Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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Dieses Kapitel
1 Review
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06.05.2023
2.977
Weiter geht‘s, meine Lieben – ich wünsche Euch viel Vergnügen mit dem neuen Kapitel und natürlich ein schönes Wochenende!
PS: Liebe Net Sparrow, wie Du es nur immer schaffst, Dich nach so vielen Reviews mit jedem neuen wieder selbst zu übertreffen, verdient den höchsten Respekt und meinen größten Dank. Fühl Dich virtuell gedrückt, Du bist mir eine ganz große Stütze!! Diese Geschichte gehört ja ohnehin schon längst Dir, doch natürlich will ich den offiziellen Akt nicht versäumen, deshalb nun endlich hier: Das „Oberwasser“ sei Dir gewidmet.
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Kapitel 25 – Im Vorübergehen
Dass Adam ihre Hand nicht wegschob, als Pia in seine Jackentasche fasste, machte sie nervöser, als es jede andere Reaktion von seiner Seite hätte tun können. Er regte sich überhaupt nicht, während sie seinen Autoschlüssel an sich brachte. Ihre Hand war auf seinem Oberarm liegen geblieben und sie nahm sie auch jetzt nicht weg, während sie die Autotür zuwarf. Es klatschte dumpf, als knalle jemand seine Faust träge in einen Sandsack. Die Blinklichter glommen beim Absperren einmal kurz auf, schwebten wie Glühwürmchen in der Dunkelheit. Einen Arm um Adams Taille gelegt, bugsierte sie ihn vorsichtig über die Straße. Vor der Eingangstür hielten sie, aus dem Augenwinkel sah Pia, während sie aufschloss, wie Adam den Kopf hängen ließ. Erst das kaltweiße Garderobenlicht offenbarte ihr in vollem Ausmaß, wie blass er war.
»Scheiße, Adam«, entwich ihr, als sie sich umwandte und die Tür zuschob. »Schaffst du es, deine Stiefel auszuziehen?«
Zu einer Antwort reichte es nicht mehr, er konnte kaum noch die Augen offen halten, das sah sie ihm an, obwohl er sich vornüberbeugte und seinen Blick vor ihr verbarg. Nach einigen Sekunden, in denen er aus der Höhe steif an seinen Schnürsenkeln genestelt hatte, ging er auf ein Knie, machte am Boden weiter. Pia behielt ihn genau im Auge, während sie ihre Jacke abstreifte. Er brauchte mindestens doppelt so lang wie sonst, bis er aus seinen Schuhen geschlüpft war. Einer seiner Stiefel kippte um, als er sich hochschraubte, sie ließen ihn einfach liegen. Adams Wachsjacke war kalt unter ihren Fingern, am Arm zog sie ihn in die Höhe. Er kämpfte noch mit dem Reißverschluss, zerrte ihn zu einem Drittel auf, bevor die Metallzähnchen sich wieder sperrten, da fuhr Pia ihm schon in den Kragen, weiter zu seinen Schultern. Vorsichtig, als leide er unter den Schmerzen einer Prellung, streifte sie seine Jacke ein Stück ab, während sie ihm den Zipper aus den Fingern nahm und den Reißverschluss in einer fließenden Bewegung ganz aufzog. Sie schob seine Ärmel weiter hinunter, Adam schlotterte unter ihrer Berührung, für einige Sekunden schlugen seine Zähne aufeinander, dann biss er sie so fest zusammen, dass das Geräusch verstummte. Allein seinen stolpernden Atem vernahm Pia noch in ihrem Rücken, während sie den Aufhänger seiner Jacke über den Haken an der Garderobe pfriemelte, den mittleren, als spiele das eine Rolle, als hänge alles voll und sei nicht unberührt wie am ersten Tag.
»Komm«, wisperte sie und legte behutsam den Arm wieder um ihn. Langsam ging sie neben ihm her zum Schlafzimmer, führte ihn zum Schrank, wo sie ihn losließ. Sie musste nur zugreifen, Adam hatte nichts verändert, der Pyjama lag noch genau dort, wo sie ihn nach Weihnachten eingeordnet hatte, ein vollkommen unnützes Geschenk. Jetzt drückte sie ihn ihm in den Arm. »Zieh den an – ich geb noch schnell Esther Bescheid.« Mit einem zu heftigen Ratschen schloss sie die Vorhänge. Als sie sich zum Gehen wandte, schälte Adam sich bereits aus seinem Rollkragenpullover. Sie zwang sich dazu, den Blick von ihm abzuwenden, während sie die Tür hinter sich zuzog und ihr Handy aus der Jackentasche fischte. Ihre Finger suchten nur zäh Esthers Kontakt, allmählich nahm auch ihre Müdigkeit überhand, das fühlte sie erst jetzt wirklich. Bevor sie auf den Aufnahmebutton drückte, hob sie den Kopf, lauschte, doch von der anderen Seite kam kein Laut. Vielleicht war Adam umgekippt und hatte sich –
»Hallo, Esther, Folgendes«, begann sie, sofort nachdem sie auf das Mikrofonsymbol getippt hatte. »Leo wurde heute Nacht entführt, Adam hatte den Durchschieber, wir haben Leo rechtzeitig gefunden, aber wundere dich nicht, wenn du morgen erst mal allein startest und Personenschutz kriegst. Ich komm später.« Das musste reichen. Sie versenkte ihr Handy in der Gesäßtasche und klopfte mit dem Fingerknöchel an. »Adam?«
Alles blieb still. Während sie sich nochmals leise bemerkbar machte, schob sie langsam die Tür auf. Adam stand mit dem Rücken zu ihr, sie erhaschte gerade noch einen raschen Blick auf einen schmalen Streifen seiner hellen Haut über dem Bund der Pyjamahose, bevor er das Oberteil zurechtzog. Seine Kleider lagen in einem Haufen zu seinen Füßen. Er wandte nicht einmal mehr den Kopf nach ihr, sondern tappte zum Bett, griff nach der Decke.
»Warte.«
Ohne ein Wort, die Arme um sich geschlungen, in dem erfolglosen Versuch, sein Zittern zu bezähmen, sah er ihr dabei zu, wie sie die Decke auf die andere Seite hinüberzog und stattdessen die zwei Wolldecken auf die Matratze breitete, die silberfarbene zuunterst, die dunkelrote, die sie aus dem Schrank holte, darüber. Erst dann legte sie die Daunendecke darauf, bevor sie die beiden oberen Decken zurückschlug und danach nickte.
»Leg dich hin.« Adams Blick lag starr auf dem Bett, es dauerte einen Moment, ehe Bewegung in ihn fuhr. Die Farbe seines Pyjamas hatte sie tatsächlich genau richtig ausgewählt, das Dunkelblau stand ihm bestechend gut, sein Haar leuchtete sonnenblond dagegen, auch wenn es zerzaust war, strähnig –
Sein Zittern begleitete seine Schritte, das Hineingleiten zwischen die Wolldecken.
»Ich bin gleich da.« Sie fischte Adams Kleider vom Boden, sie schienen ihr schwerer als erwartet, klamm, getränkt von kaltem Schweiß. Schlampig tastete sie seine Jeanstaschen ab, sein Handy musste in seiner Jacke sein. Den Haufen warf sie achtlos in die Ecke. Adam hatte sich vollkommen zwischen die Decken vergraben, schlotterte darunter vor sich hin, sein stockender Atem stieß sich am Kissen. Sie huschte um ihn herum, kramte ihren Schlafanzug auf ihrer Bettseite hervor, ihr Smartphone legte sie auf das Nachtkästchen. Noch auf dem Weg zur Tür streifte sie ihre Jacke ab und ließ sie fallen, sie löschte das Licht, bevor sie sich ausgezogen hatte. Nicht einmal mit dem Fuß schob sie ihre Kleider aus dem Weg, sie stieg einfach darüber hinweg und tastete sich durch die vollkommene Dunkelheit vorsichtig zum Bett, Adams ruckartige Atemzüge waren ihr Leuchtturm. Gerade als sie ein Knie auf die Matratze setzen wollte, hielt sie inne und wandte sich noch einmal um. Ihre Hand fand das Fensterbrett, fasste tiefer, der Heizkörper hallte wie ferne Glocken unter ihren leichten Schlägen, da stießen ihre Fingerspitzen endlich gegen den Thermostaten. Sie drehte die Heizung voll auf, dann setzte sie sich aufs Bett, streckte sich aus. Adams Atemzüge stotterten ganz nah vor ihr, er musste ihr auch weiterhin das Gesicht zugewandt halten. Sowie sie die Decken über ihm aufhob, zog er unter dem Luftzug, der ihn erfasste, den Kopf enger zur Brust, doch sie hatte sich noch nicht vollständig ins Liegen begeben, da drückte er sich schon an sie. Die Behutsamkeit ihrer Berührungen, als sie den einen Arm unter seinem Nacken hindurchschob, den anderen um ihn legte, hätte es nicht gebraucht, unter seinem Zittern waren seine Bewegungen grob. Noch dichter drängte er sich an sie, der leichte Pyjamastoff war seidig und anschmiegsam unter ihren Fingern, Adams Knochen zeichneten sich scharfkantig darunter ab, als sie über sein Schulterblatt zu seinem Rücken glitt. Sie gierte danach, die Hand unter das Oberteil zu schieben, der glatten, weichen Haut, die es vor ihr verbarg, nachzuspüren, wie vorhin, als sie vorsichtig hin- und hergestreichelt hatte, direkt unter seinem Schultergürtel –
Meine Güte, wie verdammt bedürftig war sie eigentlich danach, Adam zu berühren, am liebsten ohne eine störende Schicht Stoff dazwischen, dabei war das ja wohl alles andere als der richtige Moment dafür. Modal, lenkte sie ihre Gedanken ab, war nicht das Richtige, sie hätte Fleece wählen sollen. Ein kleines Stück noch drückte Adam sich enger an sie, mehr war nicht möglich. Er lag so dicht an sie gepresst, wie es ging, und suchte ihre Wärme, während sein Körper eine Hitze auszustrahlen begann, der nicht beizukommen wäre, das fühlte sie nun durch den dünnen Stoff hindurch. Er hatte also doch Fieber, sie hätte es wissen müssen. Mit festem, gleichmäßigem Druck fuhr sie seinen Rücken hinauf und hinunter, entlockte ihm keine Reaktion, die sein heftiges Schlottern durchbrochen hätte. Sein Herz pochte viel zu schnell an ihrem Rippenbogen, sein heißer Atem hetzte ihren Hals hinab, an ihrer Taille brannte sich die Kälte seiner Finger bis auf ihre Haut hindurch. Wenn sein Fieber weiter steigen würde, dachte sie noch, während sie nach seiner Stirn fasste, würde sie nachmessen und ihm etwas dagegen geben müssen. Ganz leicht drehte Adam den Kopf, entwand sich ihrer Berührung und drückte sein Gesicht an ihren Hals. Sie schauderte, als er tief Luft holte, noch immer stand auf seinen Wangen, seinen Schläfen dieser feuchtkalte Schweißfilm, während seine Haut darunter glühte. Ihre Hand schob sich, die Finger gespreizt, zwischen seine Schulterblätter, die andere umschloss weiterhin seine Schulter. Jetzt zog sie ihn doch noch ein Stückchen weiter zu sich, kippte seinen Körper, dass er ein wenig auf ihr zu liegen kam. Es zuckte durch ihren Kopf, dass sie ihn fragen sollte, ob er das von früher kannte, dieses eigenartige Fieber, das er nun schon öfter gehabt hatte, und ob er wusste, was man dagegen ausrichten konnte, aber er war so weich in ihren Armen, so verdammt weich, auch wenn sie durch seinen seidigen Pyjama jeden Knochen hindurchspürte, sein Atem ging jetzt lauter, stieß sich an ihrem Halsansatz, ihrer Brust, aber das Hin und Her war ruhiger, langsamer, und vielleicht täuschte sie sich auch nur, aber sein Zittern schien ihr nachzulassen, es glich sich in pulsierenden Wellen ein wenig ihrer Hand an, die seinen Arm entlangfuhr, hinauf und hinab, hinauf und hinab, während ihre Lippen seine Schläfe fanden, die Berührung aufhoben, nur um sich in Richtung auf seine Wange zu wieder auf seine Haut zu senken und wieder und wieder.
Vanille. Vanille war es, umhüllende und einlullende Vanille, aber keine, die hellgelb roch wie Cremepudding, der aus dem Kühlregal mit süßer, gekringelter Sahne oben darauf, sondern eine schwere, dunkle Vanille, die wie ein duftiger Schleier über etwas Raues, Aufgeworfenes gebreitet war, das aus der Nacht kam, aber nicht aus diesen Nächten voll Angst und Einsamkeit und Dämonenjagen, sondern aus einer Nacht, die Geborgenheit, Frieden, Ruhe, Sicherheit, Sinnlichkeit verhieß. Süß und betäubend duftete es, übertupft durch etwas Frisches, Fruchtiges, man wollte sich darin verlieren, darin aufgehen, sich nie wieder daraus lösen. Und warm, warm war es, als gebe es keine Kälte auf dieser Erde.
Adam drehte den Kopf, ganz leicht, folgte nur diesem Duft, dieser Wärme, um sich noch dichter der Quelle von beidem entgegenzurecken, denn dass sie einen gemeinsamen Ursprung hatten, das wusste er. Durch seine Lider schimmerte es sachte wie von der aufgehenden Sonne. Mit dem nächsten Luftholen atmete er dem leichten Gewicht entgegen, das auf seiner Taille lag, er fühlte den dünnen Fingern nach, fasste unwillkürlich nach der kleinen Hand und barg sie unter seiner, die er darauflegte, ganz leicht nur, ohne sie hin und her zu bewegen. Weich war die Haut an seiner, ganz so wie das Haar an seinem Kiefer, die Haut der Stirn kurz unter seinem Kinn. Sein Hals war nackt, seine Schutzlosigkeit ließ ihn für einen Augenblick die Luft anhalten, doch der sanfte Hauch, der einige Sekunden andauerte, aussetzte, wiederkehrte, liebkoste, er wärmte ihn auf Höhe seines Kehlkopfes, glitt daran hinunter, bis in die Kuhle an seinem Schlüsselbein. Aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Tastendes, Suchendes, Behütendes, eine Berührung, so sanft wie ein Hauch, ein Gedanke nur, kurz hinter seinem Augenwinkel, ein wenig tiefer dann, und noch tiefer, auf seinem Wangenknochen entlang –
Wie ein Blitz sprang ihm plötzlich ein Bild vor die Augen, wie ein Dolch trieb es sich ihm in den Leib, es ließ seine Brust mit einem Schlag so erstarren, dass er keine Luft mehr bekam.
Leo.
Leo, der vornübergesunken auf einem Stuhl hing, gehalten nur von seinen hinter der Lehne gefesselten Händen.
Leo, der für eine Sekunden nicht aufblickte, während Adam mit Pia an seiner Seite in den Keller stürmte.
Leo, der viel zu blass war.
Adam riss die Augen auf. Sein Blick fing sich an der Nachttischlampe, die einen warmgelben Schein über alles goss, die silbergrauen Vorhänge, die weinrote Decke, das kupferne Haar direkt vor ihm. Gerade noch hatte er abwehren können, dass er unter dem Eindruck zusammenschrecke, indem er sich auf einen Schlag angespannt hatte. So weich lag Pia neben ihm, ihr zierlicher Körper hatte sich ganz in seine Umfassung hineinbegeben, lag dicht an ihn geschmiegt, als könne er ihr die Wärme schenken, die nur sie auszustrahlen vermochte. In einer gleichmäßigen Bewegung nahm er den Kopf zurück, senkte ihn, konnte sich in einem letzten Überwältigen eines Urimpulses davon abhalten, mit den Lippen diese makellose, alabasterne Stirn zu berühren.
Eine Welle mörderischer Übelkeit durchfuhr ihn, ließ ihn lautlos würgen. Die Samtigkeit ihrer Lippen an seinen, die sie sogar durch ihren Kuss zu wärmen vermocht hatte, diesen verbotenen, diesen geraubten, frevelhaften Kuss, der brechende Widerstand ihres Körpers, als er sie an sich gezogen, ja gerissen hatte in der dafür viel zu engen Fahrerkabine, viel zu fest, viel zu gewaltsam, allein von der Stillung seines Begehrens getrieben, mit ihr zu verschmelzen, sie in sich aufzunehmen, sie einzuhüllen in ewiger Dankbarkeit, sie zu schützen, zu behüten, was musste sie auch Polizistin sein, die sie so verletzlich war, aber nein, sie war stark, so viel stärker als er jemals werden könnte in diesem verdammten Leben seiner verfickten Existenz –
Er ließ seinen Ärger sich an seinen Zähnen austoben, biss sie so fest zusammen, dass er das Gefühl hatte, sein Kiefer müsse springen, biss noch fester zu, als er von Pia zurückrutschte, als er seinen Arm unter ihrem Nacken, ihrem so dünnen Nacken herauszog. Er hielt noch immer den Atem an, jetzt nahm er es wahr, seine Lunge sperrte sich allmählich, aber lieber würde er ersticken, als nur eine unbedachte Bewegung zu machen und Pia aus dem Schlaf zu reißen, in dem sie wie ein Kind schlummerte, ruhig, friedlich, mit einem ganz kleinen Lächeln, das ihre perfekten Lippen umspielte, mit diesem schlafwarm rötlichen Hauch auf den Wangen, das konnte er nun sehen, da er ein wenig von ihr abgerückt war. Weiter als eineinhalb Handbreit kam er allerdings nicht, denn Pias Finger lagen in den Stoff seines Pyjamaoberteils gekrallt. Direkt darunter fuhr ihm ein leises Ziehen in die Brust, als ihm bewusst wurde, wo genau ihre Hand lag. Es war vollkommener Unsinn, aber er kam nicht gegen den Gedanken an, bat still darum, das heftigere, schnellere Pochen seines Herzens unter ihrer kleinen Hand würde sie nicht aufschrecken. Es durchfuhr ihn heiß, als er seine Hand auf ihre legte, er zog die Lippen nach innen, hielt sich einige Sekunden reglos, bevor er die aufgestaute, verbrauchte Luft langsam und gleichmäßig aus seiner Lunge strömen ließ. Es war ein gottverdammter Frevel, dass er sie berührte, einfach so, schon wieder, hier und jetzt, ja, das war es, aber ihm fiel nichts Besseres ein, um sie von sich zu lösen. Mit so wenig Druck wie möglich schmiegte er seine Hand an ihre, streichelte sie flach und geschmeidig, bis sie nur noch ganz locker unter seiner über der Knopfleiste lag und er sie von seiner Brust aufheben konnte. Sie war so klein, das Licht bestrich warm und weich ihre dünnen Finger, die niedlichen Nägel, die feinen Gelenke. Wenigstens waren seine Hände nicht so kalt wie sonst, und doch strahlte ihre Haut so viel Wärme an seinen Fingern, seinem Mund aus. Ruckartig hob er den Kopf vom Kissen, als ihm bewusst wurde, was er gerade getan hatte. Seine Lippen spürten noch dem seidigen Gefühl ihres Handrückens, der Kuppen von Zeige- und Mittelfinger nach, da schlug ihn abermals die Übelkeit nieder, dass er beinahe gekeucht hätte, genauso wie vorhin, als er Leo vor sich gesehen hatte, ganz genau so und doch wieder ganz anders. Adam zwang sich, seinen Arm langsam von Pias Schultern zu heben, kämpfte seinen Drang nieder, einfach aufzuspringen. Er hätte sich die Lippen abreißen, die Haut abziehen mögen. Hatte man das nicht mit irgendeinem Märtyrer gemacht? Aber genau das war er eben nicht, er war kein Heiliger, er kam von der anderen Seite. Das, was man ihm abgeschnitten oder ausgerissen hätte, hätte nicht als Reliquie, sondern nur im Freien aufgespießt und langsam vor sich hin verrottend, verwesend als Drohung für alle anderen Frevler seines Kalibers dienen können, und mit diesen war die Welt gepflastert.
So leise und doch zugleich so schnell wie möglich versuchte er, sich aus der Wärme zurückzuziehen, die von Pia ausging und so viel weiter strahlte als nur auf das Laken und die Decken. Flach schob er sich heraus, um der kalten Luft wenig Raum zu geben, um nichts von dem zu verschwenden, was Pia ihm so bereitwillig geschenkt hatte, nicht nur heute, wenn auch an diesem Tag in besonders ausgeprägter Form, aber auch sonst, immer und immer und immer wieder.
Es stand ihm nicht zu, aber er konnte sich für einen Moment nicht lösen. Es war wie der Bannkreis einer guten Fee, der ihn festhielt, ihn auf der Bettkante sitzen und auf Pia herabblicken ließ, die sich nicht gerührt hatte und noch genauso lag wie zuvor, nur ohne ihn neben sich. Sie zog ihn automatisch zu sich, seine Lippen gierten danach, ihre Wange zu berühren, das Gefühl ihrer weichen Haut an seiner in sich aufzunehmen und für immer in sich zu bewahren, wenn die Menschheit schon Geschichte wäre, weil die Erde zum weißen Zwerg, roten Riesen, einem schwarzen Loch oder was auch immer geworden wäre, das wusste er nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er musste endlich, endlich lernen, stärker als er selbst zu sein.
So langsam, dass es kein Geräusch verursachte, holte er so tief Luft, bis es nicht mehr weiterging. Kleine Schritte, wenigstens am Anfang. Er streichelte die Decke dort, wo Pia nichts davon mitbekam, dann stand er auf.
Dortmund. Oder Frankfurt. Zurück nach Berlin?
Ja. Vielleicht.
PS: Liebe Net Sparrow, wie Du es nur immer schaffst, Dich nach so vielen Reviews mit jedem neuen wieder selbst zu übertreffen, verdient den höchsten Respekt und meinen größten Dank. Fühl Dich virtuell gedrückt, Du bist mir eine ganz große Stütze!! Diese Geschichte gehört ja ohnehin schon längst Dir, doch natürlich will ich den offiziellen Akt nicht versäumen, deshalb nun endlich hier: Das „Oberwasser“ sei Dir gewidmet.
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Kapitel 25 – Im Vorübergehen
Dass Adam ihre Hand nicht wegschob, als Pia in seine Jackentasche fasste, machte sie nervöser, als es jede andere Reaktion von seiner Seite hätte tun können. Er regte sich überhaupt nicht, während sie seinen Autoschlüssel an sich brachte. Ihre Hand war auf seinem Oberarm liegen geblieben und sie nahm sie auch jetzt nicht weg, während sie die Autotür zuwarf. Es klatschte dumpf, als knalle jemand seine Faust träge in einen Sandsack. Die Blinklichter glommen beim Absperren einmal kurz auf, schwebten wie Glühwürmchen in der Dunkelheit. Einen Arm um Adams Taille gelegt, bugsierte sie ihn vorsichtig über die Straße. Vor der Eingangstür hielten sie, aus dem Augenwinkel sah Pia, während sie aufschloss, wie Adam den Kopf hängen ließ. Erst das kaltweiße Garderobenlicht offenbarte ihr in vollem Ausmaß, wie blass er war.
»Scheiße, Adam«, entwich ihr, als sie sich umwandte und die Tür zuschob. »Schaffst du es, deine Stiefel auszuziehen?«
Zu einer Antwort reichte es nicht mehr, er konnte kaum noch die Augen offen halten, das sah sie ihm an, obwohl er sich vornüberbeugte und seinen Blick vor ihr verbarg. Nach einigen Sekunden, in denen er aus der Höhe steif an seinen Schnürsenkeln genestelt hatte, ging er auf ein Knie, machte am Boden weiter. Pia behielt ihn genau im Auge, während sie ihre Jacke abstreifte. Er brauchte mindestens doppelt so lang wie sonst, bis er aus seinen Schuhen geschlüpft war. Einer seiner Stiefel kippte um, als er sich hochschraubte, sie ließen ihn einfach liegen. Adams Wachsjacke war kalt unter ihren Fingern, am Arm zog sie ihn in die Höhe. Er kämpfte noch mit dem Reißverschluss, zerrte ihn zu einem Drittel auf, bevor die Metallzähnchen sich wieder sperrten, da fuhr Pia ihm schon in den Kragen, weiter zu seinen Schultern. Vorsichtig, als leide er unter den Schmerzen einer Prellung, streifte sie seine Jacke ein Stück ab, während sie ihm den Zipper aus den Fingern nahm und den Reißverschluss in einer fließenden Bewegung ganz aufzog. Sie schob seine Ärmel weiter hinunter, Adam schlotterte unter ihrer Berührung, für einige Sekunden schlugen seine Zähne aufeinander, dann biss er sie so fest zusammen, dass das Geräusch verstummte. Allein seinen stolpernden Atem vernahm Pia noch in ihrem Rücken, während sie den Aufhänger seiner Jacke über den Haken an der Garderobe pfriemelte, den mittleren, als spiele das eine Rolle, als hänge alles voll und sei nicht unberührt wie am ersten Tag.
»Komm«, wisperte sie und legte behutsam den Arm wieder um ihn. Langsam ging sie neben ihm her zum Schlafzimmer, führte ihn zum Schrank, wo sie ihn losließ. Sie musste nur zugreifen, Adam hatte nichts verändert, der Pyjama lag noch genau dort, wo sie ihn nach Weihnachten eingeordnet hatte, ein vollkommen unnützes Geschenk. Jetzt drückte sie ihn ihm in den Arm. »Zieh den an – ich geb noch schnell Esther Bescheid.« Mit einem zu heftigen Ratschen schloss sie die Vorhänge. Als sie sich zum Gehen wandte, schälte Adam sich bereits aus seinem Rollkragenpullover. Sie zwang sich dazu, den Blick von ihm abzuwenden, während sie die Tür hinter sich zuzog und ihr Handy aus der Jackentasche fischte. Ihre Finger suchten nur zäh Esthers Kontakt, allmählich nahm auch ihre Müdigkeit überhand, das fühlte sie erst jetzt wirklich. Bevor sie auf den Aufnahmebutton drückte, hob sie den Kopf, lauschte, doch von der anderen Seite kam kein Laut. Vielleicht war Adam umgekippt und hatte sich –
»Hallo, Esther, Folgendes«, begann sie, sofort nachdem sie auf das Mikrofonsymbol getippt hatte. »Leo wurde heute Nacht entführt, Adam hatte den Durchschieber, wir haben Leo rechtzeitig gefunden, aber wundere dich nicht, wenn du morgen erst mal allein startest und Personenschutz kriegst. Ich komm später.« Das musste reichen. Sie versenkte ihr Handy in der Gesäßtasche und klopfte mit dem Fingerknöchel an. »Adam?«
Alles blieb still. Während sie sich nochmals leise bemerkbar machte, schob sie langsam die Tür auf. Adam stand mit dem Rücken zu ihr, sie erhaschte gerade noch einen raschen Blick auf einen schmalen Streifen seiner hellen Haut über dem Bund der Pyjamahose, bevor er das Oberteil zurechtzog. Seine Kleider lagen in einem Haufen zu seinen Füßen. Er wandte nicht einmal mehr den Kopf nach ihr, sondern tappte zum Bett, griff nach der Decke.
»Warte.«
Ohne ein Wort, die Arme um sich geschlungen, in dem erfolglosen Versuch, sein Zittern zu bezähmen, sah er ihr dabei zu, wie sie die Decke auf die andere Seite hinüberzog und stattdessen die zwei Wolldecken auf die Matratze breitete, die silberfarbene zuunterst, die dunkelrote, die sie aus dem Schrank holte, darüber. Erst dann legte sie die Daunendecke darauf, bevor sie die beiden oberen Decken zurückschlug und danach nickte.
»Leg dich hin.« Adams Blick lag starr auf dem Bett, es dauerte einen Moment, ehe Bewegung in ihn fuhr. Die Farbe seines Pyjamas hatte sie tatsächlich genau richtig ausgewählt, das Dunkelblau stand ihm bestechend gut, sein Haar leuchtete sonnenblond dagegen, auch wenn es zerzaust war, strähnig –
Sein Zittern begleitete seine Schritte, das Hineingleiten zwischen die Wolldecken.
»Ich bin gleich da.« Sie fischte Adams Kleider vom Boden, sie schienen ihr schwerer als erwartet, klamm, getränkt von kaltem Schweiß. Schlampig tastete sie seine Jeanstaschen ab, sein Handy musste in seiner Jacke sein. Den Haufen warf sie achtlos in die Ecke. Adam hatte sich vollkommen zwischen die Decken vergraben, schlotterte darunter vor sich hin, sein stockender Atem stieß sich am Kissen. Sie huschte um ihn herum, kramte ihren Schlafanzug auf ihrer Bettseite hervor, ihr Smartphone legte sie auf das Nachtkästchen. Noch auf dem Weg zur Tür streifte sie ihre Jacke ab und ließ sie fallen, sie löschte das Licht, bevor sie sich ausgezogen hatte. Nicht einmal mit dem Fuß schob sie ihre Kleider aus dem Weg, sie stieg einfach darüber hinweg und tastete sich durch die vollkommene Dunkelheit vorsichtig zum Bett, Adams ruckartige Atemzüge waren ihr Leuchtturm. Gerade als sie ein Knie auf die Matratze setzen wollte, hielt sie inne und wandte sich noch einmal um. Ihre Hand fand das Fensterbrett, fasste tiefer, der Heizkörper hallte wie ferne Glocken unter ihren leichten Schlägen, da stießen ihre Fingerspitzen endlich gegen den Thermostaten. Sie drehte die Heizung voll auf, dann setzte sie sich aufs Bett, streckte sich aus. Adams Atemzüge stotterten ganz nah vor ihr, er musste ihr auch weiterhin das Gesicht zugewandt halten. Sowie sie die Decken über ihm aufhob, zog er unter dem Luftzug, der ihn erfasste, den Kopf enger zur Brust, doch sie hatte sich noch nicht vollständig ins Liegen begeben, da drückte er sich schon an sie. Die Behutsamkeit ihrer Berührungen, als sie den einen Arm unter seinem Nacken hindurchschob, den anderen um ihn legte, hätte es nicht gebraucht, unter seinem Zittern waren seine Bewegungen grob. Noch dichter drängte er sich an sie, der leichte Pyjamastoff war seidig und anschmiegsam unter ihren Fingern, Adams Knochen zeichneten sich scharfkantig darunter ab, als sie über sein Schulterblatt zu seinem Rücken glitt. Sie gierte danach, die Hand unter das Oberteil zu schieben, der glatten, weichen Haut, die es vor ihr verbarg, nachzuspüren, wie vorhin, als sie vorsichtig hin- und hergestreichelt hatte, direkt unter seinem Schultergürtel –
Meine Güte, wie verdammt bedürftig war sie eigentlich danach, Adam zu berühren, am liebsten ohne eine störende Schicht Stoff dazwischen, dabei war das ja wohl alles andere als der richtige Moment dafür. Modal, lenkte sie ihre Gedanken ab, war nicht das Richtige, sie hätte Fleece wählen sollen. Ein kleines Stück noch drückte Adam sich enger an sie, mehr war nicht möglich. Er lag so dicht an sie gepresst, wie es ging, und suchte ihre Wärme, während sein Körper eine Hitze auszustrahlen begann, der nicht beizukommen wäre, das fühlte sie nun durch den dünnen Stoff hindurch. Er hatte also doch Fieber, sie hätte es wissen müssen. Mit festem, gleichmäßigem Druck fuhr sie seinen Rücken hinauf und hinunter, entlockte ihm keine Reaktion, die sein heftiges Schlottern durchbrochen hätte. Sein Herz pochte viel zu schnell an ihrem Rippenbogen, sein heißer Atem hetzte ihren Hals hinab, an ihrer Taille brannte sich die Kälte seiner Finger bis auf ihre Haut hindurch. Wenn sein Fieber weiter steigen würde, dachte sie noch, während sie nach seiner Stirn fasste, würde sie nachmessen und ihm etwas dagegen geben müssen. Ganz leicht drehte Adam den Kopf, entwand sich ihrer Berührung und drückte sein Gesicht an ihren Hals. Sie schauderte, als er tief Luft holte, noch immer stand auf seinen Wangen, seinen Schläfen dieser feuchtkalte Schweißfilm, während seine Haut darunter glühte. Ihre Hand schob sich, die Finger gespreizt, zwischen seine Schulterblätter, die andere umschloss weiterhin seine Schulter. Jetzt zog sie ihn doch noch ein Stückchen weiter zu sich, kippte seinen Körper, dass er ein wenig auf ihr zu liegen kam. Es zuckte durch ihren Kopf, dass sie ihn fragen sollte, ob er das von früher kannte, dieses eigenartige Fieber, das er nun schon öfter gehabt hatte, und ob er wusste, was man dagegen ausrichten konnte, aber er war so weich in ihren Armen, so verdammt weich, auch wenn sie durch seinen seidigen Pyjama jeden Knochen hindurchspürte, sein Atem ging jetzt lauter, stieß sich an ihrem Halsansatz, ihrer Brust, aber das Hin und Her war ruhiger, langsamer, und vielleicht täuschte sie sich auch nur, aber sein Zittern schien ihr nachzulassen, es glich sich in pulsierenden Wellen ein wenig ihrer Hand an, die seinen Arm entlangfuhr, hinauf und hinab, hinauf und hinab, während ihre Lippen seine Schläfe fanden, die Berührung aufhoben, nur um sich in Richtung auf seine Wange zu wieder auf seine Haut zu senken und wieder und wieder.
Vanille. Vanille war es, umhüllende und einlullende Vanille, aber keine, die hellgelb roch wie Cremepudding, der aus dem Kühlregal mit süßer, gekringelter Sahne oben darauf, sondern eine schwere, dunkle Vanille, die wie ein duftiger Schleier über etwas Raues, Aufgeworfenes gebreitet war, das aus der Nacht kam, aber nicht aus diesen Nächten voll Angst und Einsamkeit und Dämonenjagen, sondern aus einer Nacht, die Geborgenheit, Frieden, Ruhe, Sicherheit, Sinnlichkeit verhieß. Süß und betäubend duftete es, übertupft durch etwas Frisches, Fruchtiges, man wollte sich darin verlieren, darin aufgehen, sich nie wieder daraus lösen. Und warm, warm war es, als gebe es keine Kälte auf dieser Erde.
Adam drehte den Kopf, ganz leicht, folgte nur diesem Duft, dieser Wärme, um sich noch dichter der Quelle von beidem entgegenzurecken, denn dass sie einen gemeinsamen Ursprung hatten, das wusste er. Durch seine Lider schimmerte es sachte wie von der aufgehenden Sonne. Mit dem nächsten Luftholen atmete er dem leichten Gewicht entgegen, das auf seiner Taille lag, er fühlte den dünnen Fingern nach, fasste unwillkürlich nach der kleinen Hand und barg sie unter seiner, die er darauflegte, ganz leicht nur, ohne sie hin und her zu bewegen. Weich war die Haut an seiner, ganz so wie das Haar an seinem Kiefer, die Haut der Stirn kurz unter seinem Kinn. Sein Hals war nackt, seine Schutzlosigkeit ließ ihn für einen Augenblick die Luft anhalten, doch der sanfte Hauch, der einige Sekunden andauerte, aussetzte, wiederkehrte, liebkoste, er wärmte ihn auf Höhe seines Kehlkopfes, glitt daran hinunter, bis in die Kuhle an seinem Schlüsselbein. Aber da war noch etwas anderes gewesen, etwas Tastendes, Suchendes, Behütendes, eine Berührung, so sanft wie ein Hauch, ein Gedanke nur, kurz hinter seinem Augenwinkel, ein wenig tiefer dann, und noch tiefer, auf seinem Wangenknochen entlang –
Wie ein Blitz sprang ihm plötzlich ein Bild vor die Augen, wie ein Dolch trieb es sich ihm in den Leib, es ließ seine Brust mit einem Schlag so erstarren, dass er keine Luft mehr bekam.
Leo.
Leo, der vornübergesunken auf einem Stuhl hing, gehalten nur von seinen hinter der Lehne gefesselten Händen.
Leo, der für eine Sekunden nicht aufblickte, während Adam mit Pia an seiner Seite in den Keller stürmte.
Leo, der viel zu blass war.
Adam riss die Augen auf. Sein Blick fing sich an der Nachttischlampe, die einen warmgelben Schein über alles goss, die silbergrauen Vorhänge, die weinrote Decke, das kupferne Haar direkt vor ihm. Gerade noch hatte er abwehren können, dass er unter dem Eindruck zusammenschrecke, indem er sich auf einen Schlag angespannt hatte. So weich lag Pia neben ihm, ihr zierlicher Körper hatte sich ganz in seine Umfassung hineinbegeben, lag dicht an ihn geschmiegt, als könne er ihr die Wärme schenken, die nur sie auszustrahlen vermochte. In einer gleichmäßigen Bewegung nahm er den Kopf zurück, senkte ihn, konnte sich in einem letzten Überwältigen eines Urimpulses davon abhalten, mit den Lippen diese makellose, alabasterne Stirn zu berühren.
Eine Welle mörderischer Übelkeit durchfuhr ihn, ließ ihn lautlos würgen. Die Samtigkeit ihrer Lippen an seinen, die sie sogar durch ihren Kuss zu wärmen vermocht hatte, diesen verbotenen, diesen geraubten, frevelhaften Kuss, der brechende Widerstand ihres Körpers, als er sie an sich gezogen, ja gerissen hatte in der dafür viel zu engen Fahrerkabine, viel zu fest, viel zu gewaltsam, allein von der Stillung seines Begehrens getrieben, mit ihr zu verschmelzen, sie in sich aufzunehmen, sie einzuhüllen in ewiger Dankbarkeit, sie zu schützen, zu behüten, was musste sie auch Polizistin sein, die sie so verletzlich war, aber nein, sie war stark, so viel stärker als er jemals werden könnte in diesem verdammten Leben seiner verfickten Existenz –
Er ließ seinen Ärger sich an seinen Zähnen austoben, biss sie so fest zusammen, dass er das Gefühl hatte, sein Kiefer müsse springen, biss noch fester zu, als er von Pia zurückrutschte, als er seinen Arm unter ihrem Nacken, ihrem so dünnen Nacken herauszog. Er hielt noch immer den Atem an, jetzt nahm er es wahr, seine Lunge sperrte sich allmählich, aber lieber würde er ersticken, als nur eine unbedachte Bewegung zu machen und Pia aus dem Schlaf zu reißen, in dem sie wie ein Kind schlummerte, ruhig, friedlich, mit einem ganz kleinen Lächeln, das ihre perfekten Lippen umspielte, mit diesem schlafwarm rötlichen Hauch auf den Wangen, das konnte er nun sehen, da er ein wenig von ihr abgerückt war. Weiter als eineinhalb Handbreit kam er allerdings nicht, denn Pias Finger lagen in den Stoff seines Pyjamaoberteils gekrallt. Direkt darunter fuhr ihm ein leises Ziehen in die Brust, als ihm bewusst wurde, wo genau ihre Hand lag. Es war vollkommener Unsinn, aber er kam nicht gegen den Gedanken an, bat still darum, das heftigere, schnellere Pochen seines Herzens unter ihrer kleinen Hand würde sie nicht aufschrecken. Es durchfuhr ihn heiß, als er seine Hand auf ihre legte, er zog die Lippen nach innen, hielt sich einige Sekunden reglos, bevor er die aufgestaute, verbrauchte Luft langsam und gleichmäßig aus seiner Lunge strömen ließ. Es war ein gottverdammter Frevel, dass er sie berührte, einfach so, schon wieder, hier und jetzt, ja, das war es, aber ihm fiel nichts Besseres ein, um sie von sich zu lösen. Mit so wenig Druck wie möglich schmiegte er seine Hand an ihre, streichelte sie flach und geschmeidig, bis sie nur noch ganz locker unter seiner über der Knopfleiste lag und er sie von seiner Brust aufheben konnte. Sie war so klein, das Licht bestrich warm und weich ihre dünnen Finger, die niedlichen Nägel, die feinen Gelenke. Wenigstens waren seine Hände nicht so kalt wie sonst, und doch strahlte ihre Haut so viel Wärme an seinen Fingern, seinem Mund aus. Ruckartig hob er den Kopf vom Kissen, als ihm bewusst wurde, was er gerade getan hatte. Seine Lippen spürten noch dem seidigen Gefühl ihres Handrückens, der Kuppen von Zeige- und Mittelfinger nach, da schlug ihn abermals die Übelkeit nieder, dass er beinahe gekeucht hätte, genauso wie vorhin, als er Leo vor sich gesehen hatte, ganz genau so und doch wieder ganz anders. Adam zwang sich, seinen Arm langsam von Pias Schultern zu heben, kämpfte seinen Drang nieder, einfach aufzuspringen. Er hätte sich die Lippen abreißen, die Haut abziehen mögen. Hatte man das nicht mit irgendeinem Märtyrer gemacht? Aber genau das war er eben nicht, er war kein Heiliger, er kam von der anderen Seite. Das, was man ihm abgeschnitten oder ausgerissen hätte, hätte nicht als Reliquie, sondern nur im Freien aufgespießt und langsam vor sich hin verrottend, verwesend als Drohung für alle anderen Frevler seines Kalibers dienen können, und mit diesen war die Welt gepflastert.
So leise und doch zugleich so schnell wie möglich versuchte er, sich aus der Wärme zurückzuziehen, die von Pia ausging und so viel weiter strahlte als nur auf das Laken und die Decken. Flach schob er sich heraus, um der kalten Luft wenig Raum zu geben, um nichts von dem zu verschwenden, was Pia ihm so bereitwillig geschenkt hatte, nicht nur heute, wenn auch an diesem Tag in besonders ausgeprägter Form, aber auch sonst, immer und immer und immer wieder.
Es stand ihm nicht zu, aber er konnte sich für einen Moment nicht lösen. Es war wie der Bannkreis einer guten Fee, der ihn festhielt, ihn auf der Bettkante sitzen und auf Pia herabblicken ließ, die sich nicht gerührt hatte und noch genauso lag wie zuvor, nur ohne ihn neben sich. Sie zog ihn automatisch zu sich, seine Lippen gierten danach, ihre Wange zu berühren, das Gefühl ihrer weichen Haut an seiner in sich aufzunehmen und für immer in sich zu bewahren, wenn die Menschheit schon Geschichte wäre, weil die Erde zum weißen Zwerg, roten Riesen, einem schwarzen Loch oder was auch immer geworden wäre, das wusste er nicht und es interessierte ihn auch nicht. Er musste endlich, endlich lernen, stärker als er selbst zu sein.
So langsam, dass es kein Geräusch verursachte, holte er so tief Luft, bis es nicht mehr weiterging. Kleine Schritte, wenigstens am Anfang. Er streichelte die Decke dort, wo Pia nichts davon mitbekam, dann stand er auf.
Dortmund. Oder Frankfurt. Zurück nach Berlin?
Ja. Vielleicht.