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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
16.02.2022 4.138
 
Hallo, meine Lieben, und ganz herzlichen Dank für Eure Empfehlungen und die Reviews :-). Das freut mich ungemein und lässt mich gleich doppelt so gern weiterschreiben.
      Viel Vergnügen Euch mit dem neuen Kapitel!
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Kapitel 4 – Eistanz

»Adam?«
      Gehorsam hob er seinen Teller genau so hoch, dass Pias Mutter leichtes Spiel hatte und das Königsstück hinüberziehen konnte.
      »Vielen Dank.« Er lächelte, doch in seinen Augen saß derselbe Ausdruck, mit dem er ein Beweisstück musterte, ganz gleich ob in direkter Anschauung oder auf einem Foto, das konnte Pia auch von der Seite sehen. Lautlos setzte er den Teller ab. Die Manschetten saßen ein bisschen zu locker um seine Handgelenke, erfüllten aber trotzdem ihren Zweck. Seine Finger wirkten noch länger und schlanker als gewöhnlich.
      »Onkel Rudi und Tante Elisabeth wären ja fast auch noch gekommen.«
      Erst jetzt erinnerte Pia sich, dass sie ganz vergessen hatte, ihre Mutter danach zu fragen. Sie hatte ihr nur rasch eine SMS geschickt, dass sie Adam mitbringen würde, nachdem dieser eingewilligt und sein spontaner Entschluss ihn zum Rauchen auf die Terrasse getrieben hatte. Ihr hatte so sehr das Herz geklopft, als sie ihn gefragt hatte, da hatte es sie gewundert, dass ihre Stimme nicht pulsiert hatte, doch Adam schien es nicht wahrgenommen zu haben. Vielleicht war es ihm auch einfach gleich gewesen. Er hatte über ihr Angebot nachgedacht, eine Sekunde, zwei, dann hatte er mit den Schultern gezuckt. »Okay.« Das war alles gewesen. Als habe er Leo zugesagt, sich noch einmal an der Apotheke umzusehen.
      »Das war ja mal wieder so klar«, stöhnte Lydi. Wie sie die Augen in Richtung der Zimmerdecke verdrehte, erinnerte sie mit dem ausdrucksstarken schwarzen Lidstrich und den präzise gedrehten Locken an eine besonders feurige Carmen. »Wann haben sie sich gemeldet? Heute oder schon gestern?«
      Als Pia ihren Teller abstellte, holte sie unwillkürlich Luft. Ihre Mutter wollte ganz offenbar, dass sie und Adam nicht mehr in sein Auto hineinpassten und über Nacht bei ihr bleiben mussten.
      »Gestern Abend, so gegen acht.«
      »Ach, doch so früh? – Nein, nicht das.« Lydis perfekt manikürter Zeigefinger wies auf ein nur gut halb so großes Stück. »Das da.« Die weinrote Weihnachtsedition ihres Lieblingsnagellacks mit Schimmerpartikeln nahm den Glanz ihres Kleides auf. Sie drehte ihren Teller, als hebe sich ein Abschnitt des gleichmäßigen goldenen Randes durch eine für alle außer ihr unsichtbare Besonderheit hervor, die sie direkt vor sich haben wollte. »Und warum haben sie letzten Endes dann doch davon abgesehen, uns mit ihrer Gegenwart zu beehren?«
      Ihr Vater brummte sein tiefes Lachen über den Tisch, als er seinen Teller hob. Die Sichtachse zu ihm verschaffte Pia die Möglichkeit, unbemerkt Adam genauer ins Auge zu fassen. Sein Hemdkragen, dessen oberste beide Knöpfe er nicht geschlossen hatte, öffnete sich gerade eben um die Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen. Die Blutergüsse in seinem Gesicht waren natürlich längst abgeheilt, er hatte ein bisschen mehr Farbe im Gesicht als damals, aber seine Haut war am Halsansatz mit Sicherheit noch genauso weich wie im Krankenhaus. Pia fasste mit der Linken rasch nach den Fingern ihrer anderen Hand, die unter dem Begehren kribbelten, die Berührung für Adam zu wiederholen, nun, da er sie hätte wahrnehmen können.
      »Onkel Rudi hat dann offenbar überraschend doch noch eine Einladung eines Kollegen aus Mainz bekommen.«
      Widerwillig ließen Pias Augen von Adam ab, als ihre Mutter sich setzte.  
      »Und da darf die Familie dann natürlich zurückstehen.« Die Serviette war in Lydis Händen wie das Tuch eines Toreros, bevor sie sie unter der Tischkante und auf ihrem Schoß verschwinden ließ. »Kaviar und Champagner sind eben doch etwas Besseres als Sauerbraten.«
      Adam saß scheinbar gelassen zurückgelehnt, die Linke zu einer lockeren Faust geschlossen neben seinem Teller, doch seine Bewegungslosigkeit verriet ihn. Er wandte kaum den Kopf, während seine Augen demjenigen folgten, der gerade etwas zu sagen hatte, sein Kehlkopf hatte die ganze Zeit über kein einziges Mal gezuckt. Wahrscheinlich war sein Mund so trocken, dass er ihm das Schlucken versagte.
      »Ist ja gut, Lydi«, lachte ihr Vater und setzte seinen Teller ab. Seine schmunzelnden Augen lagen auf ihr, während er den Serviettenring abzog. Die Goldglöckchen klirrten leise. »Es ist ja schließlich Weihnachten.«
      Lydi hielt Pia die Schüssel mit den Knödeln vor, während sie schon Ausschau nach dem Rotkraut hielt. »Das gibt ihm aber noch lange nicht das Recht, uns wie seine Bediensteten zu behandeln.«
      »Jetzt lassen wir das Thema mal beiseite.« Ihre Mutter reichte ihr den Topf wie in einer antiken Versöhnungsgeste, ihr Blick huschte zu ihrem Gast. »Adam muss sich sonst ja so seine Gedanken über unsere Familie machen.«
      Das feine Lächeln, das auf seine Lippen zog, war nur im Mundwinkel etwas steif.
      »Adam?« fragte Pia leise.
      Er wandte den Kopf nach ihr und war plötzlich nicht mehr der Fremde im weißen Hemd, ein Abkömmling einer Industriellenfamilie vielleicht. Den dunklen Schimmer in seinen Augen kannte sie aus den Besprechungen, den Aufzeichnungen der Verhöre, er traf sie jedes Mal, wenn sie unangekündigt in sein Büro trat. Jetzt nickte er rasch und es war, als habe er wieder seinen schwarzen Rollkragenpullover übergezogen.
      »Aber es schadet ja nicht, wenn er gleich weiß, worauf er sich einlässt.« Lydis Grinsen verbreiterte sich noch, als Pia sie ansah und kaum merklich den Kopf schüttelte. Sie schämte sich für ihre kindische Rache und legte trotzdem erst recht einen von Lydis Lieblingsknödeln mehr als vorgesehen auf Adams Teller.
      »Und außerdem hat jede Familie so ihre Leichen im Keller.« Als sei sie Michelin-Köchin, zwirbelte Lydi die Rotkohlsoße mit dem Schöpflöffel spiralig über ihre Knödel.
      »Einzelheiten dazu bitte erst nach dem Essen.« Ihr Vater nickte lächelnd in Pias Richtung, während er die Schüssel mit den Knödeln an ihre Mutter weiterreichte.
      »Ihr habt vor Weihnachten noch einen neuen Toten hereinbekommen?«
      Pia lachte beinahe laut los unter dem lauernden Ausdruck in Lydis katzengrünen Augen. Wie konnte man nach all den Jahren immer noch nicht begreifen, dass in ihrer Arbeit keinerlei Anklang an einen Fernsehkrimi lag?
      »Lydi – bitte!« Pias Mutter streifte empört den Serviettenring ab, konnte sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen. »Das passt jetzt ja wohl wirklich nicht zu einem Weihnachtsessen.«
      Pias Vater nahm das Besteck auf. »Lasst uns mal anfangen, dann ist sie ganz schnell still.«
      Die Guten-Appetit-Wünsche gingen im Kreis herum, die gerade noch geübte Redseligkeit ertrank in der Bratensoße.
      »Wunderbar«, gab Pias Vater kauend den Auftakt.
      »Ganz ausgezeichnet. Vielen Dank noch mal für die Einladung.« Adams Stimme war eine Spur zu glatt.
      »Aber nichts zu danken, Adam – wir freuen uns.« Wie immer lag das Lächeln ihrer Mutter nicht nur auf ihrem ganzen Gesicht und in ihren Augen, sondern strömte auch aus jedem einzelnen Wort.
      Adam schien eine wohlgesetzte Sekunde abzuwarten, bevor er den Blick wieder auf seinen Teller senkte. Wenigstens hatte ihre Familie mitgespielt und ihm von Anfang an das Du angeboten. Ohne ihn auch nur ansehen zu müssen, spürte Pia, dass sein ganzer Körper angespannt war, als habe er seinen schwarzen Anzug für eine Trauerfeier herausgesucht.
      »Und ihr kennt euch also aus der Arbeit, ja?«
      Pia schloss für eine Sekunde die Augen. Das war so klar gewesen. Irgendwann hatte die Frage doch kommen müssen, da hätte sie noch so fantasievolle Ablenkungsmanöver aufstellen können. Aber dass ausgerechnet ihre Mutter fettnäpfchenhaft das erste wirkliche Gesprächsthema daraus machen würde, hätte sie dann doch nicht erwartet.
      Ihr Fehler. Ein bisschen mehr Einzelheiten wären hilfreich gewesen. Er ist gerade nicht gut drauf. Was sollte, was konnte ihre Familie sich darunter bitte schön vorstellen?
      »Genau. Ich bin seit März wieder hier.« Das Lächeln, das Adam geprobt hatte, seitdem er durch die Tür getreten war, fiel zu Pias Erstaunen nicht von seinem Gesicht.
      Lydi hatte er damit ganz klar am Haken. »Dann kommst du eigentlich auch aus Saarbrücken?«
      Und hattest eine verdammt beschissene Kindheit. Exakt.
      »Aber Adam ist viel rumgekommen – mehr als wir alle zusammen.« Pia schenkte ihm von der Seite ein flüchtiges Lächeln, nach dem er kurz den Kopf wandte, ohne es zu erhaschen, denn Lydis Ausruf zog seine Aufmerksamkeit ab. Seine Augenbrauen hoben sich und zogen ein kleines Lächeln in seinen Mundwinkel und Pia liebte ihn dafür, dass es ihm wirklich am Herzen lag, auf ihre Schwester einzugehen.
      »Echt? Wo warst du überall schon?«
      Adam ließ die Hände sinken, das Besteck lehnte sich lautlos an den Tellerrand an. »Na ja …« Sein Schulterzucken gehörte auch im weißen Hemd ganz eindeutig zu ihm. »Besonders war eigentlich nur Lateinamerika, und so lang ging’s auch nicht: von Guatemala runter bis Venezuela.«
      Es war fast genau die gleiche Wortwahl wie damals. Der goldene Schein der Abendsonne auf seinem Haar, der türkisfarbene Schimmer in seinen Augen, mit einem Flaschenbier in der Hand an der Terrassentür neben ihr, zum ersten Mal gemeinsam in seiner Wohnung – mein Gott, wie lange lag das zurück.
      Seine Stimme war vor Verzagtheit nur leicht rau, er klang beinahe wie immer, doch das nun wieder dunkle Blau flackerte sacht.
      »Hast du eigentlich schon Pläne für nächstes Jahr?«
      Für die paar Zentimeter, die zwischen ihr und Adam lagen, ruckte Lydis Kopf ein wenig zu heftig herum, der Bogen ihrer Augenbraue bildete eine kleine Spitze. Ihr Blick klebte für einen Moment noch an Pia, bevor er zu ihren Eltern sprang, als sie sich auf die Richtung einließ, in die Pia das Ruder so ungeschickt heftig herumgerissen hatte.
      Doch Pia hörte nicht auf das, was sie erzählte. Jede Faser ihrer Aufmerksamkeit war auf den Eissturm gerichtet, der nach außen unbemerkt neben ihr tobte.
      »Darf ich dir nachschenken, Adam?« drang die Stimme ihres Vaters zwischen das Heulen der Windstöße.
      »Gern – vielen Dank.«
      Adams Teller war noch fast voll, sein Weinglas bereits einmal geleert.
      Wie in einem experimentellen Kinofilm mit Laienschauspielern debattierte Lydi ihre Reisepläne mit ihrer Mutter, ihr Vater war ein Zuschauer, der nebenher sein Drei-Gänge-Menü genoss.
      Jetzt hätte Pia ihre kleine Schwester küssen können. Offenbar hatte sie sich beim Braten nur zurückgehalten, um sich mit vollem Elan durch die Beilagen essen zu können. Als sie die Knödelschüssel bis auf zwei Alibistücke leerte, fragte Pia sich wieder einmal, wo Lydi das alles hinsteckte, schließlich hasste sie alles, was mit Bewegung zu tun hatte. Sie war wie eine dieser Wohnungskatzen, die nie auch nur das kleinste Stückchen freien Himmels zu Gesicht bekamen, damit aber erstaunlich versöhnt waren und das Raubtier nur bei der Verteidigung ihres Liegeplatzes an der Heizung herausbrechen ließen.
      »Möchtest du noch was, Thomas? « Ihre Beobachtungsgabe hatte Pia eindeutig von ihrer Mutter geerbt, und doch: Die allseits umsichtige, um das Wohl jedes Einzelnen besorgte Hausfrau – heute war es ein schlecht ausgespielter Stereotyp in einem dilettantischen Plot, nach dem die Welt nicht gefragt hatte.
      »Ja, gern – ja … ja, gib ruhig rüber. « Ihr Vater zog sich ein ordentliches Stück auf den Teller und läutete solidarisch die zweite Runde ein.
      Adams Bewegungen waren gleichmäßig, ruhig, von einer geschmeidigen Gespanntheit. Als er an seinem Wein nippte, wanderten seine Augen über den Glasrand von der Kelle mit der Bratensoße zu Lydis Mähne, die sie sich schwungvoll hinter die Schulter warf.
      Es ist alles gut, Adam. Alles in Ordnung. Keiner will dir etwas Böses.
      Pias Augen lagen auf seiner steifen Hand, während er ein zähes Bratenstück abschnitt. Seine Finger öffneten sich, lösten die Anspannung, schlossen sich leichter um das Messer.
      Fünf Sekunden nur. Fünf Sekunden allein mit ihm. Fünf Sekunden für ein Streicheln über seine Schulter, für ein paar geflüsterte Worte.
      »Na ja, Anita hat jedenfalls nur gemeint, dass, wenn wir ihm nicht professionell genug sind, er das Ganze doch einfach traditionell angehen sollte.« Pia hatte gar nicht bemerkt, wie Lydi die Überleitung von der Urlaubsthematik zu ihrem Berufsalltag geschlagen hatte, dabei war sie bereits voll in Fahrt. Mit einem hastigen Schluck Wein feuchtete sie ihre Kehle an. »Ein Schild um den Hals hängen, Suche Arbeit, mache alles, und Stellung am Sankt Johanner Markt beziehen.« Lydis kleine Hände zogen die beiden Zeilen auf einem vom Regen welligen Karton aus ihrer Vorstellung vor ihre Brust, das Lachen ihrer Mutter fing sich mit dem ihres Vaters über der Tischmitte.
      Aus dem Augenwinkel sah Pia das leichte Heben von Adams Schultern, als er sein Besteck ablegte. Lydi fischte sich den letzten Knödel aus der Schale. Während sie den länglichen Kloß der Mitte nach teilte, huschte ihr Blick mit einem undefinierbaren Ausdruck wie an einer Schnur entlanggeführt über den Löffel, den Rand der Schüssel und die Kante des Läufers zu Adam, der seine Serviette neben seinem Teller ablegte.
      »Dann holen wir mal den Punsch, oder?« fragte Lydi kauend und schluckte eilig, bevor sie sich den Mund abwischte. Sie ließ ihr harmloses Lächeln über die Tischgesellschaft schweifen. »Ja – was denn? Passt doch, oder?«
      Ohne Gegenstimmen abzuwarten, schob sie ihren Stuhl zurück und ließ sich die Teller reichen. Wie beim Aufbruch zu einer Jagd rauschte sie mit dem Stapel in die Küche ab, ihre Mutter folgte ihr mit den Resten von Rotkraut und Salat. Pia war sich nicht sicher, ob Adam ihren entschuldigenden Blick aufgefangen hatte. Auch wenn ihr Vater im Gegensatz zu Lydi und ihrer Mutter nicht auf ihre Regungen lauerte, sie wagte es trotzdem nicht, sich nach Adam umzusehen.
      Vorsichtig schob sie die leere Knödelschüssel zwischen Waschbecken und Schnellkochtopf, da tauchten auch schon Lydis glühende Augen neben ihr auf. Ihre vollen Lippen glänzten unter ihrem breiten Lächeln, das ihren Mundwinkel zu einer feinen Spitze verzog.
      »Der is’ ja mal richtig hot«, flüsterte sie. Ein unterdrücktes Lachen perlte aus ihr hervor, als sie geschickt dem Rippenstoß auswich, den Pia ihr hatte versetzen wollen. Leicht wie bei der Bedienung eines Nobelrestaurants glitten ihre Hände unter die beiden Plätzchenteller, mit einem tänzerischen Schwung warf sie sich herum.
      »Upps – entschuldige!« Jetzt lachte sie, entzückend und kokett, wie Pia es sich immer für sich selbst gewünscht hätte.
      Sie wandte sich um und sah, wie Lydi die Teller an Adam vorbeibalancierte, der mit der Bratenplatte hereingetreten war. Um ein Haar hätte sie ihn umgerannt. Gerade noch rechtzeitig machte sie sich schmal hinter ihm, er drückte sich sofort an die Arbeitsplatte, doch nicht schnell genug. Als Lydi sich in seinem Rücken an ihm vorbeischob, schrak er zusammen, dass die Platte seinen Händen entglitt. Unter dem metallischen Scheppern entwich Lydi ein erschreckter Ausruf. Schon an der Schwelle zum Wohnzimmer warf sie sich herum, ihre Mutter steckte den Kopf aus der Speisekammer. Der Bratensaft verteilte sich über die Arbeitsplatte, die Fleischstücke schoben sich auf dem feuchten Film ein Stück vorwärts und blieben dann träge wie gestrandete Wale liegen.
      »Scheiße«, zischte Adam neben Pia scharf. Seine Hände hasteten nach der Küchenrolle in der Ecke. Er riss zwei Blätter ab und stoppte die Welle Bratensaft, die auf die Kante zurollte, sich darüber ergießen wollte. Das Papier in die Pfütze zu tauchen, war nur noch ein Akt der Hilflosigkeit, die Tücher waren bereits vollgesogen. »Entschuldigung – wirklich. Das …« Adams Kopfschütteln, der Kreis, den seine Hand über dem Fiasko beschrieb, nahmen ihm die Worte.
      Pia trat an seine Seite und hielt sich gerade noch zurück. Einmal genügte für einen Abend. Sie führte ihre Hand, die wenige Zentimeter über Adams Rücken schwebte, neben ihn und ließ sie auf seinen Oberarm sinken. Mit der anderen nahm sie ihm das schwere Küchenpapier aus der Hand.
      »Alles gut, nichts passiert, siehst du?« Das Pochen der Platte, als sie sie umdrehte, war lauter als ihre Stimme. Sie griff nach der Gabel, die wie in einem Stillleben am Herd zurückgeblieben war, und verfrachtete die Bratenstücke wieder hinein. »Geh ruhig schon wieder rüber.« Sie nickte nach dem Wohnzimmer. »Sonst ist Papa so allein.«
      Adams Kopf folgte als Erstes ihrer Einladung, der Rest seines Körpers schloss sich steif an. Jetzt stand Lydi dicht an den Kühlschrank gedrückt, reglos wartete sie, bis Adam an ihr vorbeigegangen war. Ihre Augen brannten sich durch den dünnen Hemdstoff zwischen seine Schulterblätter.
      Der Lappen klatschte unsportlich auf die Arbeitsplatte, Pia wischte sorgsam den Rest des Bratensaftes auf, doch ihr Atem ging rau und schwer. Lydi brauchte ihn nicht so anzustarren, sie hatte ihm das doch eingebrockt. Dabei hatte sie doch gewusst, worauf sie sich einlassen würde. Dass es ihm gerade nicht gut gehe, hatte Pia ihr gesagt. Er ist total fertig, hatte sie präzisiert. Sie hatte die Gründe aufgezählt: Schusswechsel, ein Fall von Suizid, Gehirnerschütterung – was wollte sie noch? Ach so, ja, die Sensationsgier befriedigen: Vor kaum zwei Wochen hat er damit gedroht, sich zu erschießen. Ja, das hätte wahrscheinlich endlich einmal gereicht. Aber selbst dann würde Lydi unmöglich begreifen, dass ein mühsames Zusammenhalten der Scherben seines Alltags für Adam derzeit schon ein Fortschritt war.
      »Was war denn das gerade bitte?«
      Lydis Parfüm wehte eine halbe Sekunde vor ihrer Stimme zur Pia, als sie sich vom Kühlschrank abstieß und neben ihr postierte. Ihr wurde schlecht unter dem süßlichen Geruch, unter Lydis gespannter Körperhaltung in dem engen Kleid, der Anklage in ihrem Tonfall. Nein. Sie begriff das Dahinterliegende nicht. Das war noch nie anders gewesen. Sie begriff es nicht, das, was wie eine schwere, betäubende, schwindlig machende Melodie durch die Tiefe von Adams Seele zog. Sie überdeckte lieber alles mit einer schwebenden Cassis- und Himbeernote. Nein. Sie hatte einfach keinen Sinn für das Ungesagte, das Unaufdringliche, das sich lieber am Boden absetzte, für Weihrauch und schwarze Vanille, wie im Parfüm, das Adam ihr geschenkt hatte und das sie heute Abend zum ersten Mal trug.
      »Er hat auch die ganze Zeit so komisch geguckt. Hat das …«
      Nein, Pia wollte es nicht hören. Sie wollte nicht wissen, was auch immer sich Lydi in ihrem kleinen Kopf zusammenreimte. Der Lappen klatschte ungehalten gegen die Wand des Spülbeckens, als sie ihn hineinwarf.
      »Okay …«, zog Lydi hinter ihr ihren Unmut in die Länge, aber das war Pia ganz gleich. Ihre Hände trocknete sie sich einfach am Kleid, als sie ins Wohnzimmer zurückging. Was machte das jetzt noch für einen Unterschied? Es war alles misslungen, das dünne Eis unter Adam mit lautem Krachen eingebrochen, und wieder musste er darum kämpfen, sich mühsam gerade eben über Wasser zu halten, während die Kälte in ihm Zentimeter für Zentimeter auf sein Herz zukroch.
      Pias Vater stand über das Radio gebeugt, ein Ohr am Lautsprecher, er drehte am Regler. Sie spürte das Lächeln zuerst warm in ihrem Zwerchfell strömen, dann zog es auch auf ihr Gesicht. Papa und sein Röhrenapparat – würde sich daran jemals etwas ändern? Unter seinem Pullunder ragte ein Zipfel seines Hemdes heraus, das ihm aus dem Hosenbund gerutscht war. Ihre Mutter kochte einfach zu gut. Im vergangenen Jahr hatte sich das deutlich an seinem Bauch niedergeschlagen, wenn auch weniger als bei anderen Männern seines Alters.
      Das Tuscheln und Mauscheln in ihrem Rücken entging ihr nicht – als ob sie so blöd wäre, dass sie nicht mitbekommen würde, wie Lydi und ihre Mutter sich das Maul über Adam zerrissen. Gut sah er ja schon aus, das wirklich, aber irgendetwas stimmte doch nicht mit ihm. Wahrscheinlich Probleme mit der Mutter. Klar, deshalb macht er jetzt einen auf Toyboy, er war schließlich fast ein Jahr jünger als Pia, da konnte sie ja schon beinahe als Mutterersatz herhalten. Und wenn ihnen zwischendrin zu langweilig wurde, verschwanden sie mal für ein halbes Stündchen im Archiv.
      Pia schüttelte den Kopf. Sollten sie doch so laut schreien, dass die Nachbarn gleich mit unterhalten würden, darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
      Ihr Vater hob den Kopf, als er sie bemerkte, er nickte ihr zu, bevor er sich wieder über sein Goldstück beugte, den Blick auf die Senderanzeige geheftet. »Er wollte eine Zigarette rauchen.« Seine Stimme klang abwesend, während er über die Schulter zur Terrassentür deutete. Einen Vorwurf konnte sie darin nicht ausmachen. Vielleicht bekam ihre Mutter wenigstens davon nichts mit, sonst sank Adam in ihrer Achtung gleich ins Bodenlose.
      Pias Blick glitt zum Tisch. Die Weingläser feierten den Anlass ohne sie, granatrot schimmerte der kleine Rest, den sie und ihre Mutter zurückgelassen hatten. Seufzend beugte sie sich nach dem schmalen Päckchen unter dem Baum, das in dunkelblaues Papier eingeschlagen war. Adam war unbelehrbar, er hatte noch nicht einmal sein Jackett mit hinausgenommen.
      Erst als ihre Nase fast an das Glas der Terrassentür stieß, konnte sie ihn hinter den sich spiegelnden Reflexen der Lampen ausmachen. Er stand nur wenige Zentimeter von der Rasenkante entfernt wie schon lange nicht mehr, aufrecht und gleichzeitig in sich zusammengefaltet, einen Arm um sich gelegt.
      Gerade als sie die Tür aufdrückte, legte er den Kopf zurück und blies eine hell schimmernde Rauchwolke in den schwarzblauen Nachthimmel. Unter dem Geräusch des sich öffnenden und wieder einschnappenden Schlosses wandte er sich um. Im Bruchteil einer Sekunde schluckte er alles hinunter, was ihn gerade noch umgetrieben hatte, wischte den Schimmer gedankenverlorener Schwermut von seinen Zügen. Rasch, doch ohne jede Hast drückte er die Zigarette in einem mobilen Aschenbecher aus, den sie bei ihm noch nie gesehen hatte. Er ließ ihn in der Tasche seiner Anzughose verschwinden, die ihm so locker um die Hüften saß, dass sich weder Zigarettenschachtel noch Feuerzeug abzeichneten. Langsam, als wolle er niemandes Aufmerksamkeit erregen, schob er nun auch noch die Hände hinein. Seine Augen waren das Einzige, was sich an ihm bewegte, als er ihren Weg zu sich verfolgte.
      »Alles okay?«
      »Ich geh dann besser mal.«
      Ihre Sätze überschnitten sich. Adams hatte mehr Gewicht, nicht nur aufgrund der Länge.
      Pia fühlte, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen unter seiner Aussage, die er in demselben Tonfall äußerte wie die Bitte, ihm eine E-Mail weiterzuleiten. Gleich darauf stolperte jedoch ein tonloses Lachen aus seiner Kehle, stieß sich an ihrem Ohr. Er schüttelte den Kopf und sah sie nicht mehr an. Es war, als rechtfertige er sich vor dem Boden.
      »Es war von Anfang an eine dumme Idee.«
      Als er an ihr vorbei zum Türgriff fasste, legte sie ihm die Hand auf den Arm. Seine Muskeln und Sehnen waren Marmor unter ihren Fingern. In seinem weißen Hemd, von vorn durch den warmen Lampenschein erleuchtet, der aus dem Wohnzimmer auf ihn fiel, im Rücken bläulich vom Mondlicht schimmernd, stand er wie eine Statue und musterte sie reglos.
      Ohne den Kopf zu wenden, sprangen seine Augen zu dem Päckchen, das Pia ihm vorhielt, und wieder zu ihr zurück. Millimeter nur innerhalb mehrerer Sekunden, das war das Tempo, das sie in den letzten Wochen gefunden hatten in ihrer gegenseitigen Vernichtung wie ihrem Umeinanderherumtänzeln oder Aufeinanderzuschleichen.
      Das einsame Rauschen eines vorbeifahrenden Autos fing sich zwischen den Hecken. Es musste leicht geregnet haben. Das Flackern in dem nun wieder so verschatteten Blau ließ Pia das Papier abreißen wie ein Kind, das gierig nach seinem Geschenk war. Sie ließ es achtlos zu Boden segeln, während sie den Schal hinter Adams Nacken herumführte und hauchzart auf seinen Schultern ablegte. Wie bei einem Herrenausstatter um die Jahrhundertwende zupften Pias Finger die Kanten zurecht, fächerten den feinen Stoff breiter auf. Nur durch die zwei dünnen Lagen hindurch stachen Adams Schulterknochen kantig hervor. Pias Hände glitten unter den Kaschmir, bekamen ihn zu fassen, wie man einen Schmetterling mit durchfeuchteten Flügeln vom Boden aufnimmt. Gleichmäßig und ruhig legte sie den Stoff Adam locker um den schlanken Hals, doch ihr Puls ratterte, ein Zug aus der Ferne, ihr Brustkorb fühlte sich zu klein für ihren Atemzug an. Vom Rasen her wehte ein moosiger Hauch.
      Adam zog das Kinn zur Brust, nur wenige Zentimeter über der Stelle, wo Pias Finger die Stoffkante entlangfuhren, weil sie nicht wussten, was sie sonst hätten tun sollen. Seine Augen pendelten hin und her, erfassten die dunkelbraune Wabenstruktur. Die hellere Umrandung der regelmäßigen Flächen nahm seine Haarfarbe perfekt wieder auf, wie sie es vor sich gesehen hatte am Verkaufstisch unter den wachsamen Augen der stiefmütterlich verbissenen Kassiererin.
      »Du hast aber keine Wollallergie, oder?«
      Pias Stimme stach sich an den spitzen Falten zwischen Adams Augenbrauen. Sie lehnte sich einige Zentimeter in seine Richtung, ließ die Hände auf den Stoff über seinen Schlüsselbeinen sinken.
      »Ich habe nie einen Schal an dir gesehen, deshalb dachte ich – vielleicht … na ja …« Unbeeindruckt von ihrem Schulterzucken glitten ihre Finger weiter den Saum entlang. Als könne es gegen das Zittern helfen, das Adam ganz leicht durchbebte, verschlang sie die beiden losen Enden zu einem lockeren Knoten.
      »Aber wenn er dir nicht gefällt, kann ich ihn bestimmt zurückgeben.«
      Ihre Finger betteten den leichten Stoff wie ein stellvertretendes Streicheln auf Adams Brust. In der gleichen Sekunde wie sie hob er den Kopf. Seine Augen so dicht über den ihrigen trieben ihre Beine zur Flucht. Mühsam befahl sie sich, bei ihm zu bleiben.
      Ihre Mundwinkel kamen steif ihrer Aufgabe nach, sich wie ein alter Bühnenvorhang ruckend zu heben. So standen sie, sahen sich an, atmeten. Fünf Sekunden.
      »Bin gleich da!« drang der gedämpfte Ruf ihres Vaters aus dem Lichtschacht in ihre Welt hinaus. Wahrscheinlich war der Wein ausgegangen, oder er holte noch eine vergessene Packung Cantuccini vom letzten Italienurlaub aus dem Keller für den Fall, dass Adam keine Plätzchen aß.
      Pia betete zu irgendjemandem hoch dort oben zwischen den Weihnachtssternen um noch eine Sekunde, eine Sekunde nur für Adam.
      Sie wusste nicht, ob die Spur eines Zuckens auf seinen Wangen nur davon herrührte, dass er die Zunge vom Gaumen gelöst hatte. In seinen Augen aber schimmerte der Keim eines Lächelns. Es durfte nicht wachsen, nicht aufblühen, nicht jetzt, es war keine Christrose, doch vielleicht konnte es in einem Winterschlaf die Kälte überdauern.
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