Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
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Dieses Kapitel
1 Review
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09.04.2023
4.929
Gleichsam als Osterei gibt’s ein neues Kapitel von mir. Vielen Dank für Eure Geduld und natürlich frohe Ostern Euch sowie viel Vergnügen beim Lesen! Passt aber bitte auf Euch auf: Es werden Angst- und Schockzustände beschrieben.
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Kapitel 23 – Über die Kante
Die nur dunkel schimmernde Wasserfläche gab sich wie ein friedvolles Postkartenmotiv. In ein paar Stunden würde die Morgensonne sie mit ihren schräg einfallenden Strahlen bestreichen und Schwärme von Wildenten und Kanadagänsen aus dem Schilf hervorlocken. Mit wachsam gerecktem Hals würden sie sich ans Ufer wagen und sich aus dem Wasser auf die angrenzenden Wiesen hochziehen, um sich dort einem vereinzelten Reh, vielleicht einem Hasen zuzugesellen. Dass sich auch Spaziergänger hierher verirrten, schien außerhalb des Möglichen zu liegen, der See wirkte wie einem Roman entsprungen, einem poetisch langsam erzählten – oder einem Horrorfilm in der Sequenz, in der es noch nicht zum Auftritt des Bösen gekommen war, in der dem Zuschauer noch eine von Anstand und Reinheit durchwirkte Welt suggeriert wurde, bevor das Fantasiegebilde unter dem Schlag eines blutbefleckten Hammers in Tausenden Scherben zersplitterte.
Pia stützte die Hände in die Seiten, sie ließ den Kopf in den Nacken sinken, scharf biss die feuchtkalte Luft ihr tief in die Lungen. Nachdem Adam und sie in dem verwitterten Holzhäuschen auf Leo gestoßen waren, war seine Befreiung nur noch eine Sache von Minuten gewesen. Sie hatte nicht einmal mehr zur Tür hinausspähen können, da hatte schon ein SEK-Team die Hütte gestürmt und innerhalb weniger Augenblicke seine Fesseln gelöst. Als sie alle bereits die kleine Behausung hinter sich gelassen hatten, hatte eine atemlose Unruhe um sich gegriffen, die in ihrer Stofflichkeit beinahe so greifbar wie der in den Wiesen hängende Nebel gewesen war, aber es hatte nicht lange gedauert und die Bombe war zur Entschärfung durch Sprengstoffexperten an einen Ort verbracht worden, der weit genug entfernt lag, als dass jemandem daraus eine Gefahr hätte entstehen können. Das letzte Relikt des unwirklichen Vorfalls waren die im Flutlicht scharfen Umrisse von Leos wackliger Gestalt gewesen, von zwei Rettungssanitätern auf dem Weg zum Kastenwagen gestützt.
Jetzt saß er schon auf der Heckkante, die junge blonde Notfallsanitäterin hinter ihm, die irgendetwas für Pia nicht Sichtbares auf die Wunde an seinem Hinterkopf tupfte. Trotz des festen Griffs seiner Hände um die Metallschwelle erinnerte er ein wenig an eine Marionette mit durchhängenden Fäden, den Blick vor sich zu Boden gerichtet, Kopf wie Schultern vornübergesunken. Da hob er plötzlich die Augen, als habe er gespürt, dass Pia ihn ansah, und ein kleines, müdes Lächeln schlich sich auf seine Züge. Sie nickte langsam und gab seine Regung zurück, hoffte dass es auf die Entfernung in ihrer taghell erleuchteten Insel inmitten des nachtdunklen Streifens zwischen Seeufer und Waldesrand auf ihrem Gesicht überhaupt zu erkennen war.
Das Nicken, das Lächeln, die Bestätigung, die perfide in die Wege geleitete Hinrichtung gerade noch einmal abgelenkt zu haben, die ruhige Sicherheit und die unmittelbar nachfolgende Auslaugung, all das ging durch zwei – doch Adam stand nicht mehr bei ihr. Flüchtig scannte Pia die gesamte Szenerie, die sie wie die Filmkulisse aus einem Katastrophenfilm umgab, sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Ein Grüppchen SEKler hatte sich um sein Einsatzfahrzeug geschart, mit ernsten Gesichtern lauschten die Kollegen den Anweisungen des Leiters, nickten, hörten wieder konzentriert zu. Der Hubschrauber hatte schnell abgedreht, mit einem vernehmlichen Klatschen schloss ein uniformierter Kollege die Türen hinter den Hunden, ging dann festen Schrittes zur Fahrertür. Adam war nirgendwo zu sehen. Wann hatte er sich davongestohlen? Er war doch an ihrer Seite gewesen, als sie dem SEK Platz gemacht hatten, oder, genauer gesagt, vor ihr hergegangen, den Kopf ein wenig gesenkt, der Wind war ihm in die Haare gefahren, sowie er aus der Tür getreten war. Neben ihr stehend hatte er beobachtet, wie Leo in die grell beschienene Nacht hinausgeführt worden war –
Nein. Sie hatten kein einziges Wort gewechselt, vielleicht war er da schon wieder weggeschlichen. Mann. Konnte er nicht wenigstens einmal Rücksicht auf ihr auch nicht unbegrenztes Nervenreservoir nehmen? Sie schüttelte den Kopf, nestelte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer aus. Ein leises Knacken, Hier ist die Mailbox –
Entnervt drückte sie den Anruf weg, suchte noch einmal Leos Blick, doch war seine Aufmerksamkeit von der Ersthelferin abgezogen, die dicht vor ihm stand und ihm gerade in die Augen leuchtete. Na, umso besser.
Es würde nichts bringen, das wusste sie, trotzdem umrundete Pia einmal die Hütte, zog von der Rückseite aus die Uferlinie nach, spähte nach dem Wald. Adam hielt sich meistens unauffällig, doch seine Größe verriet ihn fast immer. Nicht so heute. Sie kehrte dem See den Rücken und sah jedem ins Gesicht, der ihr entgegenkam, auch wenn Adam sich nicht darin verstecken würde, doch vielleicht erinnerte sich jemand an sie als Begleiterin des hageren, hoch aufgeschossenen Kommissars. Schon tauchte sie in den Wald ein, nickte zwei Streifenbeamten zu, die ihr entgegenkamen, schlängelte sich die Kolonne von Fahrzeugen entlang, die sich wie an einer Perlschnur hier aufgereiht hatten. Ihr entfuhr ein leises Schnauben. Vielleicht war Adam ja bereits ohne sie zurückgefahren, Mitfahrgelegenheiten hatte sie schließlich genug.
Ihr Herz stolperte schmerzhaft, als ihr Puls hochschnellte. Dort stand Adams SUV, ein Stück hinter dem letzten Einsatzfahrzeug, brav in die Verlängerung der Linie eingefügt am Wegesrand. Er glänzte matt, ein schwacher Schimmer der Festbeleuchtung schlug sich bis hierher an den Waldessaum durch, ließ sogar von hier erahnen, in welcher Richtung der See lag. Die Beifahrertür stand offen, doch von Adam keine Spur. Pia rannte die wenigen Schritte, hielt sich im Fensterrahmen, als sie sich ins Innere beugte. Das Handschuhfach war aufgeklappt, die Parkscheibe auf den Sitz geglitten, daneben lagen eine Taschentuchpackung, der Eiskratzer, ein paar Zigarettenschachteln, ein Scheibenschwamm, zwei, drei Feuerzeuge, zweimal blau, einmal rot, alles in einem wilden Durcheinander, zwei weitere Päckchen Zigaretten waren in den Fußraum gerutscht, das Glitzern der Folie verriet sie, sonst hätte Pia sie gar nicht wahrgenommen. Sie lief die Beifahrerseite entlang, prallte vor der offen stehenden Heckklappe zurück. Was ging hier ab? Es war vollkommen abwegig, der Wagen stand in unmittelbarer Nähe zu den unzähligen Einsatzfahrzeugen unter bester Aufsicht, und doch kam Pia nicht gegen die Faust in ihrer Magengrube an. Durch die Scheiben spähte sie auf die andere Seite, an die Karosserie gedrückt schob sie sich nach hinten. Am Heck angekommen, machte sie den Hals lang und linste um die Ecke, in ihrem vor Kälte ein wenig starren Gesicht fühlte sie deutlich, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. Der Inhalt des Verbandskastens war auf dem Boden des Kofferraums verteilt, als habe jemand ihn mit einem großzügigen Schwung ausgeleert und dann, in Aussicht auf ein dazwischen verstecktes Gut, die Binden, Pflaster und Kompressen durchwühlt. Langsam wich sie einen Schritt zurück, blickte sich um, doch hinter ihr zog sich nur der Pfad entlang, auf dem sie herangerast waren. Ohne die Nebelwand wirkte der unbefestigte Weg beinahe romantisch, als könne jeden Augenblick ein verwunschenes Wesen darauf heranschreiten, ein Einhorn vielleicht oder –
Für eine Sekunde schloss Pia die Augen, drückte alle Gedanken weg, die Müdigkeit warf sich wie in einem Ringkampf mit ihrem schweren Gewicht auf sie. Abermals zückte Pia ihr Handy, diesmal stöhnte sie unter der abweisenden Ansage auf. Wo steckte Adam bloß? Bestimmt irgendwo im Gewusel der Kollegen zwischen Hütte, Ufer und Wald, aber es widerstrebte ihr, sein Auto, offen stehend, wie es war, in diesem Durcheinander zurückzulassen. Wer hatte das bloß angerichtet? Und zu welchem Zweck? Der Rettungswagen war keine hundert Meter entfernt geparkt. Wer hatte hier was gesucht?
Mit einem Mal verengte sich ihr Sichtfeld, eine unsichtbare, riesenhafte Schattenhand drückte ihr die Kehle zu. Leos Entführer. Was wenn er noch irgendwo hier herumlief – oder sie? Wer sagte ihr, dass sie es nicht mit einer ganzen Gruppe von Höchstkriminellen zu tun hatten, die zu allem bereit waren? Aber – was hatten sie mit Adams Auto zu schaffen gehabt, mit Verbandspäckchen, Feuerzeugen und Eiskratzern? Warum sollte jemand alles durchwühlen? Was hätte er davon?
Mit wenigen Schritten war sie an der Beifahrertür, sie drückte sie zu. Auf der Höhe des Polizeibusses, der das Schlusslicht der Kolonne bildete, fühlte sie sich schon viel sicherer, und doch blieb sie stehen, blickte zu Adams SUV zurück, der seltsam verzagt im Halbdunkel wartete, ein Stück vom Rest der Fahrzeugschlange abgerückt. Nach dem Schlüssel sollte sie wenigstens noch sehen, sie konnte sich nicht erinnern, ob Adam ihn abgezogen und eingesteckt hatte oder nicht, wobei er das bestimmt getan hatte, denn er war ja immer –
Auf halbem Weg um die Motorhaube erstarrte sie. Adam kauerte neben dem Vorderreifen in der Hocke, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, den Kopf dicht zur Brust gezogen. Seine langen Hände, die er im Nacken gefaltet hielt, leuchteten bleich in der Dunkelheit. In einem gleichmäßigen Rhythmus wippte er vor und zurück, gerade so weit, wie seine Haltung es ihm erlaubte. Er gab keinen Laut von sich, verursachte kein Geräusch durch seine Bewegung, die nicht eine Sekunde aussetzte oder ungleichmäßig wurde, auch dann nicht, als Wind aufkam. Die Böe fegte in seine Jacke hinein, blähte sie ein wenig, sein Haar flatterte, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken, schaukelte hin und her, immer wieder, hin und her.
Irgendetwas knackte unter ihrem Fuß, als sie einen Schritt auf ihn zu machte. Sofort blieb sie stehen, aber auch jetzt wiegte Adam sich in der gleichen Geschwindigkeit, auf der gleichen Bahn wie zuvor weiter, den Blick auf seine Beine geheftet oder die Augen geschlossen, das konnte sie von oben nicht sehen. Vorsichtig trat sie zu ihm, ging langsam in die Knie. Sie musste in sein Sichtfeld geraten sein, dafür war sie ihm zu nahe gekommen, aber die Welt, die ihn umgab, schien aus seinem Bewusstsein getilgt zu sein.
»Hey.« Auch auf ihr eines leises Wort zeigte er keine Reaktion, lautlos fuhr er in seiner Bewegung fort. Seine Haare unter seinen Fingern waren ganz zerzaust, sein Schal locker um seinen Hals geschlungen, sodass der Wind zwischen den Rollkragen und seinen gebeugten Nacken fahren konnte.
»Adam.«
Immer mit dem Namen ansprechen, dezidiert, ganz bestimmt, lassen Sie sich nicht beirren. Und wenn der andere nicht reagierte? Weitermachen, hatte ihre Ausbilderin gefordert und sich den buschigen Lockenzopf über die Schulter zurückgeworfen. Fordern Sie die Person auf, alle Dinge in ihrer Umgebung aufzuzählen, die grün sind. Lassen Sie sie rückwärtszählen.
Rückwärtszählen? Adam kauerte weiterhin als zusammengekrümmtes Häufchen vor ihr, wahrscheinlich hätte er ihre Anweisung gar nicht verstanden, selbst wenn sie ihn angeschrien hätte.
»Adam – hey.« Mit kleinen, tapsenden Schritten hatte sie sich ihm so weit genähert, dass er sie beinahe anstieß, wenn er sich wieder nach vorn lehnte, doch noch immer nahm er sie nicht wahr. Anscheinend hielt er die Augen wirklich nicht offen. Sie streckte die Hand aus, zögerte, ließ sie in der Luft schweben, streifte dann doch mit dem Zeige- und Mittelfinger seine Haut ganz kurz über den Fingerknöcheln.
»He-«
Diesmal brach ihr Vorstoß ab, denn er schrak so heftig zusammen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Mit einem Ruck riss er den Kopf hoch, strebte fort von ihr zum Reifen in seinem Rücken, an dem er sich steif aufrichtete. Sein Gesicht leuchtete kreideweiß in der Dunkelheit, mit der Rechten tastete er blind in einer hektischen Bewegung neben sich.
»Hey, Adam – hey.«
Sie hatte die Stimme ein wenig erhoben, war ihm nur insoweit gefolgt, als sie sich vorgebeugt hatte, doch er sah sie nicht. Seine riesigen Augen flogen über den Wald in ihrem Rücken, sie schimmerten matt unter der schwarzen Angst, die in ihm loderte.
»Hey, alles gut, alles gut – ich bin’s, Pia.«
Sein Blick fand sie nicht. Hatte sich sein Brustkorb jäh geweitet, als sie ihn berührt hatte, so saß er nun vollkommen reglos, in ein Dunkel starrend, das für niemanden außer ihm sichtbar war. Es widerstrebte ihr, ihn anzufassen, aber es half nichts, sie musste ihn irgendwie aus diesem Zustand herausbekommen. Natürlich schnellte sein Kopf sofort zur Seite, als ihre Finger sich nach den Strähnen in seiner Stirn streckten, drehte sich wieder zurück, doch sein Blick ging zu Boden, richtete sich nicht auf sie, während er in einer ungeschickten, ziellosen Bewegung mit dem Unterarm ihre Hand wegzudrängen versuchte. Für einen Augenblick schrillte ihr Instinkt, ihr Gefahrenbewusstsein, doch Adam war ganz klar verlangsamt, in einer ungerichteten Abwehrgeste durchkämmten seine Finger die Luft irgendwo neben ihrer Schulter.
»Alles gut, Adam, alles okay.« Sie beugte sich dichter zu ihm, schob ihm behutsam eine Hand in den Nacken. Seine Haut war kalt und feucht, die Muskelstränge nicht nur neben seiner Wirbelsäule, sondern auch seitlich an seinem Hals vollkommen angespannt, aber sie wagte es nicht, ihre Finger hin- und herzubewegen. So wenig wie möglich, gerade so viel, um bei sich zu behalten, was von ihm noch übrig war. Sanft fing sie mit der anderen Hand die seinige ein, die im Nichts neben ihr etwas zu fassen zu bekommen suchte. Seine Finger waren wie schockgefroren, eisig und vollkommen starr in ihrer Hand. Sie führte seinen Arm zu seinem Körper zurück, sofort kauerte er sich noch enger zusammen, drückte sich gegen den Reifen seines SUV, ohne nennenswert weiter zu kommen als gerade eben noch.
»Hey, ist doch gut, ich bin’s nur, Adam – Pia.«
Über dem Rauschen des Waldes hörte sie ihre eigene Stimme kaum. Die Kronen der Bäume beugten sich unter dem wieder auffrischenden Wind zu ihnen herab, man hätte glauben können, das Zittern jedes einzelnen Zweigleins und Ästchens hören zu können, und doch war das Wehen und Brausen nicht das einzige Geräusch, das sie hier unten umgab. Es raschelte neben ihr, sie versuchte, den Ursprung zu entdecken, da fiel ihr Blick auf Adams Hand, die über den Boden fuhr, sich in die Erde krallte, weiterzog, sich knisternd durch die vertrockneten Überbleibsel des letzten Jahres wühlte. Vorsichtig löste sie die Hand von seinem Nacken, fasste mit der anderen nach, um die Linke frei zu haben. Sie wandte den Blick nicht von Adams Gesicht, doch er schien nichts von dem wahrzunehmen, was sie tat, er starrte an ihr vorbei in die Dunkelheit. Noch dichter beugte sie sich zu ihm, bekam seine Hand gleich beim ersten Versuch zu fassen. Sie drückte ihre flach auf seine, fixierte sie am Boden. Seine Finger wölbten sich, schoben sich ihren entgegen, dann gab er es auf, ließ sich auf die Erde pressen.
»Es ist alles okay, Adam, Leo geht’s gut – Leo geht’s gut.«
Es brauchte die Wiederholung, bis ihre Worte bei ihm ankamen, doch drangen sie dann mit einer Heftigkeit zu ihm durch, die ihn den Kopf hochreißen ließ. Auf einen Schlag war sein Blick fast klar, er fokussierte ihr Gesicht, es verstrichen einige Sekunden, bis er sie erkannte. Als habe sich ein Schleier von seinen Augen zurückgezogen, musterte er sie mit beinahe demselben Ausdruck, den sie an ihm schon Hunderte Male beobachtet hatte: bei Besprechungen, wenn er einmal den Blick von Leo wandte, an dem Tag, als er abends an ihrer Wohnung aufgeschlagen war, weil er nicht mehr gewusst hatte, wohin er sich sonst hätte wenden sollen, am Weihnachtsabend mit ihren Eltern. Bevor sie etwas dagegen hätte unternehmen können, hatte er ihre Hand abgeschüttelt, seine Finger kratzten wieder über die Erde, schoben Nadeln und Ästchen beiseite. Er versuchte, sich zur Seite zu wenden, zog sich aber gleich wieder zurück, als seine Knie an ihre stießen. Nur seine Augen gingen nun neben ihm zu Boden.
»Wir müssen –«, würgte er so erstickt hervor, dass sie ihn erst einen Augenblick danach verstand, und doch platzte ein Knoten in ihrer Brust, als sie seine Stimme hörte, trocken zwar, dass sie zu rascheln schien, doch er sprach mit ihr. »Er ist … mit – mit der Schere? Ich hatte sie – sie muss hier irgendwo …« Die Bahnen, die seine Hand entlangschleifte, wurden länger, rissen mittendrin ab, er kehrte um und fuhr in einer anderen Richtung fort. »Dabei wollte ich – wirklich, das … du musst mir – ich wollte zurückkommen, ganz bestimmt, wirklich, aber ich – ich wusste nicht mehr, w-wo …«
»Adam – hey.« Es war mehr ein Seufzen als Worte, die ihr entkamen, sie ließ nun alle Vorsicht fahren und nahm sein Gesicht in die Hände, strich ihm die Haare aus der Stirn, drückte einen Kuss auf seine freigelegte Haut, die so klamm war an ihren Lippen. Unter ihrer Berührung war er erstarrt, ganz nah vor ihr schwebten seine Augen, in denen etwas von dem schimmerte, was sie von ihm kannte, doch der Wahn seiner Ungewissheit war noch nicht abgeklungen.
»Leo geht’s gut – Leo geht’s gut«, sprach sie eindringlich auf ihn ein, während sie ihm über das Haar strich, ihm erneut einen Kuss auf die Stirn hauchte, was er zu ihrer Überraschung mit sich geschehen ließ. »Er ist in Sicherheit, das SEK hat ihn befreit, wir müssen nicht –«
Sie ließ sich unter dem leichten Druck von Adams Hand auf ihrer Schulter zurückdrängen, wich von selbst noch ein Stück weiter von ihm fort. Es brauchte einen Augenblick, bis sie seinen verworrenen Blick entschlüsseln konnte. Jetzt entwich ihr wirklich ein Seufzer. Ihre Augen gingen in den Wald, bevor sie sich wieder auf Adam richteten. Sehr leicht schüttelte sie den Kopf, streichelte seinen Arm, er hatte sie noch nicht losgelassen. »Adam – ich würde dich doch nicht anlügen, und schon gar nicht in so einem Fall.« Langsam hob sie die Hand zu seiner Stirn, strich sein strähniges Haar zurück, das ihm schon wieder in die Augen gefallen war. »Meinst du wirklich, ich säße hier, bei dir, so ruhig, wenn Leo – wenn mit ihm …«
Auch unvollendet gaben ihre Worte ihm zu denken, für einige Sekunden wälzte er sie hin und her, anscheinend ohne zu einem Ergebnis zu kommen, denn sein skeptischer Blick, der auf ihr gelegen hatte, glitt ab und verlor sich wieder in der Waldesfinsternis in ihrem Rücken. Seine Augen passten sich dem undurchdringlichen Dunkel an, nahmen es in sich auf, trübten sich ein.
In einer unbedachten Bewegung schlich sich ihre Hand auf seine Wange. »Adam –«
Sofort entzog er sich ihr. Sein Hinterkopf schlug mit einem dumpfen Pochen gegen den Rahmen, er drückte den Rücken durch, presste sich an sein Auto. Ihre Berührung blieb einfach in der Luft hängen, aber ihre Finger hatten das Gefühl seiner ausgekühlten Haut in sich bewahrt.
»Entschuldige«, flüsterte sie hastig, »entschuldige, Adam.« Die Muskeln in seinem Nacken waren noch straffer gespannt als vorhin, doch wagte sie es nicht noch einmal, sich zu bewegen, wenn er ihre Hand in seinem Genick schon weiterhin duldete. Ihr Blick glitt über seine zusammengekrümmte Gestalt, erst jetzt bemerkte sie, dass seine Brust krampfte.
»Komm.« Sie hielt die Luft an, während sie die Hände auf seine Oberarme schob, aber er schüttelte sie nicht ab. Sein Gewicht war schwerer unter ihrem Griff, als sie erwartet hatte, zäh ließ er sich von ihr hochziehen, die Beine steif, der Stand unsicher. Bestimmt war sein Kreislauf versackt, so fest, wie er sich auf sie stützte. Sie legte den Kopf schief, suchte seinen Blick, aber seine hellen Augen folgten weiterhin der verwischten Linie des Pfades, der in die grenzenlose Ferne hinter ihr führte. Jetzt stand Adam vollkommen reglos. Langsam führte sie die Rechte seinen Arm hinunter, über seine Seite zur Kuhle an seinem unteren Rücken. Ihre Hand hatte durch den dicken Stoff seiner Jacke kaum seine steinharten Muskeln ertastet, da schrak er zurück, riss im Davonstreben aber einen großen Schwall Luft in seine Lungen. Sein Körper erschlaffte ein wenig darunter, wurde weich, er ließ sich von ihr umfangen, ohne sich weiter zu wehren.
»Ganz ruhig, Adam, ganz ruhig«, sprach sie gegen das Brausen an, das um sie aufbrandete, als sich ein neuer Windstoß zwischen den Baumwipfeln hindurch zu ihnen auf den schmalen Weg herabstürzte. »Leo geht’s gut, ja? Leo geht’s gut.« Mit dem linken Arm hielt sie ihn jetzt um die Schulter, die Rechte schob sie behutsam auf seine Rippen. Sein Atem kam und ging noch ein wenig zu schnell, aber regelmäßig. Selbst durch seine schwere Kleidung hindurch fühlte sie ihn heftig zittern.
»Hey – ist ja gut, ssssch«, wisperte sie, da drückte es ihr plötzlich die Luft aus den Lungen, als Adam die Arme eng um sie schlang. Es zog und zerrte an ihrer Jacke, seine Finger gruben sich in den Stoff. »Leo geht’s gut.« Tatsächlich klang ihre Stimme ein wenig dünn, gegen Adams starre Brust konnte sie nicht in dem Maße Luft holen, wie sie es sonst tat. »Es ist alles in Ordnung, alles gut.« An ihrer Schulter spürte sie das Gewicht seines Kopfes, sein heißer Atem drang bis auf ihre Haut hindurch, er musste das Gesicht in ihrer Halsbeuge vergraben haben.
Blitzartig fuhren sie auseinander, als ganz in ihrer Nähe dumpfe Schritte und unverständliche Wortfetzen erklangen. Sofort wandte Adam sich um. An ihm vorbei konnte Pia zu den Kollegen schielen, die sich dem Kleinbus näherten, dessen Blinker nun aufleuchteten. Die Schiebetür rollte in der Leiste, ein Kollege kletterte ins Innere, ein Zweiter wollte ihm folgen, doch wandte er zuvor den Kopf, als habe er ihren Blick gespürt. Auf sein Nicken reagierte Pia mit der gleichen Regung, seine Augen aber lagen auf Adam, blieben für einen Moment an ihm hängen. So stand der dunkelhaarige Beamte, der entfernt Leo ähnelte, für ein, zwei Sekunden, die Hände im Rahmen abgestützt, bevor er sich hochzog und im Innenraum verschwand, die Tür hinter sich zuknallend. Schweigend beobachteten sie, wie die Rücklichter aufflammten, dann begann der Fahrer zu rangieren, fuhr auf dem engen Pfad zurück, wieder vor, zurück, wieder vor, bis er rückwärts in die Lücke stoßen konnte, die er nun vor Adams SUV freigeben würde. Nach zwei weiteren Anpassungen machte er schließlich die Wendung und drängte sich in langsamem Tempo an ihnen vorbei. Pia verfolgte den Weg des Wagens schemenhaft durch die Fenster von Adams Auto und übersah dabei fast die Bewegung neben sich. Adam hatte seine Jackentasche aufgezerrt und begann nun, hastig darin herumzukramen. Es dauerte eine Sekunde, bevor sie begriff. Offenbar war Leo fürs Erste aus seinen Gedanken verdrängt, aber das machte es nicht besser.
»Du fährst jetzt sicher nicht«, herrschte sie ihn beinahe an, ohne es zu wollen, doch interessierte ihn anscheinend auch ihr vehementer Tonfall nicht, denn seine Finger wühlten einfach weiter. Er ließ sich nicht einmal davon stören, dass sie an seine Seite trat und einen Arm um ihn legte. Sie nickte in Richtung der nun bereits ausgedünnten Fahrzeugkolonne vor ihnen. »Komm.«
Unter ihrer Führung tat er einen stolpernden Schritt, noch einen, dann blieb er stehen. Als sie zu ihm sah, schüttelte er den Kopf.
»Ein … Eine Minute, Pia – ja? Bitte.«
Noch bevor sie auch nur irgendeine Reaktion zeigte, hatte er sich schon an ihr vorbeigeschoben, er fasste hinter sich und ließ sich in einer zittrigen Bewegung auf die Motorhaube nieder, bis er halb darauf saß, halb daran lehnte, die langen Beine in Richtung des dichten Waldes ausgestreckt. Er zerrte jetzt stärker an seiner Jackentasche, nestelte eine Zigarettenpackung heraus. Den Deckel riss er geradezu auf, da begann es seinen Körper plötzlich so zu schütteln, dass ihm die Schachtel beinahe aus den Fingern glitt. Pia atmete tief aus, schluckte, dann trat sie neben ihn und legte die Hände auf seine, die wie Eisklötze waren, fasste daran vorbei und zog gezielt eine Zigarette aus der Reihe hervor, in der nur eine oder zwei fehlten. Sofort griff Adam danach, er schob sie sich zwischen die Lippen und legte schützend eine Hand um die aufschießende Flamme. Sein Gesicht wurde von einem goldenen Schimmer beleuchtet, der doch nur die angestrengte Verspanntheit auf seinen Zügen herausarbeitete. Adams Hände zitterten nun so heftig, dass sein Daumen vom Rädchen abrutschte, er die Zigarette verfehlte, sich selbst mit der abschirmenden Hand in die Quere kam. Gerade als Pia ihm widerstrebend zur Hilfe kommen wollte, gelang es ihm endlich, sich die Kippe anzustecken. Seine Wangen höhlten sich, als er einen tiefen Zug nahm. Die Zeit, den Rauch auszuatmen, gab er sich gar nicht, schon wieder zog er an seiner Zigarette und gleich noch einmal, sein Blick ging starr vor ihm in den Wald. Dass er die Zigarette zum Mund hob, war die einzige Bewegung, die an ihm zu beobachten war, und es brauchte nur noch eine zwei-, dreimalige Wiederholung, dann war die Zigarette auch schon aufgeraucht. Die Glut drehte er in dem mobilen Aschenbecher aus, den Pia schon einmal in seinen Händen beobachtet hatte, damals, auf der Terrasse ihrer Eltern, über ihnen der klare Sternenhimmel, in ihrem Rücken das hell erleuchtete Wohnzimmer mit dem geschmückten Weihnachtsbaum – keine vier Wochen lag das zurück und doch schien seitdem ein Jahr vergangen zu sein.
Unter seinem Beben verwischten seine Umrisse im Halbdunkel vor ihren Augen. Unterdrückte Stimmen wehten zu ihnen, die Kollegen bestiegen den nächsten Bus, der Motor ratterte unheimlich in der Waldesstille, wie ein böses Tier, das vor Hunger knurrte. Die Rücklichter glommen auf, das Zurückstoßen war nun schon einfacher geworden.
Adams Zittern hatte kaum merklich nachgelassen, er kauerte noch genauso zusammengesunken wie vorhin auf der Motorhaube, den Blick wieder in den Wald gerichtet, doch seine Augen rasten auf asymmetrischen Schleifen entlang, unter seinen schnellen Atemzügen hoben und senkten sich seine vor der Brust verschränkten Arme, seine hochgezogenen Schultern in einem viel zu raschen Rhythmus.
Als Pia vor ihn trat, sah er in einer langsamen Bewegung auf. Ihre Hand, die sich auf seinen Oberarm schlich, schüttelte er nicht ab, auch nicht ihre andere Hand, die sie ihm ein wenig höher als auf der Linie seiner Taille seitlich an den Körper legte. »Komm.« Er ließ sich von ihr hochziehen, drehte sich gefügig und wehrte sich nicht dagegen, dass sie ihn, einen Arm um seinen Rücken, sachte vorwärtsschob, auch wenn es einen Moment dauerte, bis er einen zähen Schritt in die Richtung machte, in die sie ihn bewegen wollte. Sie konnte nur hoffen, dass noch nicht alle weg waren, aber dann hätte sie es wenigstens versucht. Mit der freien Hand griff sie nach seiner Rechten, den Daumen ließ sie über seine Handfläche gleiten, die auch klamm war. »Komm, Adam.«
Dass sie die Motorhaube hinter sich ließen und nicht die Beifahrertür ansteuerten, half ihm zu begreifen, was sie vorhatte. Sein analytisches Denken funktionierte ganz offenbar auch weiterhin einwandfrei. Sofort entwand er sich ihrer Umfassung und trat hastig einen großen Schritt zurück. »Bitte – bitte nicht, Pia.« In kleinen, hektischen Bewegungen schüttelte er unaufhörlich den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen, er wich weiter zurück, eindeutig in Richtung des dichten Waldes. Wenn er vor ihr flüchten würde, hätten sie beide ein großes Problem.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Adam, ja?« Ihrem leichten Griff um seinen Arm entzog er sich sofort, strebte weiter rückwärts von ihr fort. »Hey.« Sie versuchte ein Lächeln, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er es im Gegenlicht überhaupt sehen konnte. Seine Hand hing ganz schlaff und schwer hinunter, seine Finger waren eiserstarrt, als sie danach fasste, da zog er seinen Arm auch schon zurück. »Adam –« Beim nächsten Schritt stolperte er über die Bodenwelle am Übergang zum Wegesrand, fing sich jedoch gleich wieder. Sein Blick war hinter ihn gewandert, jetzt musterte er sie wieder mit einer eigenartigen Mischung aus Misstrauen, Panik und Ablehnung, das konnte sie ihm auch in der Dunkelheit an den Augen ablesen, die seltsam stark funkelten, obwohl es doch eigentlich so finster um sie war. »Es ist alles gut, Adam, wirklich.« Mittlerweile hatte sie die Arme erhoben, hielt die Handflächen in seine Richtung, hoffentlich gut sichtbar, vor sich. »Keiner tut dir weh, ja?«
Sein hektischer Blick ging in den Wald in seinem Rücken, dann sah er sie überlegend an, er kämpfte mit sich.
»Adam – lass uns einfach …«
»Kein … keinen Arzt, keine Sanitäter. Bitte.«
»Adam …«
Er schüttelte den Kopf, jetzt bebten seine Schultern heftiger als zuvor unter der Kälte, unter seiner Furcht, unter der Kapitulation seines Kreislaufs, Pia wusste es nicht genau. Sie atmete tief ein, der intensive Harzgeruch biss ihr scharf in die Nase.
»Hör zu.« Mit noch immer erhobenen Händen machte sie einen Schritt in seine Richtung, dann noch einen. »Du stehst unter Schock, du kannst so nicht …«
»Ich steh nicht unter Schock.« Mit einem Mal war seine Stimme wie immer, ein Lächeln kämpfte sich gemächlich auf seine Lippen. In einer kontrollierten Bewegung schob er die Hände in die Jackentasche, sogar sein Zittern konnten ihre Augen an seinen Schultern nicht mehr erkennen, aber seine Jacke war so straff gespannt, dass er sich vermutlich kaum darin bewegen konnte, seine zu Fäusten geballten Hände zogen den festen Stoff unerbittlich in die Tiefe. »Es ist schon vorüber – ja?« Da war es doch noch, das leise Schwanken seiner Stimme, in der angehängten Nachfrage, die ihm ein bisschen dünn geriet, konnte er es nicht verbergen. Seine Augen waren viel klarer als vorhin noch, er versuchte, zu lesen, was in ihren Gedanken vor sich ging, das spürte sie. Zögerlich machte er einen Schritt in ihre Richtung, hängte einen zweiten, kleineren an. »Entschuldige, alles gut.«
Auch wenn er ihr nur unwesentlich näher gekommen war, mit einem Mal sah sie sie wieder fest vor sich aufragen, die Mauer, die er innerhalb einiger weniger Atemzüge um sich her wiederrichtet hatte. Sein Blick glitt kurz von ihr ab, als ein Gedanke, den sie nicht einordnen konnte, ihm durch den Kopf schoss, seine Augen flackerten vor Unruhe, etwas wie Schuldbewusstsein bildete den Urgrund. Unter dem Flimmern in ihrer Magengrube horchte sie auf die ruhige Gleichförmigkeit, die tiefer gelegen dahinströmte. Adam schien sich tatsächlich halbwegs beruhigt zu haben, schließlich war er kein guter Schauspieler. Aber wie konnte man so schnell zwischen den Extremen wechseln? Und wer garantierte ihr, dass er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde wieder in den Zustand zurückfallen würde, in dem sie ihn hier gefunden hatte? Ihr Kopfschütteln hatte sich von ihrem Bewusstsein gelöst, begann von selbst. Adam gehörte unter ärztliche Aufsicht, ganz eindeutig – aber welche Wahl hätten die Fachleute gehabt? Ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Ausgerechnet.
Etwas in ihrer Brust ballte sich zusammen, als sie ihm eine Hand an den Arm legte und in Richtung seines Autos nickte, das geduldig auf ihre Entscheidung gewartet hatte. »Dann lass uns fahren.«
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Kapitel 23 – Über die Kante
Die nur dunkel schimmernde Wasserfläche gab sich wie ein friedvolles Postkartenmotiv. In ein paar Stunden würde die Morgensonne sie mit ihren schräg einfallenden Strahlen bestreichen und Schwärme von Wildenten und Kanadagänsen aus dem Schilf hervorlocken. Mit wachsam gerecktem Hals würden sie sich ans Ufer wagen und sich aus dem Wasser auf die angrenzenden Wiesen hochziehen, um sich dort einem vereinzelten Reh, vielleicht einem Hasen zuzugesellen. Dass sich auch Spaziergänger hierher verirrten, schien außerhalb des Möglichen zu liegen, der See wirkte wie einem Roman entsprungen, einem poetisch langsam erzählten – oder einem Horrorfilm in der Sequenz, in der es noch nicht zum Auftritt des Bösen gekommen war, in der dem Zuschauer noch eine von Anstand und Reinheit durchwirkte Welt suggeriert wurde, bevor das Fantasiegebilde unter dem Schlag eines blutbefleckten Hammers in Tausenden Scherben zersplitterte.
Pia stützte die Hände in die Seiten, sie ließ den Kopf in den Nacken sinken, scharf biss die feuchtkalte Luft ihr tief in die Lungen. Nachdem Adam und sie in dem verwitterten Holzhäuschen auf Leo gestoßen waren, war seine Befreiung nur noch eine Sache von Minuten gewesen. Sie hatte nicht einmal mehr zur Tür hinausspähen können, da hatte schon ein SEK-Team die Hütte gestürmt und innerhalb weniger Augenblicke seine Fesseln gelöst. Als sie alle bereits die kleine Behausung hinter sich gelassen hatten, hatte eine atemlose Unruhe um sich gegriffen, die in ihrer Stofflichkeit beinahe so greifbar wie der in den Wiesen hängende Nebel gewesen war, aber es hatte nicht lange gedauert und die Bombe war zur Entschärfung durch Sprengstoffexperten an einen Ort verbracht worden, der weit genug entfernt lag, als dass jemandem daraus eine Gefahr hätte entstehen können. Das letzte Relikt des unwirklichen Vorfalls waren die im Flutlicht scharfen Umrisse von Leos wackliger Gestalt gewesen, von zwei Rettungssanitätern auf dem Weg zum Kastenwagen gestützt.
Jetzt saß er schon auf der Heckkante, die junge blonde Notfallsanitäterin hinter ihm, die irgendetwas für Pia nicht Sichtbares auf die Wunde an seinem Hinterkopf tupfte. Trotz des festen Griffs seiner Hände um die Metallschwelle erinnerte er ein wenig an eine Marionette mit durchhängenden Fäden, den Blick vor sich zu Boden gerichtet, Kopf wie Schultern vornübergesunken. Da hob er plötzlich die Augen, als habe er gespürt, dass Pia ihn ansah, und ein kleines, müdes Lächeln schlich sich auf seine Züge. Sie nickte langsam und gab seine Regung zurück, hoffte dass es auf die Entfernung in ihrer taghell erleuchteten Insel inmitten des nachtdunklen Streifens zwischen Seeufer und Waldesrand auf ihrem Gesicht überhaupt zu erkennen war.
Das Nicken, das Lächeln, die Bestätigung, die perfide in die Wege geleitete Hinrichtung gerade noch einmal abgelenkt zu haben, die ruhige Sicherheit und die unmittelbar nachfolgende Auslaugung, all das ging durch zwei – doch Adam stand nicht mehr bei ihr. Flüchtig scannte Pia die gesamte Szenerie, die sie wie die Filmkulisse aus einem Katastrophenfilm umgab, sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Ein Grüppchen SEKler hatte sich um sein Einsatzfahrzeug geschart, mit ernsten Gesichtern lauschten die Kollegen den Anweisungen des Leiters, nickten, hörten wieder konzentriert zu. Der Hubschrauber hatte schnell abgedreht, mit einem vernehmlichen Klatschen schloss ein uniformierter Kollege die Türen hinter den Hunden, ging dann festen Schrittes zur Fahrertür. Adam war nirgendwo zu sehen. Wann hatte er sich davongestohlen? Er war doch an ihrer Seite gewesen, als sie dem SEK Platz gemacht hatten, oder, genauer gesagt, vor ihr hergegangen, den Kopf ein wenig gesenkt, der Wind war ihm in die Haare gefahren, sowie er aus der Tür getreten war. Neben ihr stehend hatte er beobachtet, wie Leo in die grell beschienene Nacht hinausgeführt worden war –
Nein. Sie hatten kein einziges Wort gewechselt, vielleicht war er da schon wieder weggeschlichen. Mann. Konnte er nicht wenigstens einmal Rücksicht auf ihr auch nicht unbegrenztes Nervenreservoir nehmen? Sie schüttelte den Kopf, nestelte ihr Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer aus. Ein leises Knacken, Hier ist die Mailbox –
Entnervt drückte sie den Anruf weg, suchte noch einmal Leos Blick, doch war seine Aufmerksamkeit von der Ersthelferin abgezogen, die dicht vor ihm stand und ihm gerade in die Augen leuchtete. Na, umso besser.
Es würde nichts bringen, das wusste sie, trotzdem umrundete Pia einmal die Hütte, zog von der Rückseite aus die Uferlinie nach, spähte nach dem Wald. Adam hielt sich meistens unauffällig, doch seine Größe verriet ihn fast immer. Nicht so heute. Sie kehrte dem See den Rücken und sah jedem ins Gesicht, der ihr entgegenkam, auch wenn Adam sich nicht darin verstecken würde, doch vielleicht erinnerte sich jemand an sie als Begleiterin des hageren, hoch aufgeschossenen Kommissars. Schon tauchte sie in den Wald ein, nickte zwei Streifenbeamten zu, die ihr entgegenkamen, schlängelte sich die Kolonne von Fahrzeugen entlang, die sich wie an einer Perlschnur hier aufgereiht hatten. Ihr entfuhr ein leises Schnauben. Vielleicht war Adam ja bereits ohne sie zurückgefahren, Mitfahrgelegenheiten hatte sie schließlich genug.
Ihr Herz stolperte schmerzhaft, als ihr Puls hochschnellte. Dort stand Adams SUV, ein Stück hinter dem letzten Einsatzfahrzeug, brav in die Verlängerung der Linie eingefügt am Wegesrand. Er glänzte matt, ein schwacher Schimmer der Festbeleuchtung schlug sich bis hierher an den Waldessaum durch, ließ sogar von hier erahnen, in welcher Richtung der See lag. Die Beifahrertür stand offen, doch von Adam keine Spur. Pia rannte die wenigen Schritte, hielt sich im Fensterrahmen, als sie sich ins Innere beugte. Das Handschuhfach war aufgeklappt, die Parkscheibe auf den Sitz geglitten, daneben lagen eine Taschentuchpackung, der Eiskratzer, ein paar Zigarettenschachteln, ein Scheibenschwamm, zwei, drei Feuerzeuge, zweimal blau, einmal rot, alles in einem wilden Durcheinander, zwei weitere Päckchen Zigaretten waren in den Fußraum gerutscht, das Glitzern der Folie verriet sie, sonst hätte Pia sie gar nicht wahrgenommen. Sie lief die Beifahrerseite entlang, prallte vor der offen stehenden Heckklappe zurück. Was ging hier ab? Es war vollkommen abwegig, der Wagen stand in unmittelbarer Nähe zu den unzähligen Einsatzfahrzeugen unter bester Aufsicht, und doch kam Pia nicht gegen die Faust in ihrer Magengrube an. Durch die Scheiben spähte sie auf die andere Seite, an die Karosserie gedrückt schob sie sich nach hinten. Am Heck angekommen, machte sie den Hals lang und linste um die Ecke, in ihrem vor Kälte ein wenig starren Gesicht fühlte sie deutlich, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. Der Inhalt des Verbandskastens war auf dem Boden des Kofferraums verteilt, als habe jemand ihn mit einem großzügigen Schwung ausgeleert und dann, in Aussicht auf ein dazwischen verstecktes Gut, die Binden, Pflaster und Kompressen durchwühlt. Langsam wich sie einen Schritt zurück, blickte sich um, doch hinter ihr zog sich nur der Pfad entlang, auf dem sie herangerast waren. Ohne die Nebelwand wirkte der unbefestigte Weg beinahe romantisch, als könne jeden Augenblick ein verwunschenes Wesen darauf heranschreiten, ein Einhorn vielleicht oder –
Für eine Sekunde schloss Pia die Augen, drückte alle Gedanken weg, die Müdigkeit warf sich wie in einem Ringkampf mit ihrem schweren Gewicht auf sie. Abermals zückte Pia ihr Handy, diesmal stöhnte sie unter der abweisenden Ansage auf. Wo steckte Adam bloß? Bestimmt irgendwo im Gewusel der Kollegen zwischen Hütte, Ufer und Wald, aber es widerstrebte ihr, sein Auto, offen stehend, wie es war, in diesem Durcheinander zurückzulassen. Wer hatte das bloß angerichtet? Und zu welchem Zweck? Der Rettungswagen war keine hundert Meter entfernt geparkt. Wer hatte hier was gesucht?
Mit einem Mal verengte sich ihr Sichtfeld, eine unsichtbare, riesenhafte Schattenhand drückte ihr die Kehle zu. Leos Entführer. Was wenn er noch irgendwo hier herumlief – oder sie? Wer sagte ihr, dass sie es nicht mit einer ganzen Gruppe von Höchstkriminellen zu tun hatten, die zu allem bereit waren? Aber – was hatten sie mit Adams Auto zu schaffen gehabt, mit Verbandspäckchen, Feuerzeugen und Eiskratzern? Warum sollte jemand alles durchwühlen? Was hätte er davon?
Mit wenigen Schritten war sie an der Beifahrertür, sie drückte sie zu. Auf der Höhe des Polizeibusses, der das Schlusslicht der Kolonne bildete, fühlte sie sich schon viel sicherer, und doch blieb sie stehen, blickte zu Adams SUV zurück, der seltsam verzagt im Halbdunkel wartete, ein Stück vom Rest der Fahrzeugschlange abgerückt. Nach dem Schlüssel sollte sie wenigstens noch sehen, sie konnte sich nicht erinnern, ob Adam ihn abgezogen und eingesteckt hatte oder nicht, wobei er das bestimmt getan hatte, denn er war ja immer –
Auf halbem Weg um die Motorhaube erstarrte sie. Adam kauerte neben dem Vorderreifen in der Hocke, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, den Kopf dicht zur Brust gezogen. Seine langen Hände, die er im Nacken gefaltet hielt, leuchteten bleich in der Dunkelheit. In einem gleichmäßigen Rhythmus wippte er vor und zurück, gerade so weit, wie seine Haltung es ihm erlaubte. Er gab keinen Laut von sich, verursachte kein Geräusch durch seine Bewegung, die nicht eine Sekunde aussetzte oder ungleichmäßig wurde, auch dann nicht, als Wind aufkam. Die Böe fegte in seine Jacke hinein, blähte sie ein wenig, sein Haar flatterte, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken, schaukelte hin und her, immer wieder, hin und her.
Irgendetwas knackte unter ihrem Fuß, als sie einen Schritt auf ihn zu machte. Sofort blieb sie stehen, aber auch jetzt wiegte Adam sich in der gleichen Geschwindigkeit, auf der gleichen Bahn wie zuvor weiter, den Blick auf seine Beine geheftet oder die Augen geschlossen, das konnte sie von oben nicht sehen. Vorsichtig trat sie zu ihm, ging langsam in die Knie. Sie musste in sein Sichtfeld geraten sein, dafür war sie ihm zu nahe gekommen, aber die Welt, die ihn umgab, schien aus seinem Bewusstsein getilgt zu sein.
»Hey.« Auch auf ihr eines leises Wort zeigte er keine Reaktion, lautlos fuhr er in seiner Bewegung fort. Seine Haare unter seinen Fingern waren ganz zerzaust, sein Schal locker um seinen Hals geschlungen, sodass der Wind zwischen den Rollkragen und seinen gebeugten Nacken fahren konnte.
»Adam.«
Immer mit dem Namen ansprechen, dezidiert, ganz bestimmt, lassen Sie sich nicht beirren. Und wenn der andere nicht reagierte? Weitermachen, hatte ihre Ausbilderin gefordert und sich den buschigen Lockenzopf über die Schulter zurückgeworfen. Fordern Sie die Person auf, alle Dinge in ihrer Umgebung aufzuzählen, die grün sind. Lassen Sie sie rückwärtszählen.
Rückwärtszählen? Adam kauerte weiterhin als zusammengekrümmtes Häufchen vor ihr, wahrscheinlich hätte er ihre Anweisung gar nicht verstanden, selbst wenn sie ihn angeschrien hätte.
»Adam – hey.« Mit kleinen, tapsenden Schritten hatte sie sich ihm so weit genähert, dass er sie beinahe anstieß, wenn er sich wieder nach vorn lehnte, doch noch immer nahm er sie nicht wahr. Anscheinend hielt er die Augen wirklich nicht offen. Sie streckte die Hand aus, zögerte, ließ sie in der Luft schweben, streifte dann doch mit dem Zeige- und Mittelfinger seine Haut ganz kurz über den Fingerknöcheln.
»He-«
Diesmal brach ihr Vorstoß ab, denn er schrak so heftig zusammen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Mit einem Ruck riss er den Kopf hoch, strebte fort von ihr zum Reifen in seinem Rücken, an dem er sich steif aufrichtete. Sein Gesicht leuchtete kreideweiß in der Dunkelheit, mit der Rechten tastete er blind in einer hektischen Bewegung neben sich.
»Hey, Adam – hey.«
Sie hatte die Stimme ein wenig erhoben, war ihm nur insoweit gefolgt, als sie sich vorgebeugt hatte, doch er sah sie nicht. Seine riesigen Augen flogen über den Wald in ihrem Rücken, sie schimmerten matt unter der schwarzen Angst, die in ihm loderte.
»Hey, alles gut, alles gut – ich bin’s, Pia.«
Sein Blick fand sie nicht. Hatte sich sein Brustkorb jäh geweitet, als sie ihn berührt hatte, so saß er nun vollkommen reglos, in ein Dunkel starrend, das für niemanden außer ihm sichtbar war. Es widerstrebte ihr, ihn anzufassen, aber es half nichts, sie musste ihn irgendwie aus diesem Zustand herausbekommen. Natürlich schnellte sein Kopf sofort zur Seite, als ihre Finger sich nach den Strähnen in seiner Stirn streckten, drehte sich wieder zurück, doch sein Blick ging zu Boden, richtete sich nicht auf sie, während er in einer ungeschickten, ziellosen Bewegung mit dem Unterarm ihre Hand wegzudrängen versuchte. Für einen Augenblick schrillte ihr Instinkt, ihr Gefahrenbewusstsein, doch Adam war ganz klar verlangsamt, in einer ungerichteten Abwehrgeste durchkämmten seine Finger die Luft irgendwo neben ihrer Schulter.
»Alles gut, Adam, alles okay.« Sie beugte sich dichter zu ihm, schob ihm behutsam eine Hand in den Nacken. Seine Haut war kalt und feucht, die Muskelstränge nicht nur neben seiner Wirbelsäule, sondern auch seitlich an seinem Hals vollkommen angespannt, aber sie wagte es nicht, ihre Finger hin- und herzubewegen. So wenig wie möglich, gerade so viel, um bei sich zu behalten, was von ihm noch übrig war. Sanft fing sie mit der anderen Hand die seinige ein, die im Nichts neben ihr etwas zu fassen zu bekommen suchte. Seine Finger waren wie schockgefroren, eisig und vollkommen starr in ihrer Hand. Sie führte seinen Arm zu seinem Körper zurück, sofort kauerte er sich noch enger zusammen, drückte sich gegen den Reifen seines SUV, ohne nennenswert weiter zu kommen als gerade eben noch.
»Hey, ist doch gut, ich bin’s nur, Adam – Pia.«
Über dem Rauschen des Waldes hörte sie ihre eigene Stimme kaum. Die Kronen der Bäume beugten sich unter dem wieder auffrischenden Wind zu ihnen herab, man hätte glauben können, das Zittern jedes einzelnen Zweigleins und Ästchens hören zu können, und doch war das Wehen und Brausen nicht das einzige Geräusch, das sie hier unten umgab. Es raschelte neben ihr, sie versuchte, den Ursprung zu entdecken, da fiel ihr Blick auf Adams Hand, die über den Boden fuhr, sich in die Erde krallte, weiterzog, sich knisternd durch die vertrockneten Überbleibsel des letzten Jahres wühlte. Vorsichtig löste sie die Hand von seinem Nacken, fasste mit der anderen nach, um die Linke frei zu haben. Sie wandte den Blick nicht von Adams Gesicht, doch er schien nichts von dem wahrzunehmen, was sie tat, er starrte an ihr vorbei in die Dunkelheit. Noch dichter beugte sie sich zu ihm, bekam seine Hand gleich beim ersten Versuch zu fassen. Sie drückte ihre flach auf seine, fixierte sie am Boden. Seine Finger wölbten sich, schoben sich ihren entgegen, dann gab er es auf, ließ sich auf die Erde pressen.
»Es ist alles okay, Adam, Leo geht’s gut – Leo geht’s gut.«
Es brauchte die Wiederholung, bis ihre Worte bei ihm ankamen, doch drangen sie dann mit einer Heftigkeit zu ihm durch, die ihn den Kopf hochreißen ließ. Auf einen Schlag war sein Blick fast klar, er fokussierte ihr Gesicht, es verstrichen einige Sekunden, bis er sie erkannte. Als habe sich ein Schleier von seinen Augen zurückgezogen, musterte er sie mit beinahe demselben Ausdruck, den sie an ihm schon Hunderte Male beobachtet hatte: bei Besprechungen, wenn er einmal den Blick von Leo wandte, an dem Tag, als er abends an ihrer Wohnung aufgeschlagen war, weil er nicht mehr gewusst hatte, wohin er sich sonst hätte wenden sollen, am Weihnachtsabend mit ihren Eltern. Bevor sie etwas dagegen hätte unternehmen können, hatte er ihre Hand abgeschüttelt, seine Finger kratzten wieder über die Erde, schoben Nadeln und Ästchen beiseite. Er versuchte, sich zur Seite zu wenden, zog sich aber gleich wieder zurück, als seine Knie an ihre stießen. Nur seine Augen gingen nun neben ihm zu Boden.
»Wir müssen –«, würgte er so erstickt hervor, dass sie ihn erst einen Augenblick danach verstand, und doch platzte ein Knoten in ihrer Brust, als sie seine Stimme hörte, trocken zwar, dass sie zu rascheln schien, doch er sprach mit ihr. »Er ist … mit – mit der Schere? Ich hatte sie – sie muss hier irgendwo …« Die Bahnen, die seine Hand entlangschleifte, wurden länger, rissen mittendrin ab, er kehrte um und fuhr in einer anderen Richtung fort. »Dabei wollte ich – wirklich, das … du musst mir – ich wollte zurückkommen, ganz bestimmt, wirklich, aber ich – ich wusste nicht mehr, w-wo …«
»Adam – hey.« Es war mehr ein Seufzen als Worte, die ihr entkamen, sie ließ nun alle Vorsicht fahren und nahm sein Gesicht in die Hände, strich ihm die Haare aus der Stirn, drückte einen Kuss auf seine freigelegte Haut, die so klamm war an ihren Lippen. Unter ihrer Berührung war er erstarrt, ganz nah vor ihr schwebten seine Augen, in denen etwas von dem schimmerte, was sie von ihm kannte, doch der Wahn seiner Ungewissheit war noch nicht abgeklungen.
»Leo geht’s gut – Leo geht’s gut«, sprach sie eindringlich auf ihn ein, während sie ihm über das Haar strich, ihm erneut einen Kuss auf die Stirn hauchte, was er zu ihrer Überraschung mit sich geschehen ließ. »Er ist in Sicherheit, das SEK hat ihn befreit, wir müssen nicht –«
Sie ließ sich unter dem leichten Druck von Adams Hand auf ihrer Schulter zurückdrängen, wich von selbst noch ein Stück weiter von ihm fort. Es brauchte einen Augenblick, bis sie seinen verworrenen Blick entschlüsseln konnte. Jetzt entwich ihr wirklich ein Seufzer. Ihre Augen gingen in den Wald, bevor sie sich wieder auf Adam richteten. Sehr leicht schüttelte sie den Kopf, streichelte seinen Arm, er hatte sie noch nicht losgelassen. »Adam – ich würde dich doch nicht anlügen, und schon gar nicht in so einem Fall.« Langsam hob sie die Hand zu seiner Stirn, strich sein strähniges Haar zurück, das ihm schon wieder in die Augen gefallen war. »Meinst du wirklich, ich säße hier, bei dir, so ruhig, wenn Leo – wenn mit ihm …«
Auch unvollendet gaben ihre Worte ihm zu denken, für einige Sekunden wälzte er sie hin und her, anscheinend ohne zu einem Ergebnis zu kommen, denn sein skeptischer Blick, der auf ihr gelegen hatte, glitt ab und verlor sich wieder in der Waldesfinsternis in ihrem Rücken. Seine Augen passten sich dem undurchdringlichen Dunkel an, nahmen es in sich auf, trübten sich ein.
In einer unbedachten Bewegung schlich sich ihre Hand auf seine Wange. »Adam –«
Sofort entzog er sich ihr. Sein Hinterkopf schlug mit einem dumpfen Pochen gegen den Rahmen, er drückte den Rücken durch, presste sich an sein Auto. Ihre Berührung blieb einfach in der Luft hängen, aber ihre Finger hatten das Gefühl seiner ausgekühlten Haut in sich bewahrt.
»Entschuldige«, flüsterte sie hastig, »entschuldige, Adam.« Die Muskeln in seinem Nacken waren noch straffer gespannt als vorhin, doch wagte sie es nicht noch einmal, sich zu bewegen, wenn er ihre Hand in seinem Genick schon weiterhin duldete. Ihr Blick glitt über seine zusammengekrümmte Gestalt, erst jetzt bemerkte sie, dass seine Brust krampfte.
»Komm.« Sie hielt die Luft an, während sie die Hände auf seine Oberarme schob, aber er schüttelte sie nicht ab. Sein Gewicht war schwerer unter ihrem Griff, als sie erwartet hatte, zäh ließ er sich von ihr hochziehen, die Beine steif, der Stand unsicher. Bestimmt war sein Kreislauf versackt, so fest, wie er sich auf sie stützte. Sie legte den Kopf schief, suchte seinen Blick, aber seine hellen Augen folgten weiterhin der verwischten Linie des Pfades, der in die grenzenlose Ferne hinter ihr führte. Jetzt stand Adam vollkommen reglos. Langsam führte sie die Rechte seinen Arm hinunter, über seine Seite zur Kuhle an seinem unteren Rücken. Ihre Hand hatte durch den dicken Stoff seiner Jacke kaum seine steinharten Muskeln ertastet, da schrak er zurück, riss im Davonstreben aber einen großen Schwall Luft in seine Lungen. Sein Körper erschlaffte ein wenig darunter, wurde weich, er ließ sich von ihr umfangen, ohne sich weiter zu wehren.
»Ganz ruhig, Adam, ganz ruhig«, sprach sie gegen das Brausen an, das um sie aufbrandete, als sich ein neuer Windstoß zwischen den Baumwipfeln hindurch zu ihnen auf den schmalen Weg herabstürzte. »Leo geht’s gut, ja? Leo geht’s gut.« Mit dem linken Arm hielt sie ihn jetzt um die Schulter, die Rechte schob sie behutsam auf seine Rippen. Sein Atem kam und ging noch ein wenig zu schnell, aber regelmäßig. Selbst durch seine schwere Kleidung hindurch fühlte sie ihn heftig zittern.
»Hey – ist ja gut, ssssch«, wisperte sie, da drückte es ihr plötzlich die Luft aus den Lungen, als Adam die Arme eng um sie schlang. Es zog und zerrte an ihrer Jacke, seine Finger gruben sich in den Stoff. »Leo geht’s gut.« Tatsächlich klang ihre Stimme ein wenig dünn, gegen Adams starre Brust konnte sie nicht in dem Maße Luft holen, wie sie es sonst tat. »Es ist alles in Ordnung, alles gut.« An ihrer Schulter spürte sie das Gewicht seines Kopfes, sein heißer Atem drang bis auf ihre Haut hindurch, er musste das Gesicht in ihrer Halsbeuge vergraben haben.
Blitzartig fuhren sie auseinander, als ganz in ihrer Nähe dumpfe Schritte und unverständliche Wortfetzen erklangen. Sofort wandte Adam sich um. An ihm vorbei konnte Pia zu den Kollegen schielen, die sich dem Kleinbus näherten, dessen Blinker nun aufleuchteten. Die Schiebetür rollte in der Leiste, ein Kollege kletterte ins Innere, ein Zweiter wollte ihm folgen, doch wandte er zuvor den Kopf, als habe er ihren Blick gespürt. Auf sein Nicken reagierte Pia mit der gleichen Regung, seine Augen aber lagen auf Adam, blieben für einen Moment an ihm hängen. So stand der dunkelhaarige Beamte, der entfernt Leo ähnelte, für ein, zwei Sekunden, die Hände im Rahmen abgestützt, bevor er sich hochzog und im Innenraum verschwand, die Tür hinter sich zuknallend. Schweigend beobachteten sie, wie die Rücklichter aufflammten, dann begann der Fahrer zu rangieren, fuhr auf dem engen Pfad zurück, wieder vor, zurück, wieder vor, bis er rückwärts in die Lücke stoßen konnte, die er nun vor Adams SUV freigeben würde. Nach zwei weiteren Anpassungen machte er schließlich die Wendung und drängte sich in langsamem Tempo an ihnen vorbei. Pia verfolgte den Weg des Wagens schemenhaft durch die Fenster von Adams Auto und übersah dabei fast die Bewegung neben sich. Adam hatte seine Jackentasche aufgezerrt und begann nun, hastig darin herumzukramen. Es dauerte eine Sekunde, bevor sie begriff. Offenbar war Leo fürs Erste aus seinen Gedanken verdrängt, aber das machte es nicht besser.
»Du fährst jetzt sicher nicht«, herrschte sie ihn beinahe an, ohne es zu wollen, doch interessierte ihn anscheinend auch ihr vehementer Tonfall nicht, denn seine Finger wühlten einfach weiter. Er ließ sich nicht einmal davon stören, dass sie an seine Seite trat und einen Arm um ihn legte. Sie nickte in Richtung der nun bereits ausgedünnten Fahrzeugkolonne vor ihnen. »Komm.«
Unter ihrer Führung tat er einen stolpernden Schritt, noch einen, dann blieb er stehen. Als sie zu ihm sah, schüttelte er den Kopf.
»Ein … Eine Minute, Pia – ja? Bitte.«
Noch bevor sie auch nur irgendeine Reaktion zeigte, hatte er sich schon an ihr vorbeigeschoben, er fasste hinter sich und ließ sich in einer zittrigen Bewegung auf die Motorhaube nieder, bis er halb darauf saß, halb daran lehnte, die langen Beine in Richtung des dichten Waldes ausgestreckt. Er zerrte jetzt stärker an seiner Jackentasche, nestelte eine Zigarettenpackung heraus. Den Deckel riss er geradezu auf, da begann es seinen Körper plötzlich so zu schütteln, dass ihm die Schachtel beinahe aus den Fingern glitt. Pia atmete tief aus, schluckte, dann trat sie neben ihn und legte die Hände auf seine, die wie Eisklötze waren, fasste daran vorbei und zog gezielt eine Zigarette aus der Reihe hervor, in der nur eine oder zwei fehlten. Sofort griff Adam danach, er schob sie sich zwischen die Lippen und legte schützend eine Hand um die aufschießende Flamme. Sein Gesicht wurde von einem goldenen Schimmer beleuchtet, der doch nur die angestrengte Verspanntheit auf seinen Zügen herausarbeitete. Adams Hände zitterten nun so heftig, dass sein Daumen vom Rädchen abrutschte, er die Zigarette verfehlte, sich selbst mit der abschirmenden Hand in die Quere kam. Gerade als Pia ihm widerstrebend zur Hilfe kommen wollte, gelang es ihm endlich, sich die Kippe anzustecken. Seine Wangen höhlten sich, als er einen tiefen Zug nahm. Die Zeit, den Rauch auszuatmen, gab er sich gar nicht, schon wieder zog er an seiner Zigarette und gleich noch einmal, sein Blick ging starr vor ihm in den Wald. Dass er die Zigarette zum Mund hob, war die einzige Bewegung, die an ihm zu beobachten war, und es brauchte nur noch eine zwei-, dreimalige Wiederholung, dann war die Zigarette auch schon aufgeraucht. Die Glut drehte er in dem mobilen Aschenbecher aus, den Pia schon einmal in seinen Händen beobachtet hatte, damals, auf der Terrasse ihrer Eltern, über ihnen der klare Sternenhimmel, in ihrem Rücken das hell erleuchtete Wohnzimmer mit dem geschmückten Weihnachtsbaum – keine vier Wochen lag das zurück und doch schien seitdem ein Jahr vergangen zu sein.
Unter seinem Beben verwischten seine Umrisse im Halbdunkel vor ihren Augen. Unterdrückte Stimmen wehten zu ihnen, die Kollegen bestiegen den nächsten Bus, der Motor ratterte unheimlich in der Waldesstille, wie ein böses Tier, das vor Hunger knurrte. Die Rücklichter glommen auf, das Zurückstoßen war nun schon einfacher geworden.
Adams Zittern hatte kaum merklich nachgelassen, er kauerte noch genauso zusammengesunken wie vorhin auf der Motorhaube, den Blick wieder in den Wald gerichtet, doch seine Augen rasten auf asymmetrischen Schleifen entlang, unter seinen schnellen Atemzügen hoben und senkten sich seine vor der Brust verschränkten Arme, seine hochgezogenen Schultern in einem viel zu raschen Rhythmus.
Als Pia vor ihn trat, sah er in einer langsamen Bewegung auf. Ihre Hand, die sich auf seinen Oberarm schlich, schüttelte er nicht ab, auch nicht ihre andere Hand, die sie ihm ein wenig höher als auf der Linie seiner Taille seitlich an den Körper legte. »Komm.« Er ließ sich von ihr hochziehen, drehte sich gefügig und wehrte sich nicht dagegen, dass sie ihn, einen Arm um seinen Rücken, sachte vorwärtsschob, auch wenn es einen Moment dauerte, bis er einen zähen Schritt in die Richtung machte, in die sie ihn bewegen wollte. Sie konnte nur hoffen, dass noch nicht alle weg waren, aber dann hätte sie es wenigstens versucht. Mit der freien Hand griff sie nach seiner Rechten, den Daumen ließ sie über seine Handfläche gleiten, die auch klamm war. »Komm, Adam.«
Dass sie die Motorhaube hinter sich ließen und nicht die Beifahrertür ansteuerten, half ihm zu begreifen, was sie vorhatte. Sein analytisches Denken funktionierte ganz offenbar auch weiterhin einwandfrei. Sofort entwand er sich ihrer Umfassung und trat hastig einen großen Schritt zurück. »Bitte – bitte nicht, Pia.« In kleinen, hektischen Bewegungen schüttelte er unaufhörlich den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen, er wich weiter zurück, eindeutig in Richtung des dichten Waldes. Wenn er vor ihr flüchten würde, hätten sie beide ein großes Problem.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Adam, ja?« Ihrem leichten Griff um seinen Arm entzog er sich sofort, strebte weiter rückwärts von ihr fort. »Hey.« Sie versuchte ein Lächeln, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er es im Gegenlicht überhaupt sehen konnte. Seine Hand hing ganz schlaff und schwer hinunter, seine Finger waren eiserstarrt, als sie danach fasste, da zog er seinen Arm auch schon zurück. »Adam –« Beim nächsten Schritt stolperte er über die Bodenwelle am Übergang zum Wegesrand, fing sich jedoch gleich wieder. Sein Blick war hinter ihn gewandert, jetzt musterte er sie wieder mit einer eigenartigen Mischung aus Misstrauen, Panik und Ablehnung, das konnte sie ihm auch in der Dunkelheit an den Augen ablesen, die seltsam stark funkelten, obwohl es doch eigentlich so finster um sie war. »Es ist alles gut, Adam, wirklich.« Mittlerweile hatte sie die Arme erhoben, hielt die Handflächen in seine Richtung, hoffentlich gut sichtbar, vor sich. »Keiner tut dir weh, ja?«
Sein hektischer Blick ging in den Wald in seinem Rücken, dann sah er sie überlegend an, er kämpfte mit sich.
»Adam – lass uns einfach …«
»Kein … keinen Arzt, keine Sanitäter. Bitte.«
»Adam …«
Er schüttelte den Kopf, jetzt bebten seine Schultern heftiger als zuvor unter der Kälte, unter seiner Furcht, unter der Kapitulation seines Kreislaufs, Pia wusste es nicht genau. Sie atmete tief ein, der intensive Harzgeruch biss ihr scharf in die Nase.
»Hör zu.« Mit noch immer erhobenen Händen machte sie einen Schritt in seine Richtung, dann noch einen. »Du stehst unter Schock, du kannst so nicht …«
»Ich steh nicht unter Schock.« Mit einem Mal war seine Stimme wie immer, ein Lächeln kämpfte sich gemächlich auf seine Lippen. In einer kontrollierten Bewegung schob er die Hände in die Jackentasche, sogar sein Zittern konnten ihre Augen an seinen Schultern nicht mehr erkennen, aber seine Jacke war so straff gespannt, dass er sich vermutlich kaum darin bewegen konnte, seine zu Fäusten geballten Hände zogen den festen Stoff unerbittlich in die Tiefe. »Es ist schon vorüber – ja?« Da war es doch noch, das leise Schwanken seiner Stimme, in der angehängten Nachfrage, die ihm ein bisschen dünn geriet, konnte er es nicht verbergen. Seine Augen waren viel klarer als vorhin noch, er versuchte, zu lesen, was in ihren Gedanken vor sich ging, das spürte sie. Zögerlich machte er einen Schritt in ihre Richtung, hängte einen zweiten, kleineren an. »Entschuldige, alles gut.«
Auch wenn er ihr nur unwesentlich näher gekommen war, mit einem Mal sah sie sie wieder fest vor sich aufragen, die Mauer, die er innerhalb einiger weniger Atemzüge um sich her wiederrichtet hatte. Sein Blick glitt kurz von ihr ab, als ein Gedanke, den sie nicht einordnen konnte, ihm durch den Kopf schoss, seine Augen flackerten vor Unruhe, etwas wie Schuldbewusstsein bildete den Urgrund. Unter dem Flimmern in ihrer Magengrube horchte sie auf die ruhige Gleichförmigkeit, die tiefer gelegen dahinströmte. Adam schien sich tatsächlich halbwegs beruhigt zu haben, schließlich war er kein guter Schauspieler. Aber wie konnte man so schnell zwischen den Extremen wechseln? Und wer garantierte ihr, dass er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde wieder in den Zustand zurückfallen würde, in dem sie ihn hier gefunden hatte? Ihr Kopfschütteln hatte sich von ihrem Bewusstsein gelöst, begann von selbst. Adam gehörte unter ärztliche Aufsicht, ganz eindeutig – aber welche Wahl hätten die Fachleute gehabt? Ihm ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Ausgerechnet.
Etwas in ihrer Brust ballte sich zusammen, als sie ihm eine Hand an den Arm legte und in Richtung seines Autos nickte, das geduldig auf ihre Entscheidung gewartet hatte. »Dann lass uns fahren.«