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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
06.03.2022 4.214
 
Vielen Dank Euch allen, die Ihr meine Geschichte verfolgt, das freut mich wirklich ungemein!
      Hier kommt das nächste Kapitel. Es wird übrigens auch einmal wieder etwas mehr passieren, versprochen, ich versuche nur gerade, die Kurve zu kriegen von Adams Zustand vom Ende des zweiten Teils zu dem, was ich mit ihm noch so vorhabe :-). Aber Achtung: Trotz recht wenig Handlung geht es erneut um das Thema Sucht. Passt bitte auf Euch auf.
      Viel Vergnügen Euch in jedem Fall beim Lesen!
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Kapitel 5 – Daunenstreicheln

Die fast bis zum Saum tropisch grün bewachsenen Felsen ragten, sich ihrer majestätischen Wirkung durchaus bewusst, selbstsicher aus dem dunkeltürkisfarbenen Wasser. Sie waren bald schroff, bald wie von überdimensionalen Händen geformt und sorgfältig abgerundet, wohlgefällig für das Auge, ein bisschen wie Zuckerhüte, doch mit einer liebenswerten Zufälligkeit übergossen. Es waren ein paar mächtige Einzelgänger darunter, doch die meisten erhoben sich In einem zärtlichen Rhythmus, in einer halben Umarmung im Wiegeschritt einander zugewandt aus den glatten Fluten, wo sie gerade nur als Schmuck dienen konnten, ohne aufdringlich zu erscheinen in der Dichte ihres Beisammenseins.
      Genau so fühlte sie die Wärme unter ihrer Hand, die Wärme des Arms um ihre Schulter, des Körpers an ihrer Seite, bald ein wenig dichter an den ihren geschmiegt, bald ein wenig von ihr entfernt, wenn die von der Schiffsschraube gespaltenen Wellen gegen den schmalen Bootsrumpf klatschten und sie in ihrem unsicheren Stand schwankend auseinandertrieben –
      Widerstrebend wandte Pia die Seite um, sie wollte sich nicht so rasch von diesem Bild grüner Glückseligkeit verabschieden. Wenigstens entschädigten sie die kaffeebraunen Kulleraugen eines Affen, der ertappt in die Kamera blinzelte, immerhin ein wenig.
      »Hast du gewusst, dass es Goldkopflanguren gibt?« schallte ihre Stimme über den Flur.
      »Hm?«
      »Goldkopflanguren – sieh mal.« Ihr Zeigefinger wies geradewegs auf den spitz zulaufenden Fellschopf auf dem Kopf des Tieres. Wenn sie so darüber nachdachte, war das flammende Gold beinahe vom gleichen Ton wie Adams Haare, ein wenig rötlicher und ein wenig heller vielleicht.
      Die Matratze senkte sich unter ihr, sie fühlte Adams warmen Körper als feste Stütze in ihrem Rücken, schauderte unter dem leichten Kuss auf ihrem Scheitel, dann war da seine große Hand, die die ihre umfasste, sicher und spielerisch und warm diesmal zwischen ihre Finger fuhr, seine Lippen auf ihrem Handrücken, sein Atem an ihrem Hals, als sie ihn umschlang –
      Pia seufzte. Sie ließ das aufgeschlagene Buch auf ihren Bauch kippen und starrte die unbeugsame Decke an, unbeugsam wie das Stahlkorsett, das Adam einengte und ihm keinen Raum ließ, frei zu atmen, sein Herz rascher schlagen zu lassen.
      Warum konnte es nicht einfach einmal leicht sein, unbeschwert – normal? Früher hatte sie über Stagnation und Nulllinie und Bürgerlichkeit gespottet und großmäulig verkündet, das sei nichts für sie. Aber da hatte ihr Herz noch nichts von Adam gewusst.
      Kein Kuss vor dem Aussteigen in der Seitenstraße. Keine Umarmung nach dem Zufallen der Wohnungstüre und noch einmal, den Mantel schon in der Hand. Keine Nasenspitze, die sich in ihrem Haar vergrub, um sich dort aufzuwärmen, keine Lippen, die die Kontur ihres Halses nachzogen.
      Pia lauschte. Wenigstens war Adams Impuls, sich den Abdruck ihrer Familie noch vom Leib waschen zu müssen, auch nicht ausgeprägter als sonst, er hatte zumindest nicht länger geduscht als gewöhnlich.
      Aber es hatte ihn angewidert – alles: Die Schnittlauchröllchen auf der Tomatensuppe. Das billige Funkeln von Lydis falschem Collier. Das überzufällig beliebige Flackern des elektrischen Lagerfeuers an der Krippe. Sogar die gelierte Marmelade der Spitzbuben. Adams helle Augen hatten alles abgetastet und sofort auf einer imaginären Inventarliste erfasst. Kein Reflex an den Christbaumkugeln, kein Glattstreichen eines Rocks oder Ärmels hatte sich vor seinem Blick verbergen können. Mit jedem Nicken, jeder Kopfwendung hatte er sein Lächeln neu auf seine versteiften Züge tackern müssen. Da war es beinahe ein Glück gewesen, dass er die Bratenplatte fallen gelassen hatte. Wenigstens hatte die ganze Farce danach ein Ende gefunden.
      Auf der Rückfahrt von ihren Eltern hatte sie anfangs trotzdem noch versucht, sich gemäßigt ausgelassen zu geben, heiter in wohlige Festtagsstimmung gehüllt, wie man sie noch nach Hause trug, wenn alle Kerzen schon längst abgebrannt waren. Doch auf sein »Mhm.«, »Ach so?« und Kopfschütteln war der rissige Goldlack immer weiter abgeblättert, zuletzt in großen, an den Rändern ausgerissenen Fetzen, bis sie schließlich in ein Schweigen verfallen waren, das so steril und düster gewesen war wie der Innenraum von Adams Auto und das sie bisher nicht gebrochen hatten.
      Mit dem Zeigefinger zeichnete Pia den in asiatischer Schlichtheit auf dem Buchrücken prangenden Schriftzug nach. Vietnam. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, sich noch vor kaum drei Wochen ein Buch über ihr heimliches Traumziel zu wünschen? Ihre Augen flogen den schmalen Zierspiegelstreifen am Schrank entlang, von links nach rechts, von rechts nach links. Aber genau genommen änderte das auch nichts. Sie hätte auf jedes Geschenk zu Weihnachten verzichten können und es wäre auf dasselbe hinausgekommen. Es war alles gleichgültig – gleich unlösbar, gleich verfahren, gleich beschissen.
      Pia fuhr sich mit einer Hand in die Haare und ließ sie auf ihrem Hinterkopf liegen, während sie tief ein- und gleich wieder lang ausatmete – 4-7-8, oder wie war das gewesen? Luft holen, Luft anhalten, Luft ausströmen lassen, alles ruhig und gemächlich, der Achtsamkeit auf den Fersen. Wenn man sich diese Techniken nur auch einmal im Detail merken könnte. Sie schloss die Augen, legte die andere Hand auf ihre Brust. Sie hätte es besser wissen müssen, sie hätte Adam niemals fragen dürfen. Sie hätte ihn einfach seiner Vorstellung von Weihnachten nachgehen lassen, ihn nicht daran hindern sollen, Akten zu wälzen, Datenbanken auf den Kopf zu stellen, Profile abzugleichen, ihm nicht den festen Boden entziehend, der ihm als letzte Planke inmitten einem von einer nächtlichen Sturmflut gebeutelten Meer noch geblieben war.
      Ihren nächsten tiefen Atemzug kappte sie mittendrin und lauschte – einmal, zweimal, dreimal, das Knacken von leichtem Kunststoff und mikrometerdünnem Metall. Einmal, zweimal, dreimal, ohne mehr Pause dazwischen, als routinierte Handgriffe es verlangten. Einmal, zweimal, dreimal, ihr beider Urteil, ohne Bewährung.
      Ihre Lider senkten sich, als wollten sie, gleich Theatervorhängen, die sie auf der Bühne einschlossen, die Wirklichkeit des Zuschauerraums, der Welt da draußen ausblenden. Pia kämpfte damit, den Knoten in ihrer Brust hinunterzuschlucken, der dröhnend wirbelte wie ein Wespennest. Wieder sah sie die blaue Stichflamme vor sich, die in Adams Blick in die Höhe geschlagen war, als sie ihn dabei überrascht hatte, wie er zum Rohypnol gegriffen hatte, damals, als sie zum ersten Mal bei ihm übernachtet hatte. Mein Gott, wie lange lag das zurück – und wie lange unterwarfen sie beide sich schon der Herrschaft der krank grünen Tabletten, nahmen ihre perfide jeden Lebensbereich infiltrierende Macht stillschweigend für sich an, ohne jedes Aufbegehren, ohne auch nur einen noch so kleinen Versuch dazu zu unternehmen. Sie rang um Fassung, wollte sie aus der Schwärze vor ihren Augen ziehen, dann klatschte sie das Buch zu und gab auf. Hastig rollte sie sich herum und beugte sich über die Bettkante, um den Bildband auf den Nachttisch zu legen. Sie knipste die Lampe aus, gerade rechtzeitig, um ihre Tränen vor dem Spiegel, vor sich selbst und vor Adam zu verbergen. Sie wusste, dass er im Türrahmen stand, ohne ihn zu hören natürlich, ohne hinsehen zu müssen.
      »Kann ich ausmachen?«
      »Klar.« Ein bisschen zu eilfertig, ein bisschen zu enthusiastisch, aber das Deckenlicht erlosch ohne jede Rückfrage, bot ihr schweigende Komplizenschaft. Sie wälzte sich auf den Rücken und lauschte. Es war ihr unbegreiflich, wie man so gar kein Geräusch beim Gehen machen konnte. Wenn er sich nicht schließlich durch das leise Quietschen der Bettfedern bemerkbar gemacht hätte, hätte sie annehmen müssen, er sei einfach dort stehen geblieben, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Es war mit ihm genau so, wie sie es bei Amelies Perserkatze erlebt hatte. Wenn sie bei Lydis Freundin auf dem Bett gesessen hatten, hatte Pelu sich jedes Mal einen Spaß daraus gemacht, ohne jeden Laut ins Zimmer zu schleichen, genauso geräuschlos mit einem Satz auf dem Bett zu landen und dann Lydi oder Pia aufschreien zu lassen, wenn sie ihnen aus dem Nichts heraus auf den Rücken gesprungen war. Tatsächlich hatte diese hinterhältige Eigenheit der Palastschönheit ihren gemeinsamen, über lange Jahre gehegten Wunsch nach einer Katze doch merklich geschmälert.
      Die Decke raschelte, als Adam sie anhob. Wie immer glitt er flach darunter, als habe er im Artilleriebeschuss an der Front gelernt, den Kopf nicht zu hoch zu nehmen, und doch streichelte ein leiser Luftzug Pias Gesicht. Sie wandte sich auf die Seite und robbte zögerlich ein wenig zur Mitte der Matratze, da war plötzlich Adams Hand, die nach ihrer Schulter tastete. Ob Halt oder Bestätigung suchend, ob lediglich ein Netz vorgeblicher Ruhe webend, das sie fangen sollte – Pia konnte es nicht einordnen. Adam gab keinen Laut von sich, seine Bewegungen waren unauffällig, wie immer. Sie willigte ein, ließ ihm keine Chance, sich zurückzuziehen, und schob sich über seinen Arm, den er auf der Matratze abgelegt hatte, streichelte mit dem Kopf einmal, zweimal seinen Bizeps, bevor sie sich an ihn drückte. Seine Hand kam scheu zwischen ihren Schulterblättern zu liegen, die andere fand ihre Taille. Ankerpunkte. Langsam. In Gewohnheiten Stärke finden lassen.
      Vorsichtig drückte sie mit der Stirn sein Kinn ein wenig nach oben, mit sich vorwärtspirschenden Lippen hauchte sie einen Kuss kaum einen Fingerbreit über seinen Kehlkopf und zog sich sofort zurück. Er hat mich mit einem Nylonseil stranguliert. Abwartend verharrte sie in der Dunkelheit, nur so wenige Zentimeter von Adams Haut entfernt, dass sie seine Wärme an ihrem Gesicht fühlen konnte. Da schlossen sich seine Arme enger um sie, seine Hand wanderte ihren Nacken hinauf, Schutz versprechend und zugleich in einer Selbstverständlichkeit besitzergreifend, die sie schaudern machte. Adams lange Finger drangen in ihr Haar vor, sein Streicheln passte nicht zu ihrem Atem. Sie versuchte, ihrem Körper die Zügel anzulegen, holte tief Luft. Adam war so ungewohnt feuchtwarm an ihrem Körper, sie liebte es. Wie durfte sie seine Liebkosungen erwidern, ohne ihn zu verschrecken? Ihre Hand wanderte zu seiner Brust, fragend, zaudernd, schmiegte sich dann flach an seine Wärme, was ihm einen langen Atemzug entlockte. Ruhiger und ruhiger wurde das Heben und Senken unter ihren Fingern, regelmäßig, seine Hand, nun wieder auf ihrem Rücken, zog zunehmend kleinere Kreise.
      Pia horchte auf jedes Geräusch, das von ihm kam, witterte nach jeder Regung. Er lag beinahe unbewegt an sie gedrückt in der Schwere, die hinter dem Vorhang des vom guten Benehmen überzuckerten Blaus in seinem Blick gestanden hatte: Als Pia die Geschenke verteilt hatte. Als Lydi mit dem wiederaufgefüllten Plätzchenteller hereingekommen war. Als ihr Vater auf das Sofa geplumpst war und den Christbaum angelächelt hatte. Pia fühlte, wie diese Schwere auf sie niedersank, sich zwischen ihre Rippen hineinschmolz und diese miteinander verklebte, ohne ihr die Chance zu lassen, weiter Atem zu schöpfen.
      Adam schlief nicht. Er war so weit wie nur irgend möglich davon entfernt, einzudösen. Offenbar gab ihm seine Intuition, seine Rücksicht, vielleicht auch ein Hauch von Zuneigung für sie ein, sein Theaterstück noch zu Ende bringen und sich wenigstens so lange zusammennehmen zu müssen, bis sie eingeschlafen wäre.
      Unwirsch streifte sie seine Arme ab, sofort ließ er seine Tarnung fallen und löste seine sanfte Umfassung. Unter ihren Fingern fühlte sie seine Überraschung, als sie ihn mit der einen Hand niederhielt, während sie blind nach dem Lampenschalter tastete. Es knipste, das Licht flammte auf, ein warmer, sanfter Schimmer von einem Schimmer bloß, der sich scharf in Adams Augen fing und Schatten in den Tälern zwischen den Falten auf seiner Nasenwurzel zeichnete, als er ihre Bewegungen beobachtete. Sie setzte sich auf und schnellte gerade rechtzeitig nach vorn, um ihn daran zu hindern, es ihr gleichzutun. Bis in ihre Hand auf seiner Schulter drang das leise Zittern seiner Brust vor, als er langsam auf eine Weise ausatmete, wie nur er es konnte, jedes bisschen Luft aus seinen Lungen strömen lassend, dass sein Körper richtiggehend in sich zusammenfiel. Dicht beugte sie sich über ihn, doch war es, als suchten seine Augen die Lichtquelle in ihrem Rücken. Er kämpfte gegen den Impuls an, der in ihm aufwallte, das fühlte Pia, aber er konnte den leisen Ruck nicht unterdrücken, der ihn durchfuhr, als sie ihm eine Hand auf die Wange legen wollte. Nur eine Sekunde später drehte er sich auf den Rücken wie sie zuvor und wandte in einer erstaunlich überzeugenden Zufälligkeit das Gesicht von ihr ab. Sofort zuckte sein Kopf jedoch zu ihr zurück, als sie sich an Adam heranschob und sich links und rechts von ihm auf der Matratze abstützte. Sein Blick aber schien an ihr vorbei Ausschau nach einem möglichen Indiz an der Zimmerdecke zu halten.
      Ihr Herz verfiel in einen stolpernden Galopp, die Haut ihrer Wangen brannte, als sei sie nach einem langen Winterspaziergang in ihre geheizte Wohnung zurückgekehrt. Wie Adam so unter ihr lag, angespannt und darum bemüht, sich möglichst wenig zu regen, um jeden Kontakt zu ihren Händen neben seinem Körper zu vermeiden, schlug sein Anblick sie in einen Bann, dem sie widerstandslos erlag. Adam sah nicht einfach gut aus – er war schön. Sein Atem ging flach und ein wenig zu schnell, doch das indirekte Licht zeichnete sein Gesicht weich, goss ein goldenes Leuchten über seine Haut. Die sanfte Helligkeit rundete die Kante seines Kiefers ab, fing sich im perfekten Schwung seiner Lippen. Nein, jetzt zu versuchen, ihn zu küssen, wäre einem Frevel gleichgekommen. Adams Körper, seine Seele waren glatt gemeißelt, sie würde wieder daran abgleiten wie bei ihrer ersten Begegnung, wie zu den vielen Gelegenheiten, da sie versucht hatte, ihm einen Kuss zu entlocken, und er sich ihr zu entziehen gewusst hatte, mal bestimmt und ausdrücklich, mal in Form eines flüchtigen Beiseitetretens oder einer vagen Drehung des Kopfes. Ihre Zungenspitze schob sich zwischen ihre Lippen, versuchte, das Prickeln abzulöschen, das die Erinnerung an die heißen, drängenden Bewegungen seines Mundes an ihrem in der Dunkelheit seiner Verzweiflung dort aufbranden ließ. Ob ihm überhaupt bewusst war, welcher Drang sie schüttelte, wie sehr sie sich nach seinen Berührungen verzehrte?
      Pia zog die Lippen nach innen, versuchte, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie ein Lächeln darauf zwang, das steif in ihren Mundwinkeln war, sich aber schnell in die Breite zog wie nach einem ungeschriebenen Naturgesetz, in dem Maße, wie ihre Blicke über Adams Gesicht, seinen Hals, seine Brust wanderten. Ihre Augen lechzten danach, seinen ganzen Körper abzutasten, sie hätte Stunden damit zubringen können, ohne irgendeiner anderen Sache zu bedürfen. Aber sie blieb hinter der von ihm gezogenen Demarkationslinie stehen, wagte es nicht, sie auch nur um einen Fußbreit zu übertreten, und Adam tat es ihr gleich. Noch immer hatte er sich zwischen ihren Armen nicht bewegt, für einen kurzen Moment überkam sie sogar die Sorge, er könne aufgehört haben, zu atmen. Sein schwarzes T-Shirt hob sich scharf gegen das cremefarbene Laken ab, das genauso glatt wie seine Haut war. Pias Finger zitterten, als sie die Hand ausstreckte, fuhren unbeholfen in die luftigen Strähnen in seiner Stirn, zupften gedankenverloren daran. Seine Haare waren immer so seidig, wenn er sie frisch gewaschen hatte. Der im warmweißen Licht träumerische Ausdruck wich nicht aus seinen Augen, als sie jede ihrer Bewegungen zu verfolgen begannen. Adam wollte ihre Gesten, Empfindungen, Fragen, Zärtlichkeiten lesen und so viel mehr, was sie nicht verstand. Wieder einmal hatte er den Stacheldraht seiner Sprachlosigkeit zwischen sie gespannt.
      Da sprangen seine Augen zur Tür, er versteifte sich noch ein wenig mehr, als sie behutsam die Finger um sein Gesicht legte. Sein Kopf ruckte in die gleiche Richtung wie sein Blick, doch hatte Adam sich sofort wieder im Griff und ergab sich ihrer Berührung. Seine Brust ließ ihren Arm auf eine gehetzte Berg- und Talfahrt gehen, dann lag er still. Ihr Daumen streichelte seine Wange, während sie sich dichter zu ihm herabbeugte. Der Duft seines Sportduschgels entbot ihr den Gruß, den Adam ihr verweigerte, schlug eine Brücke der Vertrautheit zwischen ihnen.
      »Was ist los, Adam?«
      Eine ihrer Hände flog zu seiner Brust, nicht auf dem Weg über den Hals, auf keinen Fall. Mit zwei Fingerkuppen streichelte sie sein Brustbein, ruhig, eine Sicherheit versprechend, die er nicht kannte und nicht nachvollziehen konnte. Seine Augen verirrten sich, verstummten, verhärteten.
      »Es war alles ein bisschen viel, hm?« versuchte sie, ihn aus der Ecke zu locken, in die er hineingeflohen war. Zu spät. Er drehte den Kopf ein wenig von ihr weg in Richtung der frei gewordenen Gesichtshälfte, schien durch die geschlossene Tür hindurchsehen zu wollen.
      Sie wusste das Rucken seines Kinns als Nicken zu interpretieren. »Vielleicht.« Er klang wie im Präsidium, als habe Leo eine Theorie zu einem Verdächtigen geäußert.
      Pias Seufzen ging im Rascheln der Bettdecke unter, als sie auf ihre Seite zurückrutschte und das Licht ausknipste. Genug.
      »Es wird immer besser werden, du wirst schon sehen.« Sie strich die Decke über Brust und Bauch glatt wie die Tischwäsche an einer langen Tafel. »Man gewöhnt sich schnell daran, wie es ist, irgendwo dazuzugehören – versprochen.«
      Das ewige Blitzlichtgewitter der weißen Blutkörperchen vor der Netzhaut, Muster zeichnend, denen man nicht folgen konnte, der Wellengang des eigenen Atems. Sie betrog sich selbst und Adam nicht minder. Sie tat, als liege sie allein hier, dabei kam sie nur mühsam gegen den Impuls an, den Kopf zur Seite zu drehen, um Adams mit der Dunkelheit verschmolzene Konturen nachzuzeichnen. Doch er spürte es immer, wenn man ihn ansah. Kein Laut, kein Geräusch drang an ihr Ohr, nichts. Es war Zustimmung, Dementierung und Resignation in einem.
      Als suche sie nur eine bequeme Schlafposition, wandte sie sich mit einem tiefen Einatmen auf die Seite. Einen Arm, die Handfläche nach oben, schob sie als von der Nacht gedecktes Zeichen auf ihn zu. Ein Schleifen begleitete ihre Bewegung, schnitt die Schwärze in ein Innen und ein Außen. Ihre Augen konnten das Gleiten ihrer Hand nicht ausmachen und fingen sich am Aufbäumen des dunkeln Hügels vor ihr, als Adam sich auf die Seite drehte. Sofort lief ein Kribbeln über ihren Körper, eine seiner kühlen Fingerkuppen huschte über ihren Ringfinger. Schon streiften seine anderen Finger ihren Mittelfinger, ihren Zeigefinger, fuhren ihre Hand entlang bis zum Ansatz ihrer Finger. Sie hielt den Atem an, als seine Finger denselben Weg zurückverfolgten, regte sich nicht. Es war wie bei einem wilden Fuchs, der sich entschlossen hatte, ihr zum ersten Mal aus der Hand zu fressen, und noch mit sich rang, ob er nicht doch lieber wieder seine Freiheit suchen sollte. Doch Adams Finger kehrten zurück, ihre Hand öffnete sich, als er ihre Handfläche fand und so leicht liebkoste, dass sie schauderte. Schon versenkten seine Finger sich wieder in der Falte an ihrem Fingeransatz, und er ließ es geschehen, dass sie ihn einfing. Ihre Finger verhakten sich, mit dem Daumen nur fuhr sie das unterste Glied seiner Finger nach. Reglos und kalt lagen sie in ihrer Hand, nur allzu gern hätte sie sie warm gestreichelt, gehaucht, geküsst. Adam gab nach, als sie seine Hand näher zu sich zog und an ihrer Brust zwischen ihren beiden einschloss. Da schlich sich sein Arm auf ihre Schulter, schwer und behütend, und doch nicht einengend. Wie als Antwort auf seinen scheuen Vorstoß schob sie die Hand unter seiner Umfassung durch, fühlte seinen Körper bis zu einer für sie beide unsichtbaren Wand zurückweichen. Als versuche sie, seine Rippen, seinen Rippenbogen mit ihren Bewegungen abzurunden, glitten ihre Fingerspitzen wie über einen Seidenstoff seine Seite entlang, streichelten seinen Atem ruhig und tief.

Noch nicht. Eine Minute noch, vielleicht zwei.
      Im Schlepptau ihres langen Atemzugs schob sich Pias Hand in einem Automatismus vor ihrem Körper nach oben, traf nicht auf das, wonach sie suchte. Das Laken war glatt und weich an ihrer Haut – und kühl.
      Sie zwang sich nun doch, die Augen zu öffnen. Seitdem sich das farblose Licht des frühen Morgens in das Zimmer hineinzuwagen begonnen hatte, war sie schon viel zu oft wieder in die dunklen Fluten des Schlafes hineingesprungen, ohne noch einmal in der schwarzen Wärme baden zu können. Jetzt hielt sie bewusst den Kopf über den glatten Spiegel der sanften Wogen und blinzelte ein paarmal.
      Adams Schulter, eng von der Wolldecke umschlungen, hob sich gemächlich und gleichmäßig, senkte sich ruhig wieder. Pia streckte den Arm durch und fuhr mit der Hand über die duftige Weichheit, ohne Druck auszuüben. Sie musste lächeln. Halt einfach mal deine Fresse, ja? Wie weit war der Weg von diesem Adam in seinem ersten Wortwechsel überhaupt mit Esther und ihr, als er von einem Zorn ohne Raum und Zeit so vereist gewesen war, dass jeder Blick, jede Entgegnung an ihm abgeglitten waren, zu dem Adam, der jetzt hier vor ihr lag, ruhig, sich in einem seltenen Moment in Sicherheit wähnend, eingehüllt in eine so flauschige Decke, wie sie nie eine besessen hatte. Wann hatte er sich eigentlich unter ihrer gemeinsamen Decke herausgestohlen und sich seine eigene gesucht? Als Pia den Arm zurückzog, raschelte es, sie hatte Adams Kissen gestreift, das zerdrückt zwischen ihnen lag. Am liebsten hätte sie es ihm, der sich davon heruntergerollt hatte, untergeschoben. Der abenteuerliche Winkel, in dem sein Kopf auf die Matratze traf, hätte ihren Nacken in eine starre Säule verwandelt, doch Adam lag vollkommen unbeeindruckt reglos. Wann hatte er sie losgelassen, sich von ihrem Arm befreit und ihr den Rücken zugekehrt? Und warum hatte sie es nicht bemerkt?
      Für eine Sekunde hielt sie die Luft an. Der silbergraue Hügel vor ihr rührte sich gar nicht mehr, da rauschte die Stille plötzlich wieder unter einem Atemzug, flacher als zuvor. Offenbar war Adam schon wieder aus der Tiefschlafphase ausgestoßen worden.
      Ihre Hand sank auf das Laken zurück, ihre Augen folgten der nun schneller aufsteigenden und abfallenden Kontur von Adams Schulter. Er war irgendwann unter ihrem Arm zusammengeschreckt, nicht so schlimm, wie sie es schon erlebt hatte, aber stärker als letzte Woche, als er sie gebeten hatte, die Nacht über bei ihm zu bleiben. Es musste wenige Minuten gewesen sein, nachdem sie zu Bett gegangen waren, denn er hatte sie aus dem Zustand hervorgeholt, in dem man, auch wenn man die Gedanken auf etwas Positives zu lenken versucht, im willkürlich durcheinanderwirbelnden Potpourri der Bilder des Tages und aufgeschobener Grübeleien abtaucht. Für einen Moment hatte sie noch gehofft, der heftige Ruck, der durch seinen Körper gefahren war, sei nur das Zusammenzucken am Tor zum Einschlafen gewesen, wie es jeder von sich kannte, wenn man vor sich eine imaginäre Wand aufragen sah und nicht mehr bremsen konnte oder auf ein großes Loch zusteuerte, das doch nur in einer vom Unterbewusstsein ausgespuckten Vorstellung existierte. Aber Eindrücke wie diese hatten Adam nicht durchzuckt, sie hatte gleich damit aufgehört, sich etwas vorzugaukeln. Er hatte eine hastige Entschuldigung gewispert, ein warmer Luftzug war über ihr Gesicht geweht, seine Lippen hatten mehr als Ahnung denn als Gewissheit auf ihre Wange getroffen. Doch bevor Adam sie ernüchtert im unerfüllten Wunsch nach Mehr hatte zurücklassen können, hatte sein Atem ihn verraten. Ein gepresster Stoß war in ihr Haar gefahren, als er seinen Kopf zurechtgelegt hatte. Pia hatte sich in seiner Schule geübt, hatte reglos verharrt, doch er war ihr über gewesen, wie immer, kein Atemzug hatte sich mehr seiner Kontrolle entzogen. Beide hatten sie die Zugabe ihres Theaterstücks ausgespielt, hatten ihre vor dem Einschlafen gewählte Position wieder eingenommen und sich wort- und bewegungslos belogen. Nach einigen Minuten war Adam sich seiner Sache schließlich so sicher gewesen, dass er hart geschluckt hatte, was kantig in ihrer Brust widergehallt hatte. Sie war nicht weiter in ihn gedrungen, nicht aus ihrer Rolle gefallen, hatte es sich aber nicht nehmen lassen, ihren Daumen über seinen Rippenbogen gleiten zu lassen.
      Später, es musste schon gegen Morgen gewesen sein, denn die Umrisse von Tür und Schrank hatten schon die schmeichelnde Weichheit der Nacht hinter sich gelassen, da war sie davon aufgewacht, dass ihr Arm eingeschlafen war. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie den Kopf gehoben, vielleicht sogar gestöhnt, jedenfalls hatte Adam sofort den Arm von ihrer Schulter genommen, abgewartet, bis sie sich zurechtgelegt hatte, um sie dann wieder genau so zu umfassen wie zuvor. Er hatte es nicht einmal mehr darauf angelegt, sie glauben zu machen, ihre Bewegung habe ihn erst aufgeweckt. Wie lange hatte er davor wohl schon wach gelegen und wie oft danach noch? Wann war er endlich eingeschlafen?
      Erneut hielt Pia den Atem an, sie drückte sich so langsam von der Matratze hoch, dass sich die Bettfedern nur mit einem sehr leisen metallischen Hall dehnten, dann beugte sie sich über Adam. Seine Wimpern betteten sich auf angestrengte Schatten, nicht auf denselben makellosen Schimmer wie auf seinen Wangen. Viel zu spät, beantwortete sie sich ihre letzte Frage selbst.
      Sie senkte die Lippen auf die weichen Fasern über seiner Schulter, dann schob sie sich rückwärts, so katzengleich wie möglich. Von der Schwelle zum Flur aus tauchte sie für einen Moment in das reglose Spiel von Licht und Schatten auf Adams Gesicht ein, bevor sie die Tür zuzog.
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