Oberwasser
von ToniLilo
Kurzbeschreibung
Es gab bessere Tage – und es gab andere. Man wusste es niemals vorher. Und Adam war es ohnehin nicht anzusehen. Sobald Pia Ansätze machte, ihn zu ergründen, hinter seine aus Eis gehauene Fassade zu blicken, zog er sich in seine Welt zurück, zu der er niemandem jemals Zutritt gewährte. Dann blieb ihr nichts übrig, als seine Spur zu verfolgen – jeden Tag aufs Neue wieder … [Fortsetzung zu „Seitenwechsel“] [ACHTUNG: Triggerwarnung!]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk
Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer
Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann
Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
19.03.2023
22
86.938
5
Alle Kapitel
25 Reviews
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Dieses Kapitel
1 Review
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19.03.2023
3.415
Auch wenn es vielleicht schon kaum mehr zu glauben war: Es gibt mich noch! Bitte entschuldigt die längere Pause gerade an einer Stelle, an der es auch einmal ein bisschen spannend ist. Nun bin ich aber zurück und hier kommt das nächste Kapitel. Viel Vergnügen wünsche ich damit!
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Kapitel 22 – Blindgang
Gerade als Adam lospreschen wollte, riss Pia die Beifahrertür auf. Aus seinen Augen schoss er einen blauen Blitz auf sie ab, Ärger funkelte darin, aber auch Überraschung – und etwas wie Dankbarkeit, was sie für den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Bewegung einfrieren ließ, bevor sie doch auf den Sitz glitt. Sie knallte die Tür zu und noch während sie sich anschnallte, fuhr Adam etwas zu heftig an, die Reifen rutschten auf dem feuchten Kies weg, krallten sich dann in den Asphalt und hievten den SUV mit einem Ruck auf die Straße.
Keiner von ihnen sagte ein Wort. Es war ein Pakt, das wussten sie beide, der letzte zwischen ihnen, sollte Adam sich geirrt haben – oder sollten sie Leo zu spät finden. Ihre Wut ragte wie eine Mauer zwischen ihnen auf, die sie nicht über die Kante nach dem spähen ließ, was dahinter verborgen lag. Pia hätte auch in einem selbstfahrenden Auto sitzen können, das hätte keinen Unterschied gemacht. Ihr ganzes Bewusstsein schrumpfte in ihrem Gehör zusammen, das sich am monotonen Summen des Motors festhielt. Die Regentropfen krochen wie anhängliche, müde Nacktschnecken aus Glas an der Scheibe entlang, das Licht der Straßenlaternen brach sich in ihren gestauchten Körpern in grätigen Sternen. Als sie beinahe mit der Dunkelheit dahinter verschmolzen, versuchte sie, durch ihr schwaches Funkeln etwas auszumachen. Es waren kaum fünf Minuten vergangen und sie hatten die Stadt bereits vollständig hinter sich gelassen. Welchen Weg Adam gewählt hatte, war ihr unbegreiflich, es nachprüfen konnte sie nicht, das Navi hatte er nicht eingeschaltet. Nadelbäume drangen vom Straßenrand in einer geschlossenen schwarzen Front auf sie ein, die blassen, zu schnell hochgezüchteten Stämme von den Scheinwerfern bloßgestellt. Es war wie das Ende der Welt.
Langsam wandte Pia den Kopf und schielte nun doch zu Adam. Diesmal schien er tatsächlich nicht zu bemerken, dass sie ihn ansah. Seine Augen waren scharf und unerbittlich wie die eines Polarwolfs, das fahle Licht des Armaturenbretts arbeitete sein Jochbein, seinen schön geschwungenen Kieferknochen heraus, die seine eingefallene Wange umrahmten. Sie wagte einen Blick an ihm vorbei auf den Tacho. 223, 217, 231 km/h. Die Lichter des Vordermannes, den Adam mit einem Schlenker wie nebenbei überholte, waren verwischte Streifen.
Die Zeit wurde undefinierbar, über dem Sausen des Fahrtwindes, das zu einem Brausen anwuchs, wenn Adam an einem seltenen Nachtfahrer vorbeiflog, musste sie gegen das Einschlafen kämpfen. Sie fixierte die Mittellinie, die von der Motorhaube gefressen wurde, bis eine langsam, doch stetig zunehmende Übelkeit sie davon abhielt, sie zählte die Pfosten, weiß-schwarz, weiß-schwarz, weiß-schwarz, bis sie über der Gleichförmigkeit beinahe wegdämmerte.
Was war nur los mit ihr? Sie war schon mit einer ganz anderen Liga von Schlafentzug fertig geworden, warum konnte sie dem Urdrang dieses Mal so wenig entgegensetzen?
Immerhin fand sie die Antwort sofort. Adam. Er war der Grund, wobei mehr noch das Gespenst aus seinen Gedanken. Gegen ihn, gegen seine maßlose, unbändige, unbezwingbare Wut, seine Panik, seine Kopflosigkeit wäre sie vielleicht noch angekommen, aber hier war sie machtlos. Seit Stunden ließ er sich allein von etwas treiben, das als diffuser Schatten seine Vorstellungen durchzog, und anstatt diesem ganzen Irrsinn etwas entgegenzusetzen, ließ sie sich einfach davon mitreißen. Dabei konnte er doch eigentlich unmöglich ernst meinen, was er hier für eine Nummer abzog. Schon längst hätten sie beide im Bett liegen können nach einem gemütlichen Abend auf dem Sofa mit heißer, frischer Pizza mit knusprigem Boden und einem Glas schweren Weines …
Auf Adams Zügen stand allerdings nicht der leiseste Schimmer eines Zweifels, einer Unsicherheit. Pia lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen, versuchte, den Saum der Fichtennadeln zu erhaschen, doch so weit reichten die Scheinwerfer nicht. Nebelfetzen hatten sich an sie herangeschlichen, umfingen sie mit jedem Kilometer, den sie hinter sich ließen, dichter. Pia hätte nicht sagen können, wie lange schon kein Gegenverkehr mehr aufgetaucht war, und sie war dankbar dafür, dass die Straße allein ihnen zu gehören schien, hätte sie in dieser Suppe doch niemals auf sie zurasende Lichter von dem Gewaber unterscheiden können, das sie träge umwölkte. Das veranlasste Adam aber nicht dazu, das Tempo merklich zu drosseln. 162 zeigte der Tacho, sprang auf 173 km/h.
Da zog er unvermittelt in einer steilen Kurve nach links. Pia zuckte zur Seite weg, als sie auf die Bäume zuschossen, doch Adam riss das Steuer herum, zwängte seinen SUV in einen Pfad, der unsichtbar von der Landstraße aus abging. Jetzt wusste sie erst, was Wald wirklich bedeuten konnte. Die Fichten standen in einem so engen Schulterschluss aneinander, dass zwischen ihren Zweigen auch ohne Nebel kein Blick auf den Himmel möglich gewesen wäre. Direkt an den Weg herangerückt, schienen sie mit ihren Ästen nach dem seltenen Besucher haschen zu wollen, der an ihnen vorbeizischte. Noch immer hatte Pia nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden. Sicher hatte sie den Bericht über die Entführung des Jungen damals überflogen, allein schon aus Interesse, was wirklich an dem Seeufer vorgefallen war, das für Adam zum Ort eines kalten Schreckens geworden war, wie sie dann von Leo erfahren hatte; auf einer Karte hatte sie aber natürlich nicht nachgesehen. Es hätte ihr allerdings auch wenig genutzt, denn der Weg spann sich nicht gerade zum Ende ihres Blickfelds, sondern knickte immer wieder ab, was nur daran zu erkennen war, dass aus der zähen Nebeldecke jäh die Wand aus Stämmen und Nadeln wieder vor ihnen aufragte. Adam steuerte den Wagen mit kleinen Einschlägen des Lenkrads, einige Zentimeter nach links, einige nach rechts, nur so viel, um die Kurven eng genug zu nehmen, dass sie gerade nicht im Straßengraben landeten. Seine Augen waren starr wie sein Nacken, huschten nicht nennenswert hin und her, er brauchte sich nicht umzublicken. Die Sichtweite betrug ihrem Gefühl nach kaum drei Meter. Es war ihr schleierhaft, wie er die Wegbiegungen erspürte, ja in der schwärzesten Dunkelheit überhaupt zwischen den Bäumen hindurch das Nadelöhr ausgemacht hatte, das als Stichstraße ganz offenbar zum See führte. Dem Tempo nach zu schließen, mit dem sie, trotz der Nebelbank, die sie einhüllte, den Pfad entlangbretterten, wusste er ganz genau, was er tat. Der Untergrund wurde immer schlechter, das Rumpeln nahm zu. Immerhin sprang der Tacho nur noch von 74 auf 69, schnellte wieder auf 75 km/h hoch.
Trotzdem schlug ihr der Ruck, der den SUV durchfuhr, harsch in die Magengrube. Adam war mit voller Wucht auf die Bremse gestiegen. Ihr Blick war an seinem Gesicht hängen geblieben, das von dem auf sie zurückgeworfenen Scheinwerferlicht krankhaft fahl beleuchtet wurde. Er saß vollkommen reglos, die Hände noch um das Steuer gekrampft, die Augen weit aufgerissen.
»Adam –«
Unwillkürlich folgte sie seinem Blick und verharrte kaum eine Sekunde später genauso wie er ohne jede Bewegung auf dem Sitz. Direkt vor ihnen gleißte aus dem schmierigen Grauweiß des Nebels ein Autokennzeichen auf, reflektierte schimmernd das bläulich kalte LED-Licht, das ihnen den Weg bahnen sollte, sich aber am Mercedes vor ihnen stieß, der mit seiner anthrazitfarbenen Lackierung aus geronnenen Gewitterwolken gefertigt schien.
SB-TY 7177.
Leos Wagen.
Ihr Verstand war von ihrem Körper gelöst, ihr Kopf drehte sich nach Adam, ohne dass sie es hätte beeinflussen können. Genauso wenig konnte sie die Gedanken festhalten, die sich in ihrem Kopf jagten wie ein tollwütiges Wolfsrudel, und noch viel weniger fand sie Worte, um das auszudrücken, was durch ihre Brust hämmerte. Für Adam jedoch war sie gar nicht da, seine Augen rasten über die wabernde Nebelwelt vor ihnen, im blassen Widerschein der Lichter waren sie beinahe durchsichtig, die Pupillen nun wieder stecknadelgroß.
Bevor sie begriffen hatte, was geschehen war, saßen sie im Dunkeln, Adam hatte den Zündschlüssel herumgedreht. Ohne das leise Brummen des Motors war es erdrückend still um sie her, doch da hörte sie es neben sich rascheln, das Display von Adams Smartphone grellte zwischen ihnen, wurde gleich darauf von seinem Gesicht verdeckt, als er sich sein Handy ans Ohr hielt. Das leise »Ja?« aus der Leitung schnitt Adam mitten durch. »Wir brauchen Verstärkung, das ganze Programm, am besten Hubschrauber«, ratterte er halblaut los, »Geiselnahme. Koordinaten kommen gleich.« Schon hatte er aufgelegt, er tippte ein paarmal auf das Display, und während er noch am Reißverschluss seiner Jackentasche zerrte, um sein Handy darin zu versenken, beugte er sich mit einem Mal so dicht zu ihr, dass sein Duft sie umhauchte, sein Aftershave, die herbe, unterschwellige Note, die noch schwer darunterschwebte, aber auch ein Anflug kalten Schweißes. Noch immer schimmerten feine Tröpfchen auf seiner Stirn, das sah sie auch im spärlichen Licht, das von Irgendwoher in seinen SUV fiel, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, schließlich war nicht einmal Vollmond. Die eine Strähne, die ihm wieder einmal in die Stirn fiel, war ganz klar feucht. Ruckartig blähte sich sein Brustkorb, fiel gleich darauf wieder in sich zusammen, und das sicher nicht nur deshalb, weil er sich so faltete, dass er unter ihren Sitz fassen konnte. Sie klappte die Beine zur Seite, den Blick auf sein vollkommen wirres Haar geheftet, das im Halbdunkel ganz nah vor ihr silbrig matt schimmerte. Da tauchte er auch schon wieder auf, reflexartig zog sie den Kopf zurück, als sich seine Augen direkt vor ihrem Gesicht in ihre bohrten. Eine namenlose Panik, ein stummer Schrei standen darin, wollten sie nach seiner Schulter fassen, ihn vorsichtig und vorhersehbar langsam an sich ziehen, ihn umarmen lassen, aber etwas Dunkles, Schartiges in seinem Blick versteinerte sie. Erst als er zwischen ihnen niedersah, bekam sie das zu fassen, was eine Maske über sein Gesicht zog, die es beinahe unkenntlich machte. Es war die Bereitschaft, ohne jedes Zögern zu töten.
»Hier.« Sein Kinn folgte der Bewegung, mit der er ihr etwas zuschob, eine feste Kante schnitt ihr in die Finger. Adams Schutzweste, wie sie sie bisher nur beim Schießtraining an ihm gesehen hatte. Seine Augen gingen auf einer festgeschriebenen Linie durch die Windschutzscheibe, während er sich an ihr vorbei zum Handschuhfach beugte und blind, doch mit zielsicherem Griff seine Taschenlampe herausnestelte. Dann richtete er sich auf und zog seine Waffe. Das altbekannte Klicken hallte wie der Abschuss einer Kanonenkugel durchs Fahrzeuginnere.
Sie schüttelte den Kopf, drängte die Weste in sein Blickfeld zurück. »Ich bleibe hier.«
Nur für eine Sekunde flogen seine Augen über ihre Hand, über ihr Gesicht, schon spähte er wieder in die Waldesfinsternis. »Zieh sie an.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, trug seine Worte aber klar umrissen an ihr Gehör, wie poliertes Metall, in dem sich scharf der Reflex von Mondlicht fing. Das Türschloss knackte und bevor sie noch etwas sagen konnte, sah sie ihn geduckt um die Motorhaube rennen, wenige Schritte nur, dann tauchte er in den Nebel ein, der noch immer um sie herumschlich.
»Mann!« Ihr gezischter Fluch prallte am Armaturenbrett ab, versickerte im Fußraum. Sollte ihnen beiden noch irgendeine Gelegenheit vergönnt sein, miteinander zu reden, würde sie ihm aber so was von die Hölle heiß machen. Sie zog sich die Schutzweste über den linken Arm, hakte die Verschlüsse zu, machte rechts weiter, vielleicht würde sie ihm wenigstens irgendwie helfen können. Dass sie beide niedergeschossen würden, weil sie zu dickköpfig waren, sich auf seine sinnvolle Lösung zu einigen, war dann doch keine Option.
So leise wie möglich drückte sie die Beifahrertür zu, dann rannte sie los. Blind folgte sie dem Pfad, auf dem Adam verschwunden sein musste, und hoffte, er würde sich nicht irgendwo gabeln, sondern sie an genau den Ort führen, an dem Adam Leo vermutete. Warum hatte sie sich eigentlich nicht irgendwann so weit von Adam überzeugen lassen, dass sie Esther Bescheid gegeben hatte? Zu dritt hätten sie hier deutlich bessere Karten. Es beruhigte sie kaum, dass sich der Nebel merklich ausdünnte und einige wenige Meter mehr Fernsicht zuließ. Adam hätte sich zumindest im noch halbwegs sicheren Innenraum seines Autos die paar Minuten nehmen können, ihr das verteufelte Seeufer anhand von Google Maps aus der Vogelperspektive zu umschreiben. Ihr leises Keuchen hallte seltsam dumpf auf sie zurück, so dicht ragten die Bäume zu beiden Seiten von ihr auf, schienen mit jedem Schritt weiter aufeinander zuzurücken. Es war mehr ein Fühlen als ein Sehen, was sie vorantrieb, sie bewegte sich wie in einem gewaltigen Sack, der aber nicht sorgsam zugebunden worden war. Die Nachtkälte stürzte einem feinen Wasserfall gleich vom Himmel auf sie herab, das Netz der verdichteten Luft fing sie nicht ab.
Gerade so fing sie sich noch, als sie über etwas stolperte, eine Baumwurzel, hoffte sie, mühsam verbiss sie sich ein Fluchen. Vielleicht beobachtete sie irgend so ein Irrer aus dem Gebüsch heraus bei ihrem Spießrutenlauf, lauerte ihr mit einem Gewehr mit Schalldämpfer, Zielfernrohr und Nachtsichtgerät auf oder hatte gar Adam schon längst –
Nein, sprach sie beruhigend auf ihr hämmerndes Herz ein, es war kein Schuss gefallen und selbst mit Schalldämpfer hörte man doch wenigstens irgendetwas. Außerdem lag hier kein Körper, nirgendwo, und so schnell würde man Adam nicht wegschleppen können, so dünn er auch war, dafür war er einfach zu groß, und eine solche Last …
Sie schluckte, keuchte. Warum nur hatte sie ihm nicht gleich von Anfang an geglaubt? Verdammt noch mal, sie hätte es doch besser wissen müssen nach all der Zeit, die sie nun schon zusammenarbeiteten und in der sie oft genug Zeuge seines schlafwandlerisch sicheren Spürsinns geworden war. Wie er damals geahnt hatte, dass der Putzmann mit drinhing oder diese irre verkrachte Juristin mögliche unliebsame Konkurrentinnen –
Im diffusen Grau zu ihrer Rechten bewegte sich etwas. Im Bruchteil einer Sekunde riss sie die Pistole hoch, der Schatten wurde dunkler, huschte auf sie zu.
»Ich bin’s, Pia«, hörte sie Adams atemloses Flüstern, gerade als sie die Person vor sich hatte anrufen wollen. Sofort richtete sie ihre Waffe zu Boden. Wie eine unwirkliche Erscheinung, als teile sich der Nebel um ihn her, trat er auf sie zu, blickte stumm auf sie herab. Seine Augen schimmerten kaum sichtbar.
»Mann, Adam!« konnte sie sich nun doch nicht verkneifen, verstummte auf sein trockenes »Komm« aber gleich wieder und ging ihm hinterher, bis er so plötzlich stehen blieb, dass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Adams große Hand breitete sich flächig auf die schollige Rinde einer Fichte, Tanne oder Kiefer, Pia war in Bio nie gut gewesen, für sie war das eine wie das andere, wieso hatte sie überhaupt die ganze Zeit angenommen, es seien Fichten? Schnelle Holzindustrie, las man ja überall. Verdammt noch mal, sie drückte alle Gedanken aus ihrem Bewusstsein. Ihr Blick glitt von Adams blassen Fingern zu seinen Augen, zog die Bahn nach, der sie folgten.
Das war er also, der See. Als liege ein Bann auf ihm, wagte sich der Nebel nicht an ihn heran, leckte nur, wadenhoch in den Wiesen wabernd, am Ufer. Wie ein venezianischer Silberspiegel breitete sich die Wasserfläche im Mondlicht windstill vor ihnen aus, in direkter Sichtachse zu Adam und ihr kauerte eine Hütte fremd und einsam in der sonst so geschlossenen Landschaft.
Der ruckartige, zweifache Schlag von Adams fahlweißem Zeige- und Mittelfinger in Richtung nach dem windschiefem Schutzraum zerriss die bewegungslose Szenerie. »Gib mir Feuerschutz«, stieß sich seine ein wenig heisere Stimme ganz nah und kantig an ihrem Ohr, sein heißer Atem streifte ihren Hals, ließ sie schaudern, ohne ihr Hirn zu vernebeln.
Ihre Hand schoss vorwärts, als er sich losreißen wollte, packte ihn am Kragen seiner Jacke. Jetzt sah er sie an. Panik stand weiterhin in seinen riesigen Augen, die an manchen Stellen jedoch zurückwich und einen Zorn durchscheinen ließ, den sie allzu gut kannte.
Sie schüttelte den Kopf, schob das Gesicht vor, bis sie ihn fast berührte. »Du gibst mir Feuerschutz«, wisperte sie zurück, seine langen Strähnen kitzelten sie an der Nase. »Ich trage die Weste, also laufe ich zuerst. Wie soll ich Leo helfen«, kam sie seinen Widerworten zuvor, die er ihr gerade hinknallen wollte, das spürte sie, »wenn ich mich um dich kümmern muss, weil du niedergeschossen wurdest?« Bevor er zustimmen konnte, schloss sie mit: »Also. Bis gleich«, und rannte los. Nach wenigen Schritten drangen Nebel und Tau durch ihre Jeans, die ihr schwer auf der Haut zu kleben begann. Sie fühlte sich wie ein Hase auf freiem Feld, dankbar tauchte sie nach wenigen Metern in den Schatten des Vordachs ein. Sie wollte den Arm heben, da löste sich schon ein schemenhafter Schatten vom Waldrand und preschte los. Gerade noch rechtzeitig konnte sie die Waffe hochreißen, aber es hätte ohnehin nicht geholfen, sie sah nichts um Adam herum.
Schwer atmend langte er neben ihr an, er drückte sich wie sie an die Bretterwand, pirschte sich zentimeterweise vor, bis er durch das staubblinde Fenster spähen konnte. Die Schlieren in der Scheibe verdunkelten argwöhnisch jeden weiteren Anblick, trotzdem versuchten Adams Augen, sich bis ins Innere hindurchzusengen, sie zuckten hin und her, schneller, als sie es je an ihm gesehen hatte, bevor sie zur Seite sprangen, seiner Hand folgten, die sich um die Türklinke schloss. Geräuschlos drückte er sie hinunter, ließ sie unter seinem Griff kontrolliert wieder aufwärtsstreben. Abgeschlossen, natürlich.
Jetzt suchte Adams Blick sie und sie musste sich beherrschen, nicht sofort zu ihm zu huschen und einen Arm unter seinen zu schieben, um ihn zu stützen. Seine Augen waren vollkommen leer, sie fiel einfach hindurch, tiefer und tiefer, nichts um sie her als Kälte, Dunkelheit und Angst, eine Angst, die Adam töten lassen würde, in Sekundenschnelle, ohne weiter nachzudenken, eine Angst, die ihn auslöschen konnte, wenn niemand etwas entgegensetzte.
Seine scharfen Gesten lenkten ihren Blick, er zeigte auf sich, dann auf die Tür, bevor er auf Pia wies. Sie griff zu, als sie das kühle Metall der Taschenlampe in den Fingern spürte, verrieb die Feuchtigkeit unter ihrer Haut, überkreuzte die Hände und legte den Daumen auf den Anschaltknopf, dann nickte sie Adam zu.
Ein gezielter Tritt auf Höhe des Schlosses und die Tür krachte aus der morschen Bretterverkleidung.
»Keine Bewegung!« schrien sie beide durcheinander. Der Kegel von Adams Taschenlampe, die in ihren Fingern zitterte, erleuchtete eine zusammengesunkene Gestalt, die sofort den Kopf hochwarf.
»Leo!« Adams atemloser Ausruf bestätigte, was Pias Augen für sich erkannt hatten. Er steckte seine Waffe ein und stürzte vor Leo auf die Knie. Seine große Hand umschloss Leos Nacken, der mit seinem Mal so fragil wirkte, mit der anderen nestelte er am Paketband, das über Leos Mund geklebt war, bekam es zu fassen und riss es ab. Ohne hinzusehen, schüttelte er es sich von den Fingern, dann zog er Leo vorsichtig den Knebel aus dem Mund. Pia hörte ihn würgen und husten, während sie auf ihn und Adam zuging, die Lampe möglichst ruhig haltend, gleichzeitig aber die Tür im Auge.
»Leo, wie viele waren es?« hörte sie Adams hektisches Flüstern näher bei sich, als sie geschätzt hätte.
»Keine Ahnung.« Leos Stimme, rauer, ausgetrocknet. »Ich bin erst vorher aufgewacht, habe niemanden gesehen.«
Jetzt konnte sie sich nicht bezwingen, sie wandte den Blick nach ihnen, fing gerade noch auf, wie Adams Augen einmal über Leos Körper glitten, wie seine Hand, die in Leos Nacken liegen geblieben war, über seinen Hinterkopf fuhr, bis Leo scharf die Luft einsog. Doch war das nicht der Grund, warum Adam plötzlich erstarrte. Seine wie eingefrorenen Augen zogen Pias Blick in seine Richtung.
»Wir müssen hier raus.«
Knapp über dem Boden, zwischen Leos Sneakers, leuchtete blass ein Zifferblatt.
Adam schoss in die Höhe, stürzte um Leo herum, er begann an den dicken Schichten Paketband zu reißen, mit denen Leo verschnürt war, doch es war aussichtslos, es war verpappt, um die Kabelbinder gewunden, die in Leos Handgelenke einschnitten.
Mit dem Ruck, den sie schon so oft an Adam beobachtet hatte, warf er den Kopf hoch, doch gelang es ihm nicht, die Strähne aus seiner Stirn loszuwerden, mittlerweile klebte sie ihm auf der Haut. Er hatte sich gerade so weit aufgerichtet, dass er sie ansehen konnte. Sein Blick passte nicht zu seiner Stimme, es war, als sehe sie einem Pferd in die Augen, das kurz davorstand, sie vor Panik zu verdrehen, um dann durchzugehen und davonzugaloppieren.
»Lauf und hol die Schere aus dem Erste-Hilfe-Koffer – na los, verdammt!« herrschte er sie so barsch an, dass sie nur nicken konnte, während sie zur Tür stolperte, doch mit einem Mal verharrten sie alle drei reglos, Adam noch immer über Leo gebeugt und eine Hand in seinem Nacken, Leo halb aufgerichtet, sie den Arm in der Luft hängend, auf halbem Weg zur Klinke. In Leos und Adams Blick las sie sich selbst, das, was ihre Brust durchzitterte.
Noch nie in ihrem Leben war sie so dankbar für das Knattern von Rotorblättern gewesen.
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Kapitel 22 – Blindgang
Gerade als Adam lospreschen wollte, riss Pia die Beifahrertür auf. Aus seinen Augen schoss er einen blauen Blitz auf sie ab, Ärger funkelte darin, aber auch Überraschung – und etwas wie Dankbarkeit, was sie für den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Bewegung einfrieren ließ, bevor sie doch auf den Sitz glitt. Sie knallte die Tür zu und noch während sie sich anschnallte, fuhr Adam etwas zu heftig an, die Reifen rutschten auf dem feuchten Kies weg, krallten sich dann in den Asphalt und hievten den SUV mit einem Ruck auf die Straße.
Keiner von ihnen sagte ein Wort. Es war ein Pakt, das wussten sie beide, der letzte zwischen ihnen, sollte Adam sich geirrt haben – oder sollten sie Leo zu spät finden. Ihre Wut ragte wie eine Mauer zwischen ihnen auf, die sie nicht über die Kante nach dem spähen ließ, was dahinter verborgen lag. Pia hätte auch in einem selbstfahrenden Auto sitzen können, das hätte keinen Unterschied gemacht. Ihr ganzes Bewusstsein schrumpfte in ihrem Gehör zusammen, das sich am monotonen Summen des Motors festhielt. Die Regentropfen krochen wie anhängliche, müde Nacktschnecken aus Glas an der Scheibe entlang, das Licht der Straßenlaternen brach sich in ihren gestauchten Körpern in grätigen Sternen. Als sie beinahe mit der Dunkelheit dahinter verschmolzen, versuchte sie, durch ihr schwaches Funkeln etwas auszumachen. Es waren kaum fünf Minuten vergangen und sie hatten die Stadt bereits vollständig hinter sich gelassen. Welchen Weg Adam gewählt hatte, war ihr unbegreiflich, es nachprüfen konnte sie nicht, das Navi hatte er nicht eingeschaltet. Nadelbäume drangen vom Straßenrand in einer geschlossenen schwarzen Front auf sie ein, die blassen, zu schnell hochgezüchteten Stämme von den Scheinwerfern bloßgestellt. Es war wie das Ende der Welt.
Langsam wandte Pia den Kopf und schielte nun doch zu Adam. Diesmal schien er tatsächlich nicht zu bemerken, dass sie ihn ansah. Seine Augen waren scharf und unerbittlich wie die eines Polarwolfs, das fahle Licht des Armaturenbretts arbeitete sein Jochbein, seinen schön geschwungenen Kieferknochen heraus, die seine eingefallene Wange umrahmten. Sie wagte einen Blick an ihm vorbei auf den Tacho. 223, 217, 231 km/h. Die Lichter des Vordermannes, den Adam mit einem Schlenker wie nebenbei überholte, waren verwischte Streifen.
Die Zeit wurde undefinierbar, über dem Sausen des Fahrtwindes, das zu einem Brausen anwuchs, wenn Adam an einem seltenen Nachtfahrer vorbeiflog, musste sie gegen das Einschlafen kämpfen. Sie fixierte die Mittellinie, die von der Motorhaube gefressen wurde, bis eine langsam, doch stetig zunehmende Übelkeit sie davon abhielt, sie zählte die Pfosten, weiß-schwarz, weiß-schwarz, weiß-schwarz, bis sie über der Gleichförmigkeit beinahe wegdämmerte.
Was war nur los mit ihr? Sie war schon mit einer ganz anderen Liga von Schlafentzug fertig geworden, warum konnte sie dem Urdrang dieses Mal so wenig entgegensetzen?
Immerhin fand sie die Antwort sofort. Adam. Er war der Grund, wobei mehr noch das Gespenst aus seinen Gedanken. Gegen ihn, gegen seine maßlose, unbändige, unbezwingbare Wut, seine Panik, seine Kopflosigkeit wäre sie vielleicht noch angekommen, aber hier war sie machtlos. Seit Stunden ließ er sich allein von etwas treiben, das als diffuser Schatten seine Vorstellungen durchzog, und anstatt diesem ganzen Irrsinn etwas entgegenzusetzen, ließ sie sich einfach davon mitreißen. Dabei konnte er doch eigentlich unmöglich ernst meinen, was er hier für eine Nummer abzog. Schon längst hätten sie beide im Bett liegen können nach einem gemütlichen Abend auf dem Sofa mit heißer, frischer Pizza mit knusprigem Boden und einem Glas schweren Weines …
Auf Adams Zügen stand allerdings nicht der leiseste Schimmer eines Zweifels, einer Unsicherheit. Pia lehnte den Kopf gegen den Fensterrahmen, versuchte, den Saum der Fichtennadeln zu erhaschen, doch so weit reichten die Scheinwerfer nicht. Nebelfetzen hatten sich an sie herangeschlichen, umfingen sie mit jedem Kilometer, den sie hinter sich ließen, dichter. Pia hätte nicht sagen können, wie lange schon kein Gegenverkehr mehr aufgetaucht war, und sie war dankbar dafür, dass die Straße allein ihnen zu gehören schien, hätte sie in dieser Suppe doch niemals auf sie zurasende Lichter von dem Gewaber unterscheiden können, das sie träge umwölkte. Das veranlasste Adam aber nicht dazu, das Tempo merklich zu drosseln. 162 zeigte der Tacho, sprang auf 173 km/h.
Da zog er unvermittelt in einer steilen Kurve nach links. Pia zuckte zur Seite weg, als sie auf die Bäume zuschossen, doch Adam riss das Steuer herum, zwängte seinen SUV in einen Pfad, der unsichtbar von der Landstraße aus abging. Jetzt wusste sie erst, was Wald wirklich bedeuten konnte. Die Fichten standen in einem so engen Schulterschluss aneinander, dass zwischen ihren Zweigen auch ohne Nebel kein Blick auf den Himmel möglich gewesen wäre. Direkt an den Weg herangerückt, schienen sie mit ihren Ästen nach dem seltenen Besucher haschen zu wollen, der an ihnen vorbeizischte. Noch immer hatte Pia nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden. Sicher hatte sie den Bericht über die Entführung des Jungen damals überflogen, allein schon aus Interesse, was wirklich an dem Seeufer vorgefallen war, das für Adam zum Ort eines kalten Schreckens geworden war, wie sie dann von Leo erfahren hatte; auf einer Karte hatte sie aber natürlich nicht nachgesehen. Es hätte ihr allerdings auch wenig genutzt, denn der Weg spann sich nicht gerade zum Ende ihres Blickfelds, sondern knickte immer wieder ab, was nur daran zu erkennen war, dass aus der zähen Nebeldecke jäh die Wand aus Stämmen und Nadeln wieder vor ihnen aufragte. Adam steuerte den Wagen mit kleinen Einschlägen des Lenkrads, einige Zentimeter nach links, einige nach rechts, nur so viel, um die Kurven eng genug zu nehmen, dass sie gerade nicht im Straßengraben landeten. Seine Augen waren starr wie sein Nacken, huschten nicht nennenswert hin und her, er brauchte sich nicht umzublicken. Die Sichtweite betrug ihrem Gefühl nach kaum drei Meter. Es war ihr schleierhaft, wie er die Wegbiegungen erspürte, ja in der schwärzesten Dunkelheit überhaupt zwischen den Bäumen hindurch das Nadelöhr ausgemacht hatte, das als Stichstraße ganz offenbar zum See führte. Dem Tempo nach zu schließen, mit dem sie, trotz der Nebelbank, die sie einhüllte, den Pfad entlangbretterten, wusste er ganz genau, was er tat. Der Untergrund wurde immer schlechter, das Rumpeln nahm zu. Immerhin sprang der Tacho nur noch von 74 auf 69, schnellte wieder auf 75 km/h hoch.
Trotzdem schlug ihr der Ruck, der den SUV durchfuhr, harsch in die Magengrube. Adam war mit voller Wucht auf die Bremse gestiegen. Ihr Blick war an seinem Gesicht hängen geblieben, das von dem auf sie zurückgeworfenen Scheinwerferlicht krankhaft fahl beleuchtet wurde. Er saß vollkommen reglos, die Hände noch um das Steuer gekrampft, die Augen weit aufgerissen.
»Adam –«
Unwillkürlich folgte sie seinem Blick und verharrte kaum eine Sekunde später genauso wie er ohne jede Bewegung auf dem Sitz. Direkt vor ihnen gleißte aus dem schmierigen Grauweiß des Nebels ein Autokennzeichen auf, reflektierte schimmernd das bläulich kalte LED-Licht, das ihnen den Weg bahnen sollte, sich aber am Mercedes vor ihnen stieß, der mit seiner anthrazitfarbenen Lackierung aus geronnenen Gewitterwolken gefertigt schien.
SB-TY 7177.
Leos Wagen.
Ihr Verstand war von ihrem Körper gelöst, ihr Kopf drehte sich nach Adam, ohne dass sie es hätte beeinflussen können. Genauso wenig konnte sie die Gedanken festhalten, die sich in ihrem Kopf jagten wie ein tollwütiges Wolfsrudel, und noch viel weniger fand sie Worte, um das auszudrücken, was durch ihre Brust hämmerte. Für Adam jedoch war sie gar nicht da, seine Augen rasten über die wabernde Nebelwelt vor ihnen, im blassen Widerschein der Lichter waren sie beinahe durchsichtig, die Pupillen nun wieder stecknadelgroß.
Bevor sie begriffen hatte, was geschehen war, saßen sie im Dunkeln, Adam hatte den Zündschlüssel herumgedreht. Ohne das leise Brummen des Motors war es erdrückend still um sie her, doch da hörte sie es neben sich rascheln, das Display von Adams Smartphone grellte zwischen ihnen, wurde gleich darauf von seinem Gesicht verdeckt, als er sich sein Handy ans Ohr hielt. Das leise »Ja?« aus der Leitung schnitt Adam mitten durch. »Wir brauchen Verstärkung, das ganze Programm, am besten Hubschrauber«, ratterte er halblaut los, »Geiselnahme. Koordinaten kommen gleich.« Schon hatte er aufgelegt, er tippte ein paarmal auf das Display, und während er noch am Reißverschluss seiner Jackentasche zerrte, um sein Handy darin zu versenken, beugte er sich mit einem Mal so dicht zu ihr, dass sein Duft sie umhauchte, sein Aftershave, die herbe, unterschwellige Note, die noch schwer darunterschwebte, aber auch ein Anflug kalten Schweißes. Noch immer schimmerten feine Tröpfchen auf seiner Stirn, das sah sie auch im spärlichen Licht, das von Irgendwoher in seinen SUV fiel, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, schließlich war nicht einmal Vollmond. Die eine Strähne, die ihm wieder einmal in die Stirn fiel, war ganz klar feucht. Ruckartig blähte sich sein Brustkorb, fiel gleich darauf wieder in sich zusammen, und das sicher nicht nur deshalb, weil er sich so faltete, dass er unter ihren Sitz fassen konnte. Sie klappte die Beine zur Seite, den Blick auf sein vollkommen wirres Haar geheftet, das im Halbdunkel ganz nah vor ihr silbrig matt schimmerte. Da tauchte er auch schon wieder auf, reflexartig zog sie den Kopf zurück, als sich seine Augen direkt vor ihrem Gesicht in ihre bohrten. Eine namenlose Panik, ein stummer Schrei standen darin, wollten sie nach seiner Schulter fassen, ihn vorsichtig und vorhersehbar langsam an sich ziehen, ihn umarmen lassen, aber etwas Dunkles, Schartiges in seinem Blick versteinerte sie. Erst als er zwischen ihnen niedersah, bekam sie das zu fassen, was eine Maske über sein Gesicht zog, die es beinahe unkenntlich machte. Es war die Bereitschaft, ohne jedes Zögern zu töten.
»Hier.« Sein Kinn folgte der Bewegung, mit der er ihr etwas zuschob, eine feste Kante schnitt ihr in die Finger. Adams Schutzweste, wie sie sie bisher nur beim Schießtraining an ihm gesehen hatte. Seine Augen gingen auf einer festgeschriebenen Linie durch die Windschutzscheibe, während er sich an ihr vorbei zum Handschuhfach beugte und blind, doch mit zielsicherem Griff seine Taschenlampe herausnestelte. Dann richtete er sich auf und zog seine Waffe. Das altbekannte Klicken hallte wie der Abschuss einer Kanonenkugel durchs Fahrzeuginnere.
Sie schüttelte den Kopf, drängte die Weste in sein Blickfeld zurück. »Ich bleibe hier.«
Nur für eine Sekunde flogen seine Augen über ihre Hand, über ihr Gesicht, schon spähte er wieder in die Waldesfinsternis. »Zieh sie an.« Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, trug seine Worte aber klar umrissen an ihr Gehör, wie poliertes Metall, in dem sich scharf der Reflex von Mondlicht fing. Das Türschloss knackte und bevor sie noch etwas sagen konnte, sah sie ihn geduckt um die Motorhaube rennen, wenige Schritte nur, dann tauchte er in den Nebel ein, der noch immer um sie herumschlich.
»Mann!« Ihr gezischter Fluch prallte am Armaturenbrett ab, versickerte im Fußraum. Sollte ihnen beiden noch irgendeine Gelegenheit vergönnt sein, miteinander zu reden, würde sie ihm aber so was von die Hölle heiß machen. Sie zog sich die Schutzweste über den linken Arm, hakte die Verschlüsse zu, machte rechts weiter, vielleicht würde sie ihm wenigstens irgendwie helfen können. Dass sie beide niedergeschossen würden, weil sie zu dickköpfig waren, sich auf seine sinnvolle Lösung zu einigen, war dann doch keine Option.
So leise wie möglich drückte sie die Beifahrertür zu, dann rannte sie los. Blind folgte sie dem Pfad, auf dem Adam verschwunden sein musste, und hoffte, er würde sich nicht irgendwo gabeln, sondern sie an genau den Ort führen, an dem Adam Leo vermutete. Warum hatte sie sich eigentlich nicht irgendwann so weit von Adam überzeugen lassen, dass sie Esther Bescheid gegeben hatte? Zu dritt hätten sie hier deutlich bessere Karten. Es beruhigte sie kaum, dass sich der Nebel merklich ausdünnte und einige wenige Meter mehr Fernsicht zuließ. Adam hätte sich zumindest im noch halbwegs sicheren Innenraum seines Autos die paar Minuten nehmen können, ihr das verteufelte Seeufer anhand von Google Maps aus der Vogelperspektive zu umschreiben. Ihr leises Keuchen hallte seltsam dumpf auf sie zurück, so dicht ragten die Bäume zu beiden Seiten von ihr auf, schienen mit jedem Schritt weiter aufeinander zuzurücken. Es war mehr ein Fühlen als ein Sehen, was sie vorantrieb, sie bewegte sich wie in einem gewaltigen Sack, der aber nicht sorgsam zugebunden worden war. Die Nachtkälte stürzte einem feinen Wasserfall gleich vom Himmel auf sie herab, das Netz der verdichteten Luft fing sie nicht ab.
Gerade so fing sie sich noch, als sie über etwas stolperte, eine Baumwurzel, hoffte sie, mühsam verbiss sie sich ein Fluchen. Vielleicht beobachtete sie irgend so ein Irrer aus dem Gebüsch heraus bei ihrem Spießrutenlauf, lauerte ihr mit einem Gewehr mit Schalldämpfer, Zielfernrohr und Nachtsichtgerät auf oder hatte gar Adam schon längst –
Nein, sprach sie beruhigend auf ihr hämmerndes Herz ein, es war kein Schuss gefallen und selbst mit Schalldämpfer hörte man doch wenigstens irgendetwas. Außerdem lag hier kein Körper, nirgendwo, und so schnell würde man Adam nicht wegschleppen können, so dünn er auch war, dafür war er einfach zu groß, und eine solche Last …
Sie schluckte, keuchte. Warum nur hatte sie ihm nicht gleich von Anfang an geglaubt? Verdammt noch mal, sie hätte es doch besser wissen müssen nach all der Zeit, die sie nun schon zusammenarbeiteten und in der sie oft genug Zeuge seines schlafwandlerisch sicheren Spürsinns geworden war. Wie er damals geahnt hatte, dass der Putzmann mit drinhing oder diese irre verkrachte Juristin mögliche unliebsame Konkurrentinnen –
Im diffusen Grau zu ihrer Rechten bewegte sich etwas. Im Bruchteil einer Sekunde riss sie die Pistole hoch, der Schatten wurde dunkler, huschte auf sie zu.
»Ich bin’s, Pia«, hörte sie Adams atemloses Flüstern, gerade als sie die Person vor sich hatte anrufen wollen. Sofort richtete sie ihre Waffe zu Boden. Wie eine unwirkliche Erscheinung, als teile sich der Nebel um ihn her, trat er auf sie zu, blickte stumm auf sie herab. Seine Augen schimmerten kaum sichtbar.
»Mann, Adam!« konnte sie sich nun doch nicht verkneifen, verstummte auf sein trockenes »Komm« aber gleich wieder und ging ihm hinterher, bis er so plötzlich stehen blieb, dass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Adams große Hand breitete sich flächig auf die schollige Rinde einer Fichte, Tanne oder Kiefer, Pia war in Bio nie gut gewesen, für sie war das eine wie das andere, wieso hatte sie überhaupt die ganze Zeit angenommen, es seien Fichten? Schnelle Holzindustrie, las man ja überall. Verdammt noch mal, sie drückte alle Gedanken aus ihrem Bewusstsein. Ihr Blick glitt von Adams blassen Fingern zu seinen Augen, zog die Bahn nach, der sie folgten.
Das war er also, der See. Als liege ein Bann auf ihm, wagte sich der Nebel nicht an ihn heran, leckte nur, wadenhoch in den Wiesen wabernd, am Ufer. Wie ein venezianischer Silberspiegel breitete sich die Wasserfläche im Mondlicht windstill vor ihnen aus, in direkter Sichtachse zu Adam und ihr kauerte eine Hütte fremd und einsam in der sonst so geschlossenen Landschaft.
Der ruckartige, zweifache Schlag von Adams fahlweißem Zeige- und Mittelfinger in Richtung nach dem windschiefem Schutzraum zerriss die bewegungslose Szenerie. »Gib mir Feuerschutz«, stieß sich seine ein wenig heisere Stimme ganz nah und kantig an ihrem Ohr, sein heißer Atem streifte ihren Hals, ließ sie schaudern, ohne ihr Hirn zu vernebeln.
Ihre Hand schoss vorwärts, als er sich losreißen wollte, packte ihn am Kragen seiner Jacke. Jetzt sah er sie an. Panik stand weiterhin in seinen riesigen Augen, die an manchen Stellen jedoch zurückwich und einen Zorn durchscheinen ließ, den sie allzu gut kannte.
Sie schüttelte den Kopf, schob das Gesicht vor, bis sie ihn fast berührte. »Du gibst mir Feuerschutz«, wisperte sie zurück, seine langen Strähnen kitzelten sie an der Nase. »Ich trage die Weste, also laufe ich zuerst. Wie soll ich Leo helfen«, kam sie seinen Widerworten zuvor, die er ihr gerade hinknallen wollte, das spürte sie, »wenn ich mich um dich kümmern muss, weil du niedergeschossen wurdest?« Bevor er zustimmen konnte, schloss sie mit: »Also. Bis gleich«, und rannte los. Nach wenigen Schritten drangen Nebel und Tau durch ihre Jeans, die ihr schwer auf der Haut zu kleben begann. Sie fühlte sich wie ein Hase auf freiem Feld, dankbar tauchte sie nach wenigen Metern in den Schatten des Vordachs ein. Sie wollte den Arm heben, da löste sich schon ein schemenhafter Schatten vom Waldrand und preschte los. Gerade noch rechtzeitig konnte sie die Waffe hochreißen, aber es hätte ohnehin nicht geholfen, sie sah nichts um Adam herum.
Schwer atmend langte er neben ihr an, er drückte sich wie sie an die Bretterwand, pirschte sich zentimeterweise vor, bis er durch das staubblinde Fenster spähen konnte. Die Schlieren in der Scheibe verdunkelten argwöhnisch jeden weiteren Anblick, trotzdem versuchten Adams Augen, sich bis ins Innere hindurchzusengen, sie zuckten hin und her, schneller, als sie es je an ihm gesehen hatte, bevor sie zur Seite sprangen, seiner Hand folgten, die sich um die Türklinke schloss. Geräuschlos drückte er sie hinunter, ließ sie unter seinem Griff kontrolliert wieder aufwärtsstreben. Abgeschlossen, natürlich.
Jetzt suchte Adams Blick sie und sie musste sich beherrschen, nicht sofort zu ihm zu huschen und einen Arm unter seinen zu schieben, um ihn zu stützen. Seine Augen waren vollkommen leer, sie fiel einfach hindurch, tiefer und tiefer, nichts um sie her als Kälte, Dunkelheit und Angst, eine Angst, die Adam töten lassen würde, in Sekundenschnelle, ohne weiter nachzudenken, eine Angst, die ihn auslöschen konnte, wenn niemand etwas entgegensetzte.
Seine scharfen Gesten lenkten ihren Blick, er zeigte auf sich, dann auf die Tür, bevor er auf Pia wies. Sie griff zu, als sie das kühle Metall der Taschenlampe in den Fingern spürte, verrieb die Feuchtigkeit unter ihrer Haut, überkreuzte die Hände und legte den Daumen auf den Anschaltknopf, dann nickte sie Adam zu.
Ein gezielter Tritt auf Höhe des Schlosses und die Tür krachte aus der morschen Bretterverkleidung.
»Keine Bewegung!« schrien sie beide durcheinander. Der Kegel von Adams Taschenlampe, die in ihren Fingern zitterte, erleuchtete eine zusammengesunkene Gestalt, die sofort den Kopf hochwarf.
»Leo!« Adams atemloser Ausruf bestätigte, was Pias Augen für sich erkannt hatten. Er steckte seine Waffe ein und stürzte vor Leo auf die Knie. Seine große Hand umschloss Leos Nacken, der mit seinem Mal so fragil wirkte, mit der anderen nestelte er am Paketband, das über Leos Mund geklebt war, bekam es zu fassen und riss es ab. Ohne hinzusehen, schüttelte er es sich von den Fingern, dann zog er Leo vorsichtig den Knebel aus dem Mund. Pia hörte ihn würgen und husten, während sie auf ihn und Adam zuging, die Lampe möglichst ruhig haltend, gleichzeitig aber die Tür im Auge.
»Leo, wie viele waren es?« hörte sie Adams hektisches Flüstern näher bei sich, als sie geschätzt hätte.
»Keine Ahnung.« Leos Stimme, rauer, ausgetrocknet. »Ich bin erst vorher aufgewacht, habe niemanden gesehen.«
Jetzt konnte sie sich nicht bezwingen, sie wandte den Blick nach ihnen, fing gerade noch auf, wie Adams Augen einmal über Leos Körper glitten, wie seine Hand, die in Leos Nacken liegen geblieben war, über seinen Hinterkopf fuhr, bis Leo scharf die Luft einsog. Doch war das nicht der Grund, warum Adam plötzlich erstarrte. Seine wie eingefrorenen Augen zogen Pias Blick in seine Richtung.
»Wir müssen hier raus.«
Knapp über dem Boden, zwischen Leos Sneakers, leuchtete blass ein Zifferblatt.
Adam schoss in die Höhe, stürzte um Leo herum, er begann an den dicken Schichten Paketband zu reißen, mit denen Leo verschnürt war, doch es war aussichtslos, es war verpappt, um die Kabelbinder gewunden, die in Leos Handgelenke einschnitten.
Mit dem Ruck, den sie schon so oft an Adam beobachtet hatte, warf er den Kopf hoch, doch gelang es ihm nicht, die Strähne aus seiner Stirn loszuwerden, mittlerweile klebte sie ihm auf der Haut. Er hatte sich gerade so weit aufgerichtet, dass er sie ansehen konnte. Sein Blick passte nicht zu seiner Stimme, es war, als sehe sie einem Pferd in die Augen, das kurz davorstand, sie vor Panik zu verdrehen, um dann durchzugehen und davonzugaloppieren.
»Lauf und hol die Schere aus dem Erste-Hilfe-Koffer – na los, verdammt!« herrschte er sie so barsch an, dass sie nur nicken konnte, während sie zur Tür stolperte, doch mit einem Mal verharrten sie alle drei reglos, Adam noch immer über Leo gebeugt und eine Hand in seinem Nacken, Leo halb aufgerichtet, sie den Arm in der Luft hängend, auf halbem Weg zur Klinke. In Leos und Adams Blick las sie sich selbst, das, was ihre Brust durchzitterte.
Noch nie in ihrem Leben war sie so dankbar für das Knattern von Rotorblättern gewesen.