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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
25.04.2023 3.817
 
So, meine Lieben, hier kommt das nächste Kapitel. Handlung gibt’s jetzt erst einmal weniger, ich wünsche Euch trotzdem viel Lesevergnügen!
      Und Dir, liebe Net Sparrow, danke ich für Deine unendliche Geduld!! Ich freue mich so maßlos über jedes einzelne Deiner Worte, die mich hier ganz wesentlich am Schreiben halten, und werde bald versuchen, einmal einige Deiner so wunderbaren Reviews wieder zu beantworten. Derzeit laufe ich einfach meinem Leben hinterher und kann es nicht recht einfangen … Jedenfalls danke ich Dir von Herzen für Deine großartige Unterstützung!
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Kapitel 24 – Wettlauf

»Warte, ich kann –«
      Pias Schritt in Richtung auf Adams SUV kam zu spät, mit dem Arm hatte er bereits alles, was auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, in den Fußraum gewischt. Zu zweit hätten sie das Handschuhfach im Nu wieder eingeräumt, das wäre keine große Sache gewesen, aber darauf kam es jetzt nicht an. Langsam richtete Adam sich wieder auf, nur den Kopf hielt er weiterhin gesenkt. Die stumme, kantige Hast in seinen Bewegungen, als er noch näher zu seinem Auto trat, ließ sie ohne ein weiteres Wort zum Kofferraum gehen. Immerhin hatte er ihr ohne Gegenwehr seinen Schlüssel überlassen. Sie streckte sich nach der Klappe und drückte sie hinunter, da fiel ihr das metallische Schimmern ins Auge. Ein wenig zu heftig warf sie die Hecktür zu, ihre Schritte matschten durch den Schlamm, gerade eben konnte sie Adam noch in den Arm fallen, der bereits auf dem Beifahrersitz saß und die Hand nach dem Haltegriff ausgestreckt hatte, um die Tür zuzuziehen. Jetzt hielt er in seiner Bewegung inne, seine Augen, die sofort das goldfarbene Päckchen in ihren Fingern entdeckt hatten, sprangen irritiert zu ihrem Gesicht.
      »Schnall dich an.«
      Sein Augenrollen war nur halbherzig ausgeführt. »Pia –«
      »Komm.« Sie nickte nach dem Gurt.
      Mit seinem langen Ausatmen fiel die Spannung von seinen Zügen ab, er fasste neben die Tür, rutschte ab, erst beim zweiten Mal bekamen seine klammen Finger den Gurt zu fassen, da beugte sie sich schon über ihn, während sie die hauchdünne Folie auffaltete und mit lautem Rascheln, das beinahe das Klicken des Gurtschlosses verschluckte, um ihn schlug. Langsam schob sie die Tür zu, legte nur am Ende mehr Kraft in den Stoß, damit sie wirklich zufallen würde und sie die Bewegung nicht wiederholen müsste. Eine Angst, die ihr die Brust so schmal schnürte, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr hindurchzubekommen, trieb sie um die Motorhaube herum, sie riss die Fahrertür auf und hechtete auf den Sitz. Während sie den Gurt anlegte, konnte sie den Blick nicht von Adam wenden, der den Kopf an die Stütze gelehnt und die Augen geschlossen hatte. Es knisterte unterschwellig in einer gespenstischen Regelmäßigkeit, dass es an das Rauschen eines technischen Geräts erinnerte. An Adams Profil war das Zittern nicht abzulesen, gegen das er nicht ankam, obwohl er versuchte, sich zusammenzunehmen. Sein Gesicht war eine starre, zu hell geschminkte Maske.
      Ihr erster Griff, nachdem sie den Motor angelassen hatte, war der nach dem Knopf für die Sitzheizung. Die Scheinwerfer stießen sich am Streifenwagen vor dem SUV, in der Waldesfinsternis wurde das Licht viel zu grell zurückgeworfen, obwohl die neongelben Streifen erst in einiger Entfernung zu ihnen aufleuchteten. Die Buchstaben der Navimarke flogen durcheinander, blinkten auf, während das Gerät so zäh hochfuhr, wie ihre Gedanken sich durch ihre Hirnwindungen schoben. Noch bevor sie die Landstraße erreicht hatten, drehte Pia die Heizung auf die Höchststufe. Adam, der den Kopf wieder gehoben hatte, sobald sie losgefahren waren, verfolgte ihre Bewegung mit wachsamem Blick, sagte jedoch nichts.
      Sie hatten kaum den Waldweg verlassen, da schlugen schwere Regentropfen auf die Scheibe, es folgten andere nach, in immer dichterem Abstand, ein Trommeln erfüllte den Wageninnenraum, das sich nach wenigen Sekunden zu einem Prasseln beinahe wie von Graupel auswuchs. Die Scheibenwischer wurden der Wassermassen kaum Herr, dabei wedelten sie auf der höchsten Stufe vor ihren Augen hin und her, schoben die Fluten beiseite, die sich auf sie herabstürzten. Unter dem Hämmern versuchte Pia, nach dem Rascheln vom Beifahrersitz zu lauschen, um zu erahnen, ob es zunahm oder abschwoll, doch vergebens.
      »Wenn du möchtest«, gab sie es irgendwann auf und polterte gegen den Regen an, »können wir morgen zusammen Leo besuchen.« Sie schickte ein rasches Lächeln in die schweigende Dunkelheit neben sich, dann wandte sie den Blick wieder auf die Straße. »Es wird ihm dann bestimmt schon viel besser gehen, du wirst sehen.« Natürlich tat Adam ihr den Gefallen nicht, auch nur einen Laut der Zustimmung oder Ablehnung hören zu lassen. So schnell wie der Regen aufgebrandet war, so rasch war er zu einem gedämpften Rauschen herabgesunken. Pias Gehör konnte jedoch weder Adams Atem noch das Knistern der Rettungsfolie neben sich herausfiltern.
      »Sein Zustand war aber gar nicht so schlimm, ich glaube, du musst dir nicht allzu viele Sorgen um ihn machen.« 3:58 schlug ihr von der Anzeige entgegen, sogar die Autobahn hatten sie fast vollkommen für sich, nach langer Zeit einmal ein Wagen im Gegenverkehr, keine Mitfahrer in der gleichen Richtung. »Er war bis zuletzt bei Bewusstsein und klar, konnte sogar auf der Heckkante des Rettungswagens sitzen und musste nicht sofort liegen – das sieht doch nicht so schlecht aus.«
      Blau-gelb schimmerte das Lidl-Logo durch die Nacht, für einen Augenblick erwog Pia, einfach rechts ranzufahren und für ein paar Stunden die Sitze nach hinten zu stellen, als sie einen leergefegten Pendlerparkplatz passierten. 35 Minuten gab das Navi aus, schon wieder eine weniger, sie zählte sie herunter, eine nach der anderen. Zu Sekundenschlaf hatte sie glücklicherweise nie geneigt, sie hoffte auf keine Premiere in dieser Nacht, die Wärme, die sie wattig einhüllte, war keine große Hilfe. Wie musste Adam sich da erst fühlen? Sie wagte einen kurzen Seitenblick. Sein Kopf war wieder an die Stütze gesunken, sein Gesicht konnte sie nicht sehen, es war nach dem Seitenfenster geneigt. Erst jetzt fiel Pia auf, dass der Regen aufgehört hatte. Für einen Moment hielt sie die Luft an, doch vom Beifahrersitz kam kein Geräusch, kein Rascheln, kein Atmen. Vielleicht beobachtete Adam wie im Traum das streifige Vorbeiziehen der Nacht, vielleicht war er auch eingeschlafen. Sie öffnete schon den Mund, biss sich dann doch auf die Lippe. 24 Minuten. Weshalb sollte er bewusstlos geworden sein? Allerdings – wenn sein Kreislauf so völlig am Boden war …
      Links ging die Zufahrt zu einer Tankstelle ab, aber auch diese war mitten in der Nacht geschlossen. In ihrem Wagen hätte sie bestimmt irgendwo eine Notreserve gehabt. Unter dem ganzen Inhalt von Adams Handschuhfach hatte sich jedoch nichts auch noch so Kleines an Essbarem befunden. Ob er etwas in der Türablage aufbewahrte? Verdammt, warum war sie auf diesen Gedanken nicht gekommen? Jetzt konnte sie unmöglich nachsehen, sie wagte es nicht einmal, danach zu tasten. Adam könnte sie danach fragen, aber wahrscheinlich … 18 Minuten. Vielleicht sollte sie doch wenigstens noch einmal versuchen, ihn anzusprechen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ihn zumindest fragen, wie es ihm ging – 14 Minuten bis zur Stadtgrenze. Zum ersten Mal war sie froh, dass Adam so weit ab vom Zentrum wohnte, kaum fünf Minuten hinter der Autobahn, in der Straße, die sich an das Waldschutzgebiet anschloss.
      Die Zubringer schleiften sich ein, 10 Minuten noch vom Autobahnkreuz. Adam hatte sich nicht gerührt, er saß noch ganz genauso wie beim letzten Mal, da sie den Kopf nach ihm gewandt hatte, ein wenig zusammengesunken, die Schultern hochgezogen, bis zu den Ohren in der Rettungsdecke vergraben.
      Die Bäume wurden dichter, drängten sich zusammen, doch nicht wie an diesem verdammten See, um sich zu schützen, sich gegenseitig Mut zu machen, sondern in einer freundlich lockeren Gruppierung, einfach nur der Gesellschaft wegen, schließlich war es ein duftiger Laubwald, der sich an die Stadt anschmiegte, kein dichter Nadelwald. Schon ging die Landstraße links ab. Pia musste sich zusammennehmen, um die Geschwindigkeit merklich zu drosseln. Für ihre Begriffe konnte sie auch diese Bäume in dieser Nacht nicht schnell genug hinter sich lassen.        
      Ein wenig zu schwungvoll zwängte sie Adams SUV in die Lücke, die ihr Audi hinterlassen hatte, als sie vor mehr als sieben Stunden von hier aufgebrochen war. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihr Auto am Präsidium zurückgelassen hatte. Na ja, dann würde sie es eben morgen holen. Es war ja nicht das erste Mal.
      Langsam wandte Pia den Kopf nach Adam. Die Rettungsdecke schimmerte seltsam ausgeblichen. Noch immer kam kein Geräusch von seiner Seite, kein Knistern, kein Atmen, nichts. Mit dem Zeigefinger drückte sie den Knopf am Gurtschloss, es klickte hohl im Innenraum des Autos, der mit einem Mal vollkommen leer wirkte, so ruhig, wie Adam sich neben ihr hielt. Ob er wieder –
      »Pia?«
      Mit einem Mal raschelte es heftig, fragend hob sie den Kopf, da überflutete sie Adams Duft, vorwärtsgetrieben von einer aufgepeitschten Wärme, die an ihren Körper schlug, als er sich zu ihr lehnte. Sein Mund legte sich auf ihren, seine eisige Hand schob sich in ihren Nacken. Schaudernd schloss sie die Augen. Seine Lippen waren kalt und hart an ihren, sie bewegten sich langsam, fordernd. Ohne jeden Widerstand gab sie nach, als er ihren Kopf näher zu sich zog, ging vollkommen mit seinem Kuss mit. Er öffnete den Mund, ganz wenig nur, sofort wurden seine Lippen weicher. Sie umspielten ihre, setzten immer wieder neu an, ohne den Kontakt aufzuheben. Da raschelte es nochmals heftig, Adam schien die Rettungsfolie vollständig von sich geschoben zu haben. Bevor sie die Augen öffnen konnte, um nachzusehen, beugte er sich näher zu ihr, drängte sich an sie und zog sie gleichzeitig zu sich. Seine großen Hände legten sich um ihren Kopf, die Spur seiner Daumen war eisig an ihren Wangen, doch verharrten sie dort ohnehin nur wenige Sekunden, denn schon schloss sich sein einer Arm um ihre Schultern, der andere um ihre Taille. Mit einem Ruck drückte er sie so eng an sich, presste ihren Oberkörper so dicht an seinen, dass es ihr die Luft aus den Lungen in seinen Mund trieb. Das Ablagefach der Mittelkonsole grub sich kantig in ihren Bauch, aber nichts hätte ihr in diesem Moment gleichgültiger sein können. Mit einiger Mühe schlang sie die Arme durch Adams hindurch, eine Hand vergrub sie in seinem Haar, sie zog seinen Kopf noch dichter zu sich, folgte den hastigen Bewegungen seiner Lippen. Die Finger der anderen Hand zeichneten seinen Nacken nach, der so unnachgiebig unter ihren Berührungen war, fuhren daran hinunter und drehten sich, bis sie in den Rollkragen eintauchen konnten. Über den scharf hervortretenden Knochenwulst am Übergang zu seinem Rücken wanderte ihre Hand weiter hinunter. Adams Haut zwischen seinen Schulterblättern war glatt und weich, das Gefühl berauschend, nie hatte sie so viel von ihm direkt an sich spüren dürfen. Mit Mühe kämpfte sie ein Stöhnen hinunter, während ihre Finger der seidigen Samtigkeit nachfühlten. Adam drängte sich noch enger an sie, er keuchte in ihren Mund. Fester strich sie ihm über den Rücken, verwischte den klammen Schweißfilm, der auf seiner Haut lag, fühlte der Gänsehaut nach, die sich unter ihrer Berührung bildete, dabei war er warm, vielleicht sogar ein bisschen zu warm, fast wie damals, als sie ihn –
      Da lockerten sich Adams Arme, er löste den Kuss, sein heißer Atem streifte ihren Hals. Jetzt zitterte er wieder.
      »Adam –« Vorsichtig zog sie die Arme um seinen Nacken zurück, doch bevor sie sich von ihm abdrücken konnte, ließ die sanfte Berührung seiner eiskalten Nase an ihrer sie erstarren. Behutsam rieb er mit dem Nasenflügel ein paarmal an ihrem auf und ab, dann waren da wieder seine frosterstarrten Finger in ihrem Nacken, seine nun so warmen Lippen an ihrer Stirn, worunter sie automatisch den Kopf senkte.
      »Danke«, wehte sein Flüstern in ihr Haar, als er die Wange an ihre Schläfe legte. Schon umschlossen seine Arme sie wieder, drückten sie für einige Sekunden eng an ihn, dann zog er sich zurück, strich ihr nur in einer fließenden Bewegung die Haare hinter das Ohr, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten. Seine Hand, die noch immer genauso kalt war wie zuvor, blieb an ihrer Wange lieben. Unter seinem Lächeln, so nah vor sich, war es ihr, als setze ihr Herz aus. Eine schmerzliche Endgültigkeit lag darin ebenso wie ein zersplittertes Bedauern.
      Gerade als sie nach seiner Hand fassen wollte, griff er pfeilschnell um sie herum und zog den Schlüssel ab. Sie warf den Kopf herum und erhaschte den Ernst auf seinem Gesicht, den sie kannte, auch wenn er von einer um noch so viel erloscheneren Farbe als sonst war. Da stieg er aus, die Beifahrertür knallte, wie ein Schatten ging er um die Motorhaube herum und schon umwehte es sie kalt, als er die Fahrertür öffnete.
      »Komm.«
      In seinem Nicken, das er über seine Schulter schickte, lag etwas, das sie nicht näher hätte benennen können, das sie jedoch sofort aussteigen ließ, nachdem sie überrumpelt noch für einen Moment sitzen geblieben war. Von seiner Hand, die er direkt neben die ihre über dem Fensterrahmen um die Fahrertür schloss, strahlte eine sie frösteln machende Kälte auf ihre Haut ab. Verständnislos konnte sie ihm nur dabei zusehen, wie er, anstatt die Tür zuzuschlagen, darum herumglitt und direkt dahinter stehen blieb, als habe er sie wie einen Schild zwischen sich und Pia bringen wollen.
      »Steig ein.« Seine Augen huschten zur Beifahrerseite.
      »Hä?« entkam ihr als Einziges.
      Adam schwieg einfach nur, ließ ihr dann, als sie sich wieder gefasst hatte, nicht einmal die Zeit zu einem weiteren Wort. »Zu Lydi oder zu deinen Eltern?«
      Schon wieder ging ihr Hirn in den Leerlauf, die Müdigkeit setzte sich darin fest wie ein plumpes, schwerfälliges Tier. »Was?«
      »Zu Lydi oder zu deinen Eltern?«
      Schneller als erwartet hatte sie ihr Sprachzentrum wiedergefunden. Ein grauer Ärger hatte ihr dabei geholfen, der sich nun in ihr aufbaute. »Ich hab dich schon verstanden.«
      »Dann antworte doch einfach.«
      »Das sagt ja gerade der Richtige.« Sie atmete tief aus, ließ für eine Sekunde den Blick zur Seite gleiten. Noch zeichnete sich hinter den Häusern nicht der nur zu ahnende, erblasste Schimmer ab, der den anbrechenden Morgen verkündete. Nirgends war ein Fenster erleuchtet, keine Vogelstimme erscholl, kein Hund bellte, nur das Rauschen der Nacht umgab sie, zusammengesetzt aus dem Wispern des Windes und dem Wehen der Wolkenfetzen vor dem Mond. Adam hatte sich überhaupt nicht gerührt. Als sie den Kopf wieder nach ihm wandte, sah er sie noch genauso an wie wenige Sekunden zuvor, wie diese ganze unwirkliche Nacht hindurch im Präsidium –
      Pia ließ den Kopf sinken, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider, bevor sie die Schultern straffte und abermals Adams Blick auffing. »Können wir jetzt bitte einfach in deine Wohnung gehen und ein paar Stunden schlafen?«
      »Wir werden Personenschutz bekommen.«
      Für eine Sekunde fühlte sie sich in den Physikunterricht der 10. Klasse zurückversetzt. Wo war hier bitte der Zusammenhang? »Ja – und?«
      Als müsse sie Gedanken lesen können, schwieg Adam, sah sie einfach nur an. Sie hätte ihn bei den Schultern packen und eine Antwort aus ihm herausrütteln mögen. Da schüttelte er den Kopf. »Es muss niemand von …« Seine Finger gingen schwerfällig zwischen ihnen hin und her, ein-, zweimal, bevor er seine Hand wieder herabfallen ließ. »– von uns wissen.«
      Für einen Augenblick starrten sie sich stumm an. Adams Gesicht war unbewegt wie immer, welcher Ausdruck auf ihren Zügen stand, hätte sie um keinen Preis wissen wollen. Ihr entkam ein erstickter Lacher, sie stützte die Hände in die Seiten. Ihr Blick rettete sich zum Grünstreifen, doch die Bäume klapperten nur höhnisch mit ihren entlaubten Ästen, als ein Windstoß sie durchfuhr.
      »Ich –« Sie hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich kapier’s nicht, erklär’s mir bitte.« Doch natürlich tat Adam ihr den Gefallen nicht. Warum war sein Blick so verflucht neutral? Ihre ausgestreckte Hand peitschte in Richtung von Adams Auto. »Was sollte das dann gerade eben, wenn ich dir so peinlich bin, dass wir nicht morgen früh zusammen –«
      Sein Kopfschütteln würgte ihre Worte ab, durch seinen Blick schob sich wie eine scharfkantige Eisscholle eine Regung, die Pia nicht hätte bezeichnen können. Dass sie trotzdem den Antrieb begriff, der ihn die Hand um die Kante der geöffneten Tür schmiegen, sich daranlehnen ließ, statt einfach die wenigen Meter bis zu seiner Wohnung zu gehen und endlich, endlich neben ihr ins Bett zu sinken, dass sie seine Gedanken so unmissverständlich entziffern konnte, wie sie jetzt an seinem Blick ablas, erstaunte sie fast mehr als das, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Vielleicht lag es am jetzt wieder leer gefegten Himmel, dass Adams Überlegungen vor ihr so bloß gelegt worden waren, grobes Geröll, von einem Gletscher ins Tal geschoben.
      Wie aberwitzig war das eigentlich alles. Wohin war der Adam verschwunden, der noch vor einer Stunde ein zusammengekauertes, sich hilflos an das regelmäßige Wippen seines Körpers klammerndes Häufchen gewesen war, das nicht einmal mehr sie erkannt hatte? Und jetzt wollte er ihr wirklich erzählen –
      Das Lachen, das ihrer Kehle abermals entkam, konnte sie nicht zurückhalten. Gehässig rollte es wenige Meter die Straße hinunter, zerschellte auf dem glatten Asphalt, der dunkel von Tau schimmerte.
      »Ernsthaft?« Sie stützte wieder beide Händen in die Seiten, wie um sich an sich selbst festzuhalten. Suchte er nur einen Vorwand? »Ein Maulwurf – unter unseren Kollegen? Adam …« Sie machte zwei kleine Schritte auf ihn zu, fasste nach seiner Hand, die steif und zu Eis erstarrt auf der Tür ruhte. »Wir sind in fucking Saarbrücken!« Erneut entwich ihr ein Lacher, belustigt diesmal, ob wegen der Abwegigkeit ihres Diskussionsthemas oder weil sie sich in ihrem Sprachduktus immer mehr Adam anglich, hätte sie nicht sicher sagen können.
      Ein Windstoß fegte über sie hinweg, rieb sich an Adams völliger Bewegungslosigkeit auf. Seine Züge waren noch eingefrorener als vorhin, darunter erstarb jedes Millimeterchen eines Lächelns auf ihren Zügen. Kopfschüttelnd glitt sie vor ihn, schmiegte die Hand flach an seine Wange.
      »Adam –«
      Mit derselben Bewegung, mit der er sich sonst die Haare aus der Stirn warf, riss er sich von ihrer Berührung los, wandte den Kopf danach nur minimal in ihre Richtung und blickte auf sie herab, wie er es so oft schon getan hatte. Als er nach seinem Herzsteckschuss viel zu früh wieder im Präsidium aufgeschlagen war. Als er in seiner Küche, mitten in ihrem Kuss, vor ihr zurückgeschreckt war. Als er einfach nicht mehr gekonnt hatte und zu ihr gefahren und aus einer Panikattacke wieder aufgetaucht war. Und jetzt wieder.
      An ihrer Hand war das Gefühl seiner lauen Haut zurückgeblieben, die wie von einem feuchten Nebel bedeckt war. Sie senkte den Blick, ihre Augen glitten an ihren Fingern entlang, bis sie diese zu einer Faust schloss. Mit einem rauen Lachen, das diesmal trocken krümelte, kramte sie in ihrer Tasche nach ihren Schlüsseln, rausschmeißen würde er sie schon nicht. Da schlossen sich mit einem Mal Adams kältestarre Finger um ihr Handgelenk. Wortlos beobachtete sie sein kantiges Nicken nach der Beifahrertür.
      »Meinst du echt, ich fahr mit dir so« – ihr Kinn ruckte in seine Richtung, glitt einmal von oben bis unten über seinen ganzen Körper – »mitten in der Nacht durch Saarbrücken? Wo willst du überhaupt hin?«
      »Dann ruf dir doch einfach ‘n Taxi«, kam von ihm zeitgleich zu ihrer letzten Frage.
      Es sah ein wenig wie in einem in langsamem Tempo abgespielten Film aus, als Adam sich auf dem engen Raum, den Pia ihm noch gelassen hatte, umwandte, um einzusteigen. Sie schoss zwischen ihn und sein Auto, ihre Hände fanden seine Schultern und stießen ihn von sich.
      »Hast du sie noch alle?« Ihre Stimme hallte von der fettig glänzenden Straße hart auf sie zurück. Die Überraschung, die in Adams Augen aufblitzte, brachte sie aus dem Konzept und ließ ihren Ärger doch nur umso stärker hochkochen. »Was wird das hier? Was ist das für ‘ne Scheiße, hm?«
      Adam war wieder näher gekommen, er fasste sie an der Schulter, seine Berührung war mehr ein Streicheln als ein fester Griff, um sie in Zaum zu halten. »Du weckst alle Nachbarn.« Erst jetzt schloss sich seine Hand um ihren Oberarm, er versuchte, sie von seinem Auto wegzuziehen, aber sie sperrte sich dagegen.
      »Ja, dann red eben einfach mal mit mir, ein einziges gottverdammtes Mal, und sag mir, was du vorhast!«
      In einer zähen Bewegung schüttelte er den Kopf. »Das muss ich mir echt nich geben.«
      Jetzt war sie es, die ihn festhielt, als er die Hand auf das Autodach legte, auf dem sich bereits ein feiner Film aus kleinsten Tröpfchen gebildet hatte. Sofort gab er es auf, sich an ihr vorbeischieben zu wollen, ließ sich sogar von seinem SUV wegzerren.
      »Meinst du wirklich, ich lass dich einfach fahren? Nach allem, was in diesem Scheißwald an diesem Scheißsee passiert ist?« Vielleicht bildete es sie sich nur ein, doch glaubte sie zu hören, dass Adams Atem sich genauso beschleunigte wie ihrer. Die feuchtgetränkte Dunkelheit, ihre Einsamkeit trotz der Nähe der anderen Einsatzfahrzeuge, die kalte Schwärze um sie her und in ihrer Brust – »Du fährst heute nirgendwo mehr hin!«
      Für einen Augenblick standen sie still, atmeten, nahmen sich wahr, genauso wie in einem absurden Theaterstück in den letzten Sekunden, bevor der Vorhang fällt und die Auflösung dem Publikum anheimgegeben wird.
      Da fuhr wieder Bewegung in Adam, er lehnte sich ein wenig in ihre Richtung, langsam senkte er den Kopf. »Und wie willst du mich dazu zwingen, hierzubleiben, hm?« Seine Augen waren nicht schmal geworden wie seine Stimme, aber sein Blick war eine harte, stumme Drohung, so leer war er, so –
      Pias Hand, die auf seiner liegen geblieben war, zuckte zurück. Was unter seinen Worten in der Tiefe seiner Augen aufgeblitzt war, wechselte die Farbe. Kopfschüttelnd schob sie ihm ihre Rechte langsam in den Nacken, sie zog ihn sanft noch ein wenig enger zu sich herunter, schloss die Augen, lehnte die Stirn an seine.
      »Ich will dich nicht zwingen, Adam – nie«, flüsterte sie, »das müsstest du doch langsam wissen.« Sie holte tief Luft, fühlte seiner Überraschung nach, die seine Wirbelsäule versteifte. »Aber so hilfst du Leo kein bisschen. Er braucht dich ausgeruht, verstehst du?«
      Behutsam ließ sie die Hand ein wenig hinauf- und hinuntergleiten, verrieb den kalten Schweiß an seinem Haaransatz, drückte die Fingerspitzen nacheinander sanft ein wenig in das Fleisch neben seinen Wirbeln, das weich und geschmeidig sein sollte, aber unter ihrer Berührung vollkommen verhärtet war. An seinem Atem, der ihr warm über das Gesicht wehte, fühlte sie, dass er die Augen schloss. Langsam schlang sie einen Arm um ihn, schon sackte sein Kopf gegen ihren, sogar die Muskeln in seinem Genick wurden etwas weicher. Ein kleines Stückchen nur schob sie den Kopf vor, sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Ihre Lippen waren noch immer viel wärmer als seine Haut. Sein Zittern, das sie davor ignoriert hatte, nahm sie nun wieder ganz deutlich wahr.
      Dass sie den Kopf hob, mit der Stirn leicht gegen seine drückte, ließ ihn nicht reagieren. Sie zog ihre Hand aus seinem Nacken, schob sie an seine Wange und hielt seinen Kopf, mit der anderen stützte sie ihn am Oberarm, aber er machte keine Anstalten, sich aufzurichten, schwer lehnte er an ihr, schwer atmete er auf sie herab.
      »Ad-«
      »Alles okay«, murmelte er. Langsam schoben sich seine Augenlider auf, ungeschickt rutschte seine Hand über ihre Taille ab, als er sich von ihr abdrückte. »Sorry.«
      Hastig schüttelte sie den Kopf. »Komm.«
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