. Darin war er als Einziges immer wirklich gut.« In seinen Augen blitzte ein dunkel schwelendes Glühen auf. »Lass dich von ihm nur nicht täuschen, Mädchen, du weißt nicht, was er hinter seiner Fassade alles verbirgt.« Sein Kopf ruckte in Richtung seiner Schulter wie auch sein Mund, als leide er unter einem Tick. Verschwörerisch beugte er sich dann nach vorn, flüsterte hastig, wie um ihr eine geheime Formel anzuvertrauen, die nicht in falsche Hände geraten durfte: »Mein Sohn ist gefährlich. Er weiß nicht, wer er ist, weil er mehrere Persönlichkeiten in sich vereint, in die er sich bei Bedarf flüchtet. Ich habe ihn mit sich selbst reden hören, immer wieder, damals, wenn wir …«
      »Gehen Sie – oder ich lasse Sie entfernen.« Ihre Stimme raschelte trocken gegen ihren Gaumen.
      Er richtete sich nicht wieder auf, ließ den Anschein von Vertraulichkeit zwischen ihnen stehen. »Dann möchtest du die Wahrheit gar nicht wissen?« Das Grinsen bröckelte von seinen Zügen wie getrockneter Schlamm. »Sei nicht dumm, Mädchen. Wenn wir uns näher kennenlernen, werde ich dir erzählen, was er dir wie allen anderen Frauen auch …«
      »Was Sie hier machen, fällt unter den Straftatbestand des Stalkings.«
      Sein Lachen war ein hässliches Meckern. »Ah, eine Hysterikerin! Na, das passt ja hervorragend zu ihm.«
      »Nein – vom Fach.«
      »Verstehe.« Sein Geierkopf vollzog ruckartig einen Halbkreis, als wolle er vor ihr ausspucken. Er bleckte abschätzig die Zähne. »Das hätte ich gleich wissen müssen.« Für eine Sekunde klang seine Stimme träumerisch, hieb dann blind los wie ein stumpfes Beil auf einen Hackklotz. »Außerhalb des Bereichs, in den ich ihn mit aller Mühe hineingehievt habe, würde er es doch niemals zu einer solchen Frau bringen.«
      Sie schrak zusammen, als ihre Linke eisig umschlossen und mit einem bestimmten Griff vom Türrahmen gelöst wurde. Ein entschiedener Gegendruck hinderte sie daran, ins Schwanken zu geraten, als ihr auf diese Weise der Halt genommen wurde.
      »Geh in die Küche.«
      »Was?« Pia konnte Adam nur fassungslos anstarren, der sich ohne ein Geräusch neben sie geschoben hatte und seinen vernichtenden Blick nicht von seinem Vater wandte. »Kommt nicht infrage.«
      Adams Gesicht war aus Stein, er schien jede Emotion aus seinem Herzen gerissen zu haben. Das war das Antlitz des Frontkämpfers.
      Sie ließ automatisch den Türgriff fahren, als Adam sie, ohne ihr wehzutun, mit einer Kraft hinter sich schob, gegen die sie niemals angekommen wäre.
      »Geh – und schließ dich ein.«
      Sogar durch den Stoff seines Troyers stachen Adams Schulterblätter, seine Schulterknochen wie frisch geschliffene Klingen hervor, der eiserne Muskelstrang in seinem Nacken warf sich undurchdringlich auf. In dem Augenblick, da sie nachgab, lockerten sich seine Finger um ihr Handgelenk.
      »Du verschwindest jetzt sofort, oder wir –«
      Die Tür ließ das Eis von Adams Stimme nicht weiter in die Küche vordringen. Den Schlüssel drehte sie natürlich nicht herum, doch heftete sich ihr Blick auf die Klinke und bewegte sich keinen Millimeter, als sie sich in die Ecke drückte, in die sonst Adam vor ihrer Nähe, ihren Berührungen, ihren Worten floh. Das Rauschen des Kühlschranks legte sich über ihren Herzschlag, von außen drang kein Laut herein, auch von der Straße nicht. Es war, als befinde sie sich in einem schalldichten Raum.
      Pias Brust krampfte, als ihr der Atem in den Lungen stockte. Was, wenn sein Vater Adam mit einem versteckt gehaltenen Messer verletzt, ihm mit einer Waffe mit Schalldämpfer eine Wunde beigebracht hatte? Pia tastete ihre Taschen ab. Verdammt, ihr Handy lag noch auf dem Wohnzimmertisch.
      Sie hatte gerade zwei Schritte gemacht, da schob sich die Tür auf, schloss sich sofort wieder. Wie zwei Kühlakkus legten sich Adams Hände um ihre Rechte und streichelten sie, sein Blick, der sich unverwandt an seiner Bewegung festhielt, war eine Bitte um Vergebung. Vorsichtig ließ Pia ihre freie Hand auf seinen Arm sinken, schob sie sachte hin und her.
      »Was wollte er?«
      Adams knappes Kopfschütteln war unwirsch. Er war noch nicht wieder ganz bei ihr.
      »Wie bist du ihn losgeworden?«
      Ihre Frage hing wie ein nasser Lappen an einer unsichtbaren Wäscheleine über ihnen. Adams Finger liebkosten weiter ihren Handrücken, er schien sich an etwas festhalten zu müssen, um sich nicht aufzulösen. »Ich habe ihm gesagt«, schob er dann hinterher, als habe er vergessen, dass er ihre Frage hatte vergessen wollen, »dass ich ihn umbringe, wenn er noch einmal hier auftaucht.«
      Pia schluckte ihr Entsetzen hinunter, der bittere Nachgeschmack blieb in ihrem Rachen hängen. Ihre Augen lagen starr auf Adams Gesicht, aus dem die letzte Farbe gewichen war. Als sich ihre Hand an seine Wange stahl, zuckte er unter ihrer Berührung davon, sein Blick blieb zu Boden gerichtet. Hastig hielt ihre Hand seine zurück, die sich um ihre Rechte lösen wollten.
      »Adam –« Pia schüttelte den Kopf. »Warum hast du mich ihn nicht einfach vertreiben lassen?«
      Als seine Augen zu ihr sprangen, sich in ihren verhakten, zog sie beinahe den Kopf zurück. Zwei Abgründe im tiefsten Ozean. »Er ist unberechenbar.« Nur seine Sekunde, dann fing sich Adams Lächeln spitz und scharf im Küchenfenster in ihrem Rücken. »Wie der Vater, so der Sohn.«
      Als er sich aufrichtete und sich ihren Händen entzog, folgte Pia ihm und legte die Arme um ihn. Sofort waren da seine Finger auf ihrem Rücken, ihrer Seite, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, schon spannte sich sein Körper wieder an, bevor Pia seine Nähe schlürfen durfte. Ganz so, als seien ihre Arme eingeschlafen, entließ sie ihn schwerfällig aus ihrer Umfassung. Sein Duft wollte sie entschädigen, lockte sie und war doch kantig und sperrte sich, wie seine Fingerspitzen, seine Brauen, die spiegelnde Oberfläche seiner Augen. Sie zog sich zurück, aber seine Lippen auf ihrer Wange, trocken und kühl, bremsten ihre Bewegung, ließen sie willenlos halb an ihn gelehnt verharren. Ihr Blick stieß sich mit seinem wie Billardkugeln an der Bande, sein Lächeln war abgeschnitten wie das kurze Vlies an einem Roulettetisch.
      »Sollen wir einen Spaziergang machen?«
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