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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
18.01.2023 3.168
 
Hallo, meine Lieben, ein wenig verspätet wünsche ich Euch noch ein frohes neues Jahr! Ich hoffe, es hat bisher gut für Euch begonnen.
      In den elf Tagen bis zum nächsten Fall, in dem unsere beiden Lieblingskommissare im Fernsehen ermitteln, werde ich es vermutlich auf kein neues Kapitel außer dem folgenden bringen. Ich danke Euch schon einmal fürs Lesen und wünsche Euch viel Vergnügen, besonders natürlich bei der Ausstrahlung des neuen Falls :-D!
      PS: Vielen, vielen, vielen Dank, liebe Net Sparrow, für Deine großartigen Reviews! Ich werde mich bald ans Beantworten setzen :-).
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Kapitel 20 – Zwischenwelt

Sogar die Sonnenstäubchen schienen im Kegel der Schreibtischlampe einzufrieren, sie sah Adam nicht einmal mehr atmen. Er musterte sie einfach nur, so reglos wie ein Foto seiner selbst, während seine Stimme noch nachklang. Aus dem verbeulten Deckel ihrer Dose mit Pfefferminzpastillen blickte ihr reflektiertes Gesicht sie blöd und aufgebläht an. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft Adam in ihren Ermittlungen schon die These aufgestellt hatte, dass der Täter sich mit ihnen zu messen versuchte.
      »Das ist ein Hinweis oder so was.«
      Sein Fingerzeig, mit dem er auf das Blatt auf ihrem Schreibtisch verwies, zog ihren Blick wieder zu sich. Jetzt holte Adam so schwer Luft, als sei er die Treppen bis unters Dach, in den Keller ins Archiv und zurück gerannt.
      »Adam.« Sein Name war mittlerweile abgenutzt in ihrem Mund, fadenscheinig und entkam ihr trotzdem nicht halb so sanft, wie sie beabsichtigt hatte. Sie zwang sich zu einem halbseidenen Lächeln und drückte sich um ihren Schreibtisch herum. »Warum gibst du das alles nicht einfach den Kollegen vom Dauerdienst und äußerst deinen Verdacht? Dann können sie …«
      Ihre Stimme riss ab, sie beobachtete gleichsam von außen ihre nahtlos aneinandergereihten Bewegungen, es war wie bei einer einstudierten Choreografie. Zielsicher umschlossen Adams eisige Finger ihr Handgelenk, er riss sie zu sich herum und drängte sie zugleich von sich fort, dass sie mit dem Rücken und dem Hinterkopf an die Wand prallte. Ihre Sehne im Handgelenk zog unangenehm unter seinem Griff.
      »Du wirst auf gar keinen Fall zu ihnen gehen, hast du mich verstanden?«
      Seine Augen, die in einem beinahe durchsichtigen Frostblau gleißten, rasten direkt vor ihr hin und her, seine Pupillen waren auf Stecknadelgröße zusammengeschrumpft. Offenbar fand er in ihrem Blick eine Antwort, die er nicht gelten lassen wollte. Er kam noch einen Schritt auf sie zu, stützte sich mit der anderen Hand flächig neben ihrem Kopf ab. Ihre Nasenspitzen berührten sich jetzt beinahe, sein hektischer Atem streifte ihr Gesicht. In seinen Haaren, seinem Pullover hatte sich kalter, abgestandener Rauch gefangen, Adam roch wie eine ausgedrückte Zigarette.
      »Ob du mich verstanden hast?« Diesen Tonfall kannte sie von ihm noch nicht. Selbst in den Verhöraufzeichnungen hatte sie ihn nie auf diese Weise jedes einzelne Wort in einer gepressten Drohung aneinanderreihen hören. Er war ihr so nahe gekommen, dass sie seinen Brustkorb an ihrer Hand pumpen fühlte. Seine Augen sengten sich durch ihren Blick in ihre Gedanken, ließen diese zu Asche zerfallen. Die Uhr mischte sich ein, tickte gleichförmig und desinteressiert vor sich hin. Ihre Haut ziepte in Adams Griff, probeweise drehte sie die Hand hin und her, fühlte ihre Sehnen unter seinen Fingern arbeiten.
      Der Ruck, der ihn jäh durchfuhr, blitzte als Erstes in seinen Augen auf. Sie weiteten sich auf einen Schlag, als sei hinter ihr eine Granate eingeschlagen, dann zuckte sein ganzer Körper vehement zurück. Ihre Hand gab er so unvermittelt frei, dass sie einfach herabfiel. Mehr aus Reflex denn zur Schmerzlinderung rieb sie sich das Gelenk. Nach zwei langen Schritten in Richtung der Tür war Adam mit dem Rücken zu ihr stehen geblieben. Aus der glatten Kontur seines Oberkörpers ragten seine Ellbogen seitlich heraus, offenbar hatte er die Hände über Mund und Nase gefaltet, sein scharfer Atemzug war gedämpft und ähnelte doch mehr einem Nasehochziehen. Ein gezischtes »Scheiße« war es, was sie seinem beinahe unhörbaren Flüstern zu entnehmen glaubte. Seine Daumen leuchteten bleich auf dem schwarzen Stoff seines Pullovers, als er die Hände in die Seiten stützte, die mit einem Mal ganz schmal wurden, denn auf einen Schlag strömte aller Atem aus seinen Lungen. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen, holte tief Luft. Dann stand er reglos, im von hinten kommenden Halblicht schemenhaft beleuchtet, wie der Hauptdarsteller in der Uraufführung eines Stücks, das aus dem Spiel im Moment geboren wurde. Er wartete auf etwas, auf jemanden, aber seine Bühne befand sich im luftleeren Raum, da war nichts und niemand.
      Wie eine eingerostete Maschine setzte er sich da plötzlich in Bewegung, stakste auf die Tür zu. Mit seinen großen Händen hängte er sich im Rahmen ein und beugte sich hinaus, um den Gang hinunterzusehen, einmal in die eine, einmal in die andere Richtung, bevor er sich in Esthers und ihr Büro zurückzog, noch immer, ohne sich zu ihr umzuwenden.  
      Die ganze Zeit über hatte sie sich nicht von der Wand wegbewegt, doch nun, da sie seine Schultern zucken sah, einmal, zweimal, machte sie zwei Schritte auf ihn zu, hielt sofort inne. Sein Atem stolperte unter trockenen Schluchzern. Natürlich kam er ihr wieder zuvor, stürmte an ihr vorbei zum Schreibtisch und riss den Zettel an sich, der vergessen auf der gummierten grauen Unterlage zurückgeblieben war. Der schwache Schimmer ihrer Lampe ließ seine Augen aufglitzern, als er zur Tür schoss, den Mund noch leicht geöffnet. Mit einem kaum hörbaren Klicken zog er sie hinter sich ins Schloss.

Ein schwacher Lichtschein ließ das Nörpelglas altgelb schimmern. Sie fasste nach der Klinke, die klamm vom feuchten Staub war, öffnete die Tür und drückte sie hinter sich zu. Stille umgab sie, die durch ein leises Rascheln aufgestört wurde. Die Regalreihen öffneten sich vor ihr, schlossen sich, machten einer neuen Platz, als sie daran entlangging.
      Nachdem Adam so überstürzt die Flucht vor ihr ergriffen hatte, war sie erst einmal eine, vielleicht auch zwei oder mehr Minuten an der Ecke ihres Schreibtisches stehen geblieben, ihre Augen hatten wie eine Videokamera das Zimmer in sich aufgenommen, von dem sie jeden Winkel kannte aus den Stunden über Stunden, zusammengerechneten Lebensjahren voll Verzweiflung, Bangen, Grübeln, Hoffen. Die abgesprungene Ecke an der linken Schranktür, von der das Furnier abgeplatzt war, sodass die Sperrholzplatte gesplittert darunter hervorblitzte. Der immer schief stehende Fenstergriff, der nur mit Ochsengewalt in Richtung des Schlosses anzunähern war und doch nie mehr einrastete. Der Kratzer darauf sah aus, als habe jemand seine Verzweiflung über die unentwirrbaren Fäden seiner Ermittlung mit einem Schlüssel am Metall als nächstbestem Gegenstand ausgelassen.  
      Dann hatte sie tief Luft geholt, dieses Aroma von Übernächtigung, Hilflosigkeit und der Unmöglichkeit, aufzugeben, in sich aufgesogen und war ihrer Intuition und Adam ins Archiv gefolgt.
      Natürlich fand sie ihn erst zwischen den zwei letzten Regalfluchten mit einem beachtlichen Stapel dicker Mappen auf dem Arm. Nur wenige Zentimeter vor der in ranzigem Gelb lackierten Wand hatte er sich halb vornübergebeugt, halb zurückgelehnt in den schmalen Raum eingepasst, wie es seine Größe ihm gerade eben erlaubte, und las mit zusammengekniffenen Augen die Beschriftung einer auf Hüfthohe untergebrachten Akte. Mit der Spitze seines Mittelfingers drückte er die obere Kante des Mappenrückens hinunter, ruckelte den Kartonumschlag zwischen den anderen, eng dagegen gepressten heraus. Es war eine nur noch fädrig zusammengehaltene Ansammlung vergilbter Papiere, die beinahe zerfiel, als er sie klatschend auf seinen Stapel obenauf fallen ließ.  
      »Adam.« Sie hätte beinahe lauthals über sich selbst gelacht. Hatte sie sich nicht gerade, sechs Stockwerke weiter oben, noch versprochen, ihn nicht als Erstes wieder mit seinem Namen anzusprechen? »Wieso sollte unter so weit zurückliegenden Fällen …«
      »Such die raus.« Er machte den Hals ganz lang und streckte sich nach den Beschriftungen auf dem obersten Regalbrett, hielt gleichzeitig den Zettel mit den wie in Schülerschrift gekrakelten Zahlenfolgen dem Trennstreifen zwischen den aufeinanderfolgenden Abteilungen hin und nicht ihr. »Die Eins-Nuller-Serie.«
      Jetzt konnte sie ein Lachen nicht mehr unterdrücken, als sie ihm das Papier aus der Hand riss. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und gab sich dem Schutz der nächsten Regalreihe anheim, hoffte, die aufgereihten Akten würden sie vor seinem Wahnsinn bewahren. 101/23/1074, sie ging in die Knie, hebelte die Mappe heraus, da schoss sie zur Seite weg.
      »Mein Gott, Adam!« Ihr Herz jagte ihr unter dem Kinn. »Musst du dich immer so mordsmäßig anschleichen?«
      In einer blitzschnellen Bewegung riss er nicht nur die beiden bereits zuvor herausgesuchten Akten, sondern auch noch diejenige an sich, die sie gerade in der Hand hielt. Seine unter der Last des Aktenbergs gebeugte Gestalt stürmte vor ihr her, mit dem Rücken hielt er ihr die Tür auf, sie betätigte den Aufzugknopf. Das Rattern schüttelte die Stille durch, das Signal beim Öffnen klang merkwürdig verzagt, nicht so bestimmt wie tagsüber.
      Keiner von ihnen maß ihr Spiegelbild ihnen gegenüber. Es war, als stünden sie zu viert auf dem engen, mit mattem Metall verkleideten Raum. Einmal schielte Pia kurz zu Adam, bevor sie wieder die Zahlen in den Blick nahm, die mit jedem weiteren Stockwerk, das sie hinauffuhren, vom unteren Rand der Anzeige verschluckt wurden. Adam hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich auf die Ecke neben der Tür, sein hastiger Atem schlug ihnen beiden entgegen.
      Er trat vor ihr aus dem Aufzug, sie hätte sich wohl auch kaum an ihm und seinem ausladenden Aktenstapel vorbeidrängen können. So plötzlich, dass sie beinahe in ihn hineinrannte, blieb er dann jedoch stehen.
      »Pia?« Über die Schulter sah er sich nach ihr um. Sein Blick war so geborsten im unnatürlich grellen Deckenlicht, wie seine Stimme klang. »Kommst du in unser Büro?« Kleinlaut hing seine Frage zwischen ihnen, als sei er sich nicht sicher, ob das Sprechen bei ihm überhaupt noch funktioniere.
      »Klar.« Sie zuckte mit den Achseln. Wenn es nur das war. Sie öffnete den Mund und nahm mit einem langen Atemzug Anlauf, da ließ Adam sie schon wieder einfach stehen. Ihr ärgerliches Schnauben erreichte ihn nicht mehr. Also hinterher, darauf kam es auch schon nicht mehr an.
      Ein wenig in den Knien gebeugt hievte er seine Last auf den Konferenztisch und musste sofort nachfassen, als der Stapel zur Seite abglitt. Sie wollte den Stuhl zurückziehen, auf dem sie Leo immer dann sitzen sah, wenn er nicht an seinem Schreibtisch zu finden war, da jagte Adam schon wieder zur Tür, sein Schlüsselbund klirrte. Mit der Hand auf der Lehne starrte sie ihn an, als er die Tür absperrte.
      Auf dem Weg zum Tisch wich er ihrem Blick aus, er wollte nach der obersten Mappe greifen, aber sie fiel ihm in den Arm, rührte sich dann nicht weiter. Einem Eisregen gleich rieselte es ihr kalt über die Kopfhaut, die Schultern, die Arme. Adam wandte den Kopf nach ihr und sah sie an, als sei er gar nicht richtig hier. Seine Augen schienen überhaupt nichts mehr zu fokussieren, glitten über ihr Gesicht hinweg hinter sie, suchten sie wieder, nur um gleich wieder zum Fenster abzuschweifen oder zu etwas, das nur er sehen konnte, wer wusste das schon so genau.
      »Adam …« Langsam zog sie die Hand zurück. »Wa-« Ihr entwich ein Lacher, sie drehte die Handflächen zur Decke und schüttelte den Kopf. »Was soll das alles hier? Was wird das?«
      Für einige Sekunden fanden seine Augen sie, Schatten huschten hindurch, zerfaserte Entschlüsse, erstickte Hilflosigkeit. Da streckte er an ihr vorbei den Arm nach der obersten Akte aus und sprengte zum anderen Ende des Tisches. Er schob sich auf die Ecke, stützte sich in seinem Rücken auf der Tischplatte auf und schwang die Beine hinauf, schlug seine klobigen Stiefel im Schneidersitz unter. Während er die Mappe aufklappte, als säßen sie in der Konferenz beieinander, fragte Pia sich, ob sie jemals die Nummer des psychiatrischen Notdienstes gelesen hatte. Das war doch langsam alles nicht mehr wahr.
      Es hatte genau zwanzig Stunden und ein Halt einfach mal deine Fresse, ja? gebraucht, bis sie begriffen hatte, dass Grösigs Ersatzmann jeden Code, den die Menschheit, noch in Felle gehüllt und mit Keulen in den Händen, als diplomatische Grundlage festgelegt hatte, für sich und im Umgang mit anderen ablehnte. Ein solches Auftreten war für sie in dieser Ausprägung neu gewesen, und doch hatte sie sich nach und nach daran gewöhnt. Allmählich nahm das Ganze aber Züge an, deren sie ohne entsprechende Ausbildung nicht mehr Herr zu werden wusste.
      Natürlich waren Adam ihr Zögern, ihre Verwirrung vollkommen egal, er hielt die Stirn auf den Handballen gestützt, die Finger in seinen Strähnen vergraben, die wirr über seine Hand hinunterhingen, und las in der Akte in seinem Schoß. Zwei Schritte machte sie auf ihn zu, blieb dann stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Von diesem Winkel aus konnte sie ihm ins Gesicht sehen und ja, verdammt noch mal, war er schon wieder blass. Die ganze Zeit über hatte sie es bemerkt und doch nicht wirklich wahrgenommen, weil es letzthin zum Alltag geworden war, ihn so zu sehen. Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Am vorigen Abend hatte er ja alles ausgeschlagen, sich nur schweigend vor den Computer und schließlich ins Bett verzogen, und wenn sie ihn sich so ansah, wusste sie mit Bestimmtheit, dass er es den heutigen Tag über nicht anders gehalten hatte.
      Den halben Meter zu ihm schloss sie langsamer auf, als sie davor auf ihn zugekommen war, aber die Vorsicht hätte sie sich sparen können. Adam verdrehte sich gerade um seine eigene Achse und warf die Mappe, die er zuletzt hektisch durchgeblättert hatte, hinter sich. Aus seiner Hosentasche zerrte er einen Bleistift, dann beugte er sich so weit nach links, dass sie für einen Augenblick Sorge hatte, er könne Übergewicht bekommen und vom Tisch stürzen, aber er schielte mit starren, stechenden Augen unter sein rechtes Knie, wo er irgendetwas auf einen Zettel kritzelte, von dem Pia gar nicht mitbekommen hatte, woher er ihn herausgezogen hatte. Ohne sie wahrzunehmen, riss er schon die nächste Akte zu sich heran, seine Finger raschelten auf dem staubgelb verblichenen Karton. Die wenigen Zentimeter, die er bei seiner Bewegung auf sie zugekommen war, hatten genügt, nun, da sie näher kam, sah sie es noch deutlicher. Die kleinen Schweißtröpfchen, die ihm auf der Stirn standen, bestätigten ihre Vermutung.
      »Adam.« Ansprechen. Wieder einmal. Warten. Wie immer. Sich nähern. Direkt vor ihm war sie zu stehen gekommen, aber es kümmerte ihn nicht im Geringsten. Obwohl sie ihm so nahe war, dass seine Schuhspitze ihre Jeans streifte, hörte sie ihn nicht atmen. Er saß genauso wie zuvor, den Blick in seinen Schoß versenkt, in einem kleinen Häuflein vornübergesunken. Sie holte tief Luft, während sie die Hand nach ihm ausstreckte und auf seine Schulter sinken ließ. »Was hältst du davon, wenn wir erst mal was essen, hm?«
      Es dauerte einige Sekunden, bevor er eine unwillige Kopfbewegung machte, die aber auch von seinem hastigen Umblättern herrühren konnte, unter dem das vergilbte Schreibmaschinenpapier knisterte.
      »Wir könnten bei dem Inder bestellen, den Esther entdeckt hat, der hat bestimmt noch offen.«
      Als Adam sich aufrichtete, wich sie automatisch zurück, doch er beugte sich nur zur Seite, das Klopfen der Graphitmine auf dem schief zusammengefalteten Zettel erinnerte an das rasende Klicken eines Morseapparats. Mit der flachen Hand legte Adam den Bleistift unter seinem Knie ab, hielt ihn, ohne hinzusehen, auf, als er auf die Tischkante zurollte, und klemmte ihn unter seine Stiefelsohle, während sein Zeigefinger die obere Blattkante entlangfuhr, sich unter das Papier schob.
      »Oder wir lassen uns einfach ‘ne Pizza liefern, da können wir auch gut daneben weiterarbeiten. Wenn du mir …«
      »Verdammte Scheiße, Pia, ich will jetzt nichts essen, okay?« Er wandte eine Seite so heftig um, dass das Papier irgendwo mit einem leisen Ratschen einriss, er holte ruckartig Luft, dann wühlte er sich wieder durch die Akte, als habe sie nichts zu ihm gesagt. Seine Hand wanderte während des Lesens zur oberen Kante der Mappe, erstarrte, klammerte sich daran, als würde er sonst hintenüber vom Tisch kippen. Auch seine Augen hörten auf, die Zeilen entlangzufliegen, verloren sich in irgendeinem Punkt jenseits des Papiers.
      Sehr langsam umschloss sie seine um den Aktenrand versteiften Finger, die klamm und feucht waren und sich kaum spürbar unter ihrer Berührung regten. Auch an seinem Knie, das sich vor der dunkleren Tischplatte abhob, konnte sie das leise Zittern seines Körpers ablesen. Sie griff an seinen Händen vorbei zu beiden Seiten nach dem Aktendeckel, zog den Karton wenige Zentimeter zu sich, bis es nicht mehr weiterging, weil er ihn festhielt. Sonst hatte er sich nicht gerührt, sein Blick ging noch immer in die Ferne vor sich.
      »Komm.« Sie ließ die Mappe nicht los, nickte hinter sich, wartete ein paar Sekunden. »Ich bestell uns was, du legst dich eine halbe Stunde hin und ich mach währenddessen weiter.« Sie machte nach jedem Vorschlag eine Pause. Als sei er ein Kind ihrer Gruppe in einer Kindertagesstätte.  Ein weiteres Zerren von ihrer Seite ließ er nicht zu, hielt die Akte in einem eisenfesten Griff.
      Sie wandte den Kopf ein wenig ab, und doch wurden die Strähnen in seiner Stirn von dem Luftzug ihres lautlosen Seufzers aufgestört. »Adam.« Sie legte die Hände auf seine knochigen Knie und suchte seinen Blick, auch wenn er ihre Anwesenheit weiter strikt ignorierte. »Du hilfst Leo nicht, wenn du zusammenklappst – und du stehst so kurz davor.«
      Der halbe Zentimeter, den sie ihm mit Daumen und Zeigefinger veranschaulichte, münzte die Sorge, die sie eigentlich in ihre Stimme hatte legen wollen, zu einem ungeduldigen Vorwurf um. Unwillkürlich richtete sie sich auf, als er tatsächlich den Kopf hob, ganz wenig nur. Sein Gesicht war so nah vor ihrem und es war ihr, als sehe sie es zum ersten Mal: die dunkleren Sprenkel, die in der einen Hälfte seines linken Auges die Pupille umgaben, die feine, fädrige Narbe, die sich, zwischendurch für einige Millimeter unterbrochen, über seinem rechten Auge aus der Lidfalte zum Ende seiner Augenbraue zog, wo sie sich fast mit der kleinflächigeren, aber tieferen über der Braue traf, den noch immer sichtbaren Schmiss, der sich knapp unter der Nasenwurzel schräg über seinen Nasenrücken zog. Von unten herauf sah er sie so durchdringend an, dass sie sich wünschte, sie hätte nichts gesagt.
      »Du musst mir nicht glauben.« Die Drohung, die in seinen Worten schwelte, flackerte eisigblau auch in seinem Blick. »Aber dann behindere mich wenigstens verdammt noch mal nicht.« Seine Stimme stieß sich rau und vereist an den Silben, obwohl er so leise sprach, dass sie ihn von Leos Schreibtisch aus unmöglich verstanden hätte.
      Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Hände abzuschütteln, sondern wandte sich einfach zur Seite, bekritzelte weiter seinen Zettel. Durch seine dicke Jeans hindurch fühlte sie an ihren Fingern seine Wärme, die ihr ganz unbegreiflich vorkam. Ihre rechte Hand rutschte ab, als er sich wieder um sich selbst drehte, weniger als beim vorherigen Mal, und die Mappe hinter sich warf. Anders als er schrak sie unter dem heftigen Klatschen zusammen, trat aus Reflex einen Schritt zurück und hob ihre Berührung auf. Schon zerrte er die nächste Akte zu sich heran, ließ sie in seinen Schoß plumpsen und begann sofort damit, die Seiten umzuwenden, als ginge es um sein Leben – nein, nicht um sein Leben. Um Leos Leben, das war ja seine Meinung.
      »Alles klar.« Sie nahm die obersten fünf Akten an sich und zückte ihr Handy noch auf dem Weg zu Leos Schreibtisch. Pizza, dann eben nur für sich.
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