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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
21.05.2023 3.833
 
Und schon ist wieder Zeit für das nächste Kapitel – ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen und natürlich Euch allen einen schönen Sonntag!
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Kapitel 26 – Schattenabgleich

Sogar das matte Silber war entnervt, ungebändigter als vermutlich erwünscht umlockte es die Stirn des sehnigen, klein gewachsenen Mannes. Sein Kittel leuchtete steif und krankhaft rein im Licht der Röhren. Die Augen, die dem Teint nach hell hätten sein müssen, aber so dunkel waren, dass auf die Ferne die Pupillen nicht zu erkennen waren, gingen für ein, zwei Sekunden hin und her, hefteten sich dann auf den Wink der jungen Frau im mintfarbenen Hemd auf Adam. Mit wenigen schnellen Schritten war der Arzt bei ihm. Adam schraubte sich in die Höhe, ein Flimmern vor den Augen, ein alter Mann mit weichen Knien, die er nicht mehr spürte, die zu seiner Überraschung aber einrasteten und sein Gewicht trugen.
      »Steger, mein Name.« Ein knappes Nicken entschädigte für mehr Worte, Fragen, die nicht gestellt wurden, wo der Schlafmangel Sprache überflüssig machte. »Eine heftige Gehirnerschütterung, Abschürfungen, Prellungen, Nachwirkungen eines Betäubungsmittels, mehr nicht.«
      Adam versteifte sich, seine Füße versuchten, sich in das abgewetzte Linoleum zu graben, während er den sachlichen Blick, der ihn von unten herauf traf und nach draußen treiben wollte, starr erwiderte. Patientinnen und Patienten können täglich auf den Normalstationen zwischen 14 und 20 Uhr besucht werden, Ausnahmen hiervon sind in besonderen Situationen möglich. Der Mann war kaum größer als Esther, auch der Ausdruck in seinen Augen erinnerte Adam auf seltsame Weise an sie und hielt ihm unverhohlen abschätzig vor, dass er ihn für den genau richtigen Typ für solche besonderen Situationen hielt.
      »Kann ich …«
      »Nicht vor einer halben Stunde. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, aber wir müssen Herrn Hölzer in sein Zimmer bringen, ihn dort einrichten und so weiter.«
      »Natürlich. Kann ich –«
      Mit einem zackigen Ruck mit dem Kopf schnitt der Arzt ihm sofort das Wort ab. »Nicht hier, bitte. Im ersten Untergeschoss gibt es ein Bistro, dort können Sie sich aufhalten.« Mitten im Umwenden hielt Dr. Steger inne, sah sich über die Schulter nach ihm um. »Muss jemand benachrichtigt werden?«
      »Das übernehme ich.«
      »Gut.« Ein geübter Blick glitt einmal über ihn hinweg, blieb an seinem Gesicht hängen. »Haben Sie was abbekommen?«
      Ein Kopfschütteln von Adams Seite traf auf ein abgehacktes Nicken.
      »Unten bekommen Sie auch einen Kaffee.« Die letzten Silben seiner Worte verschwanden mit dem Arzt hinter den Türen, auf denen neben einer laminierten roten Handfläche in Naturgröße der breite Schriftzug Kein Durchgang prangte.
      Adam trat hastig einen Schritt zurück, als die schmutzig beige gestrichenen Wände links und rechts von ihm zur Mitte kippten. Seine Hand fasste ins Leere, ein dumpfer, metallischer Klang wehte von unten zu ihm herauf, mit der Ferse musste er gegen die Verankerung der Sitzreihe gestoßen sein. Noch einmal griff er in die Luft, dann grub sich die nach hinten geschmiedete Kante der Stuhllehne in seine Finger. Die Mauern wurden wieder fest, hörten auf, um ihn her zu tanzen. Seine Brust strebte ruckartig in die Höhe, riss einen tiefen Atemzug in sich. Er zwang sich, bis vier zu zählen, bis fünf, bis vier, bis fünf. Die Luft war verbraucht und roch unter der beißenden Note des Desinfektionsmittels staubig, in seinen Ohren pulste es. ein Summen raste durch seinen Schädel. Noch immer musste er mitten im Weg stehen, aber niemand rempelte ihn an. Ein paar Minuten waren ihm gegeben in diesem leer gefegten Gang, einem Windkanal, nur ohne Wind, eher mit einem Vakuum gefüllt. Tastend schob Adam einen Fuß vor, der Boden trug ihn, gab nicht unter ihm nach. Mit dem Ruck eines anfahrenden Zuges setzte er sich in Bewegung und hielt erst, als eine Böe mit gierigen Fingern nach ihm griff, in die Höhle seiner Hand hineinfuhr und die Flamme seines Feuerzeugs scheuchte. Sein Gesicht spiegelte ihm vom Smartphonedisplay grau entgegen. Gott, wann hatte er zuletzt so scheiße ausgesehen? Als sei er parkinsonkrank, haschten seine Finger tattrig nach den Zahlen der PIN, er öffnete seine Kontakte, tippte ungelenk auf C. Scrollen wäre wahrscheinlich schneller gegangen.
      Das Tuten war leise und doch zerriss es die milchweiße Stille um ihn her. Er nahm das Handy vom Ohr, schielte nach dem oberen Rand. 06:12, vielleicht war Caro ja schon wach – oder noch.
      Nein, offenbar nicht. Das »Hallo?«, das aus der Leitung kroch, als er sein Smartphone wieder ans Ohr hielt, war ein wenig belegt, und doch schnarrten die zwei Silben von dem Unterton eines gespannten Gummibandes, das jemand wie eine Gitarrensaite anzupfte.
      »Hallo, Caro.«
      Ihr Atem raschelte in der Leitung, er sah sie vor sich, wie sie den Kopf von der Lehne des Sofas hob, auf dem sie im Wohnzimmer ihrer Eltern eingeschlafen war. Ob es noch schokoladenfarben war so wie damals? Er hatte den Ton so großartig gefunden im Vergleich zum ewigen Grau, das im Haus seiner Eltern über allem ausgegossen war. Saßen Herr und Frau Hölzer jetzt auf diesem besonderen Sofa um ihre Tochter herum? Bestimmt, und bestimmt stob vor ihnen allen der flache Atem dahin, der Raum für eine letzte Hoffnung ließ, auch wenn der pflichtvergessene Partner ihres Bruders und Sohns den Rest der Nacht nicht mehr auf ihre Anrufe und Nachfragen reagiert und sie einfach abgeblockt hatte.
      »Wir haben ihn«, sprach er in die Stille hinein, kam Caro entgegen und stellte die einzig nötigen Worte in den bilderlosen schwarzen Raum zwischen ihnen. »Er ist jetzt im Krankenhaus.«
      »Oh Gott!« Caros Schluchzen bebte durch die Leitung. Adam hatte sie mit Mühe gerade so verstanden, ihre Worte waren zu einer Silbe verschmiert zu ihm durchgedrungen, kein Raum für Konsonanten.
      Für eine Sekunde lauschte er noch, ohne zu wissen, worauf er eigentlich wartete, dann hob er die Zigarette wieder zum Mund. Er sog den Rauch in seine Lungen, bis sie sich schmerzhaft blähten und seine Sicht sich an den Rändern ein wenig trübte und Leo darunter verschwand, Leo, wie er gequält vornübergesunken am Stuhl gehangen hatte. Die Kippe ließ Adam einfach vor sich zu Boden fallen, entdeckte erst, während er sie austrat, den Aschenbecher hinter der Säule an der Ecke der Vorhalle. Ein Husten konnte er gerade noch hinunterkämpfen, er ließ den Atem lautlos durch die Nase ausströmen.
      Da verschluckte ihn eine dumpfe Schwärze mit solcher Vehemenz, dass er zusammenfuhr und sich der restliche Rauch in seiner Lunge staute, weil er vergessen hatte, wie man atmete. Eisige Luft zischte an seinen Fingerspitzen vorbei, als er den Arm hob und hinabfallen ließ in einem blinden Tasten nach dem Pfeiler, der vor einigen Sekunden noch sein Sichtfeld begrenzt hatte. Er taumelte zur Seite, streifte dabei die klamme Glätte, seine flache Hand klatschte matt dagegen, ganz offenbar war er in die verheißungsvolle Richtung gestolpert. Mit vollem Gewicht ließ er sich an die Stütze sinken, die nicht nachgeben würde, wie er es von allem anderen in seinem Leben kannte. Beton war verlässlich, ein guter Freund, ein Seelenverwandter, grau und ausgeblichen, durch nichts kaputtzukriegen, wenn man an ihm vorbeikommen wollte, musste man ihn schon sprengen. Er schmiegte sein Gesicht an den Stein, fühlte den taufeuchten Film auf seiner Haut, ein kalter Fisch, aber zu glatt, zu makellos. Als sei er darin geübt, schlang er einen Arm um den Pfeiler wie um die Taille einer Frau, die nur darauf gewartet hatte. Vor Anstrengung zitternd, klammerte er sich fest, kämpfte dagegen an, in die Knie zu sinken. Er bemühte sich, am Handy vorbeizuatmen, damit sein Keuchen sich nicht unter Caros Schluchzer mischen würde, die ihn wieder zurückrissen, in seinen Körper, in diesen Portikus, vor dieses Krankenhaus.
      Müde schepperte eine Kirchturmglocke durch den Regen, einmal, zweimal. Nicht vor einer halben Stunde.
      Er drückte sich von der Säule ab, hielt noch die Kante umfasst. Für einen Moment zögerte er, Caros Entsetzen zu durchbrechen, sprach dann leise mitten zwischen ihre Schluchzer hinein: »Er ist nicht in Lebensgefahr, hat nur ‘ne Gehirnerschütterung abgekriegt.«
      Vielleicht bildete er es sich ein, aber er glaubte zu hören, dass Caros Weinen abebbte.
      »Gibst du’s euren Eltern durch?«
      Gut einen halben Meter vor Erreichen des Eingangs schoben sich die automatischen Türen auf. Von Caros Seite war jetzt gar nichts mehr zu hören.
      »Danke.«
      Er beendete den Anruf, fummelte sein Smartphone in die Jackentasche zurück, als der leere Empfang in Sicht kam. Toilettenpause oder gleiches Schema wie bei ihm, selbes Laster, vielleicht gab es irgendwo einen offiziellen Raucherbereich, vor der Tür hatte er niemanden gesehen. Der Aufzug ratterte, summte, Adam versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wer hinter der Theke gesessen hatte. Ein junger, gemütlicher Typ mit Bauchansatz und Lockenkopf. Eine Mittvierzigerin, alleinerziehend, rote Kurzhaarfrisur. Er bekam kein Bild zusammen. Es hätte sein Vater sein können und er hätte es nicht mehr gewusst. Mit einem melodischen Ping schoben sich die Türen auf. Für einige Sekunden schwebte Adams Zeigefinger über den Knöpfen. Er spulte die Worte des Arztes noch einmal in seinem Gedächtnis ab, war sich im Nachhinein nicht sicher, ob er sich das ganze Gespräch nicht vielleicht doch nur eingebildet hatte.
      Keine Zimmernummer.
      Die brauchte er auch nicht, als er im fünften Stock ausstieg. Sofort wuselte eine Krankenschwester auf ihn zu, frisch aus der Berufsschule, vielleicht nocht unter zwanzig, Kanonenfutter für die Nachtdienste. Ihr Blick war bei ihrem Vorgesetzten in der Schule gewesen. Bis übermorgen würden ihn mit Sicherheit sämtliche Besetzungen aller Schichten auf jeder Station kennen.
      »525«, kam sie seiner Frage zuvor. »Aber leise, bitte.«
      Adam konnte nur hoffen, dass sie nicht das Hämmern seines Herzens meinte, aber er sah sich nicht noch einmal um, damit er seine Einschätzung überprüfen konnte.

Leo war entsetzlich blass. Das war das Erste, was ihr auffiel.
      Das Zweite war das Häuflein Mensch, das auf dem Stuhl vor seinem Bett kauerte, sich aber auf einen Schlag zu voller Größe auffaltete, sowie sich die Tür in seinem Rücken aufschob – zu einer beachtlichen Größe.
      Sie erkannte Adam trotzdem zuerst an den Augen, die genauso tiefblau wie damals waren, und es stand noch immer derselbe Ausdruck darin. Jedes Mal hatte er sie so gemustert, wenn sie in Leos Zimmer gekommen war, als habe sie ein ihr nie zuvor begegnetes Wildtier vor sich, das von Kopf bis Fuß gespannt im Unterholz verharrte, sich selbst nicht über den nächsten Schritt im Klaren war und mit großen Augen nach einer Hand Ausschau hielt, die sich von irgendwoher nähern könnte, bekannt oder unbekannt.  
      Adam war ein schöner Mann geworden, sie konnte es nicht anders sagen. Ihre Kinder waren auch schön und sie sagte es ihnen immer wieder, worauf Leo jedes Mal rot wurde und lachend abwiegelte. Caro krittelte dann erst recht an sich herum, konnte aber wenigstens ihr gutes Urteil für ihr dichtes, glänzendes Haar annehmen. Sie hatten beide die Sanftmut im Blick, im Wesen, mit der Thomas sie damals verzaubert hatte, vor so vielen Jahren.
      Adam war anders schön. Es war diese kantige, scharf geschnittene Schönheit, wie bei einer Statue gemeißelt, die auf seinen Zügen stand. Er war noch ein ganzes Stück gewachsen, auch damals war er schon größer gewesen als Leo. Seine Haare trug er jetzt länger; früher waren sie so kurz gewesen, dass man sie bei einer schnellen Drehung seines Kopfes fast nicht gesehen hatte, so sehr hatte sogar seine Haarfarbe sich in sein Programm eingefügt, so unauffällig wie möglich im Hintergrund zu verschwinden. Jetzt und hier schimmerten sie in einem dunklen, warmen Blond, das aber ein vollkommenes Durcheinander war, nach einer durchwachten Nacht, wie es schien. Schon Leos Augenringe erschreckten sie oft genug, in Adams Gesicht waren sie das dominierende Element, ließen seine großen Augen noch riesiger erscheinen. Das lag aber auch daran, dass er fürchterlich dünn war.
     Als Teenager hatte er auf sie immer halb verhungert gewirkt, aber anders noch, tiefergehend, als sie es von Leo gekannt hatte, wie es bei Jungs in diesem Alter auch normal war, dass sie an heranwachsende Schäferhunde mit umgeklappten Ohren und viel zu großen Pfoten erinnerten, über die sie stolperten, wenn sie zu übermütig wurden. Diese Komponente hatte Adam immer gefehlt. Unter seiner hageren Gestalt hatte sich eine Körperbeherrschung verborgen, über die Leo so nicht verfügt hatte, und Reflexe, die eine andere Geschichte erzählten. Das Glas mit Cola, das Leo von der Arbeitsplatte gewischt hatte, als er sich nach den Chips im Eckschrank gestreckt hatte, hatte Adam wie selbstverständlich auf halber Höhe aufgefangen und wieder abgestellt, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Wie nebenbei hatte er die Kühltasche mit den Sandwiches, Salaten und der Eiscreme für ihr Picknick abgefangen, die vom Gepäckträger von Leos Rad in seine Richtung abgerutscht war, während Leo sich noch einmal nach ihr umgewandt hatte, um ihr zuzuwinken. Den Topf mit der noch vor sich hin blubbernden Vanillesoße, den Caro in seinem Rücken auf diesen verdammten, minimalistischen Untersetzern abgestellt hatte, die in ihrem ausgefeilten Design ihrer Funktion nicht nachkamen und alles kippen ließen, hatte Adam mit der flachen Hand gegen die Topfwand so schnell über die Kante der Arbeitsplatte zurückgeschoben, dass er sich noch nicht einmal die Finger unter der Verbrennung hatte abschrecken müssen. Diese Phase hatte ihr Sohn erst später nachgeholt, nachdem er sich durch eisernes Training über Jahre von einem zierlichen jungen Mann zu einem muskulösen Kämpfer aufgebaut hatte. Adam dagegen hatte sich weniger verändert, als sie erwartet hatte, wenn sie sich seinen langen Körper so ansah, seinen schwarzen Rollkragenpullover, der strenge Falten um seinen Brustkorb und auf seinem Bauch warf und ihn noch blasser als ohnehin wirken ließ.
      Und er war so jung, so unermesslich jung. In diesem Moment, in diesem sterilen, ungemütlichen Zimmer, 15 Jahre später, spürte sie zum ersten Mal wirklich, wie jung Leo und er damals gewesen waren – und wie sehr er ihre Hilfe gebraucht hätte.
      Er war genauso erschreckt über ihr Wiedersehen wie sie, das sah sie ihm an, wie er vor ihr stand, noch immer ein wenig in Leos Richtung gedreht, die Muskeln angespannt, die Gelenke steif. Als Caro ihr erzählt hatte, dass Leos neuer Kollege Adam war, hatte sie es ihrer Tochter nicht glauben wollen und für einen dummen Scherz gehalten. Aber dann war Leo zum Essen gekommen und mit ihm dieses finstere Wabern, das sie sofort angesprungen hatte wie ein wildes Tier, dieser düstere Dunst, der an ihm haftete und den er nie ganz hatte ablegen können, den sie aber doch zwischenzeitlich fast vergessen hatte. Und jetzt stand er wie ein Nebel, beinahe so greifbar wie Adam, ganz plötzlich wieder im Raum, fast so präsent wie damals, dass er ihr in die Bronchien zu kriechen schien wie Giftgas mit einer vereisenden Wirkung.
      Es hatte lange gedauert, bis ihr Junge wieder ihr Leo geworden war. Sie hatte ihn falsch verstanden, hatte gedacht, dass er etwas mit Adam hatte unternehmen wollen, aber er war ins Kino gegangen, ganz spontan, wie er ihr in abgerissenen Worten erzählt hatte, nachdem die Haustür geklappt und er versucht hatte, sich an ihr vorbei in sein Zimmer zu schleichen. Verweint war er gewesen, als er am Küchentisch gesessen hatte, die Finger um ein Glas Apfelsaft gekrampft. Es hatte ein Unglück gegeben, Adams Vater war mit einer schweren Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht worden. Was er bei Adam gemacht habe? Spontan bei ihm vorbeigesehen, genauso spontan, wie er beschlossen hatte, doch lieber ins Kino zu gehen, hatte er geschnappt, um dann erst einmal zu verstummen. Danach war alles anders gewesen. Leo war manchmal tagelang nicht nennenswert aus seinem Zimmer gekommen, nicht einmal Caro hatte mehr Zugang zu ihm gefunden, dabei waren sie ein fest eingeschworenes Team gewesen: Leo, der große Bruder, sanftmütig und mit Beschützerinstinkt versehen, Caro, die kleine Schwester aus dem Bilderbuch, die süße, kleine Prinzessin, die zu Leo aufgesehen hatte. Ab diesem Tag hatten die Reibereien zwischen ihnen zugenommen, ihre Wege hatten sich gegabelt und ihre Berufswünsche mit einem Mal felsenfest aufgeragt. Adam war nie mehr bei ihnen aufgetaucht und sie hatte ihn ein letztes Mal bei Leos und seiner Abiturfeier zu Gesicht bekommen: im schwarzen Anzug, mit gehetztem Blick und längeren Haaren, die ihm über die Augen gefallen waren, einem wie festgetackerten schiefen Grinsen im Gesicht und viel zu viel Alkohol im Blut.
      Wie damals rann ihr auch jetzt Eiswasser durch die Adern, als sie sich ihm wieder gegenüberfand, diesem seltsamen jungen Mann, dessen Blick so hell durchscheinend und so dunkel zugleich auf ihr ruhte, unbewegt, aber tosend, zitternd. Und genau wie damals schwelte in ihrer Brust ein Glühpunkt, der Drang, ihn einfach einmal in ihre Arme zu ziehen und festzuhalten, damit er nicht fortgerissen würde von der unsichtbaren Schattenwand, die sich in seinem Rücken unaufhaltsam an ihn heranschob.
      Nein, sie hatte einfach nicht genug Mut besessen. Insgeheim hatten sie doch alle Bescheid gewusst, der Sportlehrer, Adams Nachbarn, sie, Thomas und die Jungen aus der Klasse, Florian, Stefan und Sebastian bestimmt, andere nicht, die noch kleine Schlafmützen gewesen waren wie Benedikt. Petra jedenfalls hatte sich selbst belogen und Adams Spiel mitgespielt, als sie in Leos Zimmer gekommen war und er den Kopf gehoben und es nicht gewagt hatte, eine stumme Bitte um Hilfe in seinen Augen aufschimmern zu lassen, von denen das eine blutunterlaufen und von einem dunkelvioletten Hämatom umgeben gewesen war. Den Gips an seinem Arm hatte er besser zu verbergen gewusst, sie aber nicht einmal mehr angesehen, als er auf ihre Frage nur »Fehler bei Karate« gemurmelt hatte. Ja, sie hatte ihm gegenüber etwas versäumt, und das würde sie in diesem Leben nicht mehr gutmachen können, das würde sie verfolgen wie sein Anruf gestern Abend. Seine Stimme hatte sie nicht erkannt, ganz förmlich war sein leiser Gruß »Guten Abend, Frau Hölzer« durch die Leitung geweht, wie von einem dieser Callcenteragenten, die für die verzweifelte Suche nach Opfern für Telefonumfragen irgendwann auch einmal bei ihnen anlangten. Erst dann hatte er sich gemeldet. »Adam. Adam Schürk.« Das war alles gewesen und hatte ihr trotzdem beinahe den Hörer aus der Hand gerissen.
      Unwillkürlich machte sie jetzt einen Schritt auf ihn zu. Sofort bildeten sich zwei angedeutete Falten zwischen seinen Brauen, fortgewischt war alles, was in seinem Gesicht vielleicht zu lesen gewesen wäre, wenn sie nur einmal mehr Zeit gehabt hätten. Seine Augen waren eine undurchdringliche Gletscherwand.
      »Du hast versprochen, dass du auf ihn aufpasst!«
      Auf Caros Schrei warf er den Kopf herum, sein Kiefergelenk sprang scharf hervor. Petra war zu langsam, sie konnte nur zusehen, wie Caro zu ihm stürzte und auf seine Schultern, seine Oberarme, seine Brust einhieb. Vorsichtig, als teste er die Festigkeit des Untergrunds in seinem Rücken und nicht als wolle er sich in Sicherheit bringen, machte er einen Schritt zurück. Mit vor dem Körper flach ausgestreckten Händen fing er Caros Schläge ab, sie hatte keine Chance und doch überwältigte in Petra der Impuls, Adam vor Caros Hieben bewahren zu wollen, beinahe den Reflex nach Fürsorge für ihre Tochter. Noch immer konnte Petra sich nicht rühren, sie beobachtete, wie Adam Caros kleine Fäuste sanft in seine langen, sehnigen Hände nahm und sie zwischen ihre beiden Körper zog.
      »Du hast es versprochen!« wimmerte Caro, jede Spannung fiel aus ihren Schultern, als sie sich den Schluchzern überließ. Thomas trat hinter sie und fasste sie bei den Oberarmen, da wurde Petras Blick von einer Bewegung aus dem Augenwinkel abgezogen.
      Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Leo hatte den Kopf gedreht, gerade schlug er die Augen auf.
      »Leo, Schatz – hallo.«
      Der verhärtete Knoten in ihrer Brust platzte, als sie zu seinem Bett eilte, es war wie bei einer Blase aus erstarrter Lava, durch deren Risse das Magma hindurchquoll, schwer und warm.
      Leo lächelte, ein wenig müde zwar, aber ganz eindeutig mit wachem, klarem Blick. »Hallo, Mama.«
      Sie konnte gerade noch nach seiner Hand fassen, da schob Caro sich schon an ihr vorbei und umschlang ihn.
      »Oh Gott, Leo!«
      Ächzend rückte er sich unter ihr zurecht, die, jetzt nur noch leise weinend, das Gesicht an seine Schulter drückte. Während er ihr den Rücken tätschelte, wandelte sich sein Lächeln zu einem schalkgefärbten Grinsen, das er kurz Petra schenkte, bevor er es über Caro hinweggleiten ließ.
      »Alles gut, Caro, es ist ja nichts passiert.«
      »Nichts passiert?« Sie drückte sich so vehement von ihm ab, dass er das Gesicht verzog. »Nichts passiert, nennst du das?«
      »Schrei doch nicht so«, bat er, die Stirn in Falten gelegt.
      »Du bist plötzlich verschwunden, wir wissen stundenlang nicht, was los ist, und dann sehen wir dich im Krankenhaus wieder mit einer Gehirnerschütterung und du nennst das ‚Nichts passiert‘?«
      Leo lächelte an ihr vorbei Thomas zu, der ihm die Hand drückte.
      »Na?« Thomas nickte ihm zu, was Leo erwiderte, angedeutet nur.
      Schon beanspruchte Caro Leos Hand wieder für sich. Es half, dass Thomas ihr einen Stuhl hinschob, nach dem ersten Schreck beruhigte sie sich schnell. Sie beugte sich dicht zu ihrem Bruder, legte einen Arm um seinen Kopf und kraulte seine Haare über der Stirn. »Was ist eigentlich passiert? Erzähl mal.«
      In einer zähen Bewegung schüttelte er den Kopf, wandte ihr dann sein Gesicht zu. »Ich hab noch Pizza geholt, wie abgesprochen, aber dann – weiß ich irgendwie nichts mehr.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, wanderten seine Augen für einen Moment, ohne zu fokussieren, im Zimmer umher. »Ich bin in einem Kellerloch aufgewacht, mit gefesselten Händen und einem Knebel im Mund, und … dann kamen zum Glück schon Pia und Adam und haben mich losgemacht.«
      Caros Blick war vor Entsetzen scharf konturiert, sie fixierte Leo, als wolle sie verhindern, dass man ihn ihr sofort wieder wegnehmen könne. Nach einigen Sekunden nickte sie langsam, vorsichtig umfasste sie seine Schulter, streichelte ihn dort weiter, nachdem sie von seinem Haar abgelassen hatte, und lächelte ganz schwach. Von der Seite sah Petra einen Tränenfilm auf ihren Augen schimmern.
      Sie riss sich vom Anblick ihrer wiederzusammengeführten Kinder los und wandte sich um. Adam – richtig, er war ja da gewesen. Doch jetzt war er fort, still und stumm hatte er sich davongestohlen, schattengleich, ohne auch nur ein Rascheln von Stoff oder das Schleifen eines Schrittes zu verursachen. Er war schon immer gut darin gewesen, keine Spuren zu hinterlassen. Wenn Leo vor Adam Freunde zu Besuch gehabt hatte, was leider selten genug der Fall gewesen war, oder Caro eine Freundin, dann war immer der Moment gekommen, ab dem Petra unfreiwilligerweise einbezogen worden war. Bei Adam aber war dieser Augenblick jedes Mal ausgefallen. Meistens waren Leo und er ohnehin unterwegs gewesen, aber wenn sie bei ihnen gewesen waren, war Petra oft genug bei den beiden hereingeplatzt, weil sie gar nicht gewusst hatte, dass Adam da war. Er war nicht zu spüren gewesen.
      Und doch war es jetzt wieder genau wie damals. Er hatte einen Abdruck zurückgelassen, eine Prägung, schwarz wie von Tusche, und wenn man den Blick danach wandte, gefror etwas in einem. Sie drehte sich zurück, ihr Blick flog aus dem Fenster auf den Horizont zu. Die Sonne kämpfte sich mühsam durch eine gezackte Naht in der dichten Wolkendecke. Caro zog die Nase hoch und lachte über irgendetwas, das offenbar Leo gerade gesagt hatte, seinem Grinsen nach zu schließen, das ihm in den Mundwinkeln stockte und unter seinem langsamen Blinzeln schon wieder verblasste. Da wandte Thomas den Kopf nach ihr. Für eine Sekunde stand eine Frage in seinen haselnussbraunen Augen, bevor sie unter diesem einen Lächeln verwehte und einem warmen Schimmer Platz machte. Als er einen zweiten Stuhl neben Caros schob, folgte sie der Einladung und ließ sich bereitwillig in die goldene Kugel hineinziehen, in die Dunkelheit und Kälte keinen Weg fanden.
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