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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
22.01.2022 3.917
 
Vielen, vielen Dank, liebe Net Sparrow, für Deine große Treue auch bei dieser Geschichte wieder und natürlich Euch allen fürs Lesen bis hierher und für die gleich drei Sternchen, über die ich mich sehr freue :-)).
      Nachdem ich meine letzte Geschichte mit einer „Trilogie“ beendet habe, werde ich diese wohl damit beginnen. Wahrscheinlich kommt morgen noch ein neues Kapitel, bevor wir abends sehen, wie es „offiziell“ weitergeht, und dann wird es vermutlich eine ganze Weile dauern, bis ich mich hier wieder zurückmelde.
      Jetzt aber genug gefaselt, weiter geht’s, viel Spaß :-)!
      PS: Dieses Kapitel ist für Dich, NotMyName – endlich tritt einmal wieder Deine heimliche Lieblingsfigur auf :-).
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Kapitel 2 – Eine Handbreit Bewegungsradius

Das Maschinengewehrfeuer der Computertastatur hallte von allen Seiten zurück. Es war, als wolle es sich ins Mauerwerk wühlen, um ihnen Platz zu schaffen in ihrem kleinen Büro, in dem die Wände immer weiter aufeinander zuzurücken schienen. Doch jedes harte Klicken der einzelnen Tasten zuckte durch Pias Kopf und regte die ihrem Gefühl nach als Letzte verbliebene Synapse an, ließ sie funken, wie ein Gartenschlauch schlapp unter dem gewaltigen Druck zuckte, der sich hinter einem Knick anstaute.
      Sie verbarg den Kopf hinter dem Monitor, als notiere sie etwas auf einem Post-it, und nutzte die Deckung, um sich die Stirn auszustreichen. Esthers giftiges Schweigen biss ihr in die Seele. Seit einigen Tagen schon überschüttete ihre Partnerin sie mit einer Stinklaune, und Pia begriff nicht, was schon wieder im Argen lag. Eigentlich wäre es ja an ihnen gewesen, an Pia, an Leo und allem voran an Adam natürlich, auf sie nicht gut zu sprechen zu sein, nachdem sie ihn noch vor allen anderen Kollegen verpfiffen hatte, die seinen Fehltritt im Verhör sogar persönlich miterlebt hatten, und ihm mit ihren Kontakten zur Diziplinardienststelle das Leben schwer gemacht hatte.  
      Hatte Esther heute überhaupt schon etwas anderes zu ihr gesagt als ein wie eine Kanonenkugel abgefeuertes „Morgen!“? Und auch Leo hatte sie noch gar nicht zu Gesicht bekommen, genauso wenig wie Adam, da die beiden die Befragung der Anwohner im unmittelbaren Tatortumfeld in Angriff genommen hatten. Vermutlich waren sie noch gar nicht wieder da, und vermutlich war Leo feinfühlig genug, ihre Aktion noch lang genug zu ziehen, um dem Kreisen von Adams Gedanken so wenig Raum wie möglich zu lassen. Umgekehrt hatte er ihn am Montagabend halbwegs pünktlich nach Hause geschickt. Das hatte sie nur deshalb mitbekommen, weil sie an der Kaffeemaschine unfreiwillig Zeuge ihres leisen Gesprächs im Büro geworden war. Es musste dort eine Art Schallkanal geben, sie hatte jedes Wort so deutlich verstanden, als habe sie zwischen den Schreibtischen ihrer beiden Kollegen gestanden. »Lass es für heute gut sein und schlaf dich aus, das reicht auch noch, wenn wir morgen weitermachen.« Sie hatte Leos Lächeln vor sich gesehen, diese warme Zugewandtheit auf seinem Gesicht, in der immer eine Spur Traurigkeit mitschwang. Bestimmt hatte er Adam die Hand auf die Schulter gelegt, doch außer kurz angebundenem Rascheln und gleich darauf Adams schweren Schritten im Gang hatte sie nichts weiter vernommen.
      Pia entfuhr ein zu lauter Atemstoß, sie schluckte, horchte auf eine Reaktion von Esthers Seite, aber ihre Partnerin tippte weiter, als wolle sie den Computer mit jedem Schlag ihrer Fingerspitzen foltern. Wie Leo das nur aushielt, diesen täglichen Höllenritt auf dem schmalen Grat, an dem er jeden Schritt auf einem sich jeden Tag verändernden, unsicheren Untergrund mit Bedacht setzen musste und auf dessen anderer Seite Adam manchmal ausharrte und auf ihn wartete, manchmal gar nicht erst erschien und sich manchmal zurückzog, noch bevor er überhaupt eine Bewegung in seine Richtung gemacht hatte. Aber gut … Unwillkürlich nickte sie, sie hackte ihren tiefen Atemzug ab, um Esther nicht doch noch im letzten Moment aufzuscheuchen. Sie konnte das Ganze nicht aus ihrer Warte betrachten, Leos Position würde sie niemals einnehmen können. Adam umschlich sie stets wie ein Wildtier, das schön anzusehen, doch nichts zum Anfassen war, ein scheues Wesen, das niemanden über einen gewissen Abstand hinaus an sich heranließ, da es Menschen zu fürchten gelernt hatte. Bei Leo war das anders. Auf Leo kam er zu, Leo hatte ihn bis zu einem gewissen Grade gezähmt, und manchmal nahm er sogar etwas von Leos Hand an, manchmal durfte Leo ihn sogar schon berühren, bevor er aufschrak und davonjagte, um zu unbestimmter Zeit zu ihm zurückzukommen, wenn er es brauchte, zu spüren, dass es jemanden gab, der von ihm wusste, der manchmal an ihn dachte.
      Und Leo allein hatte das richtige Gespür dafür, wann Adams Kraft so sehr aufgebraucht war, dass ihn gerade noch der äußere Rahmen des Büros, der E-Mails und der Computerarbeit aufrechthielt und Schlaf für ihn womöglich sogar Erholung bedeutete, und wann es nötig war, ihm das Gefühl zu geben, er müsse in ihren Ermittlungen als Pionier den Weg ebnen, den sie ohne seine Vorarbeit nicht beschreiten könnten, nur damit er nach außen beschäftigt war und ihm gar keine Zeit zum Nachdenken blieb. Auch der Auftrag, die Apotheke an der Kreuzung noch einmal unter die Lupe zu nehmen, war da nur Makulatur gewesen. Die mit Gewalt vor eineinhalb Wochen abgegangene Mure des Schweigens erstickte Adam noch immer und vermutlich stand er bei den Befragungen einfach nur dabei, während Leo die Arbeit machte, und tat nichts weiter, als die Zeugen und Verdächtigen mit seinem eingefrorenen Blick zu verunsichern, halb in dieser, halb in einer Schattenwelt gefangen. Anders war es nicht zu erklären, dass die beiden heute noch einmal das aufgriffen, was Adam normalerweise einfach in die erneute Tatortbegehung eingebunden hätte, schematisch, berechnend die Liste abhakend, Namen für Namen, wie damals, als er sich die fraglichen Mitspieler in ihrem Fall aus dem Bundeswehrumfeld vorgenommen hatte.      
      Pia massierte sich die Schläfen und schielte nach der Uhr. Eine Dreiviertelstunde noch, 45 verschwendete Augenblicke – ohne Adam, ohne seine Nähe, ohne ihm helfen zu können. Sie machte sich nicht einmal mehr die Mühe, sich wieder aufzusetzen, und öffnete die erste der in den vergangenen drei Minuten eingegangenen vier E-Mails. Schritt für Schritt.

Sie stand auf, als müsse sie nur kurz zum Kopierer, strich aber doch ihre Jeans an den Oberschenkeln glatt, sie schlüpfte in ihre Jacke, erst dann sah sie zu Esther.
      »Bis morgen.«
      »Ja.«
      Hätte sie ihre Partnerin nicht die letzten Tage erlebt, sie hätte es auf sich beziehen müssen. Doch das war neu, wurde ihr bewusst, als sie die Tür hinter sich zuzog: Dass es Esther einfach egal war, was sie machte oder bleiben ließ, ob sie heute noch bis zum bitteren Ende mit ihr ausharrte oder Überstunden abbaute, wie sie schon letzte Woche angekündigt hatte, weil sie mit Lydi und ihrer Mutter ein bisschen das Ende der Probezeit ihrer Schwester feiern wollte. Pia holte ein letztes Mal tief Luft und atmete schwer gegen den Lichtausschnitt in der dunkelblauen Holzfläche vor sich, bevor sie sich umwandte. Zu ihrer Überraschung fiel ein schwacher Lichtschein aus Leos und Adams Büro in den Gang. Ihre Füße trugen sie automatisch zu dessen Schwelle, sie zögerte, dann klopfte sie doch.
      »Ja?« Leos Stimme, matt, kaum zu hören. Genauso, wie er geklungen hatte, sah er sie an, als sie eintrat. Er hob die Stirn von der Hand, in die er den Kopf gelegt hatte, ließ seinen Arm auf dem Tisch aber aufgestützt, die Finger hängen, als habe er nicht die Kraft, sich danach wieder neu in diese Position zu begeben.
      Ihr Blick flog zu dem wüsten Papiermeer auf dem unbesetzten Schreibtisch. Wie immer sah er aus, als sei ein Archiv eingestürzt und die Aufräumarbeiten hätten noch nicht begonnen.
      »Ist Adam schon weg?« fasste sie das Offensichtliche zusammen.
      Leo nickte. Sein Gesicht war verspannt. Als er sich nun doch ein wenig zurechtsetzte, um sich über die Augen reiben zu können, sah Pia erst, wie übermüdet er war, ganz so, als habe er die nächtliche Observation von Leibers Anwesen übernommen und nicht Esther und sie.
      »Er hat gemeint, ihm sei irgendwie nicht gut«, lieferte Leo die Antwort auf ihre eigentliche Frage nach. Diesen Ausdruck in seinen Augen kannte Pia mittlerweile nur allzu gut, spiegelte er doch jedes Mal wider, wenn in ihrer Brust alles wild durcheinanderwirbelte wie bei einem wahnsinnig gewordenen Flummi in einer Schublade. Mit einem Schulterzucken versuchte er, die Sorge um Adam aus seinem Gesicht zu schütteln, was ihm nur unzureichend gelang. »Feiert schön, bis morgen«, zog er einen entkräfteten Schlussstrich und versenkte wieder die Hand in der Stirn, ließ einen Kugelschreiber zwischen den Fingern auf seiner Schreibunterlage kreisen, um sich wach zu halten.
      Pias Beine streikten, sie verharrte einen Moment in der Verwirrung, die in den Ecken, in die er Schein von Leos Schreibtischlampe nicht reichte, auf sie gelauert hatte. Allmählich begriff sie überhaupt nichts mehr. Dass sich Adam nach all der Zeit und allem, was vorgefallen war, noch immer nicht entschlüsseln ließ, war für sie allmählich beinahe zu einer Gesetzmäßigkeit mutiert. Aber zuerst Esther, und jetzt Leo … Was wurde hier gespielt?
      Als er sich mit einem tiefen Einatmen regte, trat Pia die Flucht an, doch sah sie, als sie die Tür schloss, dass er offenbar nur versucht hatte, seinen Nacken zu lockern. Er hatte sie schon vergessen.
      Da überfiel sie die Treppenerkenntnis schließlich doch noch und unwillkürlich lachte sie auf. Ihre Stimme hing erstickt zwischen den Geländern und der gebäudehohen Fensterfront. Leo hatte die Ermittlungsleitung wieder übernommen – das war alles. Sie hatte keinen Gedanken daran verschwendet, es war für sie einfach Alltag gewesen, dass er die Konferenzen angeführt und die Aufgaben verteilt hatte. Mein Gott. Sie schüttelte den Kopf. Was für ein Kindergarten. Deshalb Esthers verbiesterte Aura, deshalb diese Ausstrahlung, die sie von Leo von früher kannte. Die spärlichen Regentropfen klatschten ihr auf das Gesicht, als sie hinaustrat, ein Windstoß trug ihre Gedanken und den schlechten Geschmack, der sich in ihrem Mund ausgebreitet hatte, mit sich fort und ließ doch nicht das ersehnte Vakuum zurück.

»Und du, Pia?«
      Sie riss den Kopf hoch, glättete ihren entgleisten Gesichtsausdruck eine Sekunde zu spät. Sofort bildete sich das weiche Lächeln ihrer Mutter zurück, mit dem sie bestimmt besonders die Fünftklässler bedachte, wenn sie vollkommen verloren versuchten, sich unter ihrer Anleitung in der Bibel zurechtzufinden. Sie legte den Kopf schief und wartete einen Augenblick auf ihre Antwort, von der sie genauso wie Pia wusste, dass sie nicht mehr kommen würde. Die Heizung summte, es klirrte, als Lydi ihre Tasse absetzte.
      »War doch was?« stellte ihre Mutter trotz aller Geduld, die ihr eigen war, schließlich die Frage, die sie seit Anfang ihres Gesprächs hatte wiederholen wollen.
      Pia holte tief Luft, zählte mit den Augen die Porzellantierchen in der Vitrine. Den Dackel hatten Lydi und sie ihrer Mutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, die Maus zum Geburtstag – und den Kakadu? Frühdemenz ließ grüßen.
      Ihr Zeigefinger fuhr den Rand der Untertasse entlang, genoss die Vorhersehbarkeit der perfekten Rundung, das Gleiten auf einer vorberechneten Bahn. Ob das Leo mit Caro und seinen Eltern genauso ging? Adam und Esther konnten da nicht mitreden. Ohne wesentlichen Kontakt zu ihrer Familie wussten sie nicht, wie es war, wenn die Verwandten ständig wie die gutartigsten Geier der Welt über einem kreisten, einen nie aus den Augen und am liebsten keinen Schritt mehr allein tun ließen und es einem einfach nicht abnahmen, dass man heute nicht um ein Haar an einem Leberschuss verblutet oder von einer Bombe zerrissen worden wäre.
      Pia zurrte ein Lächeln auf ihr Gesicht und versuchte vergeblich, ihre gedankliche Abwesenheit wieder auszugleichen. »Nein, nein, alles gut«, gab sie ihrer Tasche, nach der sie in einer plötzlichen Eingebung griff, die lang aufgeschobene Antwort. Zeit, sich abzuseilen. Sie ließ ihr Smartphonedisplay aufleuchten. Verdammt, doch schon später als gedacht. »Sorry, ich hab spontan noch was vor«, murmelte sie, schob den Stuhl zurück und stand auf. »Tut mir echt leid.« Ihre Augen verfolgten ihre Finger dabei, wie sie den Reißverschluss ihrer Jackentasche aufzogen, und ihr Handy darin verstauten.
      »Was denn?«
      »Pia hat einen Freund«, gab Lydi ihrer Mutter beinahe zeitgleich zu ihrer Frage die Antwort darauf.
      Der Kopf ihrer Mutter schnellte herum, ihre Augen waren riesig, das sah Pia auch aus dem Augenwinkel, während sie Lydi mit Blicken einen Hustenanfall an den Hals wünschte, der sie auf der Terrasse nach Luft schnappen lassen würde.
      »Ah ja?«
      Jetzt seufzte Pia doch laut, ließ zugleich den angestauten Frust des Vormittags entweichen. Ihre Augen fanden Halt an den golden schimmernden, römischen Ziffern der Standuhr in der Ecke neben der Tür. »Es ist noch ganz frisch, ich bin – also, was …« Hilflos zuckte sie mit den Schultern, während sie ihre Fußspitzen genau in den Fokus nahm. »Eigentlich sind wir noch gar nicht so weit, wir wissen selbst noch nicht …«
      »Wie heißt er denn?«
      Das Lächeln in der Stimme ihrer Mutter ließ das angespannte Knäuel aus Gummiringen in ihrer Brust in Seifenblasen aufgehen.
      »Adam«, platzte Lydi hervor.
      Als Pia den Kopf herumriss, grinste Lydi sie breit an. Der Lidstrich mit einem perfekten Wing verlieh ihr etwas von einer Katze, die hinter einem Baum auf Beute lauerte.
      »Und woher kennst du Adam?«
      »Aus der Arbeit«, ließ Lydi ihr gar keine Chance. »Er ist ihr neuer Kollege und suuuperhübsch!«
      Das Lachen ihrer Mutter perlte über den Tisch wie der Champagner zu Silvester. »Und du kennst ihn schon?«
      Lydi nickte in gespielter Beleidigung zu Pia. »Sie wollte ihn mir bisher nicht vorstellen.«
      »Du kannst ihn ja mal zum Essen einladen.«
      »Gute Idee!«
      Pia konnte nur den Kopf schütteln über Lydis Begeisterung. Mit dem Fingernagel fuhr sie die tiefe Schramme an der Stuhllehne nach. Eigentlich seltsam, dass ihr Vater das nicht längst abgeschliffen und neu lackiert hatte, dabei war es fast dreißig Jahre her, dass sie mit Lydi hinter sich auf der Sitzfläche gestanden und aus irgendeinem ihr nicht mehr nachvollziehbaren Grund versucht hatte, die alte Briefwaage von der Ablage oben auf der Vitrine herunterzuholen. Natürlich hatten sie Übergewicht bekommen und waren nach vorn umgekippt, die Stuhllehne war glücklicherweise mit dem Rahmen der Vitrine und nicht mit der Glasscheibe kollidiert, ihr Kopf mit der offenen Schranktür, und Lydi, die gerade erst zwei gewesen war, war nichts passiert, aber geheult hatte sie vor Schreck, dass ihre Mutter gekommen und sie bei ihrer unfreiwilligen Balanceübung ertappt hatte.
      »Oder vielleicht zu Weihnachten?« riss ihre Mutter sie wieder zurück in die Gegenwart, in der kein Schutzengel ihren Fall mehr aufhielt. Kalt rauschte der Luftstrom an ihr vorbei, als sie von einer Zuckerwattewolke ins Dunkel hinabstürzte.
      »Au ja!«
      Pia seufzte in den Ausruf ihrer Schwester hinein und hängte sich ihre Tasche über die Schulter. »Mal sehen …«
      Misstrauen war es, was sie in den beiden Augenpaaren las, die wahrscheinlich unentwegt auf ihr gelegen hatten.
      »Es ist nicht so einfach, okay?« entfuhr es ihr scharf. Sie holte tief Luft und atmete lang aus, während sie ihr Haar glättete. »Er ist gerade nicht gut drauf.«
      »Denk einfach darüber nach, es sind ja noch ein paar Tage Zeit.« Ihre Mutter stand auf und schnitt zwei Stücke des Zupfkuchens ab, den Lydi noch übrig gelassen hatte. »Oh Mann, wie, kein Stollen?« hatte sie protestiert, als ihre Mutter einen Ersatz vorgeschlagen hatte, den auch Pia mochte, dabei war es bei Lydi ganz gleich, was man ihr vorsetzte, sofern es nur Zucker enthielt. Wie bei Adam.
      »Hier – nimm die für dich und Adam mit.« Ihre Mutter hielt ihr die sorgsam in Alufolie eingeschlagenen Stücke hin, und erklärte rasch, als Lydi den Mund öffnete: »Ja, Lydi – du bekommst den Rest.«
      Es tat so gut, endlich einmal wieder zu lachen.

Pia stöhnte auf, blieb stehen. Sie zog ihre Tasche mit beiden Händen auf und wühlte mit der Rechten alles beiseite, was ihr unter die Finger kam: den Beutel mit ihrer unbenutzten Sportkleidung, das Kuchenpäckchen, ihr Notizbuch, ihr Smartphone. Sie ertastete die Dinge mehr, als dass ihre Augen sie unterscheiden konnten. Kaum vier Uhr und schon versank die Welt im winterlichen Halbdunkel. Gut, das lag natürlich auch daran, dass sich die Wolken zu einer lückenlosen, silbergrauen Decke zusammengezogen hatten. Aber die kürzesten Tage des Jahres standen unmittelbar bevor, nun hatte auch sie es begriffen, und die kälteste Zeit war noch lange nicht erreicht, sie würde mit Sicherheit erst wieder im Januar hereinbrechen, vielleicht sogar mit Schnee, schließlich war Weihnachten dann ja schon vorbei.
      »Mann!«
      Ungeduldig rüttelte sie ihre Tasche einmal durch, lugte hinein, gab es auf und klopfte nochmals ihre Jacke, ihre Jeans ab. Wie konnte man nur so blöd sein und auf dem kurzen Weg vom Auto zur Haustür den Schlüssel so grandios verlegen?
      Der Bewegungsmelder am Eingang tat mit einem nüchternen Klicken seine Arbeit, das Licht fing sich in einem scharfen Streifen auf der Glastür, zog sich vom Scheitel bis zur Sohle. Pia kippte ihre Tasche, da flammte das Licht im Gang auf, eine Sekunde später kam eine gedrungene Gestalt aus der Richtung von Adams Wohnung. Der Geruch nach Kohl und Kartoffeln, ein hektisch über der Brust geschlagenes Kreuzzeichen –
      »Frau Svobodova?« fragte sie, bevor sie behaupten konnte, die Frau wirklich erkannt zu haben, die mit einem leisen Ächzen die Tür aufzog und sofort innehielt. Pia musste lächeln. Ja, diese Knopfaugen würde sie nicht so schnell vergessen, die unter ihrem Blick groß wurden, wie die Punkte überdimensionaler Fragezeichen.
      »Ich bin Pia Heinrich«, kam sie ihr zur Hilfe und streckte ihr die Rechte entgegen, die Frau Svobodova zögerlich nahm. Ihr Griff war fester, als Pia erwartet hätte, die kurzen, kräftigen Finger sprachen vom Schälen von tonnenweise Äpfeln, vom Schrubben von Töpfen, Blechen und Schüsseln.
      »Ich bin die Kollegin von Leo Hölzer und wollte –«
      »Ah, Leo!« Das bräunliche Gesicht ging unter einem mütterlichen Lächeln in Tausenden Falten auf. Da fühlte Pia, wie ihre Hand von einer zweiten in einer warmen Höhle umschlossen wurde. »Ja – ja, natürlich! Ich – Sie … bitte Entschuldigung. Ich nicht mehr habe …«
      Pia winkte ab, wie sollte sie sich an sie erinnern, sie war ja damals im Auto geblieben, als Leo und sie im Ausnahmezustand bei ihr angerückt waren, um sich den Schlüssel zu Adams Wohnung zu verschaffen. Sofort verstummte die Frau, dabei hatte sie das gar nicht gewollt, doch da nickte sie mit einer wieselflinken Bewegung, die sie ihr so gar nicht zugetraut hätte, hinter sich und sprach schon weiter.
      »So gut, dass jemand sieht für Herrn Schurk.«
      Pia musste lächeln, für eine Sekunde durchzuckte sie der Gedanke, den Namen einfach zu behalten. Schurke. Besonders Esther hätte sich darüber gefreut. Warum war sie eigentlich noch nicht selbst darauf gekommen? Sonst war sie im Auffinden von Spitzfindigkeiten mit einer unnachahmlichen Wortgewalt gesegnet.
      Aber Pias Gedankenspiel verebbte im Nichts, etwas in Frau Svobodovas Stimme knüpfte einen Knoten in ihrer Kehle, da ließ die gemütliche Frau auch schon ihre Hand fahren. Der Winterwind umwehte Pias Finger, die vorher Frau Svobodova mit ihrem warmen Griff abgeschirmt hatte, flüchtig kühl.
      »So gut«, wiederholte Adams Putzfrau und knetete die Finger der einen Hand mit der anderen, als versuche sie, einen Ring abzustreifen, der sich nicht mehr lösen wollte. »Braucht er viel.«
      Pia wartete noch einen Augenblick, doch Frau Svobodova schien alles gesagt zu haben, was sie bereit war, ihr gegenüber anzubringen. Und was hatte sie sich auch erwartet? Einen Schwung mit dem Zauberstab durch eine gute Fee und alles wäre wieder in Ordnung? Die Nachricht, dass Adam schon für sie gekocht hatte und wie auf Kohlen saß, bis sie endlich käme?
      Sie nickte nur unbestimmt und schielte erneut in ihre Tasche. Wenigstens war ihr Schlüssel jetzt auf ihrer Seite. Da spürte sie plötzlich eine Berührung am Arm. Sie blickte auf und sah, wie Frau Svobodova den Zeigefinger der anderen Hand auf die Lippen legte.
      »Aber leise sein – er schläft.«
      Für einen Moment blickten sie sich nur still an im Versuch, die Gedanken der anderen zu erhaschen. Pia zwang sich, ruhig zu atmen. Das war doch gut – das war gut, wenn Adam nicht deshalb früher nach Hause ging, weil er noch etwas nacharbeiten wollte, sondern nur um Schlaf nachzuholen.
      »Auf dem Sofa?« Ihre Stimme hatte nicht begriffen, dass sie mit ihrer Frage die Stimmung hatte auflockern wollen. Sie schwankte wie ein Schilfrohr im verwischten Winterdunkel vor der Haustür.
      Frau Svobodova aber hatte verstanden, ihr Gesicht wuchs unter ihrem vollen Lächeln wieder in die Breite. Sie nickte. »Ja – auf Sofa«, wiederholte sie gewissenhaft wie ein Schulmädchen im Deutschunterricht.
      Pia lachte leise und schüttelte den Kopf, doch blickte sie alarmiert auf, als Frau Svobodova weitersprach. Nun war es ihr Tonfall, der ihr nicht gehorchen wollte, der ausglitt auf dem eisigen Terrain, auf das er sich begeben hatte.
      »Es nicht geht besser mit Kreislauf, oder? Ist noch so schlimm wie zwei Wochen bevor?«
      Eine Flamme zischte glühend in Pias Brust auf, eigentlich nur ein Flämmchen, aber die Falten auf Frau Svobodovas Gesicht, die jetzt nicht mehr kurz und fein, sondern steil und grob waren, boten ihm Nahrung, ließen es wachsen. Sein Kreislauf? Vor zwei Wochen? Ein zähes Gift tropfte plötzlich schwerfällig durch Pias Gedanken, lähmte ihre Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen. Schlief Adam am Ende gar nicht, sondern war er wieder abgetaucht, unter zu viel Alkohol und Rohypnol und womöglich –
      Da löste sich ihre Anspannung auf einen Schlag, ihre Schultern sackten kaum merklich herab, ihr entfloh ein tiefer Atemzug. Leos Ausrede, das war alles. Offenbar hatte er Adams Zustand mit dem Rückgriff auf eine Kreislaufschwäche erklärt, und Frau Svobodova hatte es ihm glücklicherweise abgenommen.
      »Ähm …« Pia sammelte ihre Gedanken, sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, suchte nach Worten. »Es wird schon besser, Frau Svobodova, keine Sorge.« Jetzt legte sie der Frau die Hand an den Arm, die, obwohl sie auf der Treppenstufe vor der Eingangstür stand, einen halben Kopf kleiner war als sie. »Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und richte Adam aus, dass Sie da waren.«
      Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Adam?
      Tatsächlich begann Frau Svobodova zu strahlen, als sei sie Adams Mutter und sie die lang ersehnte Schwiegertochter, die die Verkörperung all ihrer Wünsche war. Erneut wurde Pias Hand warm und weich gebettet und innig geschüttelt.
      »Danke – vielen Danke. Und alles gut und natürlich frohe Weihnacht und neues Jahr, alles gut …«
      »Das wünsche ich Ihnen auch, Frau Svobodova. Schöne Feiertage und einen guten Rutsch!«
      Eifrig nickte die Frau und prüfte mit einem Fuß tastend den Untergrund auf mögliche Eisglätte, bevor sie ihren sicheren Stand aufgab. Pia übernahm die Tür, die sie ihr aufhielt, und sah ihr nach, wie sie den kurzen Weg zur Straße mit tippelnden Schritten hinunterging. Als sie sich noch einmal nach ihr umblickte, winkte Pia ihr zu, dann trat sie in den Gang.
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