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Oberwasser

von ToniLilo
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Het
Kriminalhauptkommissar Adam Schürk Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer Kriminalhauptkommissarin Esther Baumann Kriminalhauptkommissarin Pia Heinrich
21.01.2022
29.08.2023
30
117.452
5
Alle Kapitel
34 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
28.12.2022 4.293
 
Hallo, meine Lieben, ich hoffe, Ihr hattet schöne Feiertage. Hier kommt das nächste, diesmal wieder ein wenig längeres Kapitel. Ich habe eine Weile damit zugebracht, trotzdem ist es nicht wirklich rund geworden; länger daran herumzustricken, führt aber auch zu keinem besseren Ergebnis. Ich kann mich nur entschuldigen und bin dankbar für Verbesserungsvorschläge.
      Viel Vergnügen Euch trotzdem damit und einen guten Jahresausklang! Kommt gut hinüber ins neue Jahr, das Euch alles bringen möge, was Ihr Euch erträumt!
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Kapitel 19 – Auf der Pirsch

»Fuck, fuck, fuck!!«
      Pia überlegte gar nicht erst lang, sondern kippte die Pfanne als Ganzes ins Spülbecken. Es zischte scharf, als sie den Wasserhahn öffnete. Die in die Höhe steigende Dampfwolke vermischte sich mit dem Qualm aus dem Ofen, schon fiepte der Rauchmelder los.  
      »So ein Dreck!«
      Die Stuhlbeine schabten metallisch über die Fliesen, sie zog das Möbelstück als improvisierte Leiter zu sich heran, stieg hinauf und drückte den Knopf, doch bevor sie den Arm wieder senkte, hielt sie inne. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Gerade erstarb das letzte Handyklingeln. Während sie sich die Hände abwischte, schielte sie nach der Uhr.
      Viertel vor neun.
      Dass sie Adam verpasste, war das Leitmotiv des Tages gewesen. Da Esther im lange eingetragenen, nachweihnachtlichen Urlaub war, hatte Leo darauf bestanden, sie zu Teleomnium zu begleiten, um sich noch einmal unter den Angestellten nach Auffälligkeiten umzuhören, bevor sich die mittelgroße Panik zu einer nicht mehr bewältigbaren Hysterie steigern würde. Noch immer stand er zwischen Wachen und Schlafen, hatte die durch die Observation verlorenen Stunden unmöglich aufholen können. Es war ihm weniger anzusehen als vielmehr seiner Stimme anzuhören gewesen, die ihm manchmal in einer Rückfrage oder einer Richtigstellung entglitten war oder in der Aufforderung, Ruhe zu bewahren, eine besonders klar konturierte Schärfe angenommen hatte, unter der er die Wörter überdeutlich eines vom anderen abgesetzt hatte.
      Warum er so vehement darauf beharrt hatte, dass sie zu zweit im Palast des Telekommunikationskonzerns anrückten, hatte sich ihr bis zuletzt nicht erschlossen, aber angesichts der tiefen Furchen zwischen seinen Brauen und der Anspannung in seinem Kiefer hatte sie es für besser befunden, nicht weiter nachzuhaken. »Und die Zeugenbefragungen in Annikas Umfeld?« hatte sie dann trotzdem wissen wollen und nur ein mürrisches »Kann Adam ja jetzt mal machen« zurückbekommen. Ganz plötzlich also war der wirtschaftlich mehr zu Buche schlagende Fall um Schneider doch wichtiger als der Mord an einer Minderjährigen. So überlegt Leo normalerweise vorging, sogar in den vertracktesten Situationen, so irrational entschied er, wenn er nicht mehr weiterwusste, und räumte auf diese Weise das Ende der Fahnenstange viel bildlicher ein, als er es mit einem verbalen Geständnis getan hatte, das er, ganz Teamleiter, aus motivatorischen Gründen stets vermied. Als ob irgendjemand von ihnen in den letzten Monaten noch an irgendeine der mühsam von ihm aufrechterhaltenen Theaterkulissen wie aus einer Schneewittchen-Verfilmung geglaubt hätte. Hatten sie einmal einen von diesen Dreckskerlen überführt und hinter Gitter gebracht, tat es ein Schluck Kaffee anstelle einers Glases Champagner, Akte geschlossen und weiter im Konzept mit einem der dreitausend anderen Irren.
      Sie hatte nichts weiter gesagt, keine weitere Frage mehr an Leo zu richten gewagt. Der Ton seiner Augen aber war beinahe schieferfarben gewesen, als er sie mit einem knappen Seitenblick bedacht hatte, bevor er sich wieder auf die Straße konzentriert hatte und den Angaben des Navigationssystems zu den Umleitungen wegen der noch immer andauernden Bauarbeiten rund um den Bahnhof gefolgt war.  
      Ähnlich umständlich musste sich Adams Bewegungsprofil von diesem Tag gestaltet haben. Sie hatten sich nicht mehr zu Gesicht bekommen, nachdem sie sich am Morgen getrennt hatten. Natürlich war Adam vor ihr am Präsidium angekommen, obwohl sie fast gleichzeitig bei ihm losgefahren waren. Wie unter einem zufällig gewählten Unterstand hatte er mit ein wenig hochgezogenen Schultern am Rand des Vordaches gestanden und es in kältesteifem Widerwillen über sich ergehen lassen, dass sie ihm einen Kuss unter den Kiefer gehaucht hatte. Ohne Esther war die Konferenz zur Aufgabenverteilung nach kaum drei Minuten erledigt gewesen, von Adams Seite aus ohne irgendeine verbale Äußerung, wie sie es noch von den Konferenzen aus seiner Anfangszeit bei ihnen kannte.
      Pia stützte die Hände in die Seiten, starrte das bis auf ihren Schlüssel leere Glasbord an. Anders als erhofft wartete ihr Handy nicht hier auf sie. Verdammt.
      Wo Adam jetzt wohl noch steckte? Auf ihre getippte Frage, ob sie abends wieder zu ihm kommen solle, war nur ein knappes »Wenn du möchtest« zurückgekommen. Später hatte er ihr aber die erste Sprachnachricht überhaupt zukommen lassen, die sie sich seitdem bestimmt viermal angehört hatte, tatsächlich nicht, um seine schöne Stimme zu hören, oder wenigstens nicht nur deshalb, sondern aus der Sorge heraus, die sie auch die Entenbrust im Ofen hatte vergessen lassen, während sie mit der Mousse au chocolat beschäftigt gewesen war. »Hallo, Pia, warte bitte mit dem Essen nicht auf mich«, hatte er sie gegen Viertel nach sechs so leise und atemlos wissen lassen, dass sie sich ihr Smartphone dicht ans Ohr hatte pressen müssen, um seine Worte zu verstehen. Den Rest seiner Nachricht hatte er in sechs der insgesamt acht Sekunden untergebracht. Seine Schritte hatten auf Kies geknirscht, an ihrem rechten Ohr hatte die Plastikverpackung um eine neu angebrochene Zigarettenschachtel geraschelt. »Ich bin noch unterwegs, fahr zur Apotheke, wo der Schusswechsel war, und gleiche meine Ergebnisse danach mit Leo ab.« Seine letzten Worte hatte beinahe das Zuschlagen der Autotür überdeckt. »Vielleicht fährst du also besser einfach nach Hause.«
      Nach Hause, was so viel bedeutete wie: Nicht zu mir. Sondern: In dein Zuhause. Ob er seine Wohnung mittlerweile wenigstens als sein Zuhause ansah?
      Den Ansatz seines Einatmens hatte er nach seiner wie in einem überlangen Wort gesprochenen Nachricht abgeschnitten, weiter war nichts gekommen – kein »Ich würde mich aber freuen, wenn du bleiben würdest« oder »Ich beeil mich aber, dann können wir’s noch nachholen«. Nichts.    
      Direkt neben ihr gellte ihr Handy los, dass sie zusammenschrak. Sie hatte es also doch an der Garderobe liegen lassen, nur eben nicht auf dem Glasbord, sondern für sie unsichtbar auf der Ablage über ihrem Kopf.
      »Adam«, seufzte sie erleichtert, nachdem sie auf das grüne Telefonhörersymbol getippt hatte. Sie ging in die Küche zurück. Vielleicht war wenigstens noch Fleischkäse übrig. »Wo bist du denn? Was ist –«
      »Komm bitte ins Präsidium – sofort.« Adams Stimme, so glatt wie eine geschliffene Klinge, schnitt ihren Redefluss mitten hindurch. »Leo wurde entführt.«
      Pia gab dem Zug der Kühlschranktür nach und ließ sie zufallen, mit dem Rücken lehnte sie sich an die Arbeitsplatte und holte tief Luft. Beim bunten Haufen aus der Polizeischule hätte sie es für einen Scherz gehalten, eine privat auf die Beine gestellte Ausgabe der versteckten Kamera oder so etwas. Bei ihren jetzigen Kollegen allerdings –
      Hektisches Blätterrascheln, Adams abgehackter Atem mahnten sie, dass sie ihm eine Antwort schuldig geblieben war. Sie strich sich über die Stirn, suchte nach Worten. So dünnnervig, wie er in der letzten Zeit gewesen war, war es nur zu erwarten gewesen, dass er früher oder später Gespenster sehen würde.
      »Adam – hör zu: Nur weil er mal nicht gleich ans Handy geht, muss das nicht …«
      »Du weißt, wie zuverlässig er ist.« Adams Worte knatterten wie eine Maschinengewehrsalve an ihr Ohr. »Er wollte sich mit Caro treffen, um halb sieben. Er ist nicht erschienen, hat ihr keine Nachricht hinterlassen. Bei seinem Handy springt sofort die Mailbox an, dabei hat er es immer an – was sollte das sonst sein?«
      Pia zuckte mit den Schultern, legte den Arm um sich. »Keine Ahnung, da gibt’s tausend Möglichkeiten! Vielleicht ist sein Akku leer, er hat eine Panne oder ist noch mit einem Freund …«
      »Bitte, Pia.«
      Etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Seine Worte kamen ganz hohl und flach, sein Brustkorb schien unter einem einzigen Krampf zu zittern, sein Atem flimmerte im dunklen Rauschen der Telefonleitung.
      »Adam?« Sie stieß sich von der Arbeitsplatte ab, machte einen ziellosen Schritt in den Raum hinein. Noch ein bisschen länger und er würde in die Hyperventilation abgleiten, das hörte sie jetzt. »Warte, ich …« Was sollte sie tun, wenn er ihr am anderen Ende umkippte, sich den Kopf am Tisch anschlug, wie vorgestern beinahe, in der Konferenz?
      Sein schweres Schlucken klang, als stehe er direkt neben ihr.
      Oder –
      Das Licht flackerte kaum sichtbar in den Lampenschirmen über ihrem Kopf, ihre Augen waren wie festgefroren am kaltweißen LED-Schein.
      Vielleicht stand auch einer neben ihm, versenkte einen kalten Lauf in seiner Schläfe –
      »Okay.« Sie holte tief Luft. Jetzt fing sie auch schon an zu fantasieren. »Ich komme, bin gleich da.«
      Adam legte einfach auf.

Wie ein rohes Ungetüm ragte der Glasturm in die nächtliche Schwärze. Nirgendwo war ein Fenster erleuchtet, Leos und Adams Büro ging ja nach hinten raus, genauso wie die Räumlichkeiten des Kriminaldauerdienstes.
      Als der Aufzug plingte und sie in den Flur trat, umgab sie vollkommene Dunkelheit. Es roch nach Putzmittel, der Boden spiegelte unter dem aufflammenden Licht. Nichts regte sich um sie, die Jalousien zu Leos und Adams Büro waren heruntergelassen. Sie klopfte einmal mit dem Fingerknöchel an den Rahmen neben dem Glas, dann drückte sie die Klinke hinunter. Adams Platz war leer, er saß im bläulichen Schein der Tischlampe an Leos Computer, blickte nicht auf, als sie in die Raummitte trat.
      »Was wird das denn?« Offensichtlich passte sie sich in puncto Höflichkeitskonventionen allmählich Adam an, sparte sich einen Gruß, der ohnehin nur Firnis gewesen wäre.
      Er murmelte so leise, dass sie sich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen. »Ich will wissen, ob er auf irgendwas Besonderes gestoßen ist.« Auch als sie so dicht hinter ihn trat, dass sein Aftershave sie umwehte, veränderte er seine Haltung nicht im Geringsten. Für einige Sekunden blieb sie reglos stehen, ließ die Augen auf dem auch im kalten Licht warmgoldenen Schein auf seinem Haar ruhen. Sie streckte die Hände aus, nach einem kurzen Moment glitten sie auf seine Schultern, die genauso steinhart waren, wie sie es letzte Nacht vorhergesehen hatte, ohne Decke, die seinen Nacken vor einem Zug hätte bewahren können. Ihre Fingerspitzen drückten sich eigentlich nur in die Haut, darunter spannte sich der eiserne Muskelstrang, in den sie sich nicht versenken konnten.
      Die Webseiten flackerten vor ihren Augen, als Adam die zuletzt ausgeführten Suchanfragen durchblätterte.
      »Adam«, sprach sie in die nur vom Mausklicken durchbrochene Stille hinein, und ihre Stimme klang dabei so einsam, wie diese schon jetzt so surreale Nacht war. »Warum sollte Leo entführt worden sein?« Sie wartete einige Sekunden, aber es war, als sei sie gar nicht da, nur ein Schatten in einem Film oder Paralleluniversum, ein Geist, der Adam zwar wahrnehmen und anfassen konnte, wovon er aber nichts spürte. »Er hat keine Feinde, er ist …«
      Mit einem heftigen Rucken seiner Schultern schüttelte er nicht nur ihre Hände ab, sondern ließ sie auch sofort verstummen. »Er hat einen Arsch voll Feinde!« Seine steif durchgedrückten Finger wedelten in Richtung Fenster. »Ungefähr ein Sechstel von Saarbrücken, jede Arschgeige, die …«
      »Okay, okay, aber das betrifft uns ja genauso.« Dass Adam sich weiterhin nicht einmal die Mühe machte, sich nach ihr umzusehen, machte ihr Gespräch nicht unbedingt einfacher. Sie hielt kurz die Luft an und wagte es, strich von Adams Hals seinen Schultergürtel zu beiden Seiten aus, fuhr zurück, als er nicht die geringste Reaktion auf ihre Berührung zeigte. »Warum genau Leo? Und welche Indizien hast du sonst? Steht sein Auto irgendwo, leer, mit Blutspuren, ausgebrannt?«
      So schnell, dass sie einen Schritt zurückwich, sprang er auf und warf sich zu ihr herum, Leos Bürostuhl schoss zur Seite. »Er ist nicht zu Hause, er geht nicht ans Handy«, zählte er ihr an seinen langen Fingern vor, »er kommt nicht mehr hierher, obwohl das so abgesprochen war, gibt mir nicht Bescheid, er hat einen gemeinsamen Abend mit Caro platzen lassen, einfach so!« Seine Hand schickte seine letzten Worte in Richtung Zimmerdecke, sein Blick war mit jedem seiner Worte wilder geworden, mittlerweile loderte ein eisiges Feuer darin.
      Es war vollkommen abwegig.
      Das Krachen, als Adams Faust auf Leos Schreibtisch herabsauste, ließ sie zusammenzucken, der Stiftebecher und die Ablage klirrten leise.
      »Verdammt, Pia, ich weiß es einfach, okay? Es …« Während er nach Worten suchte, atmete er so tief aus, dass seine Schultern sich senkten, seine Brust ganz flach wurde. »Da stimmt was nicht.«
      Es war so absurd.
      Adams Blick war fahrig, unfokussiert, schwankte von einer auf den Magen schlagenden Panik und vollkommener Kopflosigkeit. Aber in der meerblauen Tiefe stand unverrückbar die Festigkeit der einen Gewissheit, die sie alle kannten, die sie alle zu irgendeinem Zeitpunkt immer überrollte, die ihnen Droge, Rauschgift, Teufelselixier war: der Spürsinn.
      Pia stützte die Hände in die Seiten, ließ ihre Augen abschweifen. Die Glasfassade des hoch aufragenden Vierkanttturms von gegenüber schimmerte dunkel unter dem wolkenverhangenen Himmel. Kein Stern war zu sehen, der Mond ließ sich nicht blicken, die Nacht war noch lang.
      Nein, sie sollten nicht hier sein, nicht mehr, definitiv nicht. Es war eine Nacht für eine Pizza, die man sich unterwegs holte, eine Capricciosa natürlich, nichts Halbes, nichts Ganzes und von allem etwas, außerdem Süßkram, Chips, bei irgendeiner Tankstelle, Fanta und Sprite, darauf kam es auch schon nicht mehr an, sie sollten ordentlich einen draufmachen und noch ein paar Stunden schlafen, bevor Leo ihnen, deutlich ausgeschlafener und noch immer ein wenig verschlafen, einen wunderschönen guten Morgen wünschen und ihnen erklären würde, dass er erst in einigen Stunden wieder per Handy erreichbar wäre, nachdem es vergangenen Abend den Geist aufgegeben hatte –
      Ein tonloses Seufzen war ihre einzige Antwort, bevor sie nickte. »Okay.« Adam stand noch genauso wie zuvor und starrte sie an. »Wie gehen wir vor?«
      Da fuhr Bewegung in ihn. Sein Kopfschütteln, das aussah, als sei er in einem Teersee versunken, ließ sie erst erkennen, wie müde er war. Mit einer Hand rieb er sich über das Gesicht. Nun stützte er seinerseits die Hände in die Seiten, er ließ alle Luft aus seinen Lungen entweichen, dass er vollkommen in sich zusammenfiel. Es zog seinen Blick zu Boden. »Keine Ahnung«, entrang es sich ihm brüchig und trocken.
      »Hey.« Sie machte nur einen Schritt auf ihn zu, strich seinen Arm entlang. »Wir finden ihn – ja?«  
      Adam nickte, einmal, zweimal, wich ihrem Blick aus, mit dem sie seine Augen suchte. Mit einem Ruck richtete er sich dann auf und sah auf sie herab, wie sie es von ihm gewohnt war.
      »Hast du es mal bei seinen Eltern versucht? Vielleicht …«
      Ein erneutes Nicken. »Sie wissen von nichts. Ich habe schon die Kamerabilder im Umkreis der Gegend angefordert, wo Leo unterwegs war.« Von irgendwoher zog Adam einen Stadtplan hervor, den er auf Leos Schreibtisch ausbreitete. Sein Rücken formte einen weichen Bogen, als er sich über die Karte beugte, um mit dem Finger einen erstaunlich großen Kreis zu ziehen. Güdingen, das östliche Saarufer –
      »Scheiße«, stieß Adam da plötzlich hervor und murmelte irgendetwas.
      »Was?«
      »Mein Vater.« Adams Stimme klang gepresst. Er holte tief Luft, ließ den Kopf zwischen den Schultern hängen, die Augen geschlossen, und lehnte sich mit vollem Gewicht flächig auf seine Hände. Pia hätte so gern die Hand über seinen Rücken gleiten lassen, schrak aber sogar vor seinem Arm zurück. Sie beobachtete, wie sein Oberkörper noch immer unter seinem langen Atemzug anschwoll, wie er gleich darauf wieder schmal wurde.
      »Adam …« Sie schüttelte den Kopf. »Wieso sollte …«
      »Er hat mir aufgelauert in der letzten Zeit, immer wieder.« Jetzt hob er den Kopf und blickte sie an, ernst und gespannt, nicht mehr so aufgelöst wie vorhin noch. Er drückte sich vom Tisch ab, richtete sich wieder auf. »Egal, wo ich war, er ist immer wieder aufgetaucht – und er war auch in meiner Wohnung.«
      Ruhig begegnete er ihrem Blick, als sie ihn anstarrte. Ein Motor heulte auf der Straße unten auf, die Lüftung von Leos Computer sprang an. Dann versank alles wieder in der Stille, die sie einbettete, in diese Minuten, irgendwo auf der Welt, in einem kleinen Leuchtpunkt, in dem alles ineinander verbissen war, verkrampft und verzerrt, wie in einem von einer Halogenlampe erleuchteten Spiegelkabinett, während rundherum alles von einer süßlich schweren Dunkelheit eingehüllt wurde.
      Jetzt fügte sich alles. Adams schwelende Unruhe. Seine Pistole im Nachttisch, den er plötzlich umgestellt hatte. Sein Bestehen aus dem Nichts heraus darauf, die Bettseiten zu tauschen, damit er die Tür im Auge hatte –
      Sein kaltes Lachen jagte einen Schauder über ihren ganzen Körper. »Dieser Wichser«, flüsterte er, nur um gleich danach so scharf, dass sie zusammenfuhr, zu schreien: »Dieser gottverdammte Wichser!« Er trat gegen den Rollcontainer, der Schreibtisch erzitterte, aber in seinem blinden Zorn hatte Adam noch genug Zugriff auf sein Bewusstsein übrig, um sich ihrer Hand zu entziehen, die sie nun doch nach seinem Rücken ausgestreckt hatte. Er wandte sich zum Fenster, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, die sofort widerspenstig herabfielen, sobald sie sich zwischen seinen Fingern lösten. Seine Schultern hoben und senkten sich viel zu schnell und viel zu heftig.
      Pia machte einen Schritt auf ihn zu, blieb dann aber stehen.
      Das war doch alles Unsinn. Das war eine fixe Idee … oder vielleicht ein Verfolgungswahn, ausgelöst durch das Rohypnol, getriggert durch seinen Schlafmangel.
      »Adam«, begann sie behutsam, um ihn wieder an ihre Stimme zu gewöhnen, ihn zu sich zurückzuholen. Sie näherte sich ihm vorsichtig, vorhersehbar langsam, hätte er sich nach ihr umgewandt. »Wie kommst du denn darauf? Hast du irgendetwas …«
      Er fuhr zu ihr herum, sein Mund war hart, in seinen Augen glomm eine unterschwellige Panik. Seine Hand zeichnete kategorische Linien in die Luft. »Es waren Dinge verrückt, da lag plötzlich ein Feuerzeug, das nicht mir gehörte – die Nachttischschublade war aufgezogen, der Tankdeckel offen, nachdem ich bezahlt hatte … Dein Schal war unter meinen Pullovern vergraben …«
      Adams Augen huschten hin und her, suchten sie auf seine Seite zu ziehen. Das beinahe durchscheinende Hellblau bot ihr keinen Widerstand, ließ ihren Blick einfach hindurchfallen, tiefer und tiefer und tiefer. Unwillkürlich bog sich ihr Körper zurück, fort von Adam.
      Benzos verblöden.
      Welcher Raucher von Adams Format kannte bitte schon alle Feuerzeuge, die er herumliegen hatte? Und eine offene Schublade, ja sogar ein offener Tankdeckel –
      Wieder einmal brachte Adam es fertig, ihre Gedanken zu lesen. Seine vor Anstrengung und Schlafmangel rot geränderten Augen wurden schmal, dann verzog sich sein ganzes Gesicht unter der Abscheu, die von innen heraus seine Züge zu überwalzen schien. Er schüttelte den Kopf, wollte zu seinem Schreibtisch entweichen, doch diesmal war sie schneller. Ihre Hand schoss vor, ein wenig zu fest bekam sie ihn am Oberarm zu fassen. Sofort flogen seine Augen zu ihrem Griff, düster blickte er dann auf sie herab. In der Tiefe des unbewegten Blaus flackerte eine fossilierte Furcht, die mit Resignation und Gleichgültigkeit geädert war, doch lag über allem der schon lange nicht mehr transparente, sondern deutlich verschattende Schleier der maßlosen Erschöpfung.
      Sie zog die Hand zurück. »Okay, okay! Nehmen wir an, er war in deiner Wohnung«, brachte sie sie beide wieder auf Spur. »Warum sollte er so was tun? Dinge verräumen, Schubladen aufziehen …«
      »Gaslighting. Er will mich verrückt machen. Und er will mich dort treffen, wo es für mich …«
      Als habe er vergessen, wie man spricht, hielt er inne. Jede Spannung war aus seinem Gesicht gefallen, aus großen Augen starrte er sie an, ohne sich zu rühren. Bevor sie auch nur seinen Namen sagen konnte, spürte sie seine warmen, trockenen Lippen auf der Stirn, ein wenig über die Augenbraue verrutscht.
      »Fahr nach Hause«, blieb seine Stimme leise und ein wenig kraftlos stehen, während er zu seinem Schreibtisch eilte. Hektisch begann er damit, in einem besonders zerfleddert aussehenden Stapel zu kramen. »Oder noch besser zu deinen Eltern oder zu Lydi.«
      »Jetzt mach aber mal ‘nen Punkt! Bei dir bin ich ja wohl noch am sichersten, und außerdem wirst du ja wohl kaum …«
      Sie unterbrach sich, als das Flattern und Rascheln der Papiere auf einen Schlag endete, weil Adam so zusammenschrak, dass er die Zigarettenpackung, die auf der Ecke des Schreibtischs gelegen hatte, hinunterwischte. Er riss etwas unter den Blättern heraus, ließ den offen gehaltenen Stapel in sich zusammenfallen und erstarrte, die weit aufgerissenen Augen auf das Stück Papier in seiner Hand gerichtet.
      »Adam …« Jetzt fasste sie ihn doch wieder am Arm, als sie neben ihn trat. Er verwehrte ihr nicht den Blick auf das, was seine ganze Aufmerksamkeit gefangen genommen hatte.
      Es war ein Foto von kümmerlich in einen düsteren Himmel ragenden Bäumen, einige lange, verwahrloste Gräser wiegten sich vom Rahmen in die Aufnahme hinein. Noch immer rührte Adam sich überhaupt nicht, wenn man einmal von dem Zittern des Papiers zwischen seinen Fingern absah.
      »Was ist damit?«
      Es war, als könnten keine Bilder mehr von außen in seine Augen dringen, so sehr flossen sie über vor Entsetzen. »Siehst du? Es war jemand hier«, stieß er kurzatmig hervor, während er weiter auf das Foto starrte.
      »Das kann von überall kommen.« Sie ließ Adam los, fasste nach der Aufnahme, besah sie sich näher. »Vielleicht hat Leo das hierhin gelegt – oder jemand von der KTU …«
      Mit einem Ruck riss Adam ihr das Bild aus der Hand. Sie erkannte ihn im Blick, den er nun auf sie gerichtet hielt, kaum wieder. »Warum sollten sie – ohne Kommentar?« Er wedelte mit dem kleinen Karton vor ihrer Nase. »Pia – es war jemand hier, ganz bestimmt!«
      »Adam, entschuldige, aber … Das ist doch so was von unwahrscheinlich.« Mit einem schlampig geschlagenen Kreis umschrieb sie das Chaos auf seinem Schreibtisch. »Da kann doch locker etwas dazwischenrutschen.«
      »Aber nicht unter dem Foto von Leo und mir!« Unter seinem plötzlichen Schrei fuhr sie zusammen. Er klappte den Stapel, in dem er vorhin herumgekramt hatte, zielgenau auf, riss heraus, wovon er gesprochen hatte, und warf es auf die Tischplatte. Teenager waren sie darauf, die Aufnahme war im Wald gemacht worden.
      Im Wald?
      Pia schielte nach dem Foto in Adams Hand. Auch wenn er es ein wenig abgewandt von ihr hielt, das war nicht derselbe Forst, das sah sie auch von hier.
      Leo hatte Adam den Arm um die Schulter gelegt und lächelte breit mit vorgerecktem Kinn in die Kamera. Seine Brust war schmal unter dem blauen Anorak, die dunkelbraunen Haare fielen ihm dicht in die Stirn. Wann er wohl so aufgebaut hatte, dass er die Grundlagen für seine heutige beeindruckende Muskelmasse gelegt hatte? Aber er war schon ganz klar zu erkennen auf diesem Foto mit seinen vielleicht 15, 16 Jahren, genauso wie Adam neben ihm, der ihn damals noch mehr überragt hatte, als es heute der Fall war. Beigewachsen war Leo aber nicht mehr. Die Haare hatte Adam sehr kurz getragen, aber sein Blick war genau derselbe wie in diesem Moment, genau derselbe, mit dem er weiterhin auf die signaturlose Aufnahme in seiner Hand starrte.
      »Kennst du den Ort? Sagt dir das irgendetwas?« versuchte sie es leise, während sie sich so dicht neben ihn stellte, dass sie ihn gerade nicht berührte, er aber mit Sicherheit ihre Wärme fühlen konnte.
      Hektisch schüttelte Adam den Kopf. »Nichts – gar nichts! Das könnte überall sein.«
      Pia zog das Foto noch einmal ein wenig zu sich heran, hielt es unter seinem zittrigen Griff fest. Wiese, Bäume, ein Hochsitz vielleicht, am Bildrand ein wenig verschwommen, im Nebel schwer auszumachen – sonst nichts. Keine Wegmarkierung. Kein besonders krumm gewachsener Baum. Kein markanter Felsblock.
      Sie verdrehte die Augen, als Adam ihr das Foto einfach überließ und sich knisternd wieder durch seine Papiere zu wühlen begann.
      »Sieh mal auf deinem Schreibtisch nach – bitte«, schob er mit seltsam dunklen Augen und diesem verfluchten, flehenden Ausdruck nach, als sie noch zögerte.
      Sie knipste die Tischlampe an und schielte erst einmal nach der sich im Halbschimmer zwischen dem oberen Rand des Türrahmens und der Decke verbergenden Wanduhr. Halb zehn. Ernsthaft?
      Sie ließ den Blick einmal über die Schreibtischoberfläche gleiten, hob die Schreibunterlage an und schielte mehr aus Pflichtbewusstsein darunter, als weil sie selbst es unbedingt für nötig befunden hätte.
      Was für einem Phantom jagten sie hier eigentlich hinterher? Der einzige Ort, an dem sie sich danach umsehen sollten, war in Adams überreizten Nerven, in seinem vom Rohypnol umnebelten Bewusstsein, seiner angeschlagenen Psyche –
      Sie hielt inne, blickte von ihrer Schreibtischschublade auf, die sie gerade aufgezogen hatte. Wie ein Gespenst stand Adam in der Tür.
      »Was?« fragte sie bemüht ruhig.
      Im Stechschritt eilte er zu ihr, knallte ihr einen ausgefransten Ausriss vergilbten Umweltpapiers vor die Nase. Mit dickem Filzstift, der in den Fasern verlaufen war, hatte jemand lange Nummernfolgen in dichter Reihe untereinandergesetzt.
      »Da fordert uns jemand heraus, da spielt jemand Schnitzeljagd mit uns.«
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